The Aesthetics of the Ugly  

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Aesthetic of Ugliness (Aesthetik des Hässlichen) is a book by German philosopher Karl Rosenkrantz, written in 1853. It is among the earliest writings on the philosophy of ugliness and "draws an analogy between ugliness and moral evil".

There are two 'unreadable' versions on Archive.org[1][2]. There is one good OCR version here[3].

Contents

TOC

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung

  • Das Negative überhaupt
  • Das Unvollkommene
  • Das Naturhäßliche
  • Das Geisthäßliche
  • Das Kunsthäßliche
  • Das Häßliche im Verhältnis zu den einzelnen Künsten
  • Das Wohlgefallen am Häßlichen
  • Einteilung

ERSTER ABSCHNITT - Die Formlosigkeit

A. Die Amorphie

B. Die Asymetrie

C. Die Disharmonie

ZWEITER ABSCHNITT - Die Inkorrektheit

A. Die Inkorrektheit im Allgemeinen

B. Die Inkorrektheit in den besonderen Stilarten

C. Die Inkorrektheit in den einzelnen Künsten

DRITTER ABSCHNITT- Die Defiguration oder die Verbildung .

A. Das Gemeine

I. Das Kleinliche

II. Das Schwächliche

III. Das Niedrige

a) Das Gewöhnliche

b) Das Zufällige und Willkürliche

c) Das Rohe

B. Das Widrige

I. Das Plumpe

II. Das Tote und Leere

III. Das Scheußliche

a) Das Abgeschmackte

b) Das Ekelhafte

c) Das Böse

alpha) Das Verbrecherische

ß) Das Gespenstische gamma) Das Diabolische

C. Die Karikatur

Schluß

Anmerkungen

Excerpt

“Das Verbrechen kann seinen Zusammenhang mit der notwendigen Freiheit nicht von sich abstreifen, da es nur durch seinen selbstbewußten Widerspruch gegen dieselbe Verbrechen ist. Durch diesen Zusammenhang wird es als ein ästhetischer Gegenstand möglich, denn mit ihm muß auch sein immanenter Gegensatz, die wahre Freiheit, zum Vorschein kommen und am Verbrechen seine Hohlheit und Lüge offenbar machen. In diesem Zusammenhang begründet sich auch die seit Schiller so oft wiederholte Forderung, daß das Verbrechen, ästhetisch möglich zu werden, groß sein müsse, weil es dann Mut, List, Klugheit, Kraft, Ausdauer in nicht gewöhnlichem Grade erfordert und damit wenigstens die formale Seite der Freiheit enthält.”

“Das Verbrechen an sich ist natürlich verabscheuenswert, allein durch die kulturhistorische, psychologische und ethische Verflechtung, in der es erscheint, gewinnt es schon ein höheres Interesse. Die Engländer sind in dieser Gattung von jeher die Meister gewesen. Schon in ihren alten Balladen können wir dem kriminalistischen Zuge begegnen. Das Theater vor und nach Shakespeares Zeit wimmelte von solchen Dramen, unter denen sich manche sogar von unbekannten Autoren, wie das Trauerspiel Arden von Feversham, lange erhalten haben. Später hat der Roman diese Mission bei ihnen übernommen, und die ersten Autoren haben nicht verschmäht, in einer Gattung zu arbeiten, die von unsern Klassikern kaum berührt worden ist. Bulwers Paul Clifford, Eugen Aram, Von Nacht zu Morgen usw. oder Boz’ Oliver Twist sind solche Materien. Im Pelham hat Bulwer die fashionabelste Aristokratie, aber zugleich die extremste Verworfenheit des systematischen Diebs- und Räuberhandwerks in der ausführlichsten Breite geschildert. Nach den Engländern haben die Franzosen erst seit der Julirevolution in solchen Motivierungen sich gefallen. Die brillante Tyrannei und die Hofverschwörung, die Liebe und die Liederlichkeit als feine Galanterie wie als Orgie waren bis dahin ihre bevorzugten Themata gewesen. Erst mit dem Bewußtsein über das welthistorische Auftreten des Proletariats hat sich auch bei ihnen die Neigung zur poetisierenden Behandlung des Kriminalverbrechens in raschem Zuge entwickelt, und zwar, ihrer sozialen Natur nach, auch erst im Drama, dann im Roman.”

“Not bis zum Verhungern, Verbrechen aus Leichtsinn, aber auch aus kältester Berechnung, falsches Spiel, Wechselfälschung, Mord in allen Formen bis zum Giftmorde und Selbstmorde, Schwelgerei, Grausamkeit, Kinderdiebstahl, Inzest, Ehebruch, Verrat, alle Scheußlichkeiten der brutalen Gesinnung sind in diesen Dramen dargestellt, die man zum großen Teil auch dem deutschen Repertoire angeeignet hat. Indem aber die Deutschen doch die Horreurs der Forfaits nicht in ihrer ganzen französischen Nacktheit haben belassen mögen, sind aus den Bearbeitungen noch viel fatalere Produkte hervorgegangen, denn die infernalische Motivierung der sinistren Handlungen, die im Deutschen gewöhnlich abgekürzt, wohl gar unterdrückt wird, gibt ihnen doch noch eine psychologischere Berechtigung, und das Äußerste der Schändlichkeiten, die man erblickt, gewinnt nur durch die ganz und gar nichtswürdig originelle Weise, mit der es vollbracht wird, ein Interesse.”

“Die Vorstellung des Verbrechers erzeugt aus seiner Schuld die Vorstellung eines unheimlichen, jenseitigen, dunkeln, rächenden Wesens.”

Full text

http://www.deutschestextarchiv.de/book/view/rosenkranz_aesthetik_1853?p=50

Aeſthetik des Häßlichen.

Von Karl Roſenkranz.

Königsberg. Verlag der Gebrüder Bornträger.

1853. � [[II]/0010] � [[III]/0011] Vorwort. Eine Aeſthetik des Häßlichen? Und warum nicht? Aeſthetik iſt ein Collectivname für eine große Gruppe von Begriffen geworden, die ſich wieder in drei be¬ ſondere Claſſen theilt. Die eine derſelben hat es mit der Idee des Schönen, die zweite mit dem Begriff ſeiner Production, d. h. mit der Kunſt, die dritte mit dem Syſtem der Künſte, mit der Darſtellung der Idee des Schönen durch die Kunſt in einem beſtimmten Medium zu thun. Die Begriffe, die zur erſten Claſſe gehören, pflegen wir unter dem Titel der Metaphyſik des Schönen zuſammenzufaſſen. Wird aber die Idee des Schönen auseinandergeſetzt, ſo iſt die Unterſuchung des Häßlichen davon unzertrennlich. Der Begriff des Häßlichen, als des Negativſchönen, macht alſo einen Theil der Aeſthetik aus. Es gibt keine andere Wiſſen¬

� [IV/0012] ſchaft, welcher derſelbe überwieſen werden könnte, und es iſt alſo richtig, von der Aeſthetik des Häßlichen zu ſprechen. Niemand wundert ſich, wenn in der Biologie auch vom Begriff der Krankheit oder wenn in der Ethik vom Begriff des Böſen, in der Rechtswiſſenſchaft vom Begriff des Unrechts, in der Religionswiſſenſchaft vom Begriff der Sünde gehandelt wird. Theorie des Häßlichen zu ſagen, würde die wiſſenſchaftliche Genea¬ logie des Begriffs nicht ſo beſtimmt ausdrücken. Die Ausführung der Sache ſelbſt hat übrigens den Namen zu rechtfertigen.

Ich habe mich bemühet, den Begriff des Häßlichen als die Mitte zwiſchen dem des Schönen und dem des Komiſchen von ſeinen erſten Anfängen bis zu derjenigen Vollendung zu entwickeln, die er ſich in der Geſtalt des Sataniſchen gibt. Ich rolle gleichſam den Kosmos des Häßlichen auf von ſeinen erſten chaotiſchen Nebel¬ flecken, von der Amorphie und Aſymmetrie an, bis zu ſeinen intenſivſten Formationen in der unendlichen Mannigfaltigkeit der Desorganiſation des Schönen durch die Caricatur. Die Formloſigkeit, die Incorrectheit und die Deformität der Verbildung machen die ver¬ ſchiedenen Stufen dieſer in ſich conſequenten Reihe von

� [V/0013] Metamorphoſen aus. Es iſt verſucht worden, zu zeigen, wie das Häßliche an dem Schönen ſeine poſitive Vor¬ ausſetzung hat, daſſelbe verzerrt, ſtatt des Erhabenen das Gemeine, ſtatt des Gefälligen das Widrige, ſtatt des Ideales die Caricatur erzeugt. Alle Künſte und alle Epochen der Kunſt bei den verſchiedenſten Völkern ſind hierbei herangezogen, die Entwicklung der Begriffe durch paſſende Beiſpiele zu erläutern, die auch noch für künftige Bearbeiter dieſes ſchwierigen Theils der Aeſthetik Stoff und Anhaltspuncte darbieten werden. Ich hoffe, mit dieſer Arbeit, deren Unvollkommenheiten ich ſelber am Beſten zu kennen glaube, einem bisher ſehr fühl¬ baren Mangel abzuhelfen, da der Begriff des Häßlichen bisher nur theils zerſtreut und nebenbei, theils in einer großen Allgemeinheit abgehandelt worden iſt, welche ihn bereits in Gefahr brachte, in ſehr einſeitigen Be¬ ſtimmungen fixirt zu werden.

Wenn der wohlwollende Leſer, der ſich wirklich unterrichten will, dies Alles nun auch zugibt, ſoll, könnte man fragen, ein ſo unangenehmer, abſcheulicher Gegenſtand ſo gründlich unterſucht werden? Unzweifel¬ haft, denn die Wiſſenſchaft hat einmal ſeit einiger Zeit dies Problem immer von Neuem berührt und ſo verlangt

� [VI/0014] es ſeine Erledigung. Dieſe abſolvirt zu haben, kömmt mir natürlich nicht in den Sinn, behaupten zu wollen. Ich bin zufrieden, wenn man mir hier, wie auf andern Gebieten, zugeſteht, einen Schritt wenigſtens vorwärts gethan zu haben. Der Einzelne mag von dieſem Ge¬ ſtande denken:

— da unten aber iſt's fürchterlich, Und der Menſch verſuche die Götter nicht, Und begehre nimmer und nimmer zu ſchauen, Was ſie gnädig bedecken mit Nacht und Grauen!

Der Einzelne darf ſo denken und dann kann er dieſe Wiſſenſchaft des Häßlichen ungeleſen laſſen. Die Wiſſenſchaft ſelbſt aber folgt nur ihrer Nothwendigkeit. Sie muß vorwärts. Charles Fourier hat unter den Rubriken der Arbeitstheilung auch eine aufgeſtellt, die er travaux de dévouement nennt, zu denen keine indivi¬ duelle Neigung angeboren iſt, zu denen ſich aber Menſchen aus Reſignation entſchließen, weil ſie die Nothwendigkeit derſelben für das Geſammtwohl erkennen. Solch' einer Pflicht iſt auch hier zu genügen verſucht worden.

Aber iſt denn die Sache in der That ſo abſchreckend? Enthält ſie nicht auch Lichtpuncte? Iſt für den Philo¬ ſophen, für den Künſtler, nicht auch ein poſitiver Gehalt darin verborgen? Ich denke wohl, denn das Häßliche

� [VII/0015] kann nur begriffen werden als die Mitte zwiſchen dem Schönen und dem Komiſchen. Das Komiſche iſt ohne ein Ingrediens von Häßlichkeit, das von ihm aufgelöſt und in die Freiheit des Schönen zurückgebildet wird, unmöglich. Dieſer überall ſich ergebende heitere Aus¬ gang unſerer Unterſuchung wird für das unleugbar Peinliche mancher Abſchnitte entſchädigen.

Im Verlauf der Abhandlung habe ich mich ein¬ mal darüber gewiſſermaaßen entſchuldigt, ſo viel in Beiſpielen zu denken. Allein ich ſehe ein, daß ich es gar nicht nöthig gehabt hätte, denn alle Aeſthetiker, auch Winkelmann, auch Leſſing, auch Kant, auch Jean Paul, auch Hegel, auch Viſcher, und Schiller ſelbſt, der den ſparſamen Gebrauch des Beiſpiels empfiehlt, verfahren in dieſer Weiſe. Von dem Material, das ich eine Reihe von Jahren über zu dieſem Zweck an¬ gehäuft hatte, habe ich übrigens nur etwas über die Hälfte verwendet und darf inſofern behaupten, recht ſparſam geweſen zu ſein. Bei der Auswahl der Beiſpiele iſt es mir nur darauf angekommen, vielſeitig zu ſein, um nicht durch das Beiſpiel, wie die Geſchichte aller Wiſſenſchaften zeigt, eine beſchränkte Auffaſſung des Allgemeingültigen zu veranlaſſen.

� [VIII/0016] In der Art, wie ich mit dem Material verfahren bin, mag ich vielleicht etwas altväteriſch, vielleicht zu exact, erſcheinen. Die modernen Schriftſteller haben ſich eine merkwürdige Art, zu citiren, erfunden, nämlich mit ſogenannten „Gänſefüßchen“ ganz in's Blaue hinein. Wo ſie das Citat hernehmen, bleibt im Dunkeln. Es iſt ſchon viel, wenn ſie einen Namen hinzufügen. Es ſcheint ihnen ſchon pedantiſch, wenn ſie zu dem Namen des Autors noch den Namen des Buchs hinzufügen. Unſtreitig wäre es auch läppiſch, allgemein bekannte oder irrelevante Dinge immer mit ſpeciellen Citaten belegen zu wollen. Aber weniger geläufige, ſeltner berührte, weiter entlegene, dem Streit noch ausgeſetzte, fordern nach meiner Meinung eine größere Genauigkeit der Angabe, damit der Leſer, falls es ihm beliebt, ſelber zu den Quellen gehen, ſelber vergleichen und richten kann. Eleganz kann nie Zweck, nur ein und zwar ſehr unter¬ geordnetes Mittel wiſſenſchaftlicher Darſtellung ſein; die Gründlichkeit und Beſtimmtheit müſſen immer obenan ſtehen.

Mit Schrecken ſehe ich jetzt, nach Vollendung des Drucks, daß unter den Beiſpielen ſich eine ziemliche Menge aus der nächſten Gegenwart hervorgedrängt hat, weil ſie natürlich mir am Friſcheſten im Gedächtniß

� [IX/0017] waren, weil ſie mich noch durch das Intereſſe, welches ich auch an den Autoren nehme, lebhaft beſchäftigen. Werden mir dieſe Autoren, unter denen ich mir perſönlich befreundete zähle, dies nicht übel deuten, werden ſie mir deshalb nicht gram werden? Es würde mir ſehr ſchmerzlich ſein. Aber die Verehrten werden ſich vor Allem fragen müſſen, ob, was ich ſage, wahr iſt? Verhält es ſich ſo, dann iſt ihnen nichts zuwider ge¬ ſchehen. Sodann aber werden ſie aus meiner ſchonſamen Art, zu tadeln, und aus andern Stellen, wo ihnen auch, wenn ſie es verdienen, gebührendes Lob geſpendet iſt, erſehen, daß meine freundſchaftliche Geſinnung für ſie dieſelbe iſt. Ja, ich erinnere mich, den meiſten meine Ausſtellungen brieflich gemacht zu haben. So können ſie ſich denn nicht wundern, wenn ich auch ge¬ druckt derſelben Meinung bin. Doch würde ich dieſe ganze Bemerkung unterlaſſen, wüßte ich nicht aus mancher Erfahrung, wie reizbar die modernen Geiſter ſind, wie wenig ſie Widerſpruch zu ertragen vermögen, wie ſehr ſie nur gelobt, nicht belehrt zu werden wünſchen, wie ſcharf ſie ſind, nur in der Kritik Anderer, und wie ſie auch von der Kritik vor Allem Geſinnung und Hingebung d. h. Bewunderung fordern.

� [X/0018] Ich glaube, daß meine Darſtellung auch in all¬ gemeineren Kreiſen, nicht blos in dem der Schule, lesbar iſt. Allein durch die Natur des Stoffs wird dieſe Lesbarkeit gewiſſe Grenzen haben. Ich habe ſcheußliche Materien berühren und gewiſſe Dinge bei ihrem Namen nennen müſſen. Als Theoretiker habe ich mich von dem Hinunterſteigen in manche Kloake zurückhalten und mit der Andeutung begnügen können, wie namentlich bei den Sotadiſchen Erfindungen. Als Hiſtoriker hätt' ich das nicht gedurft, als Philoſoph ſtand es mir frei. Und trotz meiner außerordentlichen Vorſicht wird Mancher urtheilen, ich hätte wohl nicht nöthig gehabt, in ſolchem Grade aufrichtig zu ſein. Dann hätte aber, darf ich verſichern, die Unterſuchung überhaupt nicht gemacht werden dürfen, nicht gemacht werden können. Es iſt traurig, daß bei uns auch für die Wiſſenſchaft ſich eine gewiſſe Pruderie einſchleicht, indem man namentlich bei Gegenſtänden der thieriſchen Natur und der Kunſt die Decenz zum excluſiven Maaßſtab macht. Und wie erreicht man dieſe Decenz heut zu Tage am Beſten? Man ſpricht gar nicht von gewiſſen Phänomenen. Man decretirt ihr Nichtdaſein. Man ſecretirt ſie ge¬ wiſſenlos, um ſalonfähig zu bleiben. Man gibt z. B.

� [XI/0019] mit Holzſchnitten — denn ohne holzſchnittliche Illu¬ ſtrationen iſt eigentlich auch ſchon moderne Wiſſenſchaft¬ lichkeit nicht mehr möglich —, mit mikroskopiſchen Enthüllungen, eine Phyſiologie heraus, eine Lehre vom Leben, Vorleſungen, gehalten vor einem Kreiſe von Damen und Herrn in einer Hauptſtadt, und ſagt vom ganzen Generationsapparat und von allen ſexuellen Functionen kein Wort. Gewiß recht decent. Unſere Deutſche Literaturgeſchichte iſt durch das Zurechtmachen derſelben für Mädchenpenſionate und höhere Töchter¬ ſchulen ſchon ganz caſtrirt worden, um nur immer das Edle, Reine, Schöne, Erhebende, Erquickende, Gemüthliche, Liebliche, Veredelnde und wie die Stich¬ worte weiter lauten, für die zarten Jungfrauen- und Frauenſeelen herauszuſtellen. Es iſt dadurch eine un¬ glaubliche Falſchmünzerei der Geſchichte der Literatur in Gang gekommen, die auch ſchon über die pädagogiſchen Rückſichten hinaus die Auffaſſung entſtellt und durch höchſt einſeitig ausgewählte traditionelle Blumenleſen unterſtützt. Ein Glück, daß jetzt ein Werk, wie das von Kurz, erſcheint, was durch ſeine Selbſtſtändigkeit die Fabrik¬ arbeiter nöthigen wird, doch einmal auch wieder andere Objecte und in anderer Ordnung und mit anderm

� [XII/0020] Urtheil, als in dem zum Ekel ausgetretenen Gleiſe, zu berühren. Jeder Einſichtige wird begreifen, daß ich, bei allem Anſtande, einen ſolchen bleichſüchtigen Penſionatsſtyl nicht ſchreiben durfte, und daß ich über¬ haupt wohl auf den vorliegenden Fall Leſſings Wort anwenden darf:

Ich ſchreibe nicht für kleine Knaben, Die voller Stolz zur Schule gehn, Und den Ovid in Händen haben, Den ihre Lehrer nicht verſtehn.

Königsberg, den 16. April 1853.

Karl Roſenkranz.

� [[XIII]/0021] Inhalt.


Einleitung. Seite.

Das Negative überhaupt 10.

Das Unvollkommene 11.

Das Naturhäßliche 15.

Das Geiſthäßliche 26.

Das Kunſthäßliche 35.

Das Häßliche im Verhältniß zu den einzelnen Künſten 47.

Das Wohlgefallen am Häßlichen 52.

Eintheilung 53.

Erſter Abſchnitt. Die Formloſigkeit 67. A. Die Amorphie 68.

B. Die Aſymmetrie 77.

C. Die Disharmonie 99.


Zweiter Abschnitt. Die Incorrectheit 115. A. Die Incorrectheit im Allgemeinen 116.

B. Die Incorrectheit in den beſondern Stylarten 138.

C. Die Incorrectheit in den einzelnen Künſten 149.


� [XIV/0022] Dritter Abſchnitt. Seite.

Die Deſiguration oder die Verbildung 164. A. Das Gemeine 176. I. Das Kleinliche 180.

II. Das Schwächliche 188.

III. Das Niedrige 197. a. Das Gewöhnliche 199.

b. Das Zufällige und Willkürliche 214.

c. Das Rohe 226.


B. Das Widrige 277. I. Das Plumpe 284.

II. Das Todte und Leere 289.

III. Das Scheußliche 298. a. Das Abgeſchmackte 300.

b. Das Ekelhafte 312.

c. Das Böſe 323. α. Das Verbrecheriſche 325.

β. Das Geſpenſtiſche 337.

γ. Das Diaboliſche 353. Das Dämoniſche 364.

Das Hexenhafte 367.

Das Sataniſche 371.


C. Die Caricatur 386.


Anmerkungen.

� [[1]/0023] Aeſthetik des Häßlichen.

— — — Und laß dir rathen, habe Die Sonne nicht zu lieb und nicht die Sterne, Komm, folge mir in's dunkle Reich hinab! Göthe.

Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 1 � [[2]/0024] � [[3]/0025] Große Herzenskündiger haben ſich in die ſchauerlichen Abgründe des Böſen vertieft und die furchtbaren Geſtalten geſchildert, die ihnen aus ihrer Nacht entgegengetreten ſind. Große Dichter, wie Dante, haben dieſe Geſtalten weiter ausgezeichnet; Maler, wie Orcagna, Michel Angelo, Rubens, Cornelius, haben ſie uns in ſinnlicher Gegen¬ wärtigkeit dargeſtellt und Muſiker, wie Spohr, haben uns die gräßlichen Töne der Verdammniß vernehmen laſſen, in welchen der Böſe die Zerriſſenheit ſeines Geiſtes auskreiſcht und ausheult.

Die Hölle iſt nicht blos eine religiös-ethiſche, ſie iſt auch eine äſthetiſche. Wir ſtehen inmitten des Böſen und des Uebels, aber auch inmitten des Häßlichen. Die Schrek¬ ken der Unform und der Mißform, der Gemeinheit und Scheußlichkeit, umringen uns in zahlloſen Geſtalten von pygmäenhaften Anfängen bis zu jenen rieſigen Verzerrungen, aus denen die infernale Bosheit zähnefletſchend uns an¬ grinſ't. In dieſe Hölle des Schönen wollen wir hier nie¬ derſteigen. Es iſt unmöglich, ohne zugleich in die Hölle des Böſen, in die wirkliche Hölle, ſich einzulaſſen, denn das


1 * � [4/0026] häßlichſte Häßliche iſt nicht das, was aus der Natur in Sümpfen, in verkrüppelten Bäumen, in Kröten und Mol¬ chen, in glotzenden Fiſchungeheuern und maſſiven Dickhäu¬ tern, in Ratten und Affen uns anwidert: es iſt die Selbſt¬ ſucht, die ihren Wahnſinn in den tückiſchen und frivolen Geberden, in den Furchen der Leidenſchaft, in dem Scheel¬ blick des Auges und — im Verbrechen offenbart.

Bekannt genug ſind wir mit dieſer Hölle. Jeder hat an ihrer Pein ſeinen Antheil, In mannigfaltigſter Weiſe werden Gefühl, Auge und Ohr von ihr getroffen. Der zarter Organiſirte, der feiner Gebildete, hat von ihr oft unſäglich zu leiden, denn die Rohheit und Gemeinheit, die Abform und Ungeſtalt, ängſtigen den edlern Sinn in tauſendfachen Ver¬ larvungen. Allein eine Thatſache kann genugſam bekannt und doch ihrer vollen Bedeutung, ihrem ganzen Umfang nach, noch nicht gehörig erkannt ſein. Dies iſt mit dem Häßlichen der Fall. Die Theorie der ſchönen Künſte, die Geſetzgebung des guten Geſchmacks, die Wiſſenſchaft der Aeſthetik, iſt ſeit einem Jahrhundert von den Europäiſchen Culturvölkern bis in eine große Breite hin durchgebildet worden, allein der Begriff des Häßlichen, obwohl man ihn überall ſtreifte, war doch verhältnißmäßig ſehr zurückgeblie¬ ben. Man wird es in der Ordnung finden, daß nunmehr auch die Schattenſeite der Lichtgeſtalt des Schönen eben ſo ein Moment der äſthetiſchen Wiſſenſchaft werde, als die Krankheit in der Pathologie, als das Böſe in der Ethik. Nicht, wie geſagt, als wenn das Unäſthetiſche in ſeinen einzelnen Erſcheinungen nicht hinreichend bekannt wäre. Wie auch ſollte dies möglich ſein, da die Natur, das Leben und die Kunſt jeden Augenblick uns daran erinnern? Aber eine vollſtändigere Darlegung ſeines Zuſammenhanges und eine

� [5/0027] ausdrücklichere Erkenntniß ſeiner Organiſation iſt noch nicht verſucht.

Allerdings gebührt der Deutſchen Philoſophie der Ruhm, zuerſt den Muth gehabt zu haben, das Häßliche als die äſthetiſche Unidee, als ein integrirendes Moment der Aeſthetik erkannt und auch erkannt zu haben, daß das Schöne durch das Häßliche zum Komiſchen übergeht (1). Man wird dieſe Entdeckung, in welcher das Negativſchöne zu ſeinem Rechte gelangt iſt, nicht wieder verleugnen können. Allein die Behandlung des Begriffs des Häßlichen iſt bisher theils bei einer kurzen, wenig eingehenden Allgemeinheit, theils bei einer zu einſeitig ſpiritualiſtiſchen Faſſung ſtehen geblieben. Sie war zu ausſchließlich darauf gerichtet, einige Figuren bei Shakeſpeare und Göthe, bei Byron und Callot Hoffmann zu erklären (2).

Eine Aeſthetik des Häßlichen kann Manchem ähnlich klingen, wie ein hölzernes Eiſen, weil das Häßliche das Gegentheil des Schönen. Allein das Häßliche iſt vom Be¬ griff des Schönen untrennbar, denn dies hat in ſeiner Ent¬ wicklung daſſelbe beſtändig als diejenige Verirrung an ſich, in die es mit einem oft geringen Zuviel oder zu Zuwenig verfallen kann. Jede Aeſthetik iſt gezwungen, mit der Be¬ ſchreibung der poſitiven Beſtimmungen des Schönen irgend¬ wie auch die negativen des Häßlichen zu berühren. Man trifft mindeſtens die Warnung, daß, wenn nicht ſo verfahren würde, als ſie fordern, das Schöne verfehlt und ſtatt ſeiner das Häßliche erzeugt werden würde. Die Aeſthetik des Häßlichen ſoll ſeinen Urſprung, ſeine Möglichkeiten, ſeine Arten ſchildern und kann dadurch auch dem Künſtler nützlich werden. Bildender natürlich wird es für dieſen immer ſein, die mangelloſe Schönheit darzuſtellen, als dem Häßlichen

� [6/0028] ſeine Kraft zuzuwenden. Auf eine Göttergeſtalt zu ſinnen iſt unendlich erhebender und genußreicher, als eine teufliſche Frazze zu bilden. Allein der Künſtler kann das Häßliche nicht immer vermeiden. Oft ſogar bedarf er ſeiner als eines Durchgangspunctes in der Erſcheinung der Idee und als einer Folie. Der Künſtler vollends, der das Komiſche pro¬ ducirt, kann dem Häßlichen gar nicht ausweichen.

Von Seiten der Künſte können jedoch hier nur die¬ jenigen herangezogen werden, die als freie ſich ſelber Zweck und als theoretiſche für den Sinn des Auges und des Ohrs thätig ſind. Die andern dem Dienſt der praktiſchen Sinne des Gefühls, Geſchmacks und Geruchs gewidmeten Künſte bleiben hier ausgeſchloſſen. Herr von Rumohr in ſeinem Geiſt der Kochkunſt, Anthus, in ſeinen intereſſanten Vor¬ leſungen über die Eßkunſt, v. Vaerſt in ſeinem geiſtvollen Werk über die Gaſtronomie, das vorzüglich in ethnographi¬ ſcher Hinſicht bleibenden Werth anſprechen darf, haben dieſe ſybaritiſche Aeſthetik auf eine hohe Stufe gehoben. Man kann ſich aus dieſen Arbeiten überzeugen, daß die allgemeinen Geſetze, die für das Schöne und Häßliche gelten, auch für die Aeſthetik der guten Tafel, die Vielen die wichtigſte iſt, die nämlichen ſind. Wir aber können uns hier nicht darauf einlaſſen. — Daß eine Wiſſenſchaft, wie die unſrige, den vollen Ernſt des Gemüthes verlangt und daß man ſie nicht mit Gründlichkeit zu behandeln vermag, wenn man bei ihr die gebrechliche Eleganz der Theetiſchäſthetik zum Maaßſtab machen und dem Cyniſchen und Scheußlichen zimperlich aus¬ weichen wollte, verſteht ſich von ſelbſt, denn in dieſem Fall müßte die Sache ſelbſt unterbleiben. Die Aeſthetik des Hä߬ lichen macht die Beſchäftigung auch mit ſolchen Begriffen zur Pflicht, deren Beſprechung oder auch nur Erwähnung,

� [7/0029] ſonſt wohl als ein Verſtoß gegen den guten Ton betrachtet werden kann. Wer eine Pathologie und Therapie der Krankheiten in die Hand nimmt, macht ſich auch auf das Ekelhafte gefaßt. Und ſo auch hier.


Daß das Häßliche ein Begriff ſei, der als ein rela¬ tiver nur in Verhältniß zu einem andern Begriff gefaßt werden könne, iſt unſchwer einzuſehen. Dieſer andere Be¬ griff iſt der des Schönen, denn das Häßliche iſt nur, ſofern das Schöne iſt, das ſeine poſitive Vorausſetzung aus¬ macht. Wäre das Schöne nicht, ſo wäre das Häßliche gar nicht, denn es exiſtirt nur als die Negation deſſelben. Das Schöne iſt die göttliche, urſprüngliche Idee und das Hä߬ liche, ſeine Negation, hat eben als ſolche ein erſt ſecundäres Daſein. Es erzeugt ſich an und aus dem Schönen. Nicht, als ob das Schöne, indem es das Schöne iſt, zugleich hä߬ lich ſein könnte, wohl aber indem dieſelben Beſtimmungen, welche die Nothwendigkeit des Schönen ausmachen, ſich in ihr Gegentheil verkehren.

Dieſer innere Zuſammenhang des Schönen mit dem Häßlichen als ſeiner Selbſtvernichtung begründet daher auch die Möglichkeit, daß das Häßliche ſich wieder aufhebt, daß es, indem es als das Negativſchöne exiſtirt, ſeinen Wi¬ derſpruch gegen das Schöne wieder auflöſt und in die Ein¬ heit mit ihm zurückgeht. Das Schöne wird in dieſem Pro¬ ceß als die Macht offenbar, welche die Empörung des Hä߬ lichen ſeiner Herrſchaft wieder unterwirft. In dieſer Ver¬ ſöhnung entſteht eine unendliche Heiterkeit, die uns zum Lächeln, zum Lachen erregt. Das Häßliche befreit ſich in dieſer Bewegung von ſeiner hybriden, ſelbſtiſchen Natur. Es geſteht ſeine Ohnmacht ein und wird komiſch. Alles Ko¬

� [8/0030] miſche begreift ein Moment in ſich, welches ſich gegen das reine, einfache Ideal negativ verhält; aber dieſe Negation wird in ihm zum Schein, zum Nichts heruntergeſetzt. Das poſitive Ideal wird im Komiſchen anerkannt, weil und indem ſeine negative Erſcheinung ſich verflüchtigt.

Die Betrachtung des Häßlichen iſt daher eine durch das Weſen deſſelben genau begrenzte. Das Schöne iſt die poſitive Bedingung ſeiner Exiſtenz und das Komiſche iſt die Form, durch welche es ſich, dem Schönen gegenüber, von ſeinem nur negativen Charakter wieder erlöſt. Das einfach Schöne verhält ſich gegen das Häßliche ſchlechthin negativ, denn es iſt nur ſchön, ſoweit es nicht häßlich iſt, und das Häßliche iſt häßlich nur, ſo weit es nicht ſchön iſt. Nicht als wenn das Schöne, um ſchön zu ſein, des Häßlichen be¬ dürftig wäre. Es iſt ſchön auch ohne ſeine Folie, aber das Häßliche iſt die Gefahr, die ihm an ihm ſelber drohet, der Widerſpruch, den es durch ſein Weſen an ſich ſelber hat. Mit dem Häßlichen iſt es anders. Es iſt, was es iſt, em¬ piriſch freilich durch ſich ſelber; daß es aber das Häßliche iſt, das iſt nur möglich durch ſeine Selbſtbeziehung auf das Schöne, an welchem es ſein Maaß beſitzt. Das Schöne iſt alſo, wie das Gute, ein Abſolutes, und das Häßliche, wie das Böſe, ein nur Relatives.

Keineswegs jedoch ſo, als ob, was häßlich ſei, in einem beſtimmten Fall zweifelhaft ſein könnte. Dies iſt un¬ möglich, weil die Nothwendigkeit des Schönen durch ſich ſelbſt beſtimmt iſt. Wohl aber iſt das Häßliche relativ, weil es nicht durch ſich ſelbſt, ſondern nur durch das Schöne gemeſſen werden kann. Im gewöhnlichen Leben mag Jeder ſeinem Geſchmack folgen, nach welchem ihm ſchön dünkt, was einem Andern häßlich, häßlich, was einem Andern ſchön.

� [9/0031] Soll aber dieſe Zufälligkeit des empiriſch-äſthetiſchen Urtheils aus ihrer Unſicherheit und Unklarheit herausgehoben werden, ſo bedarf ſie ſogleich der Kritik und damit der Vergegenwärti¬ gung der höchſten Principien. Das Gebiet des conventionell Schönen, der Mode, iſt voll von Erſcheinungen, die, von der Idee des Schönen aus beurtheilt, nur häßlich genannt werden können und welche doch, temporär, für ſchön gelten, nicht, weil ſie es an und für ſich wären, ſondern nur, weil der Geiſt einer Zeit gerade in dieſen Formen den ange¬ meſſenen Ausdruck ſeiner Eigenthümlichkeit findet und ſich an ſie gewöhnt. In der Mode kommt es dem Geiſt vor allen Dingen darauf an, ſeiner Stimmung zu entſprechen, der auch das Häßliche als Mittel der adäquaten Darſtellung dienen kann. Vergangene Moden, vornämlich die nächſtvergangenen, werden daher in der Regel als häßlich oder komiſch verurtheilt, weil der Wechſel der Stimmung ſich nur in Gegenſätzen entwickeln kann. Die republicaniſchen Römer, welche die Welt unterwarfen, raſirten ſich. Noch Cäſar und Auguſtus trugen keinen Bart und erſt ſeit Hadrian's romantiſcher Epoche, als das Reich immer mehr den andringenden Bar¬ baren zu erliegen begann, ward der reichliche Bart Mode, als hätte man, im Gefühl ſeiner Schwäche, durch den Bart ſich die Gewißheit der Männlichkeit und Kühnheit geben wollen. Die äſthetiſch denkwürdigſten Metamorphoſen der Mode bietet uns die Geſchichte der erſten Franzöſiſchen Revo¬ lution dar. Sie ſind vom Hauff philoſophiſch zerglie¬ dert worden (3).

Das Schöne iſt alſo am Eingang die eine Grenze des Häßlichen, das Komiſche am Ausgang die andere. Das Schöne ſchließt das Häßliche von ſich aus, das Komiſche dagegen fraterniſirt mit dem Häßlichen, nimmt ihm aber zu¬

� [10/0032] gleich das Abſtoßende dadurch, daß es, dem Schönen ge¬ gegenüber, ſeine Relativität und Nullität erkennen läßt. Eine Unterſuchung des Begriffs des Häßlichen, eine Aeſthetik deſſelben, findet demnach ihren Weg genau vorgezeichnet. Sie muß anfangen mit einer Erinnerung an den Begriff des Schönen, nicht jedoch, um daſſelbe nach der ganzen Fülle ſeines Weſens darzulegen, wie dies die Obliegenheit einer Metaphyſik des Schönen iſt, ſondern nur in ſoweit, als die Grundbeſtimmungen des Schönen anzugeben ſind, aus und als deren Negation das Häßliche ſich erzeugt. Enden aber muß dieſe Unterſuchung mit dem, Begriff der Umbildung, welche das Häßliche dadurch erfährt, daß es ein Mittel der Komik wird. Natürlich iſt auch das Komiſche hier nicht nach ſeiner ganzen Ausführlichkeit, vielmehr nur inſoweit zu berühren, als der Nachweis des Uebergangs es erfordert.


Das Negative überhaupt. Daß das Häßliche ein Negatives iſt, erhellt aus dem Geſagten hinlänglich. Der allgemeine Begriff des Negativen aber ſteht mit dem der Häßlichkeit in keinem weitern Ver¬ hältniß, als dem, daß auch dieſer ein Negatives ausdrückt. Der Gedanke des Negativen überhaupt in ſeiner reinen Ab¬ gezogenheit hat gar keine ſinnliche Form. Was nicht ſinnlich ſich zu manifeſtiren vermag, kann auch kein äſthetiſches Ob¬ ject werden. Vom Begriff des Nichts, des Andern, des Maaßloſen, des Unweſentlichen, des Negativen überhaupt, kann, als von logiſchen Abſtractionen, keine allgemeine An¬ ſchauung und Vorſtellung gegeben werden, weil ſie als ſolche auf keine Weiſe in die Sinnlichkeit zu fallen vermögen. Das

� [11/0033] Schöne iſt die Idee, wie ſie im Element des Sinnlichen als die freie Geſtaltung einer harmoniſchen Totalität ſich aus¬ wirkt. Das Häßliche theilt als Negation des Schönen auch das ſinnliche Element deſſelben und kann daher nicht in einer Region vorkommen, die eine nur ideelle iſt, in welcher das Sein nur als der Begriff des Seins exiſtirt, die Realität deſſelben aber als eine den Raum und die Zeit erfüllende noch ausgeſchloſſen iſt.

Und ſo wenig als der Begriff des Negativen überhaupt häßlich genannt werden kann, ſo wenig auch dasjenige Ne¬ gative, welches das Unvollkommene iſt.


Das Unvollkommene. In dem Sinne, daß das Schöne weſentlich Idee iſt, kann auch von ihm geſagt werden, daß es das Vollkommene ſei. Und ſo iſt auch oft genug, namentlich auch in der Baumgarten'ſchen Aeſthetik des vorigen Jahrhunderts der Begriff der Vollkommenheit mit dem der Schönheit iden¬ tiſch genommen. Allein Vollkommenheit iſt ein Begriff, der mit dem der Schönheit nicht direct zuſammenhängt. Es kann ein Thier ſehr zweckmäßig, alſo als lebendiges Indi¬ viduum ſehr vollkommen organiſirt und eben deswegen ſehr häßlich ſein, wie das Kameel, das Unau, die Sepia, die Pipa u. ſ. w. Ein Fehler im ſubjectiven Denken, ein un¬ richtiger Begriff, ein Irrthum, ein falſches Urtheil, ein ver¬ kehrter Schluß, ſind Unvollkommenheiten der Intelligenz, die aber nicht unter die Kategorie des Aeſthetiſchen gehören. Tugenden, die erſt erworben werden, die alſo noch nicht zur Virtuoſität der Gewohnheit durchgebildet ſind, machen ethiſch

� [12/0034] genommen den Eindruck der Unvollkommenheit, können aber in ihrer Werdeluſt äſthetiſch ſogar etwas unendlich Reizendes haben. Eine häßliche Gemüthsart aber ſoll ſoviel heißen als eine böſe.

Der Begriff des Unvollkommenen iſt relativ. Es kommt für ihn immer auf das Maaß an, von welchem für ſeine Schätzung ausgegangen wird. Das Blatt iſt unvoll¬ kommen gegen die Blüthe, die Blüthe gegen die Frucht, wenn man nämlich von der Frucht als der Normalexiſtenz der Pflanze den Werth der Blüthe abwägt. Aeſthetiſch wird die im botaniſchen oder beſſer ökonomiſchen Sinn unvollkom¬ mene Blüthe in der Regel höher ſtehen, als die Frucht. Die Unvollkommenheit iſt in dieſer Beziehung ſo wenig identiſch mit Häßlichkeit, daß ſie ſogar das der Realität und Totali¬ tät nach Vollkommnere übertreffen kann. Iſt in dem Un¬ vollkommenen der Trieb des Aechten, Wahren und Schönen thätig, ſo wird es auch ſchön ſein können, wenngleich noch nicht ſo ſchön, als es in ſeiner Vollendung zu ſein vermag. Die anfänglichen Werke eines wahrhaften Künſtlers z. B. werden noch mannigfache Mängel an ſich tragen, aber doch ſchon den Genius durchblicken laſſen, der zu höhern Leiſtun¬ gen berufen iſt. Die Jugendgedichte eines Schiller und Byron ſind noch unvollkommen, verrathen aber doch ſchon die Zukunft ihrer Urheber, oft gerade in der Art ihrer Unvollkommenheit.

Das Unvollkommene im Sinn der Anfänglichkeit darf daher nicht mit dem Begriff des Schlechten zuſammengewor¬ fen werden, für welches wir es allerdings gern euphemiſtiſch gebrauchen. Das Unvollkommene als die nothwendige Ent¬ wicklungsſtufe iſt immerhin auf dem Wege zur Vollkommen¬ heit; das Schlechte dagegen iſt diejenige Realität, welche nicht

� [13/0035] blos zu wünſchen übrig läßt, nicht blos das Verlangen nach größerer Vollendung erweckt, ſondern mit ihrem Begriff in poſitiven Widerſprüchen befangen iſt. Das Unvollkommene im poſitiven Sinn entbehrt nur der weiteren Geſtaltung, ſich ganz als das zu zeigen, was es an ſich ſchon iſt. Das Schlechte aber iſt ein Unvollkommenes im negativen Sinn, das noch etwas Anderes, Nichtſeinſollendes in ſich ſchließt. Eine Zeichnung kann noch unvollkommen und doch ſchön ſein; eine ſchlechte Zeichnung aber iſt eine fehlerhafte, die den äſthetiſchen Geſetzen widerſpricht.

Für unſere Unterſuchung iſt vorzüglich der Compa¬ rativ des Schönen recht zu verſtehen, der in der Kunſt ſelber liegt und den man ſo ausdrücken kann, daß, weil etwas ſchöner, als ein Anderes, daraus nicht folgt, daß das weniger Schöne häßlich ſei. Vielmehr iſt dies ein gradueller Unterſchied, der die Qualität des Schönen an ſich noch nicht alterirt.

Vorzüglich hat man ſich zu erinnern, daß alle Arten in Verhältniß zur Gattung coordinirt ſind, wenn ſie auch unter ſich in dem Verhältniß der Subordination ſtehen kön¬ nen. Der Gattung gegenüber ſind alle Arten gleichberech¬ tigt und doch ſchließt dies nicht aus, daß nicht die eine, gegen die andere gehalten, objectiv höher ſtehe. Architektur, Sculptur, Malerei, Muſik und Poeſie, ſind als Arten der Kunſt einander völlig gleich und doch iſt es wahr, daß ſie in der hier gegebenen Reihenfolge zugleich eine Steigerung ausdrücken, in welcher die nächſtfolgende Kunſt die vorige immer an Möglichkeil übertrifft, das Weſen des Geiſtes, die Freiheit angemeſſener darzuſtellen.

Innerhalb der einzelnen Kunſt gilt dieſelbe Beſtim¬ mung, denn die qualitativen Unterſchiede einer Kunſt ver¬

� [14/0036] halten ſich zu ihr wieder als Arten. Wenn man dies er¬ wägt, ſo wird man aller Streitigkeiten enthoben ſein, welcher Art man den Vorzug geben ſolle, denn man wird über die Subordination niemals die Coordination vergeſſen. Die Poeſie z. B. iſt als dramatiſche objectiv vollendet; die lyri¬ riſche und die epiſche ſind ihr inſofern ſubordinirt; aber dar¬ aus folgt nicht, daß nicht die Lyrik und Epik, da ſie noth¬ wendige Formen der Poeſie ſind, die gleiche Abſolutheit beſäßen. Relativ genommen iſt alſo die Baukunſt unvoll¬ kommener, als die Sculptur, dieſe unvollkommer, als die Malerei u. ſ. w. Und doch kann jede Kunſt innerhalb der Eigenthümlichkeit ihres Materials und ihrer Form die Abſo¬ lutheit erreichen. Mit andern Worten heißt dies ſo viel, daß die Subordination als ſolche in gar keinem Verhältniß zur Häßlichkeit ſteht. Wenn man alſo, wie wir dies müſſen, die eine Kunſt oder die eine Gattung einer Kunſt als die niedrigere oder unvollkommenere bezeichnet, ſo liegt hierin keine äſthetiſche Degradation derſelben. Es iſt das nur relativ geſagt, ohne den Begriff einer aus dieſem Stufenverhältniß etwa nothwendigen Häßlichkeit zu involviren. Bei einzelnen Kunſtwerken pflegt man den Comparativ des Schönen oft durch einfache Bezeichnungen der Quantität auszudrücken. Man ſagt z. B. der Münchhauſen iſt Immermann's größtes Werk und will damit allerdings auch ſagen, daß es ſein ſchönſtes ſei. Weniger ſchön iſt aber noch keineswegs identiſch mit häßlich.


� [15/0037] Das Naturhäßliche. In der Natur, deren Idee die Exiſtenz in Raum und Zeit weſentlich iſt, kann ſich das Häßliche bereits in zahllo¬ ſen Formen geſtalten. Das Werden, dem Alles in der Natur unterliegt, macht durch die Freiheit ſeines Proceſſes in jedem Augenblick das Uebermaaß und das Unmaaß mög¬ lich, damit eine Zerſtörung der reinen, von der Natur an ſich angeſtrebten Form und damit das Häßliche. Die ein¬ zelnen Naturexiſtenzen, da ſie in ihrem bunten Durcheinan¬ der ſich rückſichtslos in's Daſein drängen, hemmen ſich oft in ihrem morphologiſchen Proceſſe.

Die geometriſchen und ſtereometriſchen Formen, Dreieck, Viereck, Kreis, Prisma, Würfel, Kugel u. ſ. w. ſind in ihrer Einfachheit durch die Symmetrie ihrer Verhältniſſe eigentlich ſchön. Als allgemeine Formen in abſtracter Rein¬ heit haben ſie freilich nur in der Vorſtellung des Geiſtes eine ideelle Exiſtenz, denn in concreto erſcheinen ſie nur als Formen beſtimmter Naturgeſtalten an den Kryſtallen, Pflan¬ zen und Thieren. Der Gang der Natur iſt hier der, aus der Starrheit geradlinigter und geradflächiger Verhältniſſe zur Schmiegſamkeit der Curve und zu einer wunderſamen Verſchmelzung des Geraden und Krummen überzugehen.

Die bloße rohe Maſſe, ſo weit ſie nur vom Geſetz der Schwere beherrſcht wird, bietet uns äſthetiſch einen gleichſam neutralen Zuſtand dar. Sie iſt nicht nothwendig ſchön, aber auch nicht nothwendig häßlich; ſie iſt zufällig. Nehmen wir z. B unſere Erde, ſo würde ſie, um als Maſſe ſchön zu ſein, eine vollkommene Kugel ſein müſſen. Das iſt ſie aber nicht. Sie iſt abgeplattet an den Polen und geſchwellt am Aequator, außerdem auf ihrer Oberfläche von der größten

� [16/0038] Ungleichheit der Erhebung. Ein Profil der Erdrinde zeigt uns, blos ſtereometriſch betrachtet, das zufälligſte Durch¬ einander von Erhebung und Vertiefung in den unberechen¬ barſten Umriſſen. So können wir auch von der Oberfläche des Mondes nicht ſagen, daß ſie mit ihren Gewirr von Höhen und Tiefen ſchön ſei. Die Silberſcheibe des Mondes, aus der Ferne als ein einfacher Glanzkörper geſchauet, iſt ſchön, allein dies Gewimmel von Kegeln, Rillen, Thälern iſt es nicht. Die Linien, welche die Weltkörper in ihrer Be¬ wegung als mannigfach elliptiſche in Spiralwendungen be¬ ſchreiben, können wir nicht als äſthetiſche Objecte anſehen, weil ſie nur in unſern Zeichnungen als Linien ſich darſtellen. Die Unendlichkeit der Sternenmenge aber wirkt auf unſern Geſichtsſinn nicht durch die Maſſe, ſondern durch das Licht. Bei manchen Bewunderern des funkelnden Nachthimmels ſchleicht ſich auch eine gewiſſe Illuſion der Phantaſie durch die Benennung der Sternbilder ein; die Leier, der Schwan, das Haar der Berenike, Herkules, Perſeus u. ſ. w. wie ſchön klingt das nicht! Die neuere Aſtronomie iſt in ihren Benamſungen ſehr proſaiſch geworden, indem ſie den Sex¬ tanten, das Teleskop, die Luftpumpe, die Buchdruckerwelk¬ ſtatt und ähnliche wichtige Erfindungen in Sterngruppen verherrlicht hat.

Daß mechaniſche Actionen, Stoß, Wurf, Fall, Schwung, ſchön werden können, iſt nicht blos durch die Form der Bewegung, ſondern auch durch die Beſchaffenheit der Objecte und den Grad ihrer Geſchwindigkeit bedingt. Eine Schaukel wird z. B. in ihrem Schwung nicht gerade häßlich, aber auch nicht ſchön ſein. Man ſtelle ſich aber vor, daß ein junges Mädchen in graciöſer Haltung auf der Schaukel in heller Frühlingsluft hin und her ſchwingt, ſo wird dies

� [17/0039] ein heiter-ſchöner Anblick ſein. Der kühne Aufſchuß einer Rakete, die das Nachtdunkel erhellt und im höchſten Punkt zerplatzend mit dem Sternenhimmel zu fraterniſiren ſcheint, iſt ſchön nicht blos durch die mechaniſche Bewegung, ſondern auch durch ihr Leuchten und durch ihre Geſchwindigkeit.

Die dynamiſchen Proceſſe der Natur ſind an ſich weder ſchön noch häßlich, weil bei ihnen die Form zu keiner Aus¬ drücklichkeit gelangt. Cohäſion, Magnetismus, Elektricität, Galvanismus, Chemismus, ſind in ihrer Actuoſität als ſol¬ cher einfach. Ihre Reſultate aber können ſchön ſein, wie das Sprühen des elektriſchen Funkens, der Zickzackſtrahl ſei¬ nes Blitzes, das majeſtätiſche Rollen des Donners, die Far¬ benverwandlungen bei chemiſchen Vorgängen u. ſ. w. Ein großes Feld eröffnen hier die phantaſtiſchen Bildungen, welche das Gas in ſeiner elaſtiſchen Beweglichkeit zu ent¬ wickeln vermag. Die große Freiheit derſelben bringt eben ſowohl ſchöne als häßliche Formen hervor. Die Grundform der Gasexpanſion iſt allerdings die ſphäriſche, nach allen Seiten gleichmäßig ausſtrebende. Weil aber das Gas in's Ungemeſſene ſich ausdehnt, ſo verliert ſich die ſphäriſche Ge¬ ſtalt bald durch die Grenze, die feſte Körper ihm entgegen¬ ſtellen, bald durch andere Gaſe, mit denen es ſich miſcht und chaotiſch zerfließt. Welch' ein unendlich reiches, uner¬ ſchöpfliches Spiel von Dämmergeſtalten, die an Alles und an Nichts erinnern, bieten uns nicht die Wolken dar! (4).

In der organiſchen Natur macht die Abgeſchloſſenheit der Geſtalt das Princip ihrer Exiſtenz aus. Hiervon iſt die Folge, daß die Schönheit ſich aus der träumeriſchen Zufäl¬ ligkeit losmacht, die ihr in der unorganiſchen Natur anhaf¬ tet Das organiſche Gebilde hat ſofort einen beſtimmten äſthetiſchen Charakter, weil es ein wirkliches Individuum iſt.


Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 2 � [18/0040] Eben deshalb aber wird nun hier auch die Häßlichkeit in viel beſtimmterer Weiſe möglich. Es iſt Aufgabe der beſondern Betrachtung des Naturſchönen, den Gang der Natur in dieſer Hinſicht zu verfolgen. Wir können uns hier nicht ſpeciell darauf einlaſſen und verweiſen auf die trefflichen Arbeiten von Bernardin St. Pierre, von Oerſtedt und von Viſcher (5). Im Allgemeinen erhebt ſich die Eu¬ rythmie, Symmetrie und Harmonie der Form in der Natur von den einfachen kryſtalliniſchen Gebilden durch den Kampf der geraden und krummen Linie des Pflanzenreichs bis zu den zahlloſen Geſtaltungen der Thierwelt, in welcher mit tauſendfältigen Schwingungen und Verſchmelzungen die Curve ſiegreich wird; ein Fortgang, der zugleich eine unendliche Metamorphoſe und Gradation des Colorits involvirt.

Die einzelnen Kryſtalle, für ſich genommen, ſind ſchön. Im Aggregatzuſtand mit andern gemengt erſcheinen ſie oft in phantaſtiſcher Combination, wie man in Schmidt's Mineralienbuche an ſchönen Exemplaren ſehen kann (6).

Die großen Maßenaggregate auf der Erdoberfläche ſind von den mannigfaltigſten oft indefiniſſableſten Formen. Berge können ſchön ausſehen, wenn ſie in ſanftgeſchwungenen, reinen Linien ſich hinſtrecken; erhaben, wenn ſie als wall¬ artige Mauerkoloſſe, als himmelſtürmende Rieſenkegel ſich emporthürmen; häßlich, wenn ſie das Auge in wüſter Zer¬ klüftung und charakterloſem Gewirr zerſtreuen; komiſch, wenn ſie mit bizarren und grotesken Ausſchweifungen die Phan¬ taſie necken. In der unmittelbaren Wirklichkeit gewinnen dieſe Formen durch die Beleuchtung noch eigenthümliche Reize. Wie wird durch das Mondlicht die Wunderlichkeit der Au-ma-tu oder fünf Pferdsköpfe, der Boheatheehügel, der Tſi-Tſin oder Siebenſternberge in China geſteigert (7).

� [19/0041] Zwiſchen der chemiſchen Beſchaffenheit und der Form findet allerdings auch ein Zuſammenhang ſtatt, der von Haus¬ mann in einer claſſiſchen Abhandlung namentlich auch für das Verhältniß nachgewieſen iſt, in welchem die Bodenge¬ ſtalt zur Vegetation und zur Thierwelt ſteht. Die Erkaltung der einſt glühenden Erdrinde und das Spiel von Waſſer und Luft haben die großen Lineamente der Erdphyſiognomik ge¬ zeichnet (8).

Die Pflanzen ſind faſt durchgängig ſchön. Die Gift¬ pflanzen müßten, einer antiquirten Theologie zufolge, häßlich ſein und ſie gerade bieten uns eine überſchwängliche Fülle zierlicher Formen und köſtlicher Farben. Ihre narkotiſche Kraft kann allerdings dem Leben den Tod bringen, allein was geht dieſe Wirkung die Pflanze an? Liegt es denn in ihrem Begriff, zu tödten? Wie die Narkoſe lethal wirken kann, ſo kann ſie ja auch im Rauſch, den ſie erzeugt, ent¬ zücken; ja ſie kann das Leben aus Erkrankungen retten. Gift iſt ein ganz relativer Begriff und das Griechiſche Phar¬ makon bezeichnet eben ſowohl Gift als Heilmittel (9).

Aber weil die Pflanze lebendig iſt, ſo kann ſie auch häßlich werden. Das Leben als die Freiheit der Geſtaltung führt ſie nothwendig in dieſe Möglichkeit ein. Pflanzen können, was ihre Erſcheinung in Gruppen betrifft, ſich über¬ wuchern und ſo in ſelbſterzeugter Ungeſtalt ſich verhäßlichen. Sie können von Außen her gewaltſam angegriffen, willkür¬ lich gemodelt und verhunzt werden. Aber ſie können auch von Innen heraus durch Erkrankung verkümmern und ent¬ arten. Mit der Erkrankung kann auch die Entſtaltung und Verfärbung und zwar als eine häßliche ſich entwickeln. In allen dieſen Fällen iſt die natürliche Urſache der Häßlichkeit eine ganz offenbare. Es iſt kein dem Leben und der Pflanze


2 * � [20/0042] fremdes, ſataniſches Princip, ſondern es iſt eben die Pflanze ſelber, die als lebendige krank und als Folge der Erkrankung in Geſchwulſten, Vertrocknungen, Verzwergungen und Ver¬ wachſungen ihre normale Form, ſo wie in Abbleichungen und Umfärbungen ihr normales Colorit einbüßen kann. Fremd an ſich iſt der Pflanze die Gewalt, die ihr vom Sturm, vom Waſſer, von der Gluth, von Thieren und Men¬ ſchen angethan werden kann. Dieſe Gewalt kann die Pflanze verhäßlichen, aber auch verſchönen. Es kommt auf die nähere Art der Einwirkung an. Der Sturm kann einer Eiche das Laub abſtreifen, die Aeſte zerſplittern und ſo den ſtolzen Baum verkrüppeln. Er kann aber auch, wenn er mit rhythmiſchen Stößen in den laubreichen Aeſten wühlt, durch die Bewegung des Baums das Markige und Energi¬ ſche in ſeiner Schönheit erſt recht zur Erſcheinung bringen. Normale Veränderungen in der Metamorphoſe der Pflanze ſind frei von Häßlichkeit, denn als nothwendig ſind ſie nichts Krankhaftes. Der Uebergang der Knospe zur Blüthe, der Blüthe zur Frucht iſt von einem ſtillen, unſäglichen Reiz begleitet. Wenn zur Herbſtzeit das Chlorophyll aus den Blättern entweicht und dieſe ſich nun in tauſend gelb¬ lichen, braunen und rothen Tinten färben, ſo werden dadurch unendlich maleriſche Effecte hervorgebracht. Und wie ſchön iſt nicht die Anſchauung der goldenen Saaten, wenn die nährenden Gräſer reifen und gelben d. h. abwelken!

Noch größer, als bei der Pflanze, wird die Möglichkeit des Häßlichen innerhalb der Thierwelt, weil hier der Reich¬ thum der Formen in's Unendliche hin wächſt und das Leben energiſcher und ſelbſtiſcher wird. Um das Häßliche der Thier¬ form richtig zu verſtehen, muß man erwägen, daß die Natur zunächſt nur darauf ausgeht, das Leben und die Gattung

� [21/0043] zu ſchützen und ſich, für dieſen Zweck, gegen die Schönheit und gegen das Individuum gleichgültig zu verhalten. Hierin liegt der Grund, weshalb die Natur auch wirklich häßliche Thiere hervorbringt d. h. Thiere, die nicht blos durch Ver¬ ſtümmelung oder Alter und Krankheit häßlich werden, ſondern bei denen die häßliche Form conſtitutiv iſt. Für unſer äſthe¬ tiſches Urtheil ſchleichen ſich hierbei viel Täuſchungen ein, theils durch Gewöhnung an einen Typus, den wir dann für ſchön, ſo wie eine Abweichung von ihm für häßlich zuhalten geneigt ſind; theils durch die Iſolirung des Thiers in der abſtracten Weiſe, wie ein Kupferſtich oder ein Exemplar in einer Sammlung uns das Thier vorführt. Wie ganz anders erſcheint ein Thier lebendig in ſeiner natürlichen Umgebung, der Froſch im Waſſer, die Eidechſe im Graſe oder in der Felſenſpalte, der Affe am Baum kletternd, der Eisbär auf der Eisſcholle u. ſ. w.

Die Kryſtalle können ſich in ihrer ſtarren Regelmäßigkeit wenn ſie im Act ihrer Formation gehemmt werden, empiriſch unvollkommen ausbilden, in ihrem Begriff aber liegt die Schönheit der ſtereometriſchen Geſtalt. Die Pflanzen können verſtümmelt werden oder von Innen her abwelken und ſich entſtalten, aber ihrem Begriff nach ſind ſie ſchön. Wenn ſie in manchen Formen häßlich zu werden ſcheinen, mildern ſie die Unförmlichkeit ſogleich durch einen komiſchen Zug, wie das Geſchlecht der Cactus, der Rüben, der Cucurbitaceen, welche letztere namentlich von der Malerei ſchon öfter zu phantaſtiſch komiſchen Figuren benutzt ſind (10). Bei dem Thier dagegen, es iſt nicht zu leugnen, erzeugen ſich Formen von urſprünglicher Häßlichkeit, die ihren Gräuelanblick durch keinen komiſchen Zug aufheitern. Der Realgrund ſolcher Geſtalten iſt die Nothwendigkeit der Natur, den Thierorga¬

� [22/0044] nismus den verſchiedenen Elementen, Zonen und Bodenformen einzuverleiben und ihn durch die verſchiedenen Erdperioden hindurchzuleiten. Dieſer Nothwendigkeit ſich unterwerfend, muß ſie denſelben Typus z. B. den des Hundes, in's Un¬ endliche variiren. Gewiſſe Quallen, Sepien, Raupen, Spinnen, Rochen, Eidechſen, Fröſche, Kröten, Nager, Pachydermaten, Affen, ſind poſitiv häßlich (11). Manche dieſer Thiere ſind uns wichtig, mindeſtens intereſſant, wie der Zitterroche. Andere imponiren uns in ihrer Häßlichkeit durch ihre Größe und Stärke, wie das Nilpferd, das Nas¬ horn, das Kameel, der Elephant, die Giraffe. Zuweilen nimmt die Thiergeſtalt eine komiſche Wendung, wie bei einigen Reihern, Hornſchnäblern, Pinguins, bei einigen Mäuſen und Affen. Viele Thiere ſind ſchön. Wie ſchön ſind nicht manche Konchylien, Schmetterlinge, Käfer, Schlangen, Tauben, Papagaien, Pferde! Wir ſehen, daß die häßlichen Formen ſich vorzüglich auf den Uebergängen der Thierreiche erzeugen, weil auf ihnen ſich ein gewiſſer Widerſpruch, ein Schwanken zwiſchen verſchiedenen Typen auch in der Geſtalt kund geben muß. Viele Amphibien z. B. ſind häßlich, weil ſie Land- und Waſſerthiere zugleich ſind. Sie ſind noch Fiſche und ſind es auch nicht mehr, eine Amphibolie, die nun innerlich und äußerlich in ihrer Structur und ihrem Verhalten zu Tage kommt. Die ungeheuerlichen Geſtalten der Vorwelt ſind vorzüglich dadurch entſtanden, daß die gigantiſchen Organismen ſich den extremen Verhält¬ niſſen der Bodenform und Temperatur anpaſſen mußten. Fiſch- und Vogeleidechſen, mit Ruderfloſſen ausgeſtattete Rieſenreptilien, konnten allein in dieſen grenzenloſen Sumpf¬ ländern und in dieſer gluthdampfenden, verſengenden Atmos¬ phäre ausdauern. Die Zweideutigkeit der damaligen terreſtri¬

� [23/0045] ſchen Zuſtände mußte ſich auch in der Zweideutigkeit der Thiergeſtalt ausprägen. Finden wir doch jetzt noch, wo die Bodenform noch unreif und die Vegetation jungfräulich iſt, ſolche Zwitterexiſtenzen, wie in Auſtraliens Schnabelthieren.

Das Thier kann alſo ſchon in ſeinem unmittelbaren Typus häßlich ſein. Allein es kann auch, wenn gleich der¬ ſelbe primitiv ſchön iſt, häßlich werden, denn es kann, wie die Pflanzen, durch Verſtümmelung von Außen oder durch Erkrankung von Innen der Mißbildung unterworfen werden. In beiden Fällen überſteigt ſeine Häßlichkeit die der Pflanze bei weitem, weil ſein Organismus viel einheitlicher und ab¬ geſchloſſener iſt, während die Pflanze in's Unbeſtimmte hin¬ ausrankt und daher im Umriß ihrer Geſtalt einer gewiſſen Zufälligkeit unterliegt. Die Gliederung des Thiers iſt eine an und für ſich beſtimmte. Wird alſo bei ihm ein Glied verletzt oder weggenommen, ſo wird dadurch das Thier ſofort verhäßlicht. Daß Thier kann von ſeinem Organismus nichts entbehren, mit Ausnahme des vegetativen Ueberfluſſes von Haaren, Hörnern u. dgl., den es zu erneuern vermag. Von einem Roſenſtrauch kann man eine Roſe pflücken, ohne damit die Pflanze an ſich zu ſchädigen oder ihre Geſtalt zu verunſchönen. Einem Vogel kann man nicht einen Flügel wegſchneiden, einer Katze nicht den Schwanz abhacken, ohne ſie damit unförmlich zu machen und in ihrem Lebensgenuß zu beeinträchtigen. — Wegen der in ſich a priori abgeſchloſſenen Articulation wird nun die Thiergeſtalt auch umgekehrt hä߬ lich durch einen Ueberfluß, der nicht in ihrem Begriff liegt. Die Glieder des animaliſchen Organismus ſind der Zahl und der Lage nach genau beſtimmt, denn ſie ſtehen unter einander in harmoniſcher Wechſelwirkung. Ein Glied mehr oder ein Glied an einer andern Stelle, als dem Begriff nach

� [24/0046] ſtattfinden ſollte, widerſpricht demnach der Grundgeſtalt und macht ſie häßlich. Wird z. B. ein Schaaf mit acht Füßen geboren, ſo iſt dieſe Verdoppelung der ihm nothwendigen Anzahl eine Monſtroſität und Häßlichkeit.

Eben die genaue, von Innen ſich entwickelnde Maa߬ beſtimmtheit der Thiergeſtalt hat auch zur Folge, daß jedes Glied ſeine normale, im ſogenannten Balancement der Organe liegende Größe hat und daß alſo, wenn dieſelbe über dies Maaß hinaus vergrößert oder verkleinert wird, ein Mißver¬ hältniß ſich erzeugt, das nothwendig häßlicher Art iſt. Solche Uebervergrößerung oder Ueberverkleinerung iſt jedoch in der Regel ſchon Folge von Krankheit, deren Urſprung auch eine erbliche, aus der Tiefe des eigenſten Lebens ſich entwickelnde Anlage ſein kann. Die Verbildung kann ſchon im Ei, im Samen, im Uterus, während der Fötalperiode beginnen. Krankheit zerſtört den Organismus erſt partiell, endlich total und mit dieſer Zerſtörung iſt durchſchnittlich Entfärbung und Verunſtaltung verbunden. Je ſchöner das Thier ſeinem Begriff nach iſt, um ſo häßlicher wird dann der Anblick ſeiner verkümmerten, vermagerten, verſchwollenen, verfahlten, wohl gar mit Geſchwüren bedeckten Geſtalt. Das Pferd iſt unſtreitig das ſchönſte Thier, allein eben deshalb iſt es auch dasjenige, welches krank, veraltert, mit Triefaugen, mit Hängebauch, mit vorſtehenden Knochen, mit ſich durchzeich¬ nenden Rippen, mit ſtellenweiſer Enthaarung, einen überaus widrigen Anblick gewährt.

Aus dem Bisherigen ergibt ſich, daß die Häßlichkeit der Thiergeſtalt, ſei es daß wir ſie als eine urſprüngliche oder als eine durch Zufall und Krankheit entſtandene antreffen, für uns hinreichend erklärlich iſt und daß wir nicht, wie Daub in ſeinem Judas Iſcharioth (12), die Hypotheſe von

� [25/0047] einem Unnatürlichen in der Natur als ſeiner Urſache zu machen haben. Die Nothwendigkeit der Natur, Contraſte in Einem Organismus zu verknüpfen, Säugethiere als Walen und Robben in's Waſſer, als Flughäuter in die Luft zu werfen, Chelidonen, Saurier und Batrachier für den Auf¬ enthalt im Waſſer und auf dem Lande gleichmäßig auszu¬ rüſten, iſt eben ſo klar, als die Nothwendigkeit des Zufalls, der ein Thier von Außen gewaltſam verkrüppeln oder von Innen durch Krankheit verbilden kann. Daß die Blutgier der Carnivoren und das Gift mancher Thiere, mit Einſchluß des Geſtankes, den einige zu ihrer Vertheidigung verbreiten, mit der Schönheit oder Häßlichkeit ſo wenig im Zuſammen¬ hang ſtehe, als das Gift einiger Pflanzen mit ihrer Form, braucht noch kaum bemerkt zu werden. Wäre die ſuper¬ naturaliſtiſche Hypotheſe vom Urſprung des Häßlichen durch das Böſe, was die Natur corrumpirt habe, wahr, dann müßten auch die Giftſchlangen und Raubthiere principiell häßlich ſein, was doch ſo wenig der Fall iſt, daß vielmehr die giftzahnigen Schlangen und die wilden Katzen durch Schönheit, ja Pracht ſich auszeichnen. Das Unnatürliche aber hat für die Natur eigentlich keinen Sinn, da ſie, als ohne Freiheit des Bewußtſeins und des Willens, einer will¬ kürlichen Verletzung eines Geſetzes nicht fähig iſt. Für die Thiere exiſtirt kein Geſetz der Selbſtachtung und Pietät, alſo auch kein Verbrechen gegen ein ſolches. Selbſtbefleckung, Blutſchande und Kindermord ſind Begriffe, die nur der Geiſterwelt angehören und es iſt eine falſche Sentimentalität, ſich über Unthaten der Thierwelt zu entſetzen, die als ſolcher in ihr gar nicht da ſind.

Gewöhnlich denken wir auch nicht an dieſe Einzelheiten, wenn von Schönheit und Häßlichkeit der Natur die Rede

� [26/0048] iſt, ſondern im Durchſchnitt ſchwebt uns dabei die landſchaft¬ liche Schönheit vor, welche alle Naturgeſtalten zu einer charakteriſtiſchen Einheit in ſich verſammelt. Die Landſchaft iſt entweder monoton, wenn eine der Naturgeſtalten in ihr elementariſch vorherrſcht, der Berg, der Strom, der Wald, die Wüſte u. ſ. w.; oder ſie iſt contraſtirend, wenn zwei Formen ſich einander entgegengeſetzt ſind; oder ſie iſt har¬ moniſch, wenn ein Gegenſatz in einer höhern Einheit ſich auflöſt. Jede dieſer Grundformen kann durch den Wechſel der Tages- und Jahreszeiten eine unendliche Mannigfaltigkeit von Phaſen durchlaufen. Auf die Beleuchtung vorzüglich kommt es an, welchen äſthetiſchen Eindruck eine Landſchaft zu machen fähig iſt. Eine Wüſte kann erhaben, furchtbar erhaben ſein, wenn die tropiſche Sonne ſie als tiefliegende Sahara durglühet; melancholiſch erhaben, wenn der Mond der gemäßigten Zone ſie als hochliegende Gobi mit ſeinem Silberlicht überſchimmert. Aber jede der landſchaftlichen Grundformen kann ſowohl ſchön als häßlich ſich geſtalten. Die Monotonie, die im Ruf der Häßlichkeit ſteht, verdient denſelben erſt durch den Indifferentismus abſoluter Geſtaltloſig¬ keit, wie das bleifarbene, glattſtagnirende Meer unter grauem Himmel bei völliger Windſtille.


Das Geiſthäßliche. Gehen wir nun von der Natur zum Geiſt über, ſo werden wir vorweg ſagen müſſen, daß der abſolute Zweck des Geiſtes Wahrheit und Güte iſt, denen er die Schönheit eben ſo unterordnet, wie die organiſche Natur ihren abſoluten Zweck, dem Leben. Chriſtus, das Ideal der Freiheit, ſtellen

� [27/0049] wir uns nicht gerade häßlich, aber auch nicht in Griechiſcher Weiſe ſchön vor. Was wir Schönheit der Seele nennen, iſt der Begriff der Güte und Reinheit des Willens; eine ſolche kann auch in einem Leibe wohnen, der unanſehnlich, ja häßlich iſt. Der Wille an und für ſich in dem Ernſt ſeiner Heiligkeit geht über das äſthetiſche Element hinaus. Die Geſinnung mit der Tüchtigkeit ihres Inhaltes fragt zunächſt nicht nach der Form, in welcher ſie erſcheint. Die Innigkeit des liebevollen Gemüthes läßt die eckigen Manieren, die Armſeligkeit des Anzugs, die etwaigen Sprachfehler u. dgl. bei dem Handelnden vergeſſen. Es iſt aber natürlich, daß die Wahrheit und Güte des Willens eine Würde der per¬ ſönlichen Haltung zur Folge hat, die auch äußerlich bis in die ſinnliche Erſcheinung durchdringt und inſofern gilt vom Geiſt der Lichtenbergiſche Satz, daß alle Tugend verſchönt, alles Laſter verhäßlicht.

Dieſen an ſich richtigen Satz können wir noch allge¬ meiner ausdrücken, indem wir ſagen, daß alles Gefühl und Bewußtſein der Freiheit verſchönt und alle Unfreiheit ver¬ häßlicht, Freiheit wollen wir hier nur in dem Sinn der in ſich unendlichen Selbſtbeſtimmung nehmen und dabei von der Wahrheit ihres Inhaltes abſtrahiren. Der Organismus iſt einmal dazu beſtimmt, nichts für ſich ſelber zu bedeuten, ſondern als das Werkzeug des Geiſtes dieſen in ſich durch¬ ſcheinen zu laſſen. Wir können an den Racen und Ständen die Wahrheit dieſes Begriffs beobachten. Mit der wachſenden Freiheit wächſt auch die Schönheit der Erſcheinung. Die ariſtokratiſchen Geſchlechter werden ſchöner, weil ſie ſich freier fühlen, weil ſie von der Gebundenheit an die Natur eman¬ cipirter ſind, weil ſie mehr Muße haben und dieſelbe durch Spiel, Liebe, Waffenübung, Poeſie ausfüllen. Die Inſulaner

� [28/0050] der Südſee waren ſchön, ſo lange ſie der Liebe, dem Tanz, dem Kampf und dem Genuß des Seebades lebten. Die Neger von Dahomey und Benin ſind ſchön, weil ſie mit ſinnlichem Wohlſein kriegeriſchen Muth und mercantiliſche Unternehmungsluſt verbinden. Sie nehmen daher auch ſchon an der Schönheit ein Intereſſe. Der König hat eine Leibwache von mehren tauſend Amazonen wahrhaft ſchöner und tapferer Mädchen, von denen A. Bou é uns Zeichnungen gegeben hat. Wer ein Geſchenk vom Könige empfängt, drückt ſeinen Dank durch einen Tanz, alſo durch einen äſthetiſchen Act, öffentlich vor allem Volke aus.

Auch der in moraliſchem Betracht nach gewiſſen Seiten hin ſchlechte oder gar böſe Menſch kann doch Schönheit zeigen, ſofern er neben ſeinen Untugenden und Laſtern auch Tugenden, ſelbſt Gemüth beſitzen kann. Namentlich wird er oft formale Freiheit, Klugheit, Vorſicht, Beſonnenheit, Selbſtbeherrſchung, Ausdauer haben, wodurch Verbrecher ſogar mit einem ge¬ wiſſen ritterlichen Schwung und Adel hervorſtechen. Es kommen auf dieſem Gebiet ſeltſame Wunderlichkeiten vor. Eine Ninon de l'Enclos war gewiß ſchön und nicht weniger galant, als ſchön; allein ſie war es mit Freiheit von niedrigen Nebenrückſichten; ſie war es mit Gefühl und Grazie und blieb daher ſchön. Sie verſchenkte ihre Gunſt mit Freiheit nach Neigung, aber ſie verkaufte ſie nicht.

Weil der Leib im Verhältniß zum Geiſt einen nur ſymboliſchen Werth anſprechen darf, ſo erklärt ſich, wie es möglich wird, daß ein Menſch körperlich ſogar häßlich ſein kann, ſchief gewachſen, von unregelmäßigen Geſichtszügen, blatternarbig und daß er doch dies Alles nicht nur kann vergeſſen laſſen, ſondern noch mehr, daß er dieſe unglücklichen Formen von Innen heraus mit einem Ausdruck zu beleben

� [29/0051] vermag, deſſen Zauber uns unwiderſtehlich hinreißt, — wie der häßliche Mirabeau die ſchönſten Frauen leidenſchaftlich zu feſſeln wußte, ſobald ſie nur ihm zu ſprechen erlaubten; wie Richard III. bei Shakeſpeare in ſolch geiſtüberlegener Weiſe an der Bahre Heinrichs VI. die Liebe der ihm zuerſt fluchenden Anna zu erwerben weiß; wie Alkibiades im Platoniſchen Sympoſion von Sokrates ſagt, daß er ſchweigend häßlich, redend aber ſchön ſei.

Daß das Böſe als das Geiſthäßliche, wenn es habituell wird, die Phyſiognomie des Menſchen verhäßlichen müſſe, liegt in ſeinem Weſen, weil es diejenige Unfreiheit iſt, die aus der freien Negation der wahrhaften Freiheit entſpringt. Der Habitus und die Phyſiognomie glücklicher Naturvölker kann ſchön ſein, weil ſie einer wenn auch vorerſt natürlichen Freiheit ſich erfreuen. Die Unfreiheit, welche darin beſteht, daß man das Böſe, indem man es als das Böſe weiß, doch will, enthält den tiefſten Widerſpruch des Willens mit ſeiner Idee; ein Widerſpruch, der ſich auch äußerlich verrathen muß. Einzelne Verkehrtheiten und Laſter gewinnen ihren beſtimmten phyſiognomiſchen Ausdruck. Neid, Haß, Lüge, Geiz, Wolluſt arbeiten ihnen eigenthümliche Formen aus. So bemerkt man an Diebinnen einen unſichern, ſeitlich ab¬ irrenden Blick, deſſen Bewegung die Franzoſen vom Lateiniſchen fur fureter nennen und der in ſeinem flüchtig ſcharfen, ver¬ ſtohlen offenen Umhertaſten etwas Entſetzliches hat. Wenn man große Gefängniſſe beſucht und in Sääle tritt, wo öfter ſechszig bis hundert Diebinnen zuſammen ſpinnen, ſo kann man dieſen ſpecifiſchen Blick des lauernden, kniffigen Auges gleichſam als Gattungsblick wahrnehmen. Noch größer muß natürlich die Häßlichkeit werden, wenn das Böſe an und für ſich gewollt wird. Aber ſo paradox es klingt, ſo wird doch

� [30/0052] dadurch, daß das Böſe in dieſem Fall als eine ſyſtematiſche Totalität ſich fixirt, wieder eine gewiſſe Harmonie des Willens und damit auch der Erſcheinung hervorgebracht, welche die Formen äſthetiſch mildert. Die Verirrung des einzelnen Laſters kann oft einen viel unangenehmern, grellern Ausdruck haben, als das ſchlechthin Böſe, das in ſeiner Negativität wieder ein Ganzes iſt. Das grobe Laſter wird in ſeiner Ein¬ ſeitigkeit augenfällig; die Tiefe oder vielmehr Untiefe des abſolut Böſen durchdringt mit ihrer Intenſität Habitus und Antlitz auf gleichmäßigere Weiſe und kann exiſtiren, ohne der Criminaljuſtiz beſondern Stoff zu bieten. Reiche, von aller Cultur beleckte, jedem Eigenſinn fröhnende, in den feinſten Raffinements ihrer Selbſtſucht ſchwelgende, in Frauen¬ verführung kokettirende, in der Qual ihrer Blaſirtheit die Qual ihrer Diener werdende Salonmenſchen ſind oft in das abgrundloſe Inſichſein des Böſen verfallen. — Nach rück¬ wärts mit der Natur verglichen erkennen wir hier die Steige¬ rung, daß die Natur in manchen Thieren das Häßliche allerdings unmittelbar und poſitiv hervorbringt, daß der Menſch aber die ihm gegebene Naturſchönheit von Innen heraus durch das Böſe zu entſtellen und zu verzerren ver¬ mag, ein Werk der ſich ſelbſt vernichtenden Freiheit, deſſen das Thier unfähig iſt.

Die Urſache des Böſen und des durch daſſelbe vermittelten Häßlichen in der äußern Erſcheinung des Menſchen iſt alſo die Freiheit deſſelben, keineswegs ein transcendentes Weſen außer ihm. Das Böſe iſt die eigene That des Menſchen und ſo gehören ihm auch deſſen Folgen. Da nun der Menſch die Naturſeite weſentlich an ſich hat, ſo ergibt ſich, daß auch alle diejenigen Beſtimmungen des Häßlichen, die wir bei der organiſchen, insbeſondere animaliſchen Natur fanden, bei dem

� [31/0053] Menſchen möglich ſind. Der Typus deſſelben ſollte freilich ſeiner Idee nach die Schönheit der menſchlichen Erſcheinung erwarten laſſen, allein die empiriſche Realität, weil der Zufall und die Willkür in ihr nothwendige Factoren ausmachen, zeigt uns auch häßliche Geſtalten und zwar nicht blos in der Form vereinzelter Individuen, ſondern in der erblichen Aus¬ breitung über größere Kreiſe. Doch ſind ſolche Geſtalten nicht Gattungen in dem Sinn, wie es von Geburt häßliche Thiere gibt, in deren Begriff ſchon die Häßlichkeit, das Verzerrte und Widerſpruchsvolle liegt. Gegen die Idee des Menſchen gehalten, bleiben ſie Zufälligkeiten, die empiriſch nur relativ nothwendig waren. Sie können theils ſingulärer, theils particulärer Art ſein. Singulärer Art, wenn ein menſchlicher Organismus durch individuelle Krankheit, z. B. Skropheln, Rückgratverkrümmung, Bruch u. dgl. verun¬ ſtaltet wird; particulärer Art, wenn die Verunſtaltung ſich dadurch erzeugt, daß der Organismus einer beſondern Loca¬ lität ſich anpaſſen muß. In dieſem Fall der Adaption an eine beſtimmte Bodenform und an ein beſtimmtes Klima muß der Menſch dieſelben Proceſſe, wie die Pflanze und das Thier, durchlaufen Die Verſchiedenheit der telluriſchen Bedingungen drückt ſich auch in der Verſchiedenheit des Habitus und der Phyſiognomie aus, zumal ſie auch eine Verſchiedenheit der Lebensart hervorrufen. Der Bewohner des Gebirgs und der der Ebene, der Waldjäger und der Fiſcher, der Hirt und der Ackerbauer, der Polanwohner und der Tropenländer, empfangen nothwendig einen andern an¬ thropologiſchen Charakter. Selbſt der Cretinismus iſt hieher zu rechnen, da er an beſtimmten Localitäten, namentlich an gewiſſen von Kalkauflöſungen geſchwängerten Bergwaſſern zu haften ſcheint. Der Cretin iſt noch häßlicher als der Neger,

� [32/0054] weil er zur Unförmlichkeit der Figur noch die Stupidität der Intelligenz und Schwäche des Geiſtes hinzufügt. Seine ſtumpfen Augen, ſeine niedrige Stirn, ſeine hängende Un¬ terlippe, ſeine gegen den Stoff indifferente Freßgier und ſexuelle Brutalität, ſtellen ihn unter den Neger und nähern ihn dem Affen, der äſthetiſch vor dem Cretin voraus hat, nicht Menſch zu ſein.

Im Begriff alſo des Menſchen liegt die Häßlichkeit nicht. Sein Begriff als der der Vernunft und Freiheit for¬ dert, daß er ſich auch im Ebenmaaß der Geſtalt, im Unter¬ ſchied von Füßen und Händen und in der aufrechten Haltung als äußere Erſcheinung realiſire. Iſt der Menſch, wie der Buſchmann, wie der Cretin, von Natur häßlich, ſo wird ſich in ſolcher Mißform auch die locale und relativ erbliche Unfreiheit darſtellen. Die Krankheit iſt Urſache des Hä߬ lichen allemal, wenn ſie eine Verbildung des Skeletts, der Knochen und Muskeln zur Folge hat z. B. bei ſyphilitiſchen Knochenauftreibungen, bei gangränen Zerſtörungen. Sie iſt es allemal, wenn ſie die Haut färbt, wie in der Gelbſucht; wenn ſie die Haut mit Exanthemen bedeckt, wie im Schar¬ lach, in der Peſt, in gewiſſen Formen der Syphilis, im Ausſatz, in Flechten, im Weichſelzopf u. ſ. w. Die ſcheu߬ lichſten Deformitäten werden unzweifelhaft durch die Syphi¬ lis hervorgebracht, weil ſie nicht nur ekelhafte Ausſchläge, ſondern auch Faulungen und Knochenzerſtörungen bewirkt. Exantheme und Eiterbeulen ſind der Krätzmilbe vergleichbar, die unter der Haut ihre Kanäle gräbt; ſie ſind gewiſſer¬ maaßen paraſitiſche Individuen, deren Exiſtenz dem Weſen des Organismus als Einheit widerſpricht und in welche er aus¬ einanderfällt. Die Anſchauung eines ſolchen Widerſpruchs iſt ſo überaus häßlich. — Die Krankheit iſt überhaupt Urſache

� [33/0055] der Häßlichkeit, wenn ſie die Geſtalt abnorm verändert, wo¬ hin alſo auch Waſſerſucht, Tympanitis u. dergl. gehören. Aber ſie iſt es nicht, wenn ſie in Kacherie, in Hektik, in Fieberzuſtänden, dem Organismus jene transcendente Tinctur gibt, die ihn ätheriſcher erſcheinen läßt. Die Abmagerung, der brennende Blick, die bleichen oder vom Fieber gerötheten Wangen des Kranken können das Weſen des Geiſtes ſogar unmittelbarer zur Anſchauung bringen. Der Geiſt iſt dann gleichſam ſchon von ſeinem Organismus geſchieden. Er durch¬ wohnt ihn noch, allein nur um ihn in der That zum reinen Zeichen zu machen. Der ganze Körper in ſeiner durchſichti¬ gen Morbidezza bedeutet ſchon nichts mehr für ſich und iſt durch und durch nur noch Ausdruck des von ihm bereits auswandernden, naturunabhängigen Geiſtes. Wer hätte nicht ſchon eine Jungfrau oder einen Jüngling auf dem Sterbe¬ bette geſehen, die als Opfer der Schwindſucht einen wahr¬ haft verklärten Anblick darboten! So etwas iſt bei keinem Thiere möglich. — Aus denſelben Gründen ergibt ſich auch, daß der Tod keineswegs mit Unausbleiblichkeit eine Verhä߬ lichung der Geſichtszüge hervorzubringen hat, ſondern eben ſowohl einen ſchönen, ſeligen Ausdruck hinterlaſſen kann.

Kann nun Krankheit den Menſchen unter gewiſſen Umſtänden ſogar verſchönen, ſo kann ſie noch mehr im Ver¬ ſchwinden eine Urſache des Schönen werden. Die allmälige Wiederkehr der Geſundheit gibt dem Blicke freie Klarheit, den Wangen ſanfte Röthe. Das Wiederſchwellen der Adern und Muskeln und das Spiel der Kraft, die ſich genußverlan¬ gend wieder zu regen beginnt, verbreiten eine außerordentliche potenzirte Schönheit und übergießen die Geſtalt mit jenem unausſprechlichen Zauber, in welchem der Reiz der Verjün¬ gung noch ſeinen Gegenſatz der Hinfälligkeit, das Leben den


Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 3 � [34/0056] Tod, noch an ſich hat. Ein Geneſender iſt ein Anblick für Götter!

Doch können wir den Geiſt hier noch nicht verlaſſen, denn noch auf andere Weiſe, als in nur gewöhnlicher Krank¬ heit, kann er Häßlichkeit erzeugen. Er kann nämlich in ſich erkranken und den Widerſpruch, in welchen er mit ſich als Geiſt geräth, dann auch in ſeiner Erſcheinung ausdrücken. Oder richtiger, die Seelenſtörung ſelber iſt ſo gut, als das Böſe, das eigentlich Häßliche im Geiſt als ſolchem. Dieſe Häßlichkeit aber des Innern überſetzt ſich auch in die Aeußer¬ lichkeit. Blödſinn, Verrücktheit, Wahnſinn, Raſerei, machen den Menſchen häßlich. Auch die Betrunkenheit als eine acute, künſtlich erzeugte Selbſtentfremdung des Geiſtes ge¬ hört hieher. Die Beſonnenheit, mit welcher der bei ſich ſeiende Geiſt alle ſeine Verhältniſſe zuſammenfaßt und ſich, den einzelnen, doch zugleich als allgemeines Vernunftweſen weiß, verleihet dem Geiſt die rechte Gegenwart und demge¬ mäß auch die rechte Herrſchaft über ſeinen Organismus. In der Seelenſtörung aber verliert der Menſch die Allgemeinheit ſeines Selbſtgefühls als blödſinniger, oder er entäußert ſie an eine Endlichkeit als Verrückter, oder er fühlt ſich als Wahnſinniger von der Macht eines Widerſpruchs in ſich vernichtet und rettet ſich aus dieſem Widerſpruch nur durch Fiction eines andern oder durch Raſerei. In allen dieſen Fällen ertheilt der Kranke dem Reellen wie dem Imaginären falſche Werthe. Der Blödſinnige verſinkt mehr und mehr in thieriſche Apathie; bei dem Verrückten entwickelt ſich ein eigenthümlicher, von der Realität der gegenwärtigen Gegen¬ ſtände und Menſchen ins Unbeſtimmte abirrender Blick, ein ekles Grimaſſiren, eine widrige Beweglichkeit oder Starrheit, und ſelbſt bei den Wahnſinnigen, die an tieferer Zerriſſenheit

� [35/0057] des Gemüths kranken, bemerkt man in der Feierlichkeit, mit der ſie öfter auftreten, den Verrath des gebrochenen Selbſtgefühls an der Hohlheit und Zuſammenhangloſigkeit ihres Pathos.


Das Kunſthäßliche. Das Reich des Häßlichen iſt, wie wir ſehen, ſo groß, als das Reich der ſinnlichen Erſcheinung überhaupt; der ſinnlichen Erſcheinung, denn ein äſthetiſches Object wird das Böſe und die unſelige Selbſtentfremdung des Geiſtes erſt durch die Vermittelung der äußerlichen Darſtellung. Weil das Häßliche an dem Schönen iſt, ſo kann es als die Ne¬ gation jeder ſeiner Formen ſich ſowohl vermöge der Noth¬ wendigkeit der Natur als der Freiheit des Geiſtes erzeugen. Die Natur miſcht Schönes und Häßliches nach der Zufälligkeit, wie Ariſtoteles ſagen würde, χαταβεβηχῶς, zuſammen. Die empiriſche Wirklichkeit des Geiſtes thut daſſelbe. Um daher das Schöne an und für ſich zu genießen, muß der Geiſt es hervorbringen und zu einer eigenthümlichen Welt für ſich ab¬ ſchließen. So entſteht die Kunſt. Aeußerlich knüpft auch ſie an Bedürfniſſe des Menſchen an, allein ihr wahrhafter Grund bleibt doch die Sehnſucht des Geiſtes nach dem reinen, unvermiſchten Schönen.

Iſt nun das Hervorbringen des Schönen Aufgabe der Kunſt, muß es da nicht als der größte Widerſpruch erſchei¬ nen, wenn wir ſehen, daß die Kunſt auch das Häßliche hervorbringt?

Wollten wir hierauf antworten, daß die Kunſt aller¬ dings das Häßliche hervorbringe, jedoch als ein Schönes, ſo würden wir offenbar zu dem erſtbemerkten Widerſpruch nur


3 * � [36/0058] einen zweiten, und, wie es ſcheint, größern hinzufügen, denn wie iſt es möglich, daß das Häßliche ſchön werden könne? Durch dieſe Fragen ſehen wir uns in neue Schwierig¬ keiten verwickelt. Da ſie ſich von ſelbſt aufdrängen, hilft man ſich gegen ſie gewöhnlich dadurch, daß man den trivialen Satz hervorſucht, die Schönheit bedürfe der Häßlichkeit oder könne ſich ihrer doch wenigſtens bedienen, um als Schönheit deſto nachdrücklicher zu erſcheinen; — ähnlich, wie man wohl das Laſter zu einer Bedingung der Tugend macht. Von der dunklen Folie des Häßlichen hebe ſich das reine Bild des Schönen um ſo leuchtender ab.

Kann man ſich aber wohl bei dieſem Satz beruhigen? Seine Wahrheit, daß nämlich dem Häßlichen gegenüber das Schöne um ſo mehr als ſchön empfunden werden müſſe, iſt nur relativ. Wäre ſie abſolut, ſo müßte alles Schöne ſich die Begleitung eines Häßlichen wünſchen. Nur neben einem Therſites würde dann die Schönheit eines Achilleus ganz ſein, was ſie ſein ſoll. Allein eine ſolche Behauptung iſt irrig. Das Schöne, als der ſinnlich erſcheinende Ausdruck der Idee, iſt in ſich abſolut und bedarf nicht eines Haltes außer ſich, einer Verſtärkung durch ſeinen Gegenſatz. Es wird nicht ſchöner durch das Häßliche. Die Gegenwart des Häßlichen bei dem Schönen kann nicht das Schöne als ſolches, ſondern nur den Reiz des Genießens erhöhen, indem wir, ihm gegenüber, die Vortrefflichkeit des Schönen um ſo leb¬ hafter fühlen; — wie z. B. viele Maler zur Danaë, indem ſie mit ſüßſchmachtendem Verlangen den Goldregen in ihrem ſchönen Schooß empfängt, eine runzlichte, ſpitzkinnige Alte im Hintergrund oder an der Seite gemalt haben.

Aber das ſchlechthin Schöne und Erhabene läßt uns vielmehr ſogar ſeine ausſchließliche und unbedingte Gegenwart

� [37/0059] wünſchen. Es iſt ſo ſehr ſich ſelbſt genug, daß es nicht nur aller Folie des Häßlichen entrathen kann, ſondern daß eine ſolche auch ſtörend zu wirken vermag. Das abſolut Schöne wirkt beruhigend und läßt über ſich momentan alles Andere vergeſſen. Wozu aus ſeiner ſeligen Fülle auf Anderes ab¬ gelenkt werden? Wozu ſeinen Genuß durch die Reflexion auf ſein Gegentheil würzen? Hat neben der Statue des Gottes im Adyton ſeines Tempels noch die eines tückiſchen Dämons Raum? Will der Anbetende ſich an etwas Anderm, als an den Zügen des Gottes erſättigen?

Wir müſſen alſo die uneingeſchränkte Geltung des Satzes, daß das Häßliche in der Kunſt um des Schönen willen da ſei, verwerfen. In der Architektur, Sculptur, Muſik und Lyrik würde man beſonders verlegen ſein, ihn zu bewähren. Der Contraſt, deſſen die Kunſt oft bedarf, braucht nicht durch den Gegenſatz des Häßlichen erzeugt zu werden; das Schöne iſt mannigfaltig genug, ſich mit ſeinen eigenen Formen zu contraſtiren — wie z. B. in Göthe's Iphigenia lauter ſchöne Charaktere auftreten; oder in Ra¬ phaels Sirtiniſcher Madonne nur Majeſtät, Huld, Anmuth, Würde, Lieblichkeit und durchaus nichts Häßliches zu finden iſt und es doch in dieſen Werken nicht an Contraſten fehlt, die, als ſchöne, jenes unendliche Entzücken bereiten, das dem Abſoluten als dem mangellos Göttlichen inwohnt. Die teleo¬ logiſche Auffaſſung des Häßlichen hat alſo keine durchgrei¬ fende Berechtigung. Für die Natur haben wir uns über¬ zeugt, daß es ihr, teleologiſch genommen, weſentlich auf das Leben und erſt in zweiter Rückſicht auf die Schönheit ankommt. Auch für den Geiſt haben wir geſehen, daß in ihm Wahrheit und Güte aller äſthetiſchen Forderung vorange¬ hen. Es iſt ſchön, wenn das Wahre und Gute auch ſchön

� [38/0060] erſcheinen, allein es iſt nicht nothwendig. Daß man dies nicht ſo zu verſtehen habe, als ob Wahrheit und Güte, wenn ſie nicht in idealer Schönheit zu erſcheinen vermögen, ſich häßlich darſtellen müßten, iſt ausdrücklich bemerkt worden. Das unbefangen Häßliche hat weder in der Natur, noch im Geiſt einen ihm äußern Zweck. Die Natur warnt uns vor Giften in Metallen, Pflanzen und Thieren nicht durch ab¬ ſchreckende Geſtalt und Farbe und der liebenswürdigſte Geiſt kann das fatale Schickſal haben, mit einem Aeſopiſchen Höcker, mit einem Byronſchen Schleppfuß zeitlebens vorlieb nehmen zu müſſen.

Wie kann nun die Kunſt, deren Zweck nur das Schöne ſein ſoll, dazu kommen, das Häßliche zu bilden? Der Grund muß offenbar tiefer liegen, als in jenem äußer¬ lichen Reflexionsverhältniß. Er liegt im Weſen der Idee ſelber. Die Kunſt hat zwar — und dies iſt gegen die Frei¬ heit des Guten und Wahren ihre Schranke — das ſinnliche Element nothwendig, aber in dieſem Element will und ſoll ſie die Erſcheinung der Idee nach ihrer Totalität ausdrücken. Es gehört zum Weſen der Idee, die Exiſtenz ihrer Erſchei¬ nung frei zu laſſen und damit die Möglichkeit des Negativen zu ſetzen. Alle Formen, die aus dem Zufall und aus der Willkür entſpringen können, realiſiren auch factiſch ihre Möglichkeit und die Idee beweiſt ihre Göttlichkeit vornämlich durch die Macht, mit welcher ſie im Gewimmel der ſich kreu¬ zenden Phänomene, in der Entzweiung von Zufall und Zufall, von Trieb und Trieb, von Willkür und Willkür, von Leidenſchaft und Leidenſchaft, doch in dem Ganzen die Einheit ihres Geſetzes erhält. Will alſo die Kunſt die Idee nicht blos einſeitig zur Anſchauung bringen, ſo kann ſie auch des Häßlichen nicht entbehren. Die reinen Ideale ſtellen uns

� [39/0061] allerdings das wichtigſte Moment des Schönen, das poſitive, hin. Sollen aber Natur und Geiſt nach ihrer ganzen dra¬ matiſchen Tiefe zur Darſtellung kommen, ſo darf das natür¬ lich Häßliche, ſo darf das Böſe und Teufliſche nicht fehlen. Die Griechen, ſo ſehr ſie im Idealiſchen lebten, haben doch Hekatoncheiren, Kyklopen, Satyre, Grajen, Empuſen, Har¬ pyen, Chimären, haben einen hinkenden Gott gehabt, haben in ihrer Tragödie Verbrechen der ſcheußlichſten Art (Oedipodie und Oreſtie), Wahnſinn (Ajas), ekle Krankheit (der Eiter¬ fuß des Philoktetes) und vollends in ihrer Komödie Untu¬ genden und Schändlichkeiten aller Art zur Anſchauung ge¬ bracht. Mit der chriſtlichen Religion aber als der, welche das Böſe in ſeiner Wurzel erkennen und von Grund aus überwinden lehrt, iſt das Häßliche nun vollends in die Welt der Kunſt eingeführt.

Aus dieſem Grunde alſo, die Erſcheinung der Idee nach ihrer Totalität zu ſchildern, kann die Kunſt die Bil¬ dung des Häßlichen nicht umgehen. Es wäre eine ober¬ flächliche Auffaſſung der Idee, wollte ſie ſich auf das einfach Schöne beſchränken. Aus dieſer Integration folgt jedoch nicht, daß das Häßliche mit dem Schönen äſthetiſch auf gleicher Stufe ſtünde. Die ſecundäre Entſtehung des Hä߬ lichen macht auch hier einen Unterſchied. Das Schöne näm¬ lich, weil es in ſich ſelbſt beruhet, kann auch ganz bezie¬ hungslos und ohne allen weitern Hintergrund von der Kunſt hervorgebracht werden, während das Häßliche einer gleichen Selbſtſtändigkeit äſthetiſch nicht fähig iſt. Empiriſch freilich verſteht es ſich von ſelbſt, daß das Häßliche auch iſolirt auftreten kann, äſthetiſch hingegen iſt ein abſtractes Fixiren des Häßlichen unzuläſſig, denn äſthetiſch muß es ſich immer in das Schöne reflectiren, an welchem es die Bedingung

� [40/0062] ſeiner Exiſtenz hat. Wir können nunmehr den oben für das Schöne betrachteten Satz wieder aufnehmen und ſagen, daß das Häßliche allerdings, da es nicht in ſich ſelbſt beruhet, an dem Schönen die ihm nothwendige Folie beſitzt. Neben einer Danaë laſſen wir uns wohl die häßliche Alte gefallen, aber dieſe allein würde der Maler uns nicht malen, es wäre denn als Genrebild, wo die Situation das äſtetiſche Element aus¬ machen würde, oder als Portrait, das zunächſt unter die Kategorie der hiſtoriſchen Richtigkeit fällt. Die Abhängigkeit des Häßlichen vom Schönen iſt ganz natürlich wieder nicht ſo zu nehmen, als dürfte das Häßliche ſich das Schöne zum Mittel machen. Dies wäre eine Abſurdität. Das Häßliche kann alſo neben dem Schönen, gleichſam unter ſeinem Patro¬ nat, accidentell erſcheinen; es kann uns die Gefahr vergegen¬ wärtigen, der das Schöne in der Freiheit ſeiner Beweglichkeit beſtändig ausgeſetzt iſt, aber es kann nicht directer und excluſiver Gegenſtand der Kunſt werden. Nur die Religionen können auch das Häßliche als abſolutes Object hinſtellen, wie ſo viele ſcheußliche Götteridole ethniſcher Religionen, aber auch Idole chriſtlicher Secten zeigen.

In der Totalität der Weltanſchauung macht das Hä߬ liche, wie das Kranke und das Böſe, nur ein verſchwindendes Moment aus und in der Verſchlungenheit mit dieſem großen Zuſammenhang ertragen wir es nicht nur, ſondern kann es uns intereſſant werden. Nimmt man es aber aus dieſem Zuſammenhang heraus, ſo wird es äſthetiſch ungenießbar. Erblicken wir z. B. auf dem Eykſchen Weltgericht zu Danzig auf der einen Seite des Mittelbildes einen Flügel, der uns die Grauengeſtalten der Hölle, die Verzweiflung der Ver¬ dammten und den Hohn der mit ihrer Strafe beſchäftigten Teufel darſtellt, ſo hat der Maler dieſen finſtern Knäuel

� [41/0063] widriger Fratzen offenbar nur in Beziehung zu dem gegen¬ überſtehenden Flügel gemalt, der den Eintritt der Be¬ gnadeten in die lichten Hallen des Himmels enthält, und beide hat er wieder nur gemalt im Verhältniß zu dem großen Mittelbilde, dem Gericht ſelbſt, welches erſt die Ex¬ treme der Seitenbilder erklärt und zu ihnen in ſymmetriſchen Gruppen und wunderbaren Farben-Auf- und Abſtufungen den Uebergang macht. Aber die Hölle allein oder gar einen Teufel allein würde er nicht gemalt haben. Für Zwecke der Belehrung iſoliren wir natürlich auch das Häßliche, aber ein Künſtler, der daſſelbe noch ſo porträtartig treu wieder¬ gäbe, würde niemals glauben, damit ein Kunſtwerk geſchaf¬ fen zu haben. Das Bild eines Chriſtuskopfes wird Jeder¬ mann ohne Bedenken ſich überall aufſtellen; nicht ſo die Maske eines Mephiſto. Eine ſolche Vereinzelung würde dem Häßlichen eine Selbſtſtändigkeit zugeſtehen, die gegen ſeinen Begriff iſt, während das Schöne in der Malerei bis zum Stillleben herunter iſolirt werden kann. So haben auch alle Werke der Poeſie, die ſich einen ſchlechthin häßlichen Gegen¬ ſtand genommen haben, bei allem Aufwand von Geiſt nie die geringſte Popularität gewinnen können. Niemand kann an dergleichen rechte Freude haben. Die Franzoſen beſitzen Lehr¬ gedichte über die Pornographie und ſogar über die Syphilis; die Holländer über die Blähungen u. ſ. w., allein die Eigenthümer ſolcher Gedichte ſchämen ſich ſogar, wenn man ſie bei ihnen trifft. Jener Prinz von Pallagonia, von welchem Göthe erzählt (13), wollte das Häßliche ſelbſt durch die Kunſt, die gegen ſeine Geſtaltung ſich am Entſchiedenſten ſträubt, durch die Sculptur in einer gewiſſen ſyſtematiſchen Vollſtändigkeit darſtellen und hat mit all ſeinem Aufwande doch nichts hervorgebracht, als eine verworrene, lächerlichtrau¬

� [42/0064] rige Curoſität. Nur in der Combination mit dem Schönen erlaubt die Kunſt dem Häßlichen das Daſein; in dieſer Ver¬ bindung aber kann es große Wirkungen hervorbringen. Die Kunſt bedarf ſeiner nicht nur zur Vollſtändigkeit der Welt¬ erfaſſung, ſondern vorzüglich auch zur Wendung einer Hand¬ lung in's Tragiſche oder in's Komiſche.

Wenn nun die Kunſt das Häßliche darſtellt, ſo würde es, wie es ſcheint, gegen den Begriff deſſelben ſein, es zu verſchönen, denn in dieſem Fall wäre ja das Häßliche nicht mehr häßlich, ganz abgeſehen davon, ob nicht ein Verſchönen des Häßlichen, als das ſophiſtiſche Wegkünſteln einer äſtheti¬ ſchen Lüge, nicht noch ein Häßliches mehr durch den innern Widerſpruch hervorbringen würde, das Häßliche, alſo die Ne¬ gation des Schönen, doch wieder ſchön zu bilden, ihm folg¬ lich etwas Poſitives anzulügen, was gegen ſeine Natur iſt und ſchließlich eine Caricatur des Häßlichen, einen Wider¬ ſpruch des Widerſpruchs, zu erzeugen. So ſcheint es, wie geſagt, und doch iſt es wahr, daß die Kunſt auch das Hä߬ liche idealiſiren, d. h. nach den allgemeinen Geſetzen des Schönen, die es durch ſeine Exiſtenz verletzt, behandeln muß; nicht, als ſollte die Kunſt das Häßliche verbergen, verkleiden, verfälſchen, mit ihm fremden Ausputz verzieren, wohl aber daſſelbe, der Wahrheit unbeſchadet, nach dem Maaß ſeiner äſthetiſchen Bedeutung geſtalten. Dies iſt nothwendig, denn die Kunſt verfährt in dieſer Weiſe mit aller Wirklichkeit. Die Natur, welche die Kunſt uns darſtellt, iſt die wirkliche und doch nicht die gemein empiriſche Natur. Sie iſt die Natur, wie ſie ſein würde, wenn ihre Endlichkeit ihr ſolche Vollendung geſtattete. Und ſo iſt die Geſchichte, welche die Kunſt uns gibt, die wirkliche und doch nicht die gemein empiriſche Geſchichte. Sie iſt die Geſchichte nach ihrem

� [43/0065] Weſen, nach ihrer Wahrheit, als Idee. In der gemeinen Wirklichkeit mangelt es niemals an den empörendſten und widerwärtigſten Häßlichkeiten; die Kunſt darf dieſelben nicht ſo ohne Weiteres aufnehmen. Sie muß uns das Häßliche in der ganzen Schärfe ſeines Unweſens vorführen, aber ſie muß dies dennoch mit derjenigen Idealität thun, mit der ſie auch das Schöne behandelt. Bei dieſem läßt ſie vom Inhalt deſſelben Alles hinweg, was ſeiner nur zufälligen Exiſtenz angehört. Sie hebt das Bedeutſame einer Erſcheinung her¬ vor und verwiſcht in ihm die unweſentlichen Züge. Das Gleiche muß ſie mit dem Häßlichen thun. Sie muß an ihm diejenigen Beſtimmungen und Formen herausſtellen, die das Häßliche zum Häßlichen machen, allein ſie muß alles das¬ jenige von ihm entfernen, was ſich nur zufällig in ſein Da¬ ſein eindrängt und ſeine Charakteriſtik ſchwächt oder verwirrt. Dies Reinigen des Häßlichen vom Unbeſtimmten, Zufälligen, Charakterloſen, iſt ein Act der Idealiſirung, die nicht im Hin¬ zuthun eines dem Häßlichen fremden Schönen, ſondern in einer prägnanten Hervorkehrung derjenigen Elemente beſteht, die es zum Gegenſatz des Schönen ſtempeln und in denen, ſo zu ſagen, ſeine Originalität, als die des äſthetiſchen Widerſpruchs liegt. Die Griechen erreichten in dieſer Ideali¬ ſirung allerdings zuweilen einen Punct, wo ſie das Häßliche aufhoben und in das poſitiv Schöne umbildeten, wie bei den Eumeniden und bei der Meduſe (14). Wenn man aber ſich häufig vorgeſtellt hat, als ob die Griechen die ideale Schönheit vorzüglich in einer heitern Ruhe geſucht und die Bewegtheit und Heftigkeit des Ausdrucks als häßlich ge¬ mieden hätten, ſo iſt dies eine zu enge, von einzelnen Sculp¬ turwerken hergenommene Vorſtellung ihrer Kunſt. Von der Poeſie wird man dies bei einigem Nachdenken bald einräumen;

� [44/0066] von der Sculptur hat Anſelm Feuerbach in ſeinem treffli¬ chen Werk über den Vaticaniſchen Apollo den Beweis geführt, daß ſie auch das Furchtbare und die dramatiſche Lebendigkeit nicht ſcheuete (15); von der Malerei lehrt uns dies nicht nur das tiefere Eindringen in die Wandmalerei von Hercu¬ lanum und Pompeji, ſondern auch die Beſchreibung der Gemälde des Polygnotos in den Leschen zu Delphi und zu Athen, wie auch Göthe bei ihrer Beſprechung aus¬ drücklich zu bemerken ſich veranlaßt ſieht, ein ſo großer Verehrer der Heiterkeit, Ruhe und maaßvollen Lebendigkeit er auch war (16).

Das Häßliche muß alſo durch die Kunſt von allem ihm heterogenen Ueberfluß und ſtörſamen Zufall gereinigt und ſelbſt wieder den allgemeinen Geſetzen des Schönen unter¬ worfen werden. Eben deshalb würde eine iſolirte Darſtellung des Häßlichen dem Begriff der Kunſt widerſprechen, weil es durch ſie als Selbſtzweck erſchiene. Die Kunſt muß ſeine ſecundäre Natur hervorblicken laſſen und daran erinnern, daß es urſpünglich nicht durch ſich ſelbſt, daß es nur an und aus dem Schönen als deſſen Negation exiſtirt. Wird es nun in dieſer ſeiner accidentellen Stellung zur Anſchauung gebracht, ſo muß bei ihm alle Rückſicht genommen werden, die ihm als einem Moment in einer harmoniſchen Totalität zukommt. Es darf nicht müßig ſein, ſondern ſich als nothwendig erweiſen. Es muß ſich angemeſſen gruppiren und ſich für das Ganze den Geſetzen der Symmetrie und Harmonie, die es an der eigenen Geſtalt verletzt, unterordnen; es darf ſich nicht über das ihm nach dem Zuſammenhang gebührende Maaß hervordrängen und muß eine Kraft individuellen Ausdrucks beſitzen, die es in ſeiner Bedeutung nicht ver¬ kennen läßt.

� [45/0067] Nehmen wir z. B. die bildende Kunſt, ſo iſt die An¬ ſchauung eines Menſchen, der ſeine Nothdurft verrichtet oder der ſich erbricht, gewiß ekelhaft. Dennoch haben Maler ſich nicht geſcheuet, ſolche Züge bei großen Gaſtereien mit aufzu¬ führen. Es iſt einmal der Lauf der Welt, daß die Leute, wenn es ihnen prächtig ſchmeckt, ſich auch wohl übernehmen. Zur Vollſtändigkeit der Schilderung hat der Künſtler dieſen Moment nicht fortlaſſen wollen, allein er hat es durch die Art ſeiner Darſtellung äſthetiſch gemildert. Paul Veroneſe hat ſo bekanntlich die Hochzeit zu Kanah gemalt. Im Vor¬ dergrund hat er einen kleinen Jungen gemalt, der in kind¬ licher Unſchuld pißt. Ein Kind in dieſer Situation iſt im Vordergrund ertragſam, zumal es, wie es lächelnd ſein Röckchen emporhebt, die niedlichen Waden und Lenden zeigt. Den ſich Erbrechenden aber, einen Erwachſenen, der des guten Eſſens und Trinkens zu viel genoſſen, ſehen wir in den Hintergrund geſtellt, wo er den weinſchweren Kopf an eine Mauer lehnt.

Die Diſſonanz iſt, muſikaliſch genommen, die Vernich¬ tung der Muſik, die Unmuſik. Der Muſiker darf ſie aber nicht willkürlich, vielmehr nur da eintreten laſſen, wo ſie vorbereitet iſt, wo ſie nothwendig wird, wo ſie durch die Auflöſung des Mißtons den Triumph der höhern Har¬ monie begründet.

Der Dichter, der uns einen Kaliban hinſtellt, thut dies auf einer Inſel im Weltmeer, die von einem Zauberer be¬ herrſcht wird, ſo daß in dieſem Zuſammenhang ſeine Erſchei¬ nung die Abſonderlichkeit verliert. Er iſt der urſprüngliche barbariſche Einwohner dieſer wilden Inſel, über den ſich der gebildete Eindringling zum Herren gemacht hat — das Schickſal aller Naturvölker, die mit Culturvölkern in Be¬

� [46/0068] rührung kommen. Kaliban hat daher, Prospero gegenüber, ſogar ein Urrecht des Beſitzes und weiß dies auch. Er iſt alſo nicht blos ein Ungethüm, ſondern er drückt eine weltge¬ ſchichtliche Idee aus. Aber noch mehr. Als ätheriſche Com¬ penſation hat ihm Shakeſpeare den Ariel hinzugefügt, wodurch uns einerſeits das Täppiſche und Thieriſche des gezähmten Ungeheuers ſchärfer hervortritt, wir andrerſeits aber auch uns über ſeine plumpe Maſſenhaftigkeit durch den Contraſt des zierlichen Luftgeiſtes erhoben fühlen.

Eine beſondere Frage könnte hier die Architektur durch ihre Ruinen veranlaſſen. Die Zertrümmerung eines Gebäudes ſollte nämlich Häßlichkeit erwarten laſſen; allein es wird, ob dies der Fall, theils von dem Bau, theils von der Art ſeiner Zerſtörung abhängen. Der ſchöne Bau nämlich wird auch als Ruine noch die Größe ſeines Plans, die Kühnheit ſeiner Verhältniſſe, den Reichthum und die Zierlichkeit ſeiner Aus¬ führung zeigen und unſere Phantaſie wird unwillkürlich aus ſeinen Andeutungen wieder das Ganze herzuſtellen verſuchen. Der häßliche Bau kann durch die Zertrümmerung gewinnen; ſeine Fragmente können phantaſtiſch durcheinander geworfen werden, abgeſehen davon, daß die Zerſtörung des Häßlichen uns eine äſthetiſche Genugthuung gewährt. Allein es wird auch darauf ankommen, wie die Ruine beſchaffen iſt, wie die Trümmer durcheinandergeſchleudert, welche Reſte übrig ge¬ blieben ſind. Ein winziger Steinhaufen, ein paar kahle Mauren gewähren noch keinen maleriſchen Anblick. Die Trümmer einer Scheune, eines Viehſtalls werden ſelbſt in Mondſcheinbeleuchtung uns nicht intereſſiren; ein Palaſt hingegen, ein Kloſter, eine Ritterburg werden uns romantiſch erſcheinen. Daß die Ruine als ſchön erſcheinen kann, wird endlich nicht nur durch die urſpünglichen Verhältniſſe des

� [47/0069] Baues und die Art ſeiner Zerſtörung, ſondern auch dadurch beſtimmt, ob das Bauwerk mit der umgebenden Natur ver¬ wächſt und ſelbſt den Charakter eines Naturwerks annimmt. Indem Dach und Fenſter und Thüren offen ſtehen, indem alle Abgeſchloſſenheit aufhört, indem das Moos die Steine begrünt, Pflanzen ſich zwiſchen den Steinen einwurzeln, Vögel ihre Neſter bauen und der Fuchs durch das zerbrochene Fenſter lugt, iſt der Bau gleichſam zu einer Production der Natur geworden, der ſie in ihren Baſaltformationen oft ſehr nahe kommt.


Das Häßliche im Verhältniß zu den einzelnen Künſten. Zur Möglichkeit überhaupt, in das Häßliche zu ver¬ fallen, haben die Künſte eine ganz gleiche Stellung. Jede kann es und zwar bis zur Unerträglichkeit hervorbringen. Dennoch findet eine qualitative Temperatur dieſer allgemeinen Möglichkeit nach der Eigenthümlichkeit einer jeden ſtatt. Nach der Natur einer jeden Kunſt iſt ihr Inhalt, ihr Um¬ fang, ihre Modalität, eine andere. Wir können die ver¬ ſchiedenen Künſte als einen Weg zur äſthetiſchen Selbſtbe¬ freiung des Geiſtes anſehen, auf welchem er zuletzt, in der Poeſie, ſich vollkommen ſelbſt erreicht. Der Durchgang durch das verſchiedene Material der Realiſirung des Schönen ſtellt uns die beſondern Stufen dieſer Befreiung dar. In der Materie, im Raum, in der Anſchauung, d. h. in der bilden¬ den Kunſt, iſt er noch außer ſich. Mit dem Ton, mit der Zeit, mit der Empfindung d. h. in der Muſik, tritt er in ſich ein. Mit dem Wort, mit dem Bewußtſein, mit der

� [48/0070] Vorſtellung und dem Gedanken, in der Dichtkunſt, gelangt er zur vollkommenen Innerlichkeit und zur völligen Idealität der Form. In dieſem Stufengang wächſt mit der zuneh¬ menden Freiheit, mit der größern Leichtigkeit und äußern Müheloſigkeit der Darſtellung, auch die Möglichkeit des Häßlichen.

In der Architektur kann allerdings ſcheußlich gebauet werden, wie nicht blos zahlloſe dem beſchränkten Bedürfniß entſprungene Gebäude, ſondern wie auch viele öffentliche Bauten, ja ſolche Gebäude zeigen, die ausdrücklich architek¬ toniſche Prachtwerke ſein ſollten. Aber es iſt ſchwer, in der Baukunſt ganz abſcheulich zu ſein. Wenn Göthe geſagt hat, daß Fehler nicht gebaut werden ſollen, weil ſie durch ihre Größe und Dauer den äſthetiſchen Sinn zu ſchmerzlich beleidigen, ſo hat er damit angedeutet, daß die Werke der Architektur zu ernſt und zu koſtbar ſeien, irgendwie leicht genommen zu werden. Durch ſein Material, als die maſſen¬ hafte Materie, fordert das Bauen immer die Ueberlegung heraus. Es muß mindeſtens Sicherheit gewähren und ſeinem Zweck einigermaßen entſprechen. Mit dieſen beiden Nützlich¬ keitsrückſichten kommt ſchon von ſelbſt immer einige Eurythmie in das Werk. Ein Gebäude iſt um ſo ſchöner, je mehr es nach Außen die Feſtigkeit ſeiner Verhältniſſe beruhigend aus¬ ſpricht und je mehr es in ſeiner Geſtalt ſchon ſymboliſch den Zweck verkündigt, dem es gewidmet iſt. Manche Häuſer, aus der erſten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts vornämlich, ſehen freilich ſo aus, als hätte man erſt vier Mauern ge¬ bauet, ſie nothdürftig überdacht und dann, wie die Schöppen¬ ſtädter in ihrem Rathhauſe, von Innen her nach Laune kleine und große Fenſter ohne alle Symmetrie herausgeſchlagen. Ein größerer Bau wird jedoch immer einige Beſinnung

� [49/0071] verrathen und ein Durcheinander verſchiedenartiger Bauſtyle aus verſchiedenen Jahrhunderten wird nicht ſowohl einen häßlichen, als einen phantaſtiſch impoſanten Eindruck machen.

Auch die Sculptur beſchränkt das Häßliche durch die Sprödigkeit und Koſtbarkeit ihres Materials außerordentlich. Es verſteht ſich von ſelbſt, daß, wie ja die ſchreiendſten That¬ ſachen bekunden, auch die jämmerlichſten Statuen gemeißelt und gegoſſen werden können, allein die Koſtſpieligkeit des Stoffs und die Mühſamkeit der Arbeit werden immerhin den productiven Leichtſinn zügeln. Ein Carrariſcher Marmorblock oder altes Kanonengut zu einer Statue iſt nicht ſo wohl¬ feil zu haben. Nur ſehr langſam weicht der Block den tauſenden von Hammerſchlägen; nur in ſehr verwickelter oft Jahre in Anſpruch nehmender Procedur wird das Erz der Form eingegoſſen und dann noch Monate auf Monate ciſe¬ lirt. Daher iſt auch in keiner Kunſt die Tradition ſo mächtig, als in der Sculptur. Das Neue wagt ſich ſeltener hervor, weil beim Mißlingen zu viel auf dem Spiele ſteht. Ein in Stein ausgehauener, ein in Bronze ausgegoſſener Fehler ſind in ihrer plaſtiſchen Realität viel auffallender, als wenn ſie nur gezeichnet oder gemalt wären. Dazu kommt, daß keine Kunſt vermöge der Idealität, zu welcher das Beharren ihrer Formen drängt, eine ſo geringe Neiglichkeit hat, das Negative in Krankheit, Schmerz und Bosheit darzuſtellen.

Die Malerei dagegen iſt unter den bildenden Künſten dem Verfall in's Häßliche am meiſten preisgegeben, weil ſie die individuelle Lebendigkeit und den Schein der Perſpektive vorzutäuſchen hat. Die Bildhauerei kann in der Geſtalt, Stellung und Drapperie einzelne kleinere, ſelbſt größere Feh¬ ler bei einer Statue machen und doch noch ganz Achtungs¬


Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 4 � [50/0072] würdiges leiſten. Die Malerei aber kann durch die Wohl¬ feilheit ihres Materials und die Leichtigkeit ihrer Production vielmehr zur Pfuſcherei verleitet werden. Der Umfang ihrer Möglichkeit iſt ſchon unendlich größer, als der der Sculptur: die Landſchaft, das Thier, der Menſch; nichts, was irgend in die Sichtbarkeit zu treten vermag, iſt von ihr ausge¬ ſchloſſen. Zugleich iſt ſie nach vielen Seiten hin bedingt: die Umriſſe der Geſtalten, das Colorit, die Perſpective — was iſt hier nicht Alles zu beachten, das als Einheit er¬ ſcheinen ſoll! Daher Unrichtigkeit der Zeichnung, Unwahrheit des Colorits, Falſchheit der Perſpective ſo bald ſich einſchlei¬ chen. Eine Verkürzung, wie bald iſt ſie verzeichnet! Ein Farbenton, wie bald vergriffen! Ein Schatten oder ein Lichtreflex, wie bald vergeſſen! Es gibt daher ganz un¬ zweifelhaft viel mehr ſchlechte Gemälde, als Statuen, wobei man nicht einmal die aus religiöſen Principien häßlichen Indiſchen und Aegyptiſchen auszunehmen braucht.

Mit der Muſik ſteigert ſich die Leichtigkeit der Production und mit ihr ſo wie mit der dieſer Kunſt eigenen ſubjectiven Innerlichkeit die Möglichkeit des Häßlichen. Obwohl nämlich dieſe Kunſt in ihrer abſtracten Form, im Tact und Rhythmus, auf der Arithmetik beruhet, ſo iſt ſie doch in dem, was ſie erſt zum wahren, ſeelenvollen Ausdruck der Idee macht, in der Melodie, der größten Unbeſtimmtheit und Zufälligkeit aus¬ geſetzt und das Urtheil, was ſchön, was nicht ſchön ſei, in ihr oft unendlich ſchwer. Daher denn die Häßlichkeit vermöge der ätheriſchen, volatilen, myſteriöſen, ſymboliſchen Natur des Tons und vermöge der Unſicherheit der Kritik hier noch mehr Boden, als in der Malerei, gewinnt.

Endlich in der freieſten Kunſt, in der Poeſie, erreicht die Möglichkeit des Häßlichen mit der Freiheit des Geiſtes und

� [51/0073] mit dem ſo leicht zu ſprechenden oder zu ſchreibenden Wort als dem Medium der Darſtellung den Gipfel. Um der Idee wahrhaft zu genügen, iſt die Poeſie die ſchwerſte Kunſt, weil ſie am wenigſten das empiriſch Gegebene direct nachahmen kann, vielmehr es aus der Tiefe des Geiſtes ideell verarbeiten, verdichten muß. Iſt ſie aber einmal da, hat ſie erſt eine literariſche Exiſtenz gewonnen, hat ſie ſich erſt eine poetiſche Technik erſchaffen, ſo iſt auch keine Kunſt ſo leicht zu mi߬ brauchen, als die Poeſie, weil dann, nach dem bekannten Urtheil eines großen Dichters, die Sprache ſelber ſchon für uns dichtet und denkt. Im Epos, in der Lyrik, Dramatik und Didaktik erzeugt ſich für den Inhalt wie für die Form ein oberflächliches Modificiren deſſelben Materials, deſſen Geſtaltung nur ſcheinbar ſich verändert. Es gehört dann ſchon ein gebildeterer und in ſich durch vielſeitigere Erfahrung be¬ reicherter, durch tiefere Erkenntniß beruhigter Geſchmack dazu, das Häßliche zu entdecken. Hiezu kommt noch das Intereſſe, welches an der Poeſie von Seiten der Tendenz genommen werden kann, ſo daß nicht der poetiſche Werth, ſondern das revolutionaire oder conſervative, das rationaliſtiſche oder pietiſtiſche Pathos das Schickſal eines Gedichts entſcheidet, wie unſere Epoche hiezu ſo viele Beläge liefert. Vor den Parteiidealen iſt bei uns das göttliche Ideal oft verdüſtert, ja verſchwunden. In der Poeſie kann am leichteſten und un¬ merklichſten geſündigt werden und in ihr wird gewiß die größte Maſſe des Häßlichen producirt.


4 * � [52/0074] Das Wohlgefallen am Häßlichen. Daß das Häßliche ſolle ein Wohlgefallen erzeugen können, ſcheint eben ſo widerſinnig, als daß das Kranke oder Böſe ein ſolches hervorrufe. Und doch iſt dies möglich, einmal auf geſunde, einmal auf krankhafte Weiſe.

Auf geſunde Weiſe, wenn das Häßliche in der Totalität eines Kunſtwerks ſich als eine relative Nothwendigkeit recht¬ fertigt und durch die Gegenwirkung des Schönen aufgehoben wird. Nicht das Häßliche als ſolches bewirkt dann unſer Wohlgefallen, ſondern das Schöne, welches den Abfall von ſich, der auch zur Erſcheinung kommt, überwindet. Hiervon iſt oben ſchon gehandelt.

Auf krankhafte Weiſe, wenn ein Zeitalter phyſiſch und moraliſch verderbt iſt, für die Erfaſſung des wahrhaften, aber einfachen Schönen der Kraft entbehrt und noch in der Kunſt das Pikante der frivolen Corruption genießen will. Ein ſolches Zeitalter liebt die gemiſchten Empfindungen, die einen Wider¬ ſpruch zum Inhalt haben. Um die abgeſtumpften Nerven aufzukitzeln, wird das Unerhörteſte, Disparateſte und Widrigſte zuſammengebracht. Die Zerriſſenheit der Geiſter weidet ſich an dem Häßlichen, weil es für ſie gleichſam das Ideal ihrer negativen Zuſtände wird. Thierhetzen, Gladiatorſpiele, lüſterne Symplegmen, Caricaturen, ſinnlich verweichlichende Melodien, koloſſale Inſtrumentirung, in der Literatur eine Poeſie von Koth und Blut (de boue et de sang, wie Marmier ſagte), ſind ſolchen Perioden eigen.


� [53/0075] Eintheilung. Wenden wir uns nach Beſeitigung dieſer Vorfragen zur Entwickelung der Eintheilung des Begriffs des Häßlichen, ſo haben wir oben ſchon die Stelle, die er in der Metaphyſik des Schönen einnimmt, im Allgemeinen angegeben. Wir haben geſagt, daß er zwiſchen dem Begriff des Schönen an ſich und dem des Komiſchen die negative Mitte ausmache. Dieſe Stellung weicht von derjenigen ab, welche das Häßliche gar nicht als ein beſonderes Moment der Idee des Schönen, ſondern nur als eine untergeordnete Nebenbeſtimmung theils des Erhabenen in der Form des Furchtbaren und Gräßlichen, theils des Komiſchen in der Form des Poſſirlichen und Niedrig¬ komiſchen behandelt. Viele der heutigen Aeſthetiker nämlich nehmen das Komiſche als den Gegenſatz des Erhabenen und wollen das Abſolutſchöne als die Einheit des Erhabenen und Komiſchen betrachtet wiſſen. Das Komiſche aber ſteht nicht blos dem Erhabenen, es ſteht dem einfach Schönen überhaupt entgegen oder richtiger vielmehr, es ſteht ihnen nicht ent¬ gegen, ſondern es iſt die Aufheiterung des Häßlichen in's Schöne. Das Häßliche ſteht dem Schönen entgegen; es widerſpricht ihm, während das Komiſche zugleich ſchön ſein kann, ſchön nicht im Sinn des einfachen, poſitiv Schönen, wohl aber im Sinn der äſthetiſchen Harmonie, der Rückkehr aus dem Widerſpruch in die Einheit. Im Komiſchen iſt ein Häßliches als Negation des Schönen mitgeſetzt, die es jedoch wiederum negirt. Ohne einen Widerſpruch, der durch einen Schein aufgelöſt wird, weil er ſelber nur ein Schein iſt, kann das Komiſche nicht gedacht werden. Ariſtoteles und nach ihm Cicero habe dieſen Zuſammenhang bereits ſo auf¬ gefaßt (16). Der Begriff des Erhabenen iſt auch nicht von

� [54/0076] dem des Schönen zu trennen, ſondern als eine eigenthümliche Form deſſelben anzuſehen. Da nun das Häßliche nichts Ab¬ ſolutes, vielmehr nur ein Relatives iſt, ſo muß für ſeine Begriffsbeſtimmung auf die Idee des Schönen ſelbſt, durch die es bedingt iſt, zurückgegangen werden.

Das Schöne überhaupt iſt, wie wir hier, wo uns nur das Häßliche beſchäftigt, vorauszuſetzen haben, die ſinnliche Erſcheinung der natürlichen und geiſtigen Freiheit in har¬ moniſcher Totalität.

Das erſte Erforderniß des Schönen iſt deshalb bekanntlich das Bedürfniß der Grenze; es muß ſich als Einheit in ſich ſetzen und ſeine Unterſchiede als organiſche Momente derſelben. Dieſer Begriff der abſtracten Formbeſtimmtheit macht ge¬ wiſſermaaßen die Logik des Schönen aus, weil er noch gänzlich von dem beſondern Inhalt deſſelben abſtrahirt und für alles Schöne, in welchem Material es ſich auch realiſire und welches immer ſeine geiſtige Erfüllung ſei, die gleiche formale Nothwendigkeit hat.

Die Negation dieſer allgemeinen Einheit der Form iſt alſo die Formloſigkeit. Die bloße Abweſenheit aller Form iſt nicht ſchön, allein auch noch nicht häßlich. Der Raum in der Grenzenloſigkeit ſeiner Ausdehnung kann nicht häßlich genannt werden; das Nachtſchwarz, worin gar keine Form ſich ab¬ ſcheidet, auch nicht; ein gleichmäßig fortklingender Ton eben ſo wenig u. ſ. w. Erſt da wird die Formloſigkeit häßlich, wo ein Inhalt eine Form haben ſollte und derſelben noch er¬ mangelt, oder wo zwar ſchon eine Form allein noch nicht ſo geſtaltet iſt, als ſie es dem Begriff des Inhalts gemäß ſein ſollte. Inſofern wir mit dem Ausdruck Formloſigkeit auch die Unbeſtimmtheit der Grenze bezeichnen, kann die Form¬ loſigkeit auch die nothwendige Form eines Inhalts ſein, wie

� [55/0077] z. B. die Unendlichkeit des Raums eine ſolche erfordert, denn eine Form, alſo eine Begrenzung zu haben, würde gegen den Begriff des abſoluten Raumes ſein, d. h. er kann nur die Formloſigkeit zu ſeiner Form haben. Soll aber ein Inhalt eine Form haben und iſt dieſe nun nicht da, ſo vergleichen wir ihn mit dieſer für ihn und von ihm ſelber vorausgeſetzten Form und empfinden dieſen Mangel als Häßlichkeit. Meta¬ phyſiſch genommen iſt es allerdings ganz richtig, daß kein Inhalt ohne irgend eine Form exiſtiren kann, relativ aber kann, wie die Inhaltsloſigkeit, ſo auch die Formloſigkeit ausgeſagt werden. Stellen wir uns z. B. einen Landſchafts¬ maler vor, der eine Gegend aufnimmt und, von der Zeit gedrängt, ſeinen flüchtigen Umriſſen nur einige Farbenſtriche für ſein Gedächtniß hinzuzufügen vermag, ſo wird die Land¬ ſchaft nur eine ſehr unvollkommene Form haben. Es werden ſich uns auf dem Gemälde ſtatt des wirklichen Colorits nur formloſe Farbenpuncte darbieten, die ſich erſt auf die künftige Ausführung beziehen und dies Farbenaggregat würde inſofern noch formlos und dadurch häßlich ſein. Nun können wir uns weiter das Bild als vollendet vorſtellen, jedoch verfehlt und mißrathen, ſo würde die Ausführung, alſo die vollſtän¬ dige Form da ſein und doch nicht diejenige, welche da ſein ſollte. Statt ihrer würde eine dem Begriff der Sache mehr oder weniger fremde entſtanden ſein, alſo eine Form, die dem Inhalt nicht entſpräche. Es wäre folglich ein poſitiver Widerſpruch von Inhalt und Form da und dieſe Formloſig¬ keit der Form wäre wieder häßlich.

Das Schöne erfordert alſo Einheit des Inhalts und der Form in beſtimmten Verhältniſſen, die, abſtract genom¬ men, Maaßverhältniſſe ſind. Aber das Schöne hat weſent¬ lich auch eine ſinnliche Seite an ſich, denn gerade als Form

� [56/0078] fällt es in die Natur. Auch der geiſtigſte Inhalt bedarf, um ſchön zu ſein, der Vermittelung der ſinnlichen Manifeſtation Von dieſem Standpunct aus enthält die Natur die Wahr¬ heit der concreten Individualiſirung, in welche die Exiſtenz des Schönen eingehen muß. In ſeiner Wirklichkeit iſt daſ¬ ſelbe ein zugleich ideell beſtimmtes, dieſe Beſtimmtheit aber irgendwie an die Natur gebunden, denn nur durch die Natur kann die Idee ſich verendlichen und als eigenthümliche Er¬ ſcheinung realiſiren. Ohne die Natur exiſtirt einmal keine ſchöne Geſtaltung und die Kunſt bedarf inſofern des Studiums der Natur, ihrer Formen mächtig zu werden; die Kunſt ſoll die Natur in dieſer Rückſicht und zwar mit gewiſſenhafter Treue nachahmen, denn ſie hängt hierin von ihr ab. — Die¬ ſer Satz iſt eben ſo wahr, als der, daß die Kunſt die Na¬ tur nicht nachahmen ſolle, ſofern unter Nachahmen ein blo¬ ßes, wenn auch noch ſo genaues Copiren der zufälligen, em¬ piriſchen Objecte verſtanden wird. Wie der Formalismus der abſtracten Maaßverhältniſſe noch nicht ausreicht, das Schöne zu ſchaffen, ſo auch nicht der abſtracte Realismus. Das Nachbilden der cruden Erſcheinung iſt noch nicht Kunſt, denn dieſe ſoll von der Idee ausgehen, die Natur aber, da ſie in ihrer Exiſtenz aller Aeußerlichkeit und Zufälligkeit preis¬ gegeben iſt, kann oft ihren eigenen Begriff nicht erreichen. Es bleibt Sache der Kunſt, die von der Natur angeſtrebte, allein durch ihr Daſein in Raum und Zeit ihr oft unmöglich gemachte Schönheit, das Ideal der Naturgeſtalt, zu realiſiren. Um aber dieſe ideale Wahrheit der Naturformen möglich zu machen, muß allerdings die empiriſche Natur ſorgfältig ſtudirt werden, wie dies auch alle ächten Künſtler thun und wie nur die falſchen Idealiſten es verſchmähen. Die Wahr¬ heit der Naturformen gibt dem Schönen die Correctheit.

� [57/0079] Demgemäß beſteht die Correctheit im Allgemeinen darin, daß in Darſtellung der nothwendigen Naturform keine Fehler gemacht werden. Das Schöne kann dieſer Richtigkeit nicht entbehren. Verſtößt alſo eine Geſtalt gegen die Geſetz¬ mäßigkeit der Natur, ſo erzeugt ſich aus ſolchem Widerſpruch unfehlbar Häßlichkeit. Die Natur ſelber wird unſchön, wenn ſie durch irgendwelche Verirrung von ihrem Geſetz abfällt. Die Kunſt aber wird es noch mehr, weil bei ihr die Ent¬ ſchuldigung fortfällt, welche der Natur zu Gute kommt, dem einmal vorhandenen Zuſammenhang nicht haben ausweichen zu können, durch welchen Monſtroſitäten, Kakerlaken, Waſſer¬ köpfe u. ſ. w. entſtehen. Stellen wir uns z. B. vor, daß die Sculptur eine Elephantin mit einem ſäugenden Jun¬ gen, als ein Gegenſtück zu jener ſäugenden Kuh Myrons, bilden wollte, ſo würden in der Unordnung der Gruppe die abſtracten Maaßverhältniſſe zur Anwendung kommen müſſen, das Moment der natürlichen Correctheit aber würde darin liegen, daß das Junge in der That auch ſo geſäugt wird, als es der Elephantin nach der Natur möglich iſt. Der weibliche Elephant trägt nämlich die Euter zwiſchen den Vorderfüßen, eine Tendenz zum menſchlichen Buſen, und das Junge ſaugt nicht mit dem Rüſſel, mit welchem der Elephant doch auch das Waſſer aufſchlürft, es ſich in den Schlund zu ſpritzen, ſondern es ſaugt mit den Lippen des Unterkiefers. Würde dies nun nicht beobachtet, ſo würde eine Incorrectheit und mit ihr eine Häßlichkeit entſtehen, denn alle Ver¬ hältniſſe der Geſtalt des Elephanten ſind auf dieſe Art des Saugens berechnet. Es verſteht ſich, daß auch ein äußer¬ liches ſogenanntes Verſchönen der Natur, das ihre ideale Wahrheit alterirt, unter den Begriff der Incorrectheit fällt,

� [58/0080] ſo gut, als die ſclaviſche Correctheit, die über eine pein¬ liche Richtigkeit nicht zur idealen Wahrheit hinausgeht, äſthetiſch ſelber der Correctur bedarf.

Aber es verſteht ſich auch, daß ein ſelbſtbewußtes Ab¬ weichen der Kunſt von den durch die Natur gegebenen For¬ men behufs eines beſondern äſthetiſchen Eindrucks oder in phantaſtiſchen Bildungen nicht als Incorrectheit gelten darf. Einen eigenthümlichen Kreis der Correctheit macht daher das conventionelle Maaß ſelber aus, das ſich als hiſtoriſcher Aus¬ druck einer Geſtalt des Geiſtes fixirt. In ihrem Urſprung wird eine ſolche Form mehr oder weniger mit einem Natur¬ maaß, wenigſtens mit einem reellen Bedürfniß, zuſammen¬ hängen. Im Verlauf der Zeit kann ſie ſich aber auch weit von der Natur entfernen, indem der Menſch, ſeine Freiheit recht augenſcheinlich zu verwirklichen, der Natur ſogar oft Gewalt anthut. Der Wilde zeigt durch barbariſche Ver¬ ſtümmelungen und Veränderungen ſeines Körpers, durch Knochen und Ringe, die er in der Naſe und den Ohrläpp¬ chen oder Lippen befeſtigt, durch Tättowiren u. dgl., den Trieb, ſich von der Natur zu unterſcheiden. Er iſt nicht, wie das Thier, mit der gegebenen Natur zufrieden; er will als Menſch ſeine Freiheit gegen ſie zeigen. Die Völker ge¬ winnen bei einiger Dauer einen ganz abſonderlichen Habitus und eine feſt ausgeprägte Sitte des Benehmens. Sie bringen, ihrem Local- und Nationalcharakter entſprechend, eigenthüm¬ liche Formen der Kleidung, Wohnung und Geräthſchaften hervor. Hat nun die Kunſt einen geſchichtlichen Gegenſtand zu behandeln, ſo wird ſie, correct zu ſein, ihn nach ſeiner poſitiven hiſtoriſch gegebenen Form darzuſtellen haben. Auch hier gilt es nicht eine ſcrupuloſe Akribie, aber doch eine Beachtung deſſen, was die Geſtalt durch die Steigerung der

� [59/0081] Eigenthümlichkeit auch zu einem äſthetiſch individuelleren Object macht. Die breit heruntergezogene Unterlippe des Botocuden; die Dickbäuche und Zwergfüße der Chineſiſchen Damen; die kerlhaften Geſichter und kurzen Taillen der Weiber in den Steierſchen Alpen u. ſ. w. ſind gewiß häßlich. Ein Verſtoß gegen dieſe Formen würde alſo äſthetiſch den Vorzug verdienen. Handelte es ſich aber darum, eine Dame gerade als Chineſiſche Schönheit darzuſtellen, ſo würde nichts übrig bleiben, als dies eben Chineſiſch zu thun und ihr folg¬ lich weder den Dickbauch noch den Zwergfuß zu erſparen. Die Kunſt könnte dieſe Formen mildern, dürfte ſie aber nicht ignoriren. Es gehört dergleichen dann einmal zur individuellen Charakteriſtik eines geſchichtlichen Vorwurfs. Die naive Epoche einer Kunſt wird ſich zwar um dieſe hiſtoriſche Ge¬ nauigkeit wenig kümmern und ſich vor Allem an das allgemein Menſchliche halten, aber die zur Reflexion gelangte Kunſt wird ſich der Rückſicht auf die geſchichtliche Correctheit nicht entſchlagen können. Das Franzöſiſche Theater unter Ludwig XIV. und XV. ſpielte bekanntlich die Griechiſchen und Römiſchen Heroen und Heroinen in Perücken und Reifröcken mit Galanteriedegen. Die Schauſpieler ſtanden dadurch dem Publicum näher, ſofern daſſelbe ein Handeln in dieſem Coſtum leichter verſtehen mußte. Aber allmälig beunruhigte man ſich über jene Licenz. Man wollte die Vergangenheit und die Fremde in ihre Rechte einſetzen. Eine eigene, mit recht inſtructiven Kupfern ausgeſtattete Zeitſchrift, die Costumes et Annales des grands Theâtres de Paris unter Ludwig XVI., machte es ſich zum Zweck, das Celtiſche, Grie¬ chiſche, Römiſche, Jüdiſche, Perſiſche und mittelaltrige Coſtum nach ſeiner hiſtoriſchen Treue zu ſchildern und mit der Thea¬ terpraxis in Einklang zu bringen.

� [60/0082] Die Formloſigkeit wäre alſo die erſte und die Incor¬ rectheit die zweite Hauptform des Häßlichen. Aber noch iſt diejenige Form zurück, die recht eigentlich erſt den Grund für beide enthält, die innere Verbildung, die auch in äußere Disharmonie und Unnatur ausſchlägt, weil ſie in ſich ſelbſt trüb und verworren iſt. Für das Schöne nämlich iſt Freiheit der wahrhafte Inhalt, Freiheit in dem allgemeinen Sinn, daß nicht nur die ethiſche des Willens, ſondern auch die Spontaneität der Intelligenz und die freie Bewegung der Natur darunter verſtanden wird. Die Einheit der Form und die Individualität derſelben werden vollkommen ſchön erſt durch Selbſtbeſtimmung. Man muß dieſen Begriff der Freiheit hier allgemein nehmen, weil man das äſthetiſche Gebiet ſonſt ohne Noth verengt. Die Metaphyſik des Schö¬ nen gilt nicht nur für die Kunſt, ſondern auch für die Natur und das Leben. Es iſt in der neuern Zeit üblich geworden, bei dem Schönen ſogleich von dem geiſtigen Gehalt der ſinn¬ lichen Form zu ſprechen. Dies kann den Sinn haben, daß auch die Natur an und für ſich geiſtentſprungen iſt, daß ſie als ein Werk des ſchöpferiſchen Geiſtes dieſen auch aus ſich widerſtrahlt und der Geiſt inſofern in ihrer Anſchauung auch ſeine Freiheit mitanſchaut. Dieſen Sinn, wie geſagt, kann jene Auffaſſung haben. Beſchränkt ſie ſich aber, wie oft geſchieht, lediglich auf die Kunſt, ſo entſteht dadurch eine grundloſe und ungerechte Verkürzung des Begriffs des Schönen und damit auch des Häßlichen. Der Begriff der Freiheit iſt nicht ohne den der Nothwendigkeit zu denken, denn der Inhalt der Selbſtbeſtimmung, die ſeine Form iſt, liegt in dem Weſen des individuellen Subjects, das ſich be¬ ſtimmt. Wir wollen es vermeiden, hier in jene ſchwierigen, oft ventilirten Unterſuchungen über den Urſprung und das

� [61/0083] Ziel der Freiheit einzugehen. Sie mögen andern Wiſſen¬ ſchaften überlaſſen bleiben. Begnügen wir uns hier mit dem äſthetiſchen Geſichtspunct, ſo ergibt ſich, daß die Freiheit als die ſich ſelbſt beſtimmende Nothwendigkeit den ideellen Gehalt des Schönen ausmacht. Die Freiheit hat durch ihr Weſen die Möglichkeit einer doppelten Bewegung an ſich, indem ſie entweder über das mittlere Maaß der Erſcheinung in das Unendliche hinaus, oder unter ihm in das Endliche hinein¬ gehen kann. An und für ſich iſt ſie die Einheit der Unend¬ lichkeit ihres Inhaltes und der Endlichkeit ihrer Form und als ſolche Einheit ſchön. Hebt ſie aber die Endlichkeit ihrer Selbſtbegrenzung auf, ſo wird ſie mit dieſem Act erhaben; ſetzt ſie dagegen ihre Verendlichung, beſchränkt ſie ſich, ſo wird ſie mit ſolcher Faßlichkeit gefällig. Das abſolut Schöne ruhet in ſeiner eigenen Unendlichkeit, weder hinausſtrebend in's Grenzenloſe, noch ſich verlierend in's Kleine.

Der wahrhafte Gegenſatz des Erhabenen iſt nicht das Häßliche, wie Ruge und K. Fiſcher, nicht das Komiſche, wie Viſcher meint, ſondern das Gefällige. Es muß in der Idee des Schönen unterſchieden werden zwiſchen dem Gegen¬ ſatz, den das Schöne überhaupt, alſo auch das Erhabene an dem Häßlichen als dem Negativſchönen hat, und dem poſiti¬ ven Gegenſatz, den das Erhabenſchöne an den niedlichen und zierlichen Formen des Gefälligſchönen hat. Durch die Ver¬ mittelung, welche das Häßliche für das Komiſche hervor¬ bringt, kann dieſes zwar relativ auch dem Erhabenen ent¬ gegengeſetzt werden, allein es iſt wohl zu erwägen, daß das Komiſche, weil es des Humors fähig iſt, auch wieder in's Erhabene übergehen kann. Was man beim Sturze Napo¬ leons I. ſagte: du sublime au ridicule il n'y a qu'un pas; und was man bei der Erhebung Napoleons III. ſagte: du

� [62/0084] ridicule au sublime il n'y a aussi, qu'un pas! kann als allgemeine äſthetiſche Regel genommen werden. Ariſto¬ phanes iſt oft ſo erhaben, daß jeder Tragöde ihn darum beneiden kann.

Innerhalb des Häßlichen aber wird folgerichtig die Unfreiheit das Princip ausmachen, von welchem die indivi¬ duell äſthetiſche oder vielmehr unäſthetiſche Charakteriſtik ausgeht; Unfreiheit auch in dem allgemeinen Sinn genom¬ men, daß nicht blos die Kunſt, ſondern auch die Natur und das Leben überhaupt hierhergezogen wird. Die Unfrei¬ heit als der Mangel an Selbſtbeſtimmung oder als der Widerſpruch der Selbſtbeſtimmung gegen die Nothwendigkeit des Weſens eines Subjectes erzeugt das in ſich ſelbſt Häßliche, das dann auch weiterhin als Erſcheinung zum Incorrecten und Formloſen wird. Betrachten wir z. B. das Lebendige im Zuſtande der Krankheit, ſo iſt allerdings die Möglichkeit deſſelben, krank zu werden, nothwendig, allein es iſt deshalb keineswegs nothwendig, daß es wirklich krank werde. Durch die Krankheit wird es in der Freiheit ſeiner Bewegung und Entwicklung geſtört; es wird alſo durch die Krankheit ge¬ bunden, deren Folgen endlich, nachdem ſie ſein Inneres durchſchlichen, ſich auch in ſeiner äußern Entſtaltung und Verhäßlichung offenbaren müſſen. — Oder betrachten wir den Willen, ſo wird er durch frivole Negation ſeiner Nothwendig¬ keit poſitiv unfrei; er wird böſe. Das Böſe iſt das ethiſch Häßliche und dies Häßliche wird auch das äſthetiſch Häßliche zur Folge haben. Wird doch ſchon die theoretiſche Unfreiheit, die Dummheit und Bornirtheit, nicht umhin können, ſich in der ſtupiden und ſchlaffen Phyſiognomie zu reflectiren. Wahre Freiheit iſt in allewege die Mutter des Schönen, Unfreiheit des Häßlichen. Das Häßliche wird aber, wie das

� [63/0085] Schöne, als der negative Doppelgänger deſſelben, die Un¬ freiheit nach zwei Seiten hin entfalten können: einmal nach der Seite hin, daß die Unfreiheit da eine Schranke ſetzt, wo, nach dem Begriff der Freiheit, keine ſein ſollte; und ſodann nach der Seite, daß die Unfreiheit da eine Schranke aufhebt, wo eine ſolche, nach dem Begriff der Freiheit, ſein ſollte. Das eine Mal erzeugt ſie die Gemeinheit, das andere Mal die Widrigkeit. Die Unfreiheit endlich, wie ſie, in der Form eines apodiktiſchen Urtheils, ſich mit ihrem Weſen, das ſie freilich zum Unweſen verkehrt, mit der Nothwendigkeit der Freiheit, ſelbſt vergleicht, wird zur Verzerrung der Freiheit und Schönheit, zur Caricatur. Sie iſt in ihrem Urſprung häßlich, denn ſie iſt im Inhalt wie in der Form der aus¬ drückliche Widerſpruch der Freiheit und Schönheit mit ſich ſelbſt. Aber in der Caricatur wird durch den beſtimmten Reflex in ihr Urbild die Macht des Häßlichen wieder ge¬ brochen; ſie kann relativ wieder zur Freiheit und Schönheit durchdringen, denn ſie erinnert nicht nur an das Ideal, dem ſie widerſpricht, ſondern ſie kann dies auch mit einer ge¬ wiſſen Selbſtbefriedigung thun, die in dem Schein des poſitiven Behagens der abſoluten Nullität an ſich ſelbſt komiſch wird.

Der Gegenſatz des Erhabenen iſt alſo das Gemeine; der des Gefälligen das Widrige; der des Schönen die Cari¬ catur. Der Begriff der letztern iſt allerdings ein ſehr weit¬ läufiger, denn wir gebrauchen ihn, da er alle Wendungen des Häßlichen in ſich concentrirt, faſt gleichbedeutend mit dieſem als Gattungsbegriff, und ſetzen die Caricatur dem Ideal, das in ihm verkehrt wird, mit Recht entgegen. Wegen dieſer beſtimmten Beziehung auf das Schöne vermag die Caricatur den Uebergang zum Schönen zu machen und alle Tonarten der Erſcheinung zu durchlaufen, denn es gibt flache

� [64/0086] und tiefe, heitere und düſtere, gemeine und erhabene, greu¬ liche und allerliebſte, lächerliche und furchtbare Caricaturen. Wie ſie aber auch in ſich beſtimmt ſein mögen, immer weiſen ſie mit ſich zugleich auf ihren poſitiven Hintergrund hin und laſſen ihr Gegentheil unmittelbar mit ſich erſcheinen. Von jedem Häßlichen muß man allerdings ſagen, daß es durch ſich die Beziehung auf dasjenige Schöne mitſetzt, das von ihm negirt wird. Das Formloſe für ſich fordert die Form heraus; das Incorrecte erinnert ſofort an ſein normales Maaß; das Gemeine iſt gemein, weil es dem Erhabenen, das Widrige, weil es dem Gefälligen widerſpricht. Die Cari¬ catur aber iſt nicht nur die Negation allgemeiner äſthetiſcher Beſtimmungen, ſondern ſpiegelt als Zerrbild eines erhabenen, eines reizenden oder ſchönen Urbildes die Qualitäten und Formen deſſelben auf individuelle Weiſe in ſich ab, ſo daß ſie, wie geſagt, relativ ſagar als ſchön erſcheinen können, aber in ihrer Verlorenheit dann eine um ſo energiſchere Wirkung hervorbringen. Man nehme z. B. den Don Quixote von Cervantes. Der edle Manchaner iſt ein Phantaſt, der ſich mit künſtlich krankhafter Anſtrengung noch als Ritter des Mittelalters gerirt, nachdem die ganze Um¬ gebung ſich ſchon aus demſelben herausgearbeitet und mit einer ſo abenteuerlichen Handlungsweiſe in Widerſpruch geſetzt hat. Schon gibt es keine Rieſen, Caſtelle, Zauberer mehr; ſchon hat die Polizei einen Theil der Ritterpflichten auf ſich genommen; ſchon hat der Staat ſich zum geſetzmäßigen Be¬ ſchützer der Wittwen, Waiſen und Unſchuldigen gemacht; ſchon iſt die individuelle Kraft und Tapferkeit gegen die Gewalt des Feuergewehrs gleichgültig geworden. Dennoch handelt Don Quixote, als ob dies Alles noch nicht exiſtirte, geräth dadurch nothwendig in tauſend Conflicte und wird in ihnen

� [65/0087] zur Caricatur, weil ſie die unvermeidliche Ohnmacht ſeines Benehmens um ſo mehr offenbar machen, je mehr er ſich zur Rechtfertigung und Bekräftigung ſeines Verfahrens auf die glorreichen Vorbilder eines Amadis von Gallien, eines Liſuarte u. A. in ähnlichen Lagen beruft. Die reellen Vor¬ ausſetzungen, unter welchen dieſe Blumen der Ritterſchaft handelten, ſind eben nicht mehr da und die Fiction ihrer Exiſtenz verfälſcht die Weltauffaſſung unſeres Hidalgo bis zum Wahnſinn. Allein dieſer Thor beſitzt in ſeiner Phan¬ taſterei zugleich wirklich alle Eigenſchaften eines ächten Ritters. Er iſt tapfer, großmüthig, mitleidig, hülfbereit, ein Freund der Unterdrückten, verliebt, treu, wundergläubig, abenteuerſüchtig. In ſeinen ſubjectiven Tugenden müſſen wir ihn bewundern und die Poeſie ſeiner Rede, wenn ſie von philanthropiſcher Erhabenheit überſtrömt, mit Wohlgefal¬ len vernehmen. Im Mittelalter wäre er ein würdiger Ge¬ noſſe an Königs Artus Tafelrunde, ein gefährlicher Rival aller „Irrenden“ geworden. Gerade durch ſeine poſitiven Elemente wird er eine um ſo bedeutendere Caricatur, weil dieſe an ſich herrlichen Eigenſchaften bei ihm zu einer Ver¬ kehrtheit ausſchlagen, die ſich ſelbſt vernichtet, die in trüber Begeiſterung an eine Mühle als einen mächtigen Rieſen ihre Tapferkeit verſchwendet, die Galeerenſträflinge als unſchuldig Unterdrückte befreiet, die einen Löwen, weil er ein königliches Thier, aus dem Käfig losläßt, die ein Barbierbecken als den Helm des unſterblichen Mambrin verehrt u. ſ. w. An¬ gelangt auf dieſen Punct der Selbſtvernichtung der Erhaben¬ heit ſeines Pathos lachen wir dann über ihn; die Komik bricht aus der Caricatur hervor, die uns ſonſt wohl ſogar zur Wehmuth bewegt. Don Quixote, armſelig, hager, irrend, iſt nie gemein oder widerwärtig, aber er wird form¬


Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 5 � [66/0088] los; ſeine Rozinante iſt ein ſehr incorrectes Streitroß; ſein Urbild, die ideale Ritterlichkeit, verwandelt ſich gerade durch die praktiſche Nullität ihrer Methode in ihr Zerrbild und zugleich hat Cervantes die große Kunſt verſtanden, in dem phantaſtiſchen Ritter und ſeinem verſtändigen Begleiter ewige Richtungen der Menſchennatur überhaupt zu ſchildern; er hat die Kunſt verſtanden, dieſe Verzerrung, in welche die edelſten Gefühle und die nobelſte Geſinnung umſchlagen, zu einer Kritik der Mängel der bürgerlichen Geſellſchaft zu machen — und nicht blos der Spaniſchen, in deren Mitte der lie¬ benswürdige Don lebt. Wir müſſen dem Dichter eingeſtehen, daß trotz des Staates, trotz der Polizei, trotz der Auf¬ klärung, das freiwillige Eingreifen einer kraftvollen, hoch¬ herzigen Perſönlichkeit oft eine Wohlthat für die faulen Zuſtände ſein würde. So groß, ſo vielſeitig, ſo bedeutungs¬ voll kann eine Caricatur — durch das Genie — werden!


� [67/0089] Erſter Abſchnitt. Die Formloſigkeit. Die abſtracte Grundbeſtimmung alles Schönen iſt, wie wir oben ſahen, die Einheit. Als ſinnliche Erſcheinung der Idee bedarf es der Begrenzung, denn nur in ihr liegt die Kraft der Unterſcheidung, Unterſcheidung aber iſt ohne eine ſich abſondernde Einheit unmöglich. Alles Schöne muß ſich als Einheit darſtellen, aber nicht blos als Einheit nach Außen hin ſich abſchließen, vielmehr auch ſich in ſich ſelbſt wieder von ſich als Einheit unterſcheiden. Der Unterſchied, als ein beſtimmter, kann zur Entzweiung werden; die Entzweiung aber, da ſie der Kampf der Einheit mit ſich ſelber iſt, muß mit ihrem Proceß in die Einheit zurückgehen können, wenn auch der empiriſche Verlauf thatſächlich nicht immer ſo weit gelangt. Die Einheit bringt durch Erzeugung ihres Unter¬ ſchiedes und durch ſeine Auflöſung ſich als harmoniſche hervor.

Dies ſind Lehnſätze aus der Metaphyſik des Schönen. Wir müſſen an ſie erinnern, denn aus ihnen ergibt ſich, daß das Häßliche als das Negativſchöne 1. die Nichteinheit, Nichtabgeſchloſſenheit, Unbeſtimmtheit der Geſtalt ausmacht; 2. daß es den Unterſchied, wenn es ihn ſetzt, entweder als eine falſche Unregelmäßigkeit, oder als eine falſche Gleichheit und Ungleichheit hervorbringt; 3. daß es ſtatt der Wieder¬ einheit der Geſtalt mit ſich vielmehr den Uebergang der Ent¬ zweiung in die Verworrenheit falſcher Contraſte erzeugt.


5 * � [68/0090] Dieſe verſchiedenen Formen des Formloſen könnten wir auch mit Deutſchen Ausdrücken als Geſtaltloſigkeit, als Un¬ geſtalt und als Mißeinheit bezeichnen. Es wird aber für die wiſſenſchaftliche Technik bequemer ſein, wenn wir Griechiſche Ausdrücke gebrauchen, die wir Deutſche mit den Romaniſchen Völkern gemeinſam beſitzen und welchen durch den Umfang ihres Gebrauchs auch eine größere Präciſion zukommt. Wir können nämlich den Gegenſatz der Geſtalt überhaupt die Amorphie; den der verſtändigen Anordnung der Unterſchiede die Aſymmetrie und den der lebendigen Einheit die Disharmonie nennen.


A. Die Amorphie. Einheit im Allgemeinen iſt ſchön, weil ſie uns ein Ganzes gibt, das ſich auf ſich ſelbſt bezieht; daher Einheit das erſte Bedingniß aller Geſtaltung iſt.

Der Gegenſatz der Einheit als abſtracte Nichteinheit wäre alſo zunächſt die Abweſenheit der Begrenzung nach Außen, der Unterſcheidung nach Innen zu.

Die Abweſenheit der Begrenzung nach Außen iſt die äſthetiſche Geſtaltloſigkeit eines Weſens. Eine ſolche Grenzenloſigkeit kann in der Nothwendigkeit eines Weſens liegen, wie der Raum, wie die Zeit, wie das Denken, das Wollen an ſich als ohne Grenze gedacht werden müſſen. Sie wird aber erſt da ſich ſinnlich bemerklich machen, wo, dem Begriff nach, eine Unterſcheidung nach Außen hin ſtatt finden ſollte und nicht da iſt. Die Grenzenloſigkeit über¬

� [69/0091] Haupt kann man weder ſchön noch häßlich nennen. Im Vergleich mit ihr aber iſt das Begrenzte das Schönere, weil es eine ſich auf ſich beziehende Einheit darſtellt, wie Platon be¬ kanntlich dem περας vor dem ᾿απειρον den Vorzug gibt (17). Sie iſt an ſich deshalb nicht ſchlechthin häßlich, weil ſie in ihrem Nichts die Möglichkeit der Begrenzung darbietet. Da dieſe Begrenzung jedoch nicht wirklich iſt, ſo iſt ſie auch nicht ſchön.

Von dieſem abſoluten Mangel der Geſtalt iſt nun die¬ jenige Geſtaltloſigkeit verſchieden, die wir relativ ausſagen, ſofern zwar ſchon eine Geſtalt, alſo eine Einheit und Be¬ grenzung da iſt, dieſelbe jedoch in ſich noch ohne allen Unter¬ ſchied iſt. Eine ſolche Geſtalt iſt alſo innerhalb ihrer ſelbſt durch ihre Ununterſchiedenheit geſtaltlos. Dieſer Man¬ gel an Unterſcheidung wird langweilig und treibt alle Künſte, ſich gegen ihn zu waffnen. Die Architektur z. B. greift zur Ornamentik, um mit Zickzacklinien, mit Mäandern, mit Roſetten, mit Reifen, mit Zahnſchnitten, mit Eierſtäben, mit Ein- und Ausbiegungen u. ſ. w., auch da noch Unter¬ ſchiede hervorzubringen, wo ſonſt die Monotonie einer einfachen Fläche vorhanden ſein würde. Die kahle, unter¬ ſchiedloſe Identität iſt an ſich auch noch nicht poſitiv häßlich, aber ſie wird es. Die Reinheit eines beſtimmten Gefühls, einer beſtimmten Form, einer Farbe, eines Tons kann un¬ mittelbar ſogar ſchön ſein. Stellt ſich uns aber wieder und wieder immer nur dies Eine ohne Unterbrechung, ohne Wech¬ ſel und Gegenſatz dar, ſo entſteht dadurch eine triſte Armſe¬ ligkeit, Einförmigkeit, Einfärbigkeit, Eintönigkeit. Die leere Unbeſtimmtheit, die noch das Nichts aller Geſtaltung, hat ſich hier ſchon aufgehoben; aus dem noch unterſchiedloſen Abgrund der Möglichkeit der Geſtaltung iſt es ſchon zu einer

� [70/0092] Wirklichkeit und Beſtimmtheit der Form, der Farbe, des Tons, der Vorſtellung gekommen. Indem es nun jedoch bei dieſer Einen Beſtimmtheit ſein Bewenden hat, erzeugt ſich durch das Fixiren der bloßen Identität eine andere Häßlichkeit. Anfänglich nehmen wir einen ſo in ſich beſtimmten Eindruck noch mit Wohlgefallen auf, denn die Einheit und Reinheit, zumal wenn ſie mit Energie verbunden, hat etwas Erfreu¬ liches. Bleibt es aber bei dieſer abſtracten Einheit, ſo wird ſie durch ihre Unterſchiedloſigkeit häßlich und unausſtehlich. Was Göthe vom Leben überhaupt ſagt, daß nichts ſchwerer zu ertragen ſei, als eine Reihe von guten Tagen, das gilt auch vom Aeſthetiſchen. Der in ſich ununterſchiedene, der nur erſt gegen das Nichts der äußern Geſtaltloſigkeit ſich abſchei¬ dende und wiederholende Purismus Einer Geſtalt und Farbe, Eines Tons und Einer Vorſtellung wird häßlich, ja unaus¬ ſtehlich. Grün iſt eine ſchöne Farbe, aber nur grün, ohne den blauen Himmel darüber, ohne blinkendes Waſſer dazwi¬ ſchen, ohne eine weißflockige Schaafheerde darauf, ohne ein rothes Ziegeldach, das aus Bäumen hervorlauſcht, wird lang¬ weilig. Le parti des ennuyés in Paris war 1830 entzückt, als das Rottenfeuer und der Kanonendonner die Monotonie des ewigen Wagengeräuſchs auf den Boulevards unterbrach. Als aber der zweite Tag den Kampf fortſetzte und gar als am dritten das Schießen nimmer ſchien enden zu wollen, riefen die kaum Entlangweilten aus: Oh, que c'est ennuyant!

Die Einheit, die eine Nureinheit iſt, wird alſo häßlich, weil es im Begriff der wahrhaften Einheit liegt, ſich von ſich ſelbſt zu unterſcheiden. Nun kann die Geſtalt in ſich der Ein¬ heit den Unterſchied ihrer Auflöſung entgegenſetzen. Sie kann nach einer Seite hin, ja ſie kann überhaupt ſich als Geſtalt wieder aufheben und verſchwinden. Eine ſolche Auf¬

� [71/0093] löſung kann ſchön ſein, weil mit ihr das Werden als Ver¬ gehen, alſo ein Unterſcheiden verbunden iſt, wenngleich dies Unterſcheiden in das Nichts übergeht. Das Anziehende dieſes Phänomens beſteht eben darin, daß mit der Geſtalt zugleich das Werden der Geſtaltloſigkeit, das reine Uebergehen in An¬ deres, vorhanden iſt Man ſtelle ſich ein Gebirge vor, deſſen waldgekrönte Häupter in den Duft der Ferne träumeriſch verdämmern. Man ſtelle ſich den Schaum eines Wogen¬ ſturzes vor, deſſen aufſpritzenden, zerflatternden Giſcht der Wirbelſturm mit raſendem Jauchzen in die Lüfte fortſchleudert, ſo iſt der Uebergang der kaum entſtandenen Waſſerſäule in den Untergang ſchön. Oder man ſtelle ſich einen Ton vor, der, als Ton ſich gleich, allmälig verhallt, ſo iſt dies Ver¬ klingen ſchön. Verglichen mit der Oede der änderungloſen Gleichheit iſt alle Bewegung, auch die des Vergehens, ſchön. Was aber in ſolcher Weiſe ſchön iſt, wird häßlich, wenn die Auflöſung da eintritt, wo ſie nicht ſein ſollte, wo wir viel¬ mehr die Beſtimmtheit und Abgeſchloſſenheit der Geſtalt zu erwarten hätten, wo alſo die Geſtalt, ſtatt durch ein ſolches Aufheben ihrer ſelbſt zu gewinnen, verſtört, verwaſchen und verblaſen wird. Es entſteht dann das, was wir in der Kunſt das Nebuliſtiſche und Unduliſtiſche nennen, der Mangel an Beſtimmtheit, an Unterſcheidung, wo ſie doch ſein ſollten. In der epiſchen und dramatiſchen Poeſie kommt daſſelbe auch als Planloſigkeit zu Tage; in der Muſik nennen wir es mit einem euphemiſtiſchen Ausdruck das Wilde; das Wilde kann nämlich auch, wie bei einer Schlachtmuſik, ſchön werden, als Tadel aber bezeichnet es die Formloſigkeit. Das Schwanken und die Unſicherheit der Begrenzung wider¬ ſprechen dem Begriff der Geſtalt und dieſer Widerſpruch iſt häßlich. Die Unerfindſamkeit und die Kraftloſigkeit verbergen

� [72/0094] ſich oft hinter ſolch lockern Formen und blos andeutenden Umriſſen. Man verwechsle dieſe molluskenweichen, amorphen Geſtalten nicht mit der Skizze. Die wirkliche Skizze iſt der erſte Entwurf zu einer Ausführung. Sie iſt noch nicht be¬ friedigend, eben weil ihr noch die Ausführung fehlt, aber ſie kann uns ſchon, wie die Handzeichnungen großer Maler und Bildhauer, in ihren vorbereitenden Lineamenten die mögliche Schönheit vollkommen zu fühlen geben. Göthe hat in dem Dialoge: der Sammler und die Seinigen, alle hieher gehörigen Unterſchiede mit Feinheit abgewogen und aus¬ einandergeſetzt (18).

Das Nebuliſtiſche iſt alſo nicht der ſchöne Duft, in welchen eine Geſtalt ſich hüllen kann; das Unduliſtiſche iſt nicht die ſanfte Wellenlinie, in welche eine Form ver¬ ſchwimmen; nicht das Abtönen, in welches ein Klang ver¬ ſchweben kann. Es iſt im Gegentheil die Mattigkeit der Be¬ grenzung, wo dieſe als eine entſchiedene nothwendig wäre; die Unklarheit des Unterſchiedes, wo er hervortreten müßte; das Unverſtändliche des Ausdrucks, wo er ſich zu markiren hätte. In der Sculptur und Malerei ſind es vorzüglich ſymboliſche und allegoriſche Geſtalten, die zu einer ſolchen Behandlung verführen. Und ſelbſt bei dem beſten Willen können die Künſtler oft keine charakteriſtiſche Be¬ ſtimmtheit erreichen, wenn ſie ſolche Abſtracte, wie la patrie, la France, le choléra morbus, Paris u. dgl. darſtellen ſollen. Man kann ſehr zufrieden ſein, wenn ſie uns in ſolchem Fall eine ſchöne weibliche Geſtalt überhaupt geben. Die ältere Düſſeldorfer Malerſchule krankte eine Zeitlang an ſolcher Formloſigkeit, weil ſie durch das Vorherrſchen einer ſentimentalen Albummanier über den Unterſchied des Maleri¬ ſchen vom Poetiſchen getäuſcht ward, und, den Dichtern ſich

� [73/0095] anſchließend, zu ſehr ſich darauf verließ, daß das erklärende Wort derſelben ihren ſchwankenden, problematiſchen Geſtalten zu Hülfe käme. — In der Poeſie finden wir nach dem Auf¬ treten großer Genien ſehr häufig eine Periode der Nachahmer, bei denen die Geſtaltloſigkeit graſſirt. Im Epiſchen neigt ſie zu der Schlegelſchen Theorie, daß die Handlung, als ein bloßes Fragment aus einem größern Zuſammenhange, in's Unendliche ohne innere Einheit fortlaufen könne. Im Lyri¬ ſchen kennzeichnet ſie ſich gewöhnlich durch ein Uebermaaß von Prädicaten, mit denen ſie die Subjecte ausſtattet. In¬ dem das eine Prädicat immer das andere erdrückt, entſteht durch ſolche Ueberfülle ſtatt des beabſichtigten reichen Bildes eine nichtsſagende Vollſtändigkeit, die das Unweſentliche mit dem Weſentlichen vermiſcht. Im Dramatiſchen huldigt ſie dem ſogenannten dramatiſchen Gedicht, das nämlich von der Aufführbarkeit a priori abſtrahirt, daher principiell auf eigentliche Handlung, auf Durchführung der Charaktere, auf Wahrſcheinlichkeit verzichtet und oft nur eine lockere Reihe lyriſcher Monologe enthält. Da bei uns Deutſchen, weil wir uns nicht als Nation fühlen und folglich auch keine Nationalbühne haben, leider zwei Drittel unſerer dramatiſchen Productionen aus ſolchen theatraliſch unmöglichen reinen Dramen beſtehen, ſo iſt es überflüſſig, beſondere Beiſpiele hier namhaft zu machen. Wenn Göthe oft als der be¬ züchtigt wird, von welchem dies Unweſen ſtamme, weil er den Fauſt gedichtet, ſo iſt dies irrig, denn der Fauſt hat die theatraliſche Probe in ſeinem erſten Theil glänzend be¬ ſtanden, und der zweite, wenn nur erſt auch zu ihm die nöthige Muſik componirt wäre, wird ſie auch beſtehen, denn er iſt nicht weniger theatraliſch gedacht und opernbühnen¬ mäßig gearbeitet.

� [74/0096] Nachdem wir bisher die Entſtehung des häßlich Geſtalt¬ loſen betrachtet haben, müſſen wir auch ſeinen Uebergang in's Komiſche unterſuchen. Der komiſche Effect wird hier nämlich theils dadurch bewirkt, daß ſtatt des beſtimmten Unterſchiedes, der erwartet werden durfte, immer daſſelbe wiederkehrt, theils dadurch, daß eine Geſtalt von dem An¬ fang ihrer Bewegung aus plötzlich in ein ganz anderes ihm entgegengeſetztes Ende herumgeworfen wird. Die Unbeſtimmt¬ heit der Geſtaltung, welche darin beſteht, daß in der leeren Unendlichkeit noch gar keine da iſt, kann weder poſitiv ſchön, noch poſitiv häßlich genannt werden, denn non entis nulla ſunt prädicata Wir können ſie, als den noch neutralen Boden, auch nicht komiſch nennen.

Die unterſchiedloſe Beſtimmtheit der Geſtalt dagegen, die in der unaufhörlichen Wiederkehr derſelben Wendung liegt, kann eine komiſche Wirkung erzeugen. Statt zu einem andern Prädicat fortzugehen, fällt ſie immer wieder in daſſelbe zurück. Die bloße in's Endloſe fortgeſetzte Identität würde uns lang¬ weilen. Sollten wir auch über eine ſolche etwa anfänglich lachen, ſo würde ſie uns doch bald abſtoßen und häßlich werden, wie wir bei ſchlechten Luſtſpielen erfahren, in denen die Dürftigkeit des Autors einer Perſon irgend eine abge¬ ſchmackte Redensart in den Mund legt, die uns, weil ſie à tort et à travers überall angebracht wird, einige Mal zum trocknen Lachen reizt, ſich jedoch bald abnutzt und den kläg¬ ligſten Eindruck einer witzig ſein wollenden Geiſtloſigkeit her¬ vorbringt. Der rechte Künſtler weiß die komiſche Wirkung der Wiederholung (mit welcher hier natürlich nicht der auf andern Geſetzen beruhende Refrain gemeint iſt) richtig zu verwenden, wie z. B. Ariſtophanes in den Fröſchen, wo er, die Jämmerlichkeit der Euripideiſchen Prologe zu

� [75/0097] erweiſen, den Aeſchylos ſich erbieten läßt, an alle Trimeter des Anfangs ein Wort, wie Widderfell, Salbgefäß, Haber¬ ſack, anzuhängen und ſie dadurch lächerlich zu machen. Hier darf man, nach jedem Anfang, einen andern Fortgang er¬ warten, allein jedem hängt der unerbittliche Aeſchylos das vernichtende Salbgefäß an. Droyſen hat frei überſetzt: „fiel mit der alten Leier durch“, was allerdings den Sinn bezeichnet, aber eigentlich ſchon ein abſtractes Ausſprechen des von Ariſtophanes beabſichtigten Reſultates enthält. Nach Voß, III., 185. ff.:

Euripides.

Aegyptos, wie ſich weit umher ausdehnt der Ruf, Sammt ſeinen funfzig Söhnen, durch Seeruderſchwung Gen Argos ſteuernd —

Aeſchylos.

— brach entzwei ſein Salbgefäß.

— — — — — —

Euripides.

Dionyſos, der, mit Thyrſos und ſchönſprenklichter Hirſchhaut geſchmückt, bei Fackeln durch den Parnaſoshain Aufhüpft im Reihntanz —

Aeſchylos.

— brach entzwei ſein Salbgefäß.

— — — — — —

Euripides.

Nicht lebt ein Mann wo, der in allem glücklich iſt: Denn bald, von Herkunft edel, mangelt er des Guts; Bald, niedres Abſtamms, —

Aeſchylos.

— brach er entzwei ſein Salbgefäß.

— — — — — —

� [76/0098] Euripides.

Kadmos, von Sidons hoher Burg einſt abgeſchifft, Der Sohn Agenors —

Aeſchylos.

— brach entzwei ſein Salbgefäß. u. ſ. w. u. ſ. w.

Das ſtete Anſetzen zu einer Geſtaltveränderung und das ſtete Zurückfallen in die nämliche ſchon dageweſene Ge¬ ſtalt iſt hier die vis comica, von der die Poſſe einen glück¬ lichen und ſtarken Nutzen zu ziehen weiß, wie man dies auch an jedem Hanswurſt von Akrobaten und Reiterbanden beobachten kann. Die Geſtaltloſigkeit kann auch in dem Uebergang in das poſitive Gegentheil des Anfangs der Ge¬ ſtaltung beſtehen. Es kündigt ſich uns eine Geſtalt an, aber ſtatt der erwarteten erſcheint das Gegentheil, eine Auflöſung der anfänglichen Geſtalt in den entgegengeſetzten Ausgang. Eine Geſtalt wird derſelbe natürlich irgendwie auch haben, allein im Verhältniß zur erſten wird ſie die Vernichtung der¬ ſelben ſein. Z. B. Der Bajazzo nimmt einen ungeheuren Anlauf, über eine Barriere zu ſpringen. Schon erblicken wir, in unſerer Phantaſie vorgreifend, den kühnen Sprung, als er, dicht vor dem Ziel, ſich plötzlich anhält und ſich ruhig unten hindurchduckt oder ſpaziergängeriſch umkehrt. Wir lachen, weil er uns getäuſcht hat. Wir lachen, weil der vollkommenſte Gegenſatz der größten Heftigkeit der Be¬ wegung und der phlegmatiſchen Ruhe uns überraſcht. Oder der Bajazzo ſoll reiten lernen. Er ſtellt ſich dumm an. Mühſam macht man ihm vor, was er zu thun hat und überredet ihn zum Aufſitzen. Endlich ſchwingt er ſich auf das Pferd, aber — verkehrt, ſo daß er den Schwanz ſtatt der Zügel in die Hand nimmt u. ſ. w. Auch die Taſchen¬

� [77/0099] ſpielerkunſt verſteht uns in dieſer Hinſicht vorzüglich zu unterhalten, indem ſie ſogar aus dem Nichts etwas hervor¬ zuzaubern weiß. Der Verſtand ſagt ſich, daß aus Nichts Nichts werden kann und doch ſehen wir, ihm zum Trotz, den Magier aus einem leeren Hut Strauß auf Strauß her¬ ausnehmen. Wir ſtaunen, aber wir lachen, weil unſer Ver¬ ſtand, während ihm öffentlich ſo widerſprochen wird, im Stillen ſich doch ſagt, daß er an ſich Recht hat. Dieſer Widerſpruch eben, mit Bewußtſein dupirt zu werden, ergötzt uns. — Auch das Uebergehen Betrunkener aus dem Sprechen in das bloße Lallen, in unarticulirte Laute, den Reflex der Verwirrung, worin die Intelligenz verfallen, kann bis auf einen gewiſſen Grad komiſch ſein. Der Schauſpieler Gern der Sohn in Berlin konnte dieſe geſtaltſuchenden, brum¬ menden, quetſchenden, gurgelnden, miauenden Töne, unter¬ miſcht mit einzelnen Wortfragmenten, vortrefflich und zu unfehlbarer Wirkung hervorbringen.


B. Die Aſymmetrie. Die Amorphie iſt unmittelbar die totale Unbeſtimmtheit der Geſtalt. Dieſe hebt ſich auf zur Einheit einer Geſtalt, der es aber an dem Unterſchied innerhalb ihrer ſelbſt gebricht, ſo daß ſie durch die Ununterſchiedenheit in ſich geſtaltlos iſt. Oder der Unterſchied bildet ſich an der Geſtalt hervor, aber ſo, daß er in der Auflöſung derſelben beſteht.

Die Einheit einer Geſtalt kann ſich in einfachen Unter¬ ſchieden wiederholen, nach einer gewiſſen Regel ſich fortſetzen.

� [78/0100] Dies iſt die Regularität. Zwiſchen der Regularität und der Einheit liegt aber noch das unmittelbare Andersſein der Exiſtenzen, die Verſchiedenheit, deren bunte Mannigfal¬ tigkeit äſthetiſch ſehr erfreulich ſein kann. Ganz inſtinctiv ſtrebt daher auch alle Kunſt nach der Abwechſelung, um das Einerlei der formalen Einheit zu unterbrechen. Dieſe an ſich alſo durch den Gegenſatz gegen die abſtracte Identität an¬ genehm wirkende Mannigfaltigkeit ſchlägt aber in das Häßliche um, wenn ſie zu einem wüſten Durcheinander der verſchie¬ denſten Exiſtenzen wird. Wenn ſich aus dem Gemenge der¬ ſelben nicht wieder eine gewiſſe Gruppirung herausſtellt, wird ſie uns bald läſtig werden. Die Kunſt bemühet ſich daher frühzeitig, des Chaotiſchen, worin die Verſchiedenheit ſo leicht verfällt, durch Abſtractionen gleicher Verhältniſſe wieder Herr zu werden. Wir haben vorhin daran erinnert, wie der Geſchmack der Völker in der bildenden Kunſt die Leerheit einer großen Fläche frühzeitig zu beleben bemühet iſt. Anfänglich behilft er ſich mit Formen, die wenig mehr als Reifen und Puncte, als bunte Striche und Tüpfeln ſind; bald aber beginnt er dieſelben ein wenig zu ordnen. Das Viereck, der Zickzack, die Blattranke, der Zahnſchnitt, das verſchlungene Band, die Roſette werden die Fundamental¬ formen aller Ornamentik, die noch unſere Tapeten und Teppiche durchwirkt.

Die Häßlichkeit im Verſchiedenen liegt alſo in dem Mangel einer verſtändigen Gebundenheit, welche die pululli¬ rende Fülle ſeiner Einzelheiten doch wieder zu einer relativen Geſtaltung zuſammenfaßt. Nur vom Geſichtspunct des Komiſchen aus wird das regelloſe Gewirr wieder befriedigend. Die gemeine Wirklichkeit wimmelt von Verworrenheiten, die uns äſthetiſch beleidigen müßten, wenn ſie uns nicht

� [79/0101] glücklicher Weiſe zu lachen machten. Wir erblicken ſie durch das Auge eines Jean Paul oder Dickens Boz und ſie gewinnen ſofort einen komiſchen Reiz. Wir können nicht über die Straße gehen, ohne nicht unaufhörlichen Stoff zu ſolchen humoresken Betrachtungen zu finden. Da begegnet uns ein Meubelwagen, auf welchem Sopha's, Tiſche, Küchengeräth, Betten, Gemälde in eine Nachbarſchaft gerathen ſind, die, nach ihrer ſonſtigen Vertheilung, von ihnen ſelbſt für unmöglich gehalten werden würde. Oder jenes Haus dort zeigt uns im Erdgeſchoß einen Flickſchuſter, parterre einen Cigarrenladen mit obligater Bierſtube, darüber einen Pariſer Modeſchneider und oben in der Dachſtube einen Orientaliſchen Blumenmaler. Wie ſinnreich iſt nicht dies vom Zufall zuſammengewürfelte Durcheinander! Oder wir treten in einen Buchladen und ſehen auf dem Auslegetiſch Claſſiker, Kochbücher, Kinderſchriften, gegen einander wüthende Brochüren, in den witzigſten Combinationen ſich berühren, wie nur ein Washington Irwing oder Gutzkow für ihre ſatiriſche Laune es ſich wünſchen könnten. Und nun gar der Trödel! Welch ein Meiſter des Humors iſt er nicht in der Unſchuld, mit welcher er abgeblichene Familienportraits und mottenzerfreſſene Pelze, alte Bücher und Nachtſtühle, Schleppſäbel und Küchenbeſen, Reiſekoffer und Waldhörner durcheinander miſcht! Märkte, Gaſthäuſer, Schlachtfelder, Poſtkutſchen wimmeln von ſolchen Improviſationen des neckiſchen Wirrwarrs. Die Heterogeneität der mannigfachen Exiſtenzen verändert in ihrer Berührung den gewöhnlichen Werth der Dinge durch Beziehungen, die ihnen für unſere Anſchauung aufgedrängt werden. Der Zufall kann allerdings ſehr proſaiſch und geiſtlos, er kann aber auch ſehr poetiſch und witzig ſein. Dinge, die ſonſt weit auseinander liegen

� [80/0102] und die ſich durch die Gemeinſchaft mit einander für profanirt erachten würden, finden ſich durch ihn in überraſchende Nähe gerückt. Die Modernen haben dieſen quodlibetariſchen Witz ſehr weit und oft ſehr glücklich ausgebildet; die große empiriſche Fülle eines heutigen Bewußtſeins hat es möglich gemacht, zahlloſe Verbindungen zu erzeugen, die uns im zufälligen Zuſammenſein durch ihre Reflexion in einander ergötzen. Das Britiſche Inſelvolk, das meerdurchfurchende London, Eliſabeths Zeitalter, Shakeſpeare's Weltima¬ gination haben vorzüglich dies Spiel der Phantaſie angeregt. Hogarth hat daſſelbe in die Malerei eingeführt, iſt aber ſchon, wie trefflich auch ſeine Charakteriſtik, beſonders die phyſiognomiſche, ſei, von einer gewiſſen Abſichtlichkeit nicht frei zu ſprechen, die eine übertriebene, aufdringliche Sorg¬ lichkeit verräth, keine der Beziehungen ſeines Calculs über¬ ſehen zu laſſen. In die poetiſche Literatur der ſpätern Zeit iſt dieſe Manier beſonders von den humoriſtiſchen Roman¬ ſchriftſtellern eingeführt worden, die es ſich mit ihr nicht nur oft ſehr bequem gemacht, ſondern ſie auch durch Ge¬ ſchraubtheit bis zur Albernheit abgehetzt haben. Eine bloße Verworrenheit der Vorſtellungen iſt häßlich. Manche unſerer forcirten Humoriſten ſind oft nichts beſſer, als die Kranken in Irrenhäuſern, die an der Gedankenflucht leiden.

Die freie Mannigfaltigkeit iſt ſchön, ſofern ſie eine gewiſſe Sinnigkeit der Gruppirungen in ſich ſchließt. Denken wir uns die Tendenz zur Ordnung des Verſchiedenen als eine abſtracte ſich wiederholende Einheit in dem Mannigfalti¬ gen, ſo erhalten wir den Begriff des Regelmäßigen d. h. der Erneuung des Verſchiedenen nach einer feſten Regel, die ſeine lockern Differenzen unter ſich bindet. So die gleichen Zeittheile des Tactes, ſo der gleiche Abſtand der Bäume einer

� [81/0103] Allee, ſo die gleichen Dimenſionen der gleichartigen Theile eines Gebäudes, ſo die Wiederkehr des Refrains im Liede u. ſ. w. Solche Regularität iſt an ſich ſchön, allein ſie befriedigt erſt die Bedürfniſſe des abſtracten Verſtandes und iſt deshalb auf dem Wege, häßlich zu werden, ſobald die äſthetiſche Geſtaltung ſich auf ſie beſchränkt und außer ihr nichts darbietet, das eine Idee ausdrückte. Sie ermüdet durch ihre ſtereotype Gleichheit, die uns den Unterſchied immer in der nämlichen Weiſe vorführt und wir ſehnen uns aus ihrer Einförmigkeit heraus nach der Freiheit, ſelbſt wenn ſie im Extrem eine chaotiſche wäre. Tieck hat in der Einleitung zum Phantaſus die Holländiſche Manier der Gartenanlage von der Seite her in Schutz genommen, daß ſie mit ihren Heckenwänden, geſchorenen Bäumen und Buchs¬ baum eingefriedigten Rabatten für die Converſation Luſtwan¬ delnder ſehr zweckmäßig ſei. Wo die Geſellſchaft ſich ſelbſt der Zweck iſt, an einem glänzenden Hofe, ſind dieſe breiten mit weichem Sand beſtreueten Wege, dieſe grünen Mauern, dieſe im Paradeſchritt aufmarſchirenden Bäume, dieſe grotten¬ artigen Boskette, ganz paſſend. Wurde dieſe Manier doch auch eben von Len ô tre unter dem großen Ludwig zur grö߬ ten Vollkommenheit gebracht. Ihn copirten dann die Nach¬ ahmer in Schönbrunn, in Caſſel, Schwetzingen u. ſ. w. Die Natur ſoll hier nicht in ihrer freien Naturwüchſigkeit erſcheinen, ſie ſoll vielmehr, der Majeſtät gegenüber, ſich beſchränken und mit gefälliger Dienſtbarkeit nur einen luftigen Salon herſtellen, in welchem die ſeidenen Gewänder, die goldſtarrenden Uniformen einherrauſchen. Aber in kleinen Dimenſionen und ohne den Schauplatz hoffeſtlicher Actionen abzugeben, überkommt uns zwiſchen kubiſchen Hecken und Bäumen, die von der Scheere zu Kugeln und Pyramiden


Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 6 � [82/0104] verſchnitten ſind, bald das Gefühl des Zwanges und der Abge¬ zirkeltheit, aus deren Oede wir uns in die Irregularität eines Eng¬ liſchen Gartens oder noch lieber des freien Waldes hinausſehnen.

Wir befinden uns hier ſchon in lauter dialektiſchen Be¬ ſtimmungen. Ein einfaches Ausſprechen und Setzen der Beſtimmungen genügt nicht; ſie gehen in einander über. Als Moment kann die Regularität berechtigt und ſchön ſein; als abſolute Regel, in welche das äſthetiſche Object aufgeht, kann ſie häßlich werden. Man kann aber nicht ſchließen, daß das Gegentheil der Regularität, die Irregularität, überhaupt ſchön ſein müſſe. Sie kann es ſein, je nach den Verhältniſſen; am unrechten Ort oder in's Verworrene ausartend wird ſie eben ſowohl häßlich werden. Ein ſchönes Beiſpiel reizender Irregularität auf dem architektoniſchen Felde iſt das Schloß Meilhart im Cherdepartement, ohne alle Symmetrie in einer Art von Renaiſſanceſtyl aufgeführt (19). In Darſtellung derjenigen nachläſſigen Irregularität, die wir Negligée par excellence zu nennen pflegen und worin die Kammermädchen oft noch reizender erſcheinen, als ihre Herrinnen, ſind Maler und Dichter glücklich genug geweſen, als daß an Beiſpiele zu erinnern nöthig wäre. Im vorigen Jahrhundert kamen in Deutſchland, in vermeintlicher Nachahmung der Hebräiſchen Poeſie, der antiken Chöre, der Skaldenlieder und des Oſſian freie rhythmiſche Geſänge auf, die ſich in irregulärer Wildheit von der metriſchen Geſchloſſenheit emancipirt hatten. Manches darin war vortrefflich, wie in einigen Klopſtockſchen Bardieten und einigen Götheſchen Compoſitionen. Aber wie jämmerlich fiel dieſe Irregularität auch bei einigen Andern aus, die ſich in hohlem Wortſchwall nicht nur, die ſich auch in ganz unrhythmiſchen, unmuſikaliſchen, durcheinander¬ ſtolpernden Tonmaſſen bewegten.

� [83/0105] Regularität wie Irregularität können eben deshalb durch ihre Entgegenſetzung komiſch werden. Die erſtere wird es z. B. im Pedantismus, die zweite in ſeiner Verſpottung. Der Pedantismus möchte das Leben gern in ſeine Regeln einſchnüren und ſelbſt einem Gewitter nicht geſtatten, anders, als zu gelegener Zeit, ſeine artige Aufwartung zu machen. Weil ſein Zwang ein für die Sache unnützer und ſelbſtge¬ wollter iſt, ſo wird er komiſch, und die Irregularität, die als ein ſchalkiger Kobold ihm ſeine mühſam gezogenen Kreiſe ſtört, wird komiſch als die gerechte Perſiflage ſolcher Thorheit, die das Leben gegen ſeinen Begriff als Maſchine zu behandeln ſich unterfängt.

Soll die Einheit mit dem Unterſchied vereint werden, ſo kann dies zunächſt dadurch geſchehen, daß die Geſtalt ſich zwar wiederholt, in dieſer Wiederholung aber zugleich als Inverſion umkehrt. Die Wiederholung der Geſtalt iſt die Gleichheit der Regularität; die Umkehr der Ordnung iſt die Ungleichheit der Irregularität. Dieſe Form der in der Ungleichheit dennoch identiſchen Gleichheit iſt die eigentliche Symmetrie. So haben die Alten die beiden Dioskuren in ſchöner Symmetrie dargeſtellt, wie jeder ein ſich auf¬ bäumendes Pferd hält, der eine mit der linken, der andere mit der rechten Hand; der eine mit dem linken, der andere mit dem rechten Fuß vortretend; die Köpfe der Pferde nach Innen gegen, oder nach Außen hin auseinander gewandt. Auf beiden Seiten iſt hier daſſelbe vorhanden und doch iſt es unterſchieden; es iſt nicht blos ein einfach Anderes, ſondern es iſt das eine die Umkehr des andern und damit die Be¬ ziehung auf daſſelbe. Die Symmetrie ſtellt alſo nicht eine bloße Einheit, nicht eine bloße Verſchiedenheit oder einfache Unterſchiedenheit; nicht eine bloße Regularität oder Irregu¬


6 * � [84/0106] larität, ſondern eine Einheit dar, die in ihrer Gleichheit die Ungleichheit enthält. Dennoch iſt auch die Symmetrie noch nicht die Vollendung der Form; die höhere Bildung der Schönheit ordnet auch ſie ſich nur als ein Moment unter, über welches ſie, unter gewiſſen Bedingungen, hinausgeht.— Fehlt ſie, wo wir ſie erwarten dürften, ſo verletzt uns ein ſolcher Mangel, zumal wenn ſie etwa ſchon vorhanden war und nur zerſtört iſt, oder wenn ſie in der Anlage gegeben, aber nicht zur Ausführung gekommen iſt. Die Symmetrie iſt abſtract genommen nur das Gleichmaaß überhaupt; genauer aber iſt ſie ein Gleichmaaß, das einen Gegenſatz von Oben und Unten, von Rechts und Links, von Groß und Klein, von Hoch und Tief, von Hell und Dunkel enthält; oder noch genauer, das in der Wiederholung des Gleichen die Umkehr der Lage in ſich ſchließt, was wir eben Inverſion nennen, wie die Augen, Ohren, Hände, Füße des menſch¬ lichen Organismus in ſolcher Weiſe ſymmetriſch ſich verhalten. Die Verdoppelung des Gleichen kann ſich auf einen für beide Seiten gleichen Punct beziehen, wie die Fenſter¬ ſtellungen in Verhältniß zu einer Thür; wie zwei Halbkreiſe von Säulen in Verhältniß zu zwei Durchgängen, die ſie ſchneiden; wie beim Diſtichon die auf und abſteigende Hälfte des Pentamenters in Verhältniß zum Hexameter u. ſ. w. Dies Alles ſind ſymmetriſche Ordnungen, die wir in der Baukunſt, in der Sculptur, Malerei, in der Muſik, Orcheſtik und Poeſie nach dem eigenthümlichen Inhalt dieſer Künſte ſpecificiren. Wird nun in ſolchem Fall die Symmetrie negirt, ſo erzeugt dies eine Disproportion, die häßlich iſt.

Fehlt die Symmetrie überhaupt, iſt ſie gar nicht da, ſo iſt eine ſolche Abweſenheit derſelben erträglicher, als eine poſitive Verletzung. — Fehlt an einem, ſeinem Weſen

� [85/0107] nach ſymmetriſch ſeinſollenden Verhältniß die eine Seite deſſelben, ſo iſt die Exiſtenz der Symmetrie unvollſtändig. Indeſſen wirkt unſere Phantaſie dann ſupplementariſch und fügt in unſerer Vorſtellung aus der ſchon vorhandenen Seite die noch fehlende hinzu, ſo daß dieſe Halbſymmetrie als eine dem Begriff nach daſeiende, der Realität nach nur nicht durchgeführte auch noch erträglich bleibt. Wir empfinden dies bei vielen Gothiſchen Kirchen, bei denen oft nur der eine Thurm ausgebauet iſt, während der andere ganz fehlt oder nur bis zu einem untern Stockwerk gelangt iſt. Im Ueber¬ blick der Facade der Thurmſeite iſt der, mangelnde Thurm offenbar ein äſthetiſcher Defect, denn, nach der Anlage des Baues, ſollte er da ſein. Da es jedoch im Begriff des Thurms als eines auf Erhabenheit Anſpruch machenden Ge¬ bäudes liegt, in einer gewiſſen Einzigkeit daſtehn, zu können, ſo ertragen wir den Mangel nicht nur ziemlich leicht, ſondern ergänzen ihn auch, wenn er auffallender iſt, aus unſerer Vorſtellung. — Iſt die Symmetrie vollſtändig da, ſind aber in ihr ſelbſt Widerſprüche enthalten, ſo wird unſerer Phan¬ taſie der Spielraum genommen, weil wir durch etwas Poſitives gehemmt werden. Wir können dann nicht etwas Anderes an die Stelle des Gegebenen ſetzen, das Vorhandene nicht ideell und idealiſch ergänzen; wir müſſen uns vielmehr dem empiriſch Exiſtirenden unterwerfen und daſſelbe nehmen, wie es iſt. Die Gleichheit kann auf eine in ſich verkehrte, allein nicht inverſe Weiſe da ſein. Nicht das ſymmetriſche und ſymphoniſche Correlat bietet dann ſich dar, ſondern das correſpondiren ſollende Gleiche ſtellt ſich in einer qualitativ verſchiedenen Weiſe dar. Stellen wir uns z. B. vor, daß eine Gothiſche Kirche nach dem urſprünglichen Plan zwei Thürme hätte haben ſollen, daß nur der eine derſelben vor¬

� [86/0108] erſt ausgeführt wäre, daß ſpäterhin noch ein zweiter Thurm, allein in einem andern Styl hinzugefügt würde, ſo wäre zwar die Symmetrie da, denn es ſollten ja zwei Thürme ſein, aber ſie wäre zugleich in einer dem Begriff des Ganzen nicht entſprechenden, ſeiner Einheit vielmehr qualitativ wider¬ ſprechenden Weiſe vorhanden. Auf Theatern kommen durch Mängel der Garderobe öfter ſehr luſtige Dinge in dieſer Form der Unſymmetrie vor. — Oder die Symmetrie kann qualitativ der Einheit der Geſtalt entſprechen, allein quan¬ titativ das Gleichmaaß verletzen, ſo iſt auch dieſe Unförm¬ lichkeit häßlich. In den bildenden Künſten werden ſehr viel Fehler dieſer Art gemacht. Dem Begriff nach ſollte von zwei Parallelthürmen der eine nicht höher als der andere; von zwei Flügeln eines Baues der eine nicht länger als der andere; von zwei durch ein Portal geſchiedenen Fenſterreihen die An¬ zahl der einen nicht größer, als die der andern; von einer Statue der eine Arm nicht länger, als der andere ſein u. ſ. w. Krüppel ſtellen uns vornämlich dieſen Mangel der Symmetrie dar, wie wenn ein Arm oder Fuß verſchrumpft oder ver¬ krümmt iſt.

Die Aſymmetrie iſt nicht einfache Geſtaltloſigkeit, ſie iſt entſchiedene Ungeſtalt. Byron hat in einem phantaſtiſchen Drama, the transformed disformed, die Qualen eines geiſt¬ ſtarken Bukligen geſchildert. Er läßt ihn, da ſelbſt die Mutter ihn verläugnet, den Tod ſuchen, in dieſem Augen¬ blick von einem myſtriöſen Fremden unterbrochen werden, der ihm jede andere Form zum Geſchenk anbietet und ihm ſagt:

Wenn ich mit deinem Klumpfuß einen Büffel, Das ſchnelle Dromedar mit deiner Höhe Des Hökers höhnen wollte, jubelten Die Thiere ob des Compliments. Und doch

� [87/0109] Sind beide Weſen ſchneller, ſtärker, mächtiger An Thatkraft und an Ausdauer, als du, Und all die Kühnen, Schönen deiner Gattung. Naturgemäß iſt deine Form; es war nur Verfehlte Güte der Natur, die Gaben, So andern zugedacht, dem Menſchen gab.

Arnold aber, ſo heißt der Ungeſtalte, fühlt das ganze Gewicht der Schönheit. Er ſagt weiterhin:

Mir liegt

Nicht viel an Kraft, denn Häßlichkeit iſt kühn. Ihr Weſen iſt's, an Herz und Geiſt die Menſchheit Zu überholen, und den Andern gleich, Ja, höher ſich zu ſtellen.

Weil die Häßlichkeit in ihrer Negativität etwas Poſitives iſt, ſo fühlt ſie ſich einſam und dies Gefühl iſt ihre größte Pein. Arnold ſagt:

Böt keine Macht mir

Die Möglichkeit des Wechſels, hätt' ich Alles Gethan, was nur der Geiſt vermag, den Weg mir Zu bahnen, trotz des Scheuſals ſchwerer, ekler, Entmuthigender Laſt, die wie ein Berg, Meinem Gefühl nach, Herz und Schultern drückt — Ein ekler, ungeſtalter Maulwurfshügel Für glücklichere Augen. Dann erſchaut' ich Die Schönheit des Geſchlechts, das Urbild iſt Von Allem, was man kennt und träumt als ſchön, Mehr als die Welt, die es verklärt durch Seufzer Der Lieb' nicht, der Verzweiflung: ſucht' auch nicht, Obgleich ganz Liebe, zu gewinnen, was mich Nicht minder liebt ob dieſes krummen Klumpens, Der mich ſo einſam macht.

� [88/0110] So düſter äußert ſich der Schmerz der Mißgeſtalt. Und doch kann ſie ein großes Mittel für die Komik werden. In der Abweſenheit der Symmetrie liegt zwar noch nichts Komiſches, in der Verworrenheit aber regt ſie ſich ſchon, weil in ihr eine Geſtalt die andere verdrängt und verlöſcht. In der Halbſymmetrie hat der Anſatz zur Verwirklichung, die nicht zu Ende kommt, ganz abgeſehen von der Beſon¬ derheit des Inhalts, ebenfalls einen komiſchen Anſtrich. Die poſitive Unſymmetrie aber, die in ihrer Congruenz doch nicht congruent, die in der Gleichheit ihrer Theile doch ungleich iſt, dieſe in ſich unſymmetriſche Symmetrie iſt an ſich in der That ſchon komiſch, inſofern das Lächerliche der Widerſpruch des Unmöglichen als eines empiriſch Wirklichen mit der dem Begriff nach ſeinſollenden Wirklichkeit iſt. Es ſollte wohl, dem Begriff nach, unmöglich ſein, daß der eine Arm länger, als ſein Gegenarm; iſt nun aber factiſch der eine Arm doch länger, als der andere, ſo iſt damit die dem Begriff wider¬ ſprechende, nichtſeinſollende Wirklichkeit wirklich und dieſer Widerſpruch wird komiſch — gerade wie, in Anſehung der Füße, das Hinken etwas Komiſches an ſich hat. Die Komik zieht die Beſchäftigung der Menſchen, die eine Krümmung und ſcheinbare-Verkürzung eines Arms zur Folge haben kann, herein und ſtellt uns den Schreiber, Schneider, Schuſter, Tiſchler u. ſ. w. in ihren komiſchen Bewegungen dar.

Eine beſonders beliebte Komik entſteht im Drama dadurch, daß dem tragiſchen Verlauf der Haupthandlung ſymmetriſch der komiſche Verlauf einer Nebenhandlung gegen¬ übergeſtellt wird. Alle poſitiven Vorgänge der ernſten Sphäre wiederholen ſich in der Nullität der komiſchen und ſteigern durch dieſen Parallelismus den Effect ihres Pathos. Im Engliſchen, vorzüglich aber im Spaniſchen Theater

� [89/0111] herrſcht dieſe Manier. Shakeſpeare hat ſie von der hohen Tragödie ausgeſchloſſen, Calderon aber, weil er überhaupt moraliſch-conventionelle Rechenexempel zu löſen hat, wendet ſie faſt überall an. Selbſt im theologiſchen Drama, wie im magico prodigioso, läßt er die tragiſche Entwicklung ſich in die Folie der Komik reflectiren.

Dieſelben Beſtimmungen der Aſymmetrie, die wir häßlich nennen, wenn ſie einen poſitiven Charakter anſprechen, werden komiſch, wenn dieſe Prätenſion nur ein Schein iſt. Die Komik haben wir jedoch hier nicht weiter zu verfolgen, wo uns das Häßliche beſchäftigt und wir ſeine Auflöſung in's Lächerliche nur anzudeuten haben. Wohl aber haben wir zu zeigen, wie die Aſymmetrie durch den falſchen Contraſt der antagoniſtiſchen Hebel der Symmetrie in die Disharmonie übergeht. In der Symmetrie, wie in der Aſymmetrie, iſt die Beziehung der inverſen Glieder im Allgemeinen noch eine ruhige. Geht die Entgegenſetzung in Spannung über, ſo wird ſie zum Contraſt. Er iſt bekanntlich eines der vor¬ züglichſten äſthetiſchen Mittel. Qualitativ kann er nur in ſich widerſprechenden Beſtimmungen beſtehen, quantitativ aber viele Grade haben, ſchwach und ſtark, matt und grell ſein. Es liegt in den nähern Umſtänden begründet, was für ein Contraſt in einem gegebenen Fall der nothwendige iſt. Für ein und daſſelbe Weſen ſind nach verſchiedenen Seiten hin verſchiedene Widerſprüche möglich; aber jedes hat auch kraft ſeiner Eigenthümlichkeit einen abſoluten Widerſpruch an ſich, der ſeine totale Negation enthält; dem Leben ſteht der Tod, dem Tod das Leben, der Wahrheit die Lüge, der Lüge die Wahrheit, dem Schönen das Häßliche, dem Häßlichen das Schöne u. ſ. w. als abſoluter Widerſpruch gegenüber. Dem Leben ſteht dagegen die Krankheit, der Wahrheit der Irrthum,

� [90/0112] dem Schönen das Komiſche nur als relativer Widerſpruch ent¬ gegen und daher haben dieſe Beſtimmungen ſelbſt noch wieder andere als ihren abſoluten Widerſpruch an ſich. Die Krankheit iſt allerdings eine Hemmung und Minderung des Lebens; ſie widerſpricht ihm, nämlich ſofern das Leben ſeinem Begriff nach geſund ſein ſollte; der abſolute Widerſpruch der Krankheit iſt daher, im Leben, die Geſundheit. So iſt dem Irrthum die ob¬ jective Gewißheit; dem Komiſchen das Tragiſche abſolut ent¬ gegen, geſetzt. Wegen ſolcher Unterſchiede wird es möglich, auch ſolche Beſtimmungen mit einander zu contraſtiren, die nicht durch ſich ſelbſt, ſei es abſolut, ſei es relativ, mit einander in Widerſpruch ſtehen, ſondern zwiſchen denen ein Widerſpruch nur hervorgekünſtelt und bald als ein abſoluter, bald als ein relativer hingeſtellt wird. Formell genommen kann das Abſolute mit dem Abſoluten, das Abſolute mit dem Relativen, das Relative mit dem Relativen in Widerſpruch gerathen. Reeller Weiſe werden ſolche Verhältniſſe ſich in mannigfaltige Wendungen einhüllen können.

Es iſt hier nicht der Ort, auf dieſe allgemeinen Be¬ griffe näher einzugehen, welche theils der Metaphyſik und Logik überhaupt, theils der äſthetiſchen Metaphyſik insbe¬ ſondere angehören. Wir haben uns ihrer nur inſoweit er¬ innern müſſen, als nothwendig iſt, den falſchen Contraſt als den häßlichen vom richtigen als dem ſchönen zu unterſcheiden. Der falſche Contraſt entſteht zunächſt dadurch, daß ſtatt des Gegenſatzes, der geſetzt werden ſollte, das blos Verſchiedene auftritt; denn dies iſt die nur unbeſtimmte Differenz, die einer Spannung noch nicht fähig iſt. Die bunte Mannig¬ faltigkeit des Verſchiedenen kann äſthetiſch vollkommen be¬ rechtigt ſein; wird ſie aber da geboten, wo der Contraſt wirken müßte, ſo bleibt ſie unzureichend. Alle Verſchiedenheit,

� [91/0113] wie ſehr ſie auch gehäuft werde, vermag nicht, das Intereſſe zu erſetzen, das uns der beſtimmte Gegenſatz einflößt. Wenn in einem Roman eine Menge von Perſonen auftreten, wenn eine Fülle von Begebenheiten ſich entwickelt, wenn aber nicht eine Contraſtirung der Handelnden und ihrer Schickſale die Menge der Situationen durchgreift, ſo wird uns die Mannig¬ faltigkeit bald ermüden, ja zuletzt anekeln. Oder wenn in einem Gemälde vielerlei Farben prunken, wenn es aber an der Entſchiedenheit eines Farbengegenſatzes fehlt, ſo wird unſer Auge von dem bloßen Durcheinander bald abgeſtumpft werden. Unbeſchadet des Reizes der Verſchiedenartigkeit kann ſehr wohl auch die Entgegenſetzung aus ihr ſich hervorheben.

Die poſitive und negative Entgegenſetzung macht erſt den Contraſt d. h. die Gleichheit muß mit ſich ſelbſt ungleich werden und kann bis zum Conflict und bis zur Colliſion fortgehen. Das Unterſchiedene muß alſo irgendwie zugleich identiſch ſein; es muß durch ſeine Einheit mit ſich in Gegenſeitigkeit ſtehen. Jemehr es ſich als ein Wechſel¬ wirkendes darſtellt, um ſo ſchöner iſt es. Soll nun der beſtimmte Gegenſatz erſcheinen und es wird auf die eine Seite ſtatt des identiſch Negativen nur etwas Anderes geſetzt, das zwar auch einer Beziehung, aber keiner immanenten, fähig iſt, ſo iſt ein ſolches ein blos Verſchiedenes. So iſt z.B. in der Oper, Robert le diable , der Teufel von ſeinem Sohne nur verſchieden, denn er ſollte als Teufel ihn haſſen, aber dieſer „Fremde“ liebt, gegen die Natur des Teufels, aus der Natur des Vaters heraus, den Sohn; d. h. mit der Liebe zum Sohn iſt die Idee des Diaboliſchen aufgehoben. Er kann nicht mit dem Guten contraſtiren, obwohl er es immer ſoll; ein ſentimentaler Teufel iſt lächerlich. Es iſt ein verfehlter Contraſt. An die Stelle der ſeinſollenden Ent¬

� [92/0114] gegenſetzung iſt die bloße Verſchiedenheit getreten. Dieſer Contraſt iſt nicht blos matt, er iſt vergriffen.

Der Contraſt wird aber als häßlicher ferner dadurch hervorgebracht, daß die Entgegenſetzung die Spannung über¬ bietet. Wir nennen dieſe Form der contraſtirenden Seiten Effecthaſcherei. Die Kunſt vertrauet nicht der einfachen Wahrheit, ſondern ſteigert die Extreme, Sinn und Gefühl aufzuſtacheln. Sie will um jeden Preis die Wirkung er¬ zwingen und darf daher dem Genießenden keine Freiheit laſſen. Er ſoll und muß überwältigt werden und für ſeine Niederlage — denn ein Sieg der Kunſt wäre hier ein falſcher Ausdruck — iſt der Contraſt ein Hauptmittel. Die Sorge aber, daß er von einem überſättigten und abgeſtumpften Ge¬ ſchlecht überſehen oder überhört werden könnte, läßt nun da¬ rauf hinarbeiten, ihn, wie man heut zu Tage ſagt, packend zu machen. Er wird grell, ſchreiend. Die naturwahre Grenze wird ſchwindelnd überſchritten, um unſere Nerven durch Ueberaufregung (surexcitation) unfehlbar zu ſpannen. Eine ſolche Geſtaltung der Kunſt, wie ſie namentlich unſere moderne Muſik entſtellt, iſt häßlich. Voltaire handelte in dieſem Ungeſchmack, als er Shakeſpeare's Cäſar für die Franzöſiſche Bühne umarbeitete. Es war ihm nicht genug, daß Brutus als Republicaner mit Cäſar, dem nach Allein¬ herrſchaft ſtrebenden Conſul und Dictator contraſtirte; er machte Brutus auch zu Cäſars Sohn; er ließ beide darum wiſſen; er ſteigerte den Mord des politiſchen Gegners auch zum Vatermord und, um ſein Werk zu krönen, ließ er die Schlacht von Philippi weg, in welcher Cäſars Schatten gegen Brutus ſein welthiſtoriſches Recht erlangt.

Der wahre Contraſt, ſagten wir, enthalte die Entgegen¬ ſetzung als die Ungleichheit des Gleichen. So iſt Roth und

� [93/0115] Grün identiſch in der Farbe; Weiß und Schwarz in der Farbloſigkeit; Gut und Böſe in der Freiheit; Starres und Flüſſiges in der Materie u. ſ. w. Der falſche Contraſt geht dagegen aus der qualitativen Allgemeinheit heraus und bringt das ſcheinbar Entgegengeſetzte, wie wenn dem Großen nicht das Kleine oder ſelbſt Große, ſondern das Geringe oder Schwache entgegengeſtellt wird. Denn dem Geringen ſteht das Bedeutende, Vornehme, Gediegene, dem Schwachen das Starke, Mächtige gegenüber. Weil ſolche Formen allerdings auch wieder einen gewiſſen Zuſammenhang haben, weil ſie zu Synonymen werden können, ſo erklärt ſich, warum hier ein Fehlgreifen ſich auch bei dem beſſern Künſtler einſchleichen kann. Unſere moderne Lyrik hat nach der Richtung der Sprache hin, die ihr der facettirte Schliff der Brillantdiction von Ana¬ ſtaſius Grün gegeben, viele ſolcher hybriden Contraſte her¬ vorgebracht. Man kann ihren Urſprung aber bei A. Grün ſelber und ſogar in ſeinen beſten Gedichten entdecken. Selbſt in dem ſchönen, mit Recht ſo beliebten Gedicht: der letzte Dichter, haben ſich ſolche Fälſchungen eingeſchlichen, z. B. wenn es heißt:

„So lang der Wald noch rauſchet Und einen Müden kühlt.“

Der Müdigkeit ſteht die Ruhe, dem Kühlen das Bren¬ nende entgegen. Müdigkeit und Kühlung aber paſſen nicht zuſammen. Das Rauſchen, mit dem der Wald eingeführt wird, contraſtirt mit dem Schweigen der baumloſen Ebene oder mit ſeinem eigenen. Man ſieht, A. Grün hat hier vieles zuſammenfaſſen wollen. Der Wald ſoll den in der Hitze der freien Ebene Ermüdeten mit dem Rauſchen ſeiner Zweige Kühlung zufächeln; allein dieſe Vorſtellung iſt un¬ vollkommen ausgedrückt.

� [94/0116] Der grelle Contraſt dagegen ſteigert die Spannung durch Mittel, welche die an ſich vorhandene richtige Entgegen¬ ſetzung nach Seiten herumwenden, die einem noch andern Intereſſe den Zugang eröffnen und uns dadurch von der ſub¬ ſtantiellen Beziehung ablenken, ſtatt dieſelbe, wie es die Ab¬ ſicht iſt, zu verſtärken. Mole ruit sua, kann man von ſeinem Effect ſagen. Wenn Brutus dem Cäſar den Tod ſchwört, weil er die Republik als die nothwendige Form des Römiſchen Staats erhalten will, ſo erſcheint uns hierin die ganze, große politiſche Kriſis der Zeit. Brutus muß ſeine Neigung zu Cäſar, ſeine perſönliche Sympathie opfern, ſeiner Pflicht gegen das Vaterland treu zu bleiben; — wie der erſte Brutus der Republik ihr ſeine Söhne opfern mußte, als ſie mit den Tarquiniern ſich eingelaſſen hatten. Wenn Voltaire aber den Brutus zu Cäſars Sohn macht, ſo wird er zu einem tugendhaften Ungeheuer; eine ſolche Verletzung der Pietät iſt an ſich ſo greuelhaft, daß ſie allein ſchon hinreicht, unſer Blut erſtarren zu laſſen. Nun ſind zwei Elemente vorhanden, die uns in Anſpruch nehmen, die Römiſche Staatstugend und die Pietät. Bei Shakeſpeare fehlt nicht diejenige Pietät in Brutus, die ihm den Entſchluß zu Cäſars Mord erſchweren muß; allein ſie hindert in Brutus nicht nothwendig den Ver¬ ſchwörer und der Hauptaccent bleibt auf das Politiſche gelegt.

Der grelle Contraſt kann äſthetiſch unter gewiſſen Be¬ dingungen auch ſchön werden; er wird aber häßlich, wenn er nicht von der Einheit des an ſich Gleichen getragen wird. Ein ſolches Transcendiren der homogenen Baſis ſoll ihn pikant machen; das Pikante iſt Scribe's und Sue's alle wahre Kunſt corrumpirende Virtuoſität. Die große Oper zu Paris wird nur noch von dem Streben beherrſcht, durch Syntheſe heterogener Gegenſätze neu zu ſein Das

� [95/0117] Unmögliche, was darin liegt, beſchäftigt den Verſtand durch ſeine Unwahrheit und überraſcht die Phantaſie — nicht mit der Naivität des Mährchens, deſſen kindliche Unerfahrenheit noch mit den Schranken des Daſeins ſpielt, ſondern mit dem Raffinement des blaſirten Wahnwitzes. Wir haben zuvor Bertram aus Scribe's und Delavigne's Robert dem Teufel angeführt, zu zeigen, daß derſelbe keinen wirk¬ lichen Contraſt zu ſeinem Sohn darſtellt; auch gegen Alice contraſtirt er nicht, da dieſe ein „junges Mädchen aus der Normandie“, kein Dämon, wie er, iſt; aber das Pikante ſoll eben darin beſtehen, daß der Teufel einen Sohn hat, den er zärtlich liebt und den er, weil er ihn liebt, zu ver¬ derben, den er, weil er ihn liebt, zum Genoſſen der Hölle zu machen beſtrebt iſt. Dieſe Liebe läßt ihn nun z B. Act III. No. 9. nach der bei uns üblichen Ueberſetzung von Theod. Hell ſingen:

O mein Sohn, o Robert! Für dich, Der mir der Güter höchſtes, Trotzte ich ſchon dem Himmel, Trotzte der Hölle ich. — Für den Ruhm, der nun entwichen, Für den Glanz, der nun verblichen, Warſt du mein Troſt allein, Durch dich fand ich Ruh!

Dieſer ganz unteufliſche Teufel ſoll eben durch die väterliche Sentimentalität intereſſant werden. Ein liebender Teufel, der Troſt und Ruhe in ſeinem Sohne findet, war freilich noch nicht dageweſen! (20.)

Es iſt begreiflich, daß die Kritik durch ſolche Pro¬ ductionen öfter in Verlegenheit geſetzt werden kann, weil die Falſchheit des Widerſpruchs ſich zu verſtecken vermag. Wir

� [96/0118] haben in Deutſchland an dem Streit über Hebbel's Maria Magdalena ein ſehr denkwürdiges Beiſpiel davon gehabt, wie ſehr falſche Contraſte für das Maximum der Schönheit gehalten werden können. Traurig genug iſt dieſe dramatiſirte Geſchichte gewiß. Vorfallen kann ſie leider auch alle Tage und unſere Zeitungen ſind ja überreich an dieſen putres¬ cirenden Stoffen. Aber dieſe Geſchichte iſt nicht tragiſch, wofür Hebbel ſie, nach ſeinem Vorwort, hält und wofür ſeine fanatiſchen Anhänger ſie auch halten; das Traurige des Vorganges iſt zum tragiſchen Contraſt gemacht und mit dem Anſpruch an eine ſolche Dignität gefälſcht, woraus ſich überhaupt die blendende Eigenthümlichkeit der Hebbelſchen Dramatik ergibt. Ein ſchroffer Mann, der alte Tiſchler Anton, verweigert einem Gerichtsdiener, mit ihm anzuſtoßen, ſagt ihm Grobheiten und der Gerichtsdiener denuncirt ſeinen Sohn als Dieb. Der Sohn wird in's Gefängniß geworfen; der Vater glaubt an ſeine Schuld; die Mutter ſtirbt aus Entſetzen. Die Tochter Clara hat einen jungen Mann ge¬ liebt, der ſie auf der Univerſität vergeſſen zu haben ſcheint. Sie läßt ſich mit Leonhard, einem gemeinen, berechnenden Verſtandesmenſchen ein. Mit Bewußtſein, um ſich zur Treue gegen ihn zu zwingen, opfert ſie ihm ihre Jung¬ fräulichkeit auf und wird ſchwanger. Leonhard aber, weil er durch eine andere Heirath ſein äußeres Glück fördern kann, verläßt ſie. Inzwiſchen entdeckt ſich die Unſchuld des Sohnes — der nach Amerika als Matroſe auswandert. Der frühere Geliebte Clara's kehrt zurück, liebt ſie noch, möchte ſie heirathen — aber leider iſt ſie ſchwanger.

„Darüber kann kein Mann hinweg!“

So ruft er ſelber aus. Umſonſt flehet Clara Leonhard an, ſie zu heirathen; er weiſt ſie, da ſie nicht im Rauſch

� [97/0119] der Leidenſchaft ſich ihm ergeben hat und im Herzen einen An¬ dern liebt, höhniſch ab. Ihr früherer Geliebter, ein promo¬ virter Doctor, duellirt ſich darüber mit dem Schreiber und ſie ſchießen ſich gegenſeitig todt. Der alte Anton, der mit Catoniſchen Stachelreden ſehr freigebig iſt, muß doch der Sittenſtrenge der Tochter nicht getrauet haben. Er hat die Drohung ausgeſtoßen, daß, falls ſie ihm einmal Schande machte, er ſich den Hals abſchneiden würde. Die Tochter, ihres Elends gewiß, ſtürzt ſich daher aus Liebe zum Vater in einen Brunnen. Dieſer ſchneidet ſich mit dem Raſirmeſſer nicht, wie die Erwartung zu einem Cato des bürgerlichen Trauerſpiels gemacht war, den Hals ab, fällt auch nicht in Wahnſinn — dazu iſt er viel zu verſtändig, — ſondern ſchließt das Stück mit der ſarkaſtiſch inhaltsloſen Phraſe:

„Ich verſtehe die Welt nicht mehr.“

Dies Drama iſt ein wahrer Rattenkönig von falſchen Contraſten. Sohn und Mutter, Sohn und Vater, Tochter und Vater, Liebhaber und Geliebte, Alles ſteht in falſchen Beziehungen. Da iſt auch nicht Ein Verhältniß, Haustyrannei, Diebſtahl, Fall der Unſchuld, Untreue, Ehrloſigkeit, Duell, Selbſtmord mit obligatem Kindermord, das nicht eine häßliche Wendung darböte. Der Mittelpunct des Ganzen ſollte Clara ſein. Allein wie können wir ſie für tragiſch gelten laſſen, da ſie einem ſolchen Subject, wie dieſer herzloſe Leonhard iſt, ſich in die Arme wirft! Wäre derſelbe ein edler Menſch, ſo würde ein tragiſcher Contraſt zwiſchen ihm und dem Doctor möglich ſein. So aber fehlt in ihrer Beziehung auf Clara die Einheit. Oder Clara könnte mit ihm contraſtiren. Aber wie ſoll ſie es, da ſie die wahre Liebe ihres Herzens ihm verrathen, ja in einer frivolen Laune ihm ihre jungfräuliche Reinheit geopfert hat. Mit welcher Sophiſtik ſie dies Ver¬


Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 7 � [98/0120] hältniß verblümen möge, es iſt und bleibt gemein. Unglück¬ lich genug iſt ſie, gewiß! Aber wenn wir fünf Acte hindurch ein Mädchen verſtohlen weinen oder mit Pathos jammern hören, das uns ſelbſt erzählt, wie es nicht aus Liebe, nicht aus Sinnenrauſch, ſondern aus einer eigentlich infernalen Berechnung heraus ſich einem von ihm im tiefſten Innern ungeliebten Menſchen hingegeben, ſo iſt uns unmöglich, ein anderes Gefühl, als das des Bedauerns zu haben. Hebbel hat die unglückſelige Geſchichte, die alle Tage in unſerer Nachbarſchaft ſich wiederereignen kann, mit größter genre¬ bildlicher Treue in lebenswarmer, eigenthümlich bildhafter Sprache geſchildert und hat damit nur bewirkt, daß wir aus ihrer Miſère heraus uns innigſt nach den erhabenen, durch Furcht und Mitleid reinigenden Schauern der Tra¬ gödie ſehnen.

Daß die Häßlichkeit des falſchen Contraſtes ſehr leicht in die Komik übergehen könne, iſt eigentlich in dem bisher Geſagten ſchon zwiſchen den Zeilen zu leſen. Die Hetero¬ genität darf nur noch etwas weiter hinausgerückt, der geſuchte Effect nur noch etwas überboten werden und die Lächer¬ lichkeit iſt fertig; — wie denn gewiß z. B. über die Qualen des Teufels Bertram in Robert le diable glücklicher Weiſe Viele ſchon, trotz der Muſik Meyerbeers, herzlich gelacht haben werden.

Der falſche Contraſt iſt ſchon der innere Bruch des ſymmetriſchen Verhältniſſes, der Uebergang in die mit dem Widerſpruch erfüllte Disharmonie.


� [99/0121] C. Die Disharmonie. Die Symmetrie iſt unter den formalen Beſtimmungen des Schönen noch nicht die letzte, denn in der Gleichheit ihrer Wiederholung liegt noch eine Verſtändigkeit, die an ſich zwar wohlthuend, allein nur als ſolche auch äußerlich und, wie die Unterſchiede der bloßen Regularität, langweilig iſt. Die Aegyptiſche Kunſt zeigt uns ein großartiges Bild der äſthetiſchen Monotonie, die aus dem Standpunct der Regel¬ mäßigkeit und Symmetrie nicht zu freiern Formen ſich erhebt. Weil z. B. die hieroglyphiſchen Figuren eines Index bedürfen, ob ſie von rechts nach links oder umgekehrt geleſen werden ſollen, ſo müſſen ſie in der einen oder andern Wendung bei einer Inſchrift alle übereinſtimmen. Daher dieſe weiten Mauerflächen, auf denen alle Figuren, oft tauſende, ſämmt¬ lich im Profil nur nach einer und derſelben Seite hingerichtet erſcheinen; ein außerordentlich ermüdender Anblick, mit welchem nur die an den Thoreingängen ſitzenden Koloſſe en face contraſtiren. Natur und Kunſt ſtreben daher oft mit einer gewiſſen Gewaltſamkeit darnach, die Starrheit der Symmetrie zu überwinden. Um die Harmonie der großen Verhältniſſe zu erreichen und zu erhalten, opfert die geniale Kühnheit unbedenklich die Regularität und Symmetrie der untergeord¬ neteren Beziehungen, wie wir dies in umfaſſenden architek¬ toniſchen Conceptionen, z. B. dem ſo bewundernswerthen Marienburger Schloß (21), in muſikaliſchen z. B. in einigen Beethovenſchen Sonaten, in poetiſchen, z. B. in Shakeſpeare's hiſtoriſchen Dramen, ſehen können. Das Schöne kann den Unterſchied bis zur Entzweiung des Widerſpruchs entwickeln, ſofern es den Widerſpruch ſich ſelbſt


7 * � [100/0122] wieder in die Einheit auflöſen läßt, denn durch dieſe Auf¬ löſung der Entzweiung erzeugt ſich erſt die Harmonie. Die einfache Einheit iſt zwar an ſich auch ſchön, weil ſie die erſte Bedingung aller äſthetiſchen Geſtaltung erfüllt, ein Ganzes darzuſtellen. Wir haben aber geſehen, wie die bloße Einheit noch dürftig iſt und theils durch innere Unterſchied¬ loſigkeit, theils durch Verworrenheit der Unterſchiede, durch nebuliſtiſche Verſchwommenheit häßlich wird. Der Unterſchied kann als Verſchiedenheit zur freien und ſchönen Mannigfal¬ tigkeit werden, allein durch Mangel an Gruppirung kann die bloße Verſchiedenheit als der oberflächliche, äußerliche Unter¬ ſchied, in das Wilde und Wüſte übergehen, gegen deſſen Form¬ loſigkeit das Schöne durch Unterordnung des Verſchiedenen unter eine gemeinſame Regel zu reagiren ſucht. So entſteht, wie wir ſahen, die Regelmäßigkeit als die gleiche Wiederkehr derſelben Unterſchiede, allein eben dieſe Regularität kann ſelbſt wieder häßlich werden, ſobald ſie die ausſchließliche Form eines äſthetiſchen Ganzen ausmacht, weshalb das Schöne den Unterſchied zum beſtimmten Unterſchied erheben muß. Das Poſitive und Negative wird durch Inverſion der an ſich gleichen Momente zur eigentlichen Symmetrie, deren Wechſelbeziehung innerhalb ihrer ſelbſt ſchön iſt. Mangelt ſie überhaupt, wo ſie doch dem Begriff der Geſtalt nach daſein ſollte; oder fehlt die eine Hälfte der ſymmetriſch an¬ gelegten Geſtalt; oder iſt ſie zwar da, jedoch fehlerhaft und die vorausgeſetzte Gleichheit der einheitlich gegen einander gekehrten Unterſchiede durch innern Widerſpruch ſtörend, ſo entſteht wiederum das Häßliche. Den Widerſpruch zu ſetzen, widerſpricht dem Schönen nicht. Der wahre Contraſt des Relativen mit dem Relativen, des Relativen mit dem Abſoluten, des Abſoluten mit dem Abſoluten, iſt ſchön. In allem

� [101/0123] dynamiſch Aeſthetiſchen macht die Colliſion den Hochpunct der Entwicklung aus; der falſche Contraſt aber wird häßlich, weil er eine Entgegenſetzung deſſen ſetzt, was nicht durch die Einheit ſeines Weſens ſich in ſich ſelbſt zu widerſprechen ver¬ mag. Der ächte Widerſpruch muß die Entzweiung der Ein¬ heit mit ſich ſelber enthalten, denn eine ſolche trägt die Mög¬ lichkeit ihrer Auflöſung in ſich; die Diſſonanz läßt durch ihre Colliſion die Einheit hindurch vernehmen als das ἑν διαφεϱουν ἑαυτῳ. Daß die aus der Einheit, Verſchiedenheit, Regula¬ rität, Symmetrie, Contraſtirung entſtehende Häßlichkeit in das Komiſche umſchlagen könne, iſt auf allen Puncten nach¬ gewieſen.

Als äſthetiſche erreicht die Einheit ihre Vollendung erſt dadurch, daß die Unterſchiede ſich als lebendige Momente des Ganzen erzeugen und unter einander in freier Wech¬ ſelwirkung ſtehen. Nicht nur die Einheit muß als die zu ihren Unterſchieden ſich ſelbſt beſtimmende erſcheinen, ſondern auch die Unterſchiede müſſen den nämlichen Charakter der Selbſtbeſtimmung beſitzen. Dies iſt der Begriff der Einheit als harmoniſcher. Die Harmonie iſt nicht blos abſtracte, ſelbſtſtändige Einheit; ſie iſt auch nicht eine Einheit, die nur in äußerliche, gegen einander gleichgültige Unter¬ ſchiede zerfällt; ſie iſt vielmehr die ihre eigenen Unterſchiede frei erzeugende und in ſich wieder zurücknehmende Totalität, die wir deshalb gern, nach dem Vorbilde der Natur, die organiſche nennen. Sie hat die Kraft, den Widerſpruch, in den ihre Unterſchiede gerathen können, durch ſich ſelbſt zu überwinden. Den Alten ſtand die Harmonie ſo hoch, daß ſie ihr die Individualität der Unterſchiede durchaus unter¬ ordneten, während die Modernen eine Neigung haben, der individuellen Charakteriſtik die Harmonie aufzuopfern. Man

� [102/0124] nehme z. B. die Pompejaniſche Wandmalerei, ſo iſt ihr die Harmonie der Farben ſo weſentlich, daß in einem Zimmer der Grundton Alles bis in die kleinſten Details beherrſcht. Hettner, in ſeiner Vorſchule der bildenden Kunſt bei den Alten (22), hat ſehr gut gezeigt, daß nur aus dieſem hohen harmoniſchen Sinn die Anomalieen gegen die Naturwahrheit ſich erklären laſſen, die wir auf den Wandgemälden finden, wie wenn Thiere oder Menſchen in einem ihnen unnatürlichen Colorit dargeſtellt werden. Bei näherer Unterſuchung finden wir ſolche Abweichungen von der Natur durch die Harmonie bedingt, in welcher die Grundfarbe der Wand und des Centralgemäldes auf ihr mit den Nebenbildern und den Ornamenten zuſammenſtimmen. Die Alten machten die Wand zu einer lebendigen optiſchen Einheit, aus welcher heraus alles Beſondere in ihr ſein Colorit entnehmen mußte.

Wie in allen ähnlichen Fällen wird der Ausdruck Harmonie auch ſchon für diejenigen Stufen der Einheit ge¬ braucht, die in ihr nur Momente ſind. Die Reinheit einer einfachen Beſtimmtheit, einer Farbe, eines Tons, einer Fläche, nennen wir auch wohl ſchon harmoniſch. Nicht weniger die Eurythmie einer glücklichen ſymmetriſchen Anordnung. Streng genommen können wir aber harmoniſch nur eine ſolche Ein¬ heit nennen, deren Unterſchiede einen genetiſchen Charakter haben. Es iſt die Proportionalität der Verhältniſſe nicht nur, es iſt auch die Thätigkeit in der Beziehung, die zur Harmonie erfordert wird. Je mannigfaltiger die Unterſchiede des Ganzen ſind, je ſelbſtſtändiger jeder von ihnen für ſich erſcheint, und je inniger ſie doch in einandergreifen, eine durchgängige homologe Einheit hervorzubringen, um deſto harmoniſcher iſt der Eindruck. Das harmoniſche Werk wieder¬

� [103/0125] holt das Weſen des Ganzen in jedem ſeiner Unterſchiede und verleihet dieſen dennoch eine eigene Seele. Es ſcheuet ſich nicht, in die Vielheit der Unterſchiede auseinanderzugehen, denn es verſteht dieſelben doch unter die Syntheſe des Ganzen wieder als Momente zuſammenzufaſſen, die in ihrer Eigen¬ lebigkeit einander eben ſo, als des Ganzen bedürfen. Die Disharmonie entſpringt demnach aus der Harmonie als ihre Selbſtverkehrung denn ohne das Poſtulat der Harmonie an eine Geſtalt machen zu dürfen, wird man auch nicht von Disharmonie reden können. Das Leere, Todte, Wider¬ ſpruchloſe, Nuridentiſche gibt zu ihr noch keinen Stoff; erſt bei der Wechſelbeziehung von Einheit und Vielheit, von Weſen und Form, von Allgemeinheit und Beſonderheit tritt ſie ein.

Wir werden die Harmonie vermiſſen, wenn wir da, wo wir eine lebendige Einheit erwarteten, nur eine abſtracte antreffen; aber in dieſem Fall iſt noch keine poſitive Dis¬ harmonie vorhanden. Der Mangel einer freien Mannig¬ faltigkeit iſt nicht ſchön, allein er iſt auch keine Entzweiung der Einheit. — Geht die Einheit zu Unterſchieden fort, bleiben dieſelben jedoch äußerlich gegen einander, verſchmelzen ſie nicht unter einander, ſo vermiſſen wir die Beſeelung der Harmonie. In dieſem Fall iſt auch noch keine poſitive Dis¬ harmonie, ſchon aber eine Unharmonie vorhanden, weil die Unterſchiede als ungegliederte, als nebeneinanderſtehende, die Einheit in die Vielheit zerfallen laſſen. Die Unterſchiede werden ſelber zu Einheiten, die nicht miteinander in Wechſel¬ wirkung ſtehen. Die Einheit erſcheint deshalb ſtatt har¬ moniſch in der Trockenheit eines bloßen Aggregatzuſtandes. Nirgends empfinden wir dieſe Mißform übler, als im Theater beim Mangel des Zuſammenſpiels. Jede Perſon treibt dann

� [104/0126] auf der Bühne ihr Weſen für ſich, als gingen die übrigen ſie nichts an. Das Spiel der Einzelnen greift nicht inein¬ ander; die Handlung ſtockt beſtändig und der Eindruck des fehlenden Enſemble muß, zumal bei ſchwachbeſetztem Hauſe, ein öder und froſtiger werden; ja zuweilen, wenn die Schau¬ ſpieler zu ſehr vom Souffleur abhängen und nur lauter her¬ ſagen, was man von dem heiſernen Flüſtern ſeiner Orkus¬ ſtimme ſchon vorvernommen hat, iſt der Eindruck nicht ſehr weit von dem entfernt, den die Kranken in einer Irren¬ anſtalt machen, von denen auch ein jeder rückſichtslos ſeine Rolle fortſpielt.

Vernichtet ſich die Einheit der Unterſchiede dadurch, daß ſie in den Widerſpruch übergehen, ohne in die Einheit zurückzugehen, ſo entſteht diejenige Entzweiung, die wir vor¬ zugsweiſe und mit Recht als Disharmonie bezeichnen. Ein ſolcher Widerſpruch iſt häßlich, weil er die fundamentale Bedingung aller äſthetiſchen Geſtaltung, die Einheit, von Innen heraus zerſtört. Die Disharmonie iſt nun zwar an ſich ſelbſt häßlich, aber es muß ſogleich unterſchieden werden zwiſchen der Disharmonie, die, als eine noth¬ wendige, doch ſchön, und zwiſchen derjenigen, die, als eine zufällige, häßlich iſt. Die nothwendige Dishar¬ monie iſt der Conflict, in welchen die in einer Einheit liegenden ſo zu ſagen eſoteriſchen Unterſchiede durch ihre gerechtfertigte Colliſion gerathen können; die zufällige iſt der gleichſam exoteriſche Widerſpruch, der einer Einheit octroyirt wird. Der nothwendige macht uns in dem un¬ geheuren Riß, den er aufklaffen läßt, die ganze Tiefe der Einheit offenbar. Die Kraft der Harmonie erſcheint um ſo gewaltiger, je größer die Disharmonie iſt, über welche ſie triumphirt, aber nicht nur muß die Ent¬

� [105/0127] zweiung das mit der Einheit homogene Element theilen, ſondern ſie muß die negative Beziehung der Einheit auf ſich ſelber ſein; denn nur unter dieſer Vorausſetzung iſt die Wiederherſtellung der Einheit möglich. Schön alſo iſt die Entzweiung nicht durch das Negative als ſolches, ſondern durch die Einheit, die in der Entzweiung als die innerlich wirkſame, zuſammenhaltende, rettende, erneuende Macht ihre Energie beweiſt.

Schön iſt, ſagt Kant mit Recht, was ohne Intereſſe allgemein gefällt; häßlich alſo, was ohne Intereſſe allgemein mißfällt. Das Disharmoniſche kann nun ſehr wohl unſer Intereſſe erregen, ohne ſchön zu ſein; wir nennen es dann intereſſant. Was nicht in ſich einen Widerſpruch birgt, werden wir nicht intereſſant nennen. Das Einfache, Leichte, Durchſichtige, iſt nicht intereſſant; das Große, Erhabene, Heilige ſteht wieder zu hoch für dieſen Ausdruck; es iſt mehr, als nur intereſſant. Aber das Verwickelte, das Widerſpruch¬ volle, das Amphiboliſche, und daher ſelbſt das Unnatürliche, das Verbrecheriſche, das Seltſame, ja Wahnſinnige, iſt intereſſant. Die gährende Unruhe im Hexenkeſſel des Wider¬ ſpruchs hat eine magiſche Anziehungskraft. Es gibt Schrift¬ ſteller, welche das Intereſſante mit dem Poetiſchen oft verwechſeln und daſſelbe durch den Reichthum ihres Geiſtes, durch die Kunſt ihrer Darſtellung, ſo zu idealiſiren verſtehen, daß es dem Idealen ſich nähert. Solche Autoren faſſen vor allen Dingen immer den Widerſpruch treffend auf, wie Voltaire und Gutzkow. In der Geneſis dagegen und in der Auflöſung des Widerſpruchs ſind ſie nicht eben ſo glücklich, woher ſich denn erklärt, daß ſie mehr den Ver¬ ſtand und die Phantaſie beſchäftigen, als das Gefühl hin¬ reißen, das vom Strudel der Disharmonie zwar auch

� [106/0128] erſchüttert, aber doch zugleich vom ſiegreichen Strom der Harmonie getragen ſein will. Die wahre Disharmonie iſt ein erlöſender Durchgangspunct der Einheit; die falſche damit häßliche Disharmonie iſt eine Pſeudoentzweiung, ein künſtlich eingeimpfter Widerſpruch. Eine ſolche ſtellt uns alſo auch nicht die Erſcheinung eines wahrhaften Weſens, vielmehr eines wahrhaften Unweſens dar und wird uns daher peinlich. In Hebbels zuvor betrachteter Maria Magdalena fühlen wir, ſo oft Clara die Bretter beſchreitet, den permanenten Widerſpruch deſſen, was ſie factiſch iſt, und deſſen, was ſie ſein will und auch wohl ſein ſoll. Was ſie auch Edles und Schönes ſagen mag, es iſt all' ihren Worten die Spitze abgebrochen, denn immer müſſen wir entgegnen: aber du biſt ja ſchwanger und — haſt es ſein wollen! Dieſe Norddeutſche Clara iſt im Grunde nicht unterſchieden von der Fleur de Marie in Sue's Mystères de Paris. Dieſe Goualeuſe, eine geborene Prinzeſſin, mit ihrer friſchen Silberſtimme, mit ihrer naiven Mädchenhaftigkeit, ihrem Naturſinn, ihrem engelhaften Ge¬ müth, ſollte ein Ideal ſein. Allein gerade je mehr ihre Lieblichkeit ſich entfaltet, um ſo entſchiedener empfinden wir die Disharmonie, daß dies liebe Kind uns zuerſt in einem tapis franc der Pariſer Cité begegnet, daß es, obwohl die Freundin der tapfern, reinen Rigolette, aus Mangel an Arbeit, nachdem ſie ihr Geld vertändelt, ſich einer lieder¬ lichen Trägheit ergeben hat. Sie hat ſich von der ogresse mit Brantwein berauſchen und zur Proſtitution eingarnen laſſen. Eine geborne Prinzeſſin in einem repaire der Cité! Himmelſchreiend intereſſant, aber nichts weniger als poetiſch. Wir kommen über den Makel, der ihrer ſittlichen Haltung von hier anhaftet, nicht wieder hinaus; ſie ſelbſt auch nicht und Sue hat wenigſtens ſo viel Tact gehabt, ſie unver¬

� [107/0129] heirathet am Hof ihres Vaters, des Deutſchen allegoriſchen Fürſten Rudolphe, an der Schwindſucht ſterben zu laſſen (23).

Eine wahrhafte Disharmonie wird häßlich, wenn ihre Auflöſung falſch iſt, denn in dieſem Fall wird offenbar ein Widerſpruch im Widerſpruch erzeugt. In der folgerechten Entwicklung des Widerſpruchs würde die Geſetzmäßigkeit der in ihm wirkſamen Einheit allmälig haben hervortreten können und dieſe Anſchauung der innern Noth¬ wendigkeit uns Befriedigung gewährt haben, weil wir den Untergang des Diſharmoniſchen durch die Harmonie begreifen, in welche ſie ſich auflöſt, ſtatt daß das Ablenken auf einen dem Eingang innerlich nicht entſprechenden Ausgang offenbar häßlich iſt. Dies iſt z. B. dem ſonſt ſo klaren Prutz in ſeinem Karl von Bourbon begegnet. Statt der Poeſie der Geſchichte gehorſam zu ſein, ſtatt ihn vor den Mauern Roms im Kampf gegen den Papſt durch Benvenuto Cellinis Kugel fallen zu laſſen, läßt er ihn ſchon mehre Jahre zuvor auf dem Schlachtfelde von Pavia an Gift ſterben, das er aus der Ringkapſel einer aus einem Kloſter entflohenen, ins Schlachtgetümmel à propos einvagabondirenden Halbgeliebten kredenzt erhält. Verwundet, erſchöpft, im Wahn, mit dem Trunk ſich zu erkräftigen, ſtirbt der große Connetable langſam mit langen kleinathmigen Reden. Welch' ein ſentimental triſter Contraſt mit ſeinem erſten kühnen Auftreten, in welchem er Frankreichs Wohl und Ruhm dem Könige von Frankreich gegenüber geltend macht. Welch' eine Disharmonie! Welch' eine falſche Harmonie, daß die elende Vergifterin, ein unſeliges romantiſches Geſchöpf, ſich natürlich mitver¬ giftet. Eine raſche Kugel im heißen Kampf durchs kühne Herz, wie die Geſchichte es gethan hat, das war hier allein harmoniſch und poetiſch. — Die Romantik hat ſich oft er¬

� [108/0130] laubt, ſtatt einer objectiven, ſich von ſelbſt geſtaltenden Auflöſung eines Widerſpruchs eine nur ſubjective und phan¬ taſtiſche zu geben, die uns in unſerer Erwartung täuſcht. — Jedoch iſt ſich wohl daran zu erinnern, daß man in der Betrachtung des Schönen, ſei es das der Natur, ſei es das der Kunſt, nicht liberal genug verfahren kann. Je ge¬ wiſſer die großen äſthetiſchen Grundſätze für uns ſein müſſen, je unverbrüchlicher wir an ihrer ewigen Wahrheit feſtzuhalten haben, um ſo nachſichtiger können wir gegen die concrete Geſtaltung des Schönen ſein, wenn ſie oft das Verſchiedenſte und Widerſprechendſte in ſich zuſammenfaßt. Wir haben zuvor, und mit Fug, zwiſchen dem Intereſſanten und dem Poetiſchen unterſchieden; um jedoch mißverſtändliche Auf¬ faſſung zu verhüten, bemerken wir, daß natürlich das wahr¬ haft Poetiſche zugleich auch höchſt intereſſant ſein kann. Da gibt es Felſengegenden, ſo fürchterlich zerriſſen, ſo wunderlich zerklüftet, daß ſie nicht ſchön und nicht häßlich im Sinn des reinen Ideals und ſeiner Negation wohl aber intereſſant zu nennen ſind und als intereſſant eine wilde, ſchauerlich ſeltſame Poeſie athmen können. Da gibt es Bauwerke, in denen der Styl verſchiedener Jahrhunderte ſich ſo wunderbar verſchmolzen hat, daß ſie bei aller Heterogeneität der beſondern Beſtandtheile doch ein höchſt intereſſantes, disharmoniſch-harmoniſches Ganzes ausmachen. Da gibt es Gedichte, die keiner entſchiedenen Gattung an¬ gehören und deshalb äſthetiſch nicht eine vollkommen reine Wirkung zu haben vermögen, aber eine Fülle gediegener Poeſie beſitzen. Harold's Pilgerfahrt von Byron iſt kein Epos, kein Melos, kein didaktiſch-descriptives Gedicht, keine Elegie — es iſt dies Alles zuſammen in einer intereſſanten Vereinheit.

� [109/0131] Weil die Disharmonie auf der Entzweiung des Weſens mit ſich ſelbſt beruhet und weil ſie alle Momente des formalen Häßlichen in ihrer falſchen Begründung und falſchen Auf¬ löſung verſammelt, ſo wird ſie natürlich zur Erzeugung des Komiſchen ein viel ſtärkeres Mittel als alle frühern Ueber¬ gänge ins Häßliche. Jede bloße Beſeitigung, jede vergriffene Auflöſung, jede phantaſtiſche Beendigung des Widerſpruchs ſtatt der Nothwendigkeit ſeiner immanenten Selbſtentfaltung iſt ſchon auf dem Wege, komiſch zu werden. In Werken ſolcher Art, in denen alſo das Komiſche als Begriff nicht in ſie ſelbſt, ſondern in ein anderes Bewußtſein fällt, das ſich durch ihre Täuſchung getäuſcht findet, iſt der Wider¬ ſpruch zu ernſter Natur, als daß ſeine verkehrte Verwicklung und Mißauflöſung unſere völlige Heiterkeit erregen könnte, denn die Komik muß, alle trübe Verſtimmung in den Son¬ nenſtrahl des Gelächters verſchwinden zu laſſen, von aller Bedenklichkeit frei ſein, weshalb ſolche Werke, ganz gegen ihre Tendenz, häßlich werden. Hebbel, der Dichter des Peſſimismus und der Bizarrerie, wie Henneberger ihn treffend genannt hat (24), möge uns geſtatten, an ſeiner Julia nachzuweiſen, wie das Tragiſche, wenn es die Knoten ſeiner Widerſprüche weder recht ſchürzt, noch recht löſt, ſchon in das Komiſche umzuſchlagen anfängt, jedoch weil es noch zu ernſt und gewichtig iſt, vorerſt häßlich bleibt. Ein Räuberhauptmann Antonio will ſich oder vielmehr ſeinen auch als Räuberhauptmann hingerichteten Vater Grimaldi an einem reichen Mann Tobaldi rächen, weil er denſelben für die Urſache hält, daß ſein Vater einſt ins Exil habe wandern müſſen. Wie fängt er dies an? Er beſchließt, Tobaldis Tochter zu entehren. Er nähert ſich ihr, ohne daß ſie natürlich von ſeinem Metier als Räuber eine Ahnung

� [110/0132] hat; ſie verliebt ſich in den hübſchen jungen Mann; er ſchändet ſie, dem Vater zum Hohn. Mehr als Italieniſch teufliſch! Im Act der Schändung aber ſchlägt ſein Haß zur Liebe um und in Folge dieſer Liebe ändert ſich ſeine ganze Geſinnung. Er verſchwindet, ſich von ſeiner Räuber¬ bande loszumachen, ein ordentliches Mitglied der bürgerlichen Geſellſchaft zu werden und mit ſeiner Julia nach Amerika auszuwandern — durchaus unitalieniſch. Allein er iſt ſo unverſtändig, dem Mädchen von all dieſer Zukunft kein Wort zu ſagen, obwohl er noch das Malheur hat, längere Zeit in einem Verſteck krank zu liegen. Die Zeit verſtreicht. Julia fühlt ſich ſchwanger, ſoll aber, als die keuſcheſte Jungfrau ihrer Stadt, am Feſt der heiligen Roſalia die Königin der Jungfrauen darſtellen. Dieſen Widerſpruch er¬ trägt ſie nicht; ſie fliehet, irrt im Lande umher, hofft irgendwo zu ſterben. Statt ins Waſſer zu ſpringen, wie doch noch die Hebbelſche Clara in der Maria Magdalena thut; ſtatt ſich einen Dolch ins Herz zu ſtoßen, wie Lucretia; ſtatt ſich vom Vater tödten zu laſſen, wie Virginia; ſtatt wenigſtens einen Schlaftrunk zu nehmen, wie Shakeſpeare's Julie; lockt ſie einen Banditen in einen Wald — mutter¬ ſeelenallein — hält ihm eine Börſe vor und redet ſeltſamlich, bis der Bandit erahnt, daß es ihr angenehm ſein dürfte, nicht länger zu leben. Aber in dieſem Augenblick hebt die unerhörte Kataſtrophe an. In dem Walddickicht kauert nämlich ein reicher, Deutſcher, junger, äußerſt blaſirter Graf von ausgezeichneter Liebe zum Menſchengeſchlecht im Allge¬ meinen; ſo gründlich hat er ſich ruinirt, daß er mit mathe¬ matiſcher Gewißheit nicht lange mehr leben kann. Da er jedoch eigentlich ein ſehr guter Menſch iſt, wie ihm auch ſein alter Diener Chriſtoph bezeugt, ſo möchte er gern den

� [111/0133] Reſt ſeines Lebens noch zu einer nützlichen, wo möglich noblen That verwerthen. Leider iſt das Wie ſeinem geiſt¬ reichen Kopfe dunkel, aber die Vorſehung des Dramas ſorgt auch für die Narren. Mit Ueberraſchung hat er nämlich der originellen Mordſcene beigewohnt, jagt im rechten Augen¬ blick mit einem kräftig ausgeſtoßenen „Bube“ den ehrlichen Banditen Pietro in die Flucht, erfährt von Julia ſofort den Thatbeſtand und iſt entzückt, bei ihr eine ſchöne Gelegenheit gefunden zu haben, ſein Nichts von Leben doch noch gut verwerthen zu können. Er entſchließt ſich nämlich, die ſchwangere Julia zu heirathen. Worüber Clara's früherer Geliebter in Hebbels Magdalena noch nicht hinfort kann, weil kein „Mann“ darüber hinfort kann, das exiſtirt für den ausgemergelten Grafen nicht mehr. Sein Standpunct iſt höher, freier, denn er dürſtet vor dem nahen Tode nach einer tugendhaften Handlung und einem gefallenen Mädchen recht pfiffig wieder zu ihrer Ehre zu helfen — ſollte das nicht außerordentlich tugendhaft ſein? Unterdeſſen hat der alte Vater ſeine Tochter vermißt und täuſcht die Stadt mit einem leeren Sarge, als ob ſie geſtorben wäre, bei welcher Poſſe der Hausarzt Alberto ihn unterſtützt, der als Haus¬ freund erſt Juliens Mutter, dann dieſe ſelber, immer in beſcheidener Ferne, geliebt hat. Graf Bertram kommt mit Julia an und der Vater gibt, wohl oder übel, dem vor¬ nehmen Schwiegerſohn ſeinen Segen. Aber der ſo ſchöne und durch die Liebe zum Philiſterium bekehrte Räuber Antonio kommt auch an und raſ't natürlich zuerſt, bis ihm Ber¬ trams wunderbare, nicht ſowohl keuſche, als richtiger impo¬ tente Willensmeinungen klar gemacht werden. Auf einem Schloß des Grafen in Tyrol finden wir im letzten Act Julien mit ihrem Mann, ihrem Geliebten und dem Plato¬

� [112/0134] niker Alberto friedlich zuſammen. Bertram fühlt zwar ganz die unendliche Schönheit und Liebenswürdigkeit ſeiner jungen Frau; er verſpricht aber, recht artig zu ſein. Er will Gemſen jagen in den Alpen — und dann? Nun er hat G. Sand's Jacques wohl gut inne, denn dann ſoll es nicht mehr einen Monat dauern — und dann, zu Julia und Antonio gewendet, verſprechen Sie mir Beide —

Julia.

Dann —

Antonio.

Dann wollen wir uns fragen, ob wir noch glücklich ſein dürfen?

Julia.

Wir wollen uns fragen, ob wir noch glücklich ſein können?

Finis.

So endet dieſe durch das Talent ihres Urhebers bis in die kleinſten Züge hinein verzerrte Tragödie, deren Inhalt wir mit ſchlichten Worten angegeben haben und dabei doch nicht verhüten konnten, nicht ſchon komiſche Streiflichter darauf fallen zu laſſen. Wir bezweifeln nicht im Geringſten den ſubjectiven Ernſt der ethiſchen Tendenz, den Hebbel in ſeinem Vorwort mit ſo großem Pathos verkündet. Doch laſſen wir uns dadurch nicht beſtechen und erkennen, daß dieſe Tragödie im Grunde durch die Art ihrer Disharmonie eine gräßliche Komödie, ein Ungeheuer von Scheincontraſten iſt. Wir wollen von craſſeren Motiven, die in dieſer Tra¬ gödie vorkommen und oft höchſt komiſcher Beſchaffenheit ſind, wegſehen; wir wollen nur bei den fundamentalen Ver¬ hältniſſen bleiben, ſo ſind ſie nicht tragiſch, ſondern komiſch. Daß ein Mädchen, welches ſich heimlich hat ſchwängern

� [113/0135] laſſen, als Königin der Jungfrauen bei einem Feſte erſcheinen ſoll, iſt gewiß komiſch. Daß ein Vater, deſſen Tochter, wie er glaubt, mit ihrem Liebſten durchgegangen iſt, die Stadt durch einen Scheintod und einen Scheinſarg ſeiner Tochter täuſcht, iſt gewiß komiſch. Daß ein Deutſcher Graf, nach wüſt durchnoſſenem Leben, eine hypochondriſche Anwandlung zur Tugend bekommt und ſeinem blaſirten Leichnam noch die Ehre anthun möchte, zu irgend etwas Nützlichem, wohl gar Edlem, zu dienen, iſt gewiß komiſch. Daß ein ſchwangeres Mädchen in einem Lande, worin es doch auch Gensdarmen gibt, ſo ohne Weiteres zu Fuß umherirrt und todesſehnſüch¬ tig im Waldesdunkel einem Banditen durch eine vorgehaltene Börſe die Luſt, ſie zu tödten, beibringt, ſtatt daß man er¬ warten ſollte, er werde ſich der Börſe auch ohne Mord ver¬ ſichern und das Mädchen als eine ſchöne Beute zu ſeiner Luſt zwingen, iſt gewiß komiſch. Daß Bertram und Julia eine Ehe ſchließen, die doch keine iſt; er, um doch, bevor er ſtirbt, ſich noch zu etwas Gutem verbrauchen zu laſſen; ſie, um doch ihre Ehre durch einen Gatten zu ſalviren, das iſt gewiß komiſch. Daß endlich alle drei Liebhaber, jeder von ſeinem Standpunct aus den andern anerkennend, ja vereh¬ rend, ſich auf dem Schloß in Tyrol trefflich vertragen und der Graf Antonio und Julia die angenehme Ausſicht gibt, nächſtens zu ihrer Bequemlichkeit für immer zu verſchwinden, nun, das iſt gewiß komiſch. Komiſch? Ja, im Ariſtophani¬ ſchen Sinn, ſo weit derſelbe auch die ethiſche Nullität in ſich faßt, nicht aber in dem weitern auch Ariſtophaniſchen Sinn der heitern Ausgelaſſenheit der abſoluten Nullität, die ohne Prätenſion iſt. Vielmehr ſind dieſe corrupten Ver¬ hältniſſe im feierlichſten Ernſt mit großwortigen Reden be¬ handelt, ſo daß ſtatt ſeligen Lächelns nur die Trübſeligkeit


Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 8 � [114/0136] in uns aufkommt, eine mißrathene Tragödie vor uns zu haben.

Iſt der Widerſpruch ſchon ſeinem Inhalt nach nicht idealer Natur und fühlt das in ihm befangene Subject ihn nicht als Widerſpruch, ſondern erſcheint es vielmehr in ihm vollkommen befriedigt, ſo iſt eine ſolche Disharmonie komiſch. Erinnern wir uns z. B. des Strepſiades aus den Ariſto¬ phaniſchen Wolken, ſo will dieſer ehrſame Athenienſer bei Sokrates Philoſophie ſtudiren. Doch wozu? Um ſich ſeine Gläubiger ſophiſtiſch vom Halſe zu ſchaffen. Dieſer Zweck, den er der Philoſophie ſetzt, widerſpricht ihrem Weſen. Wird ſie aber ſo genommen, ſo iſt das eben komiſch. Strepſiades befindet ſich daher auch in der Ehrlichkeit ſeines Zutrauens zur Philoſophie, ihn von ſeinen Schulden zu emancipiren, zunächſt ganz gemüthlich, bis der Sohn ihn überſophiſtet und ihm dialektiſch ſein Recht beweiſt, ihn ſchla¬ gen zu dürfen.


� [115/0137] Zweiter Abſchnitt . Die Incorrectheit. Die abſtracten Beſtimmungen der Formloſigkeit gelten für alles Häßliche überhaupt. Das Häßliche iſt aber in con¬ creto theils ein natürliches, theils ein geiſtiges. Die All¬ gemeinheit der Amorphie, der Aſymmetrie und Disharmonie wird in der Natur oder im Geiſt zu einem individuellen Da¬ ſein. Als ein ſolches iſt es der Nothwendigkeit unterworfen, in ſeiner Erſcheinung den allgemeinen Begriff, der ſein Weſen ausmacht, zu realiſiren. Die Uebereinſtimmung der Realität mit dem Begriff, die objective Erfüllung der Geſetzmäßigkeit, macht die Correctheit aus. Sie beſteht alſo darin, daß die äſthetiſche Geſtalt nach ihrer normalen Eigenthümlichkeit dar¬ geſtellt, daß alſo nichts, das ihr nach ihrem Begriff zugehört, fortgelaſſen, nichts, das ihrem Weſen fremd iſt, hinzugefügt, nichts an ihr gegen ſeine Normalität verändert werde. In dieſen Negationen liegt der Begriff der Incorrectheit.

Die Incorrectheit führt in das Gebiet der einzelnen Künſte. Wollte man ſich aber auf dieſelben einlaſſen, ſo würde man in ein unendliches und überflüſſiges Detail ge¬ rathen. Man würde nämlich jeder poſitiven Beſtimmung den Kanon hinzuzufügen haben, daß ein Verſtoß gegen ſie incorrect ſei. Welch' eine ermüdende Weitſchweifigkeit würde es werden, alle Regeln der Kunſt aufſtellen und bei jeder die Litanei wiederholen zu müſſen, daß ein Verfehlen derſelben


8 * � [116/0138] nicht correct ſei. Es genügt daher, für unſern Zuſammen¬ hang zu zeigen, wie im Incorrecten das Häßliche liege und wie auch das Incorrecte ein Quell des Lächerlichen zu werden vermöge.

Wir werden demnach zuerſt den Begriff des Incor¬ recten im Allgemeinen zu erörtern haben; ſodann werden wir die beſondern Modificationen durchgehen müſſen, welche das Incorrecte in den eigenthümlichen Stylarten der Na¬ tionen und Schulen, in den individuellen Idealformen des Ausdrucks zu erhalten vermag; für die Geſtaltung aber, welche daſſelbe innerhalb der einzelnen Künſte annimmt, wird eine Angabe des allgemein Charakteriſtiſchen hinreichen.


A. Die Incorrectheit im Allgemeinen. Die Correctheit überhaupt beſteht in der Richtigkeit, mit welcher eine Geſtalt diejenigen Formen darſtellt, die ihr kraft ihres weſentlichen Inhalts, ſei es der Natur, ſei es der Geſchichte, inwohnen. In der Sprache der formalen Logik würde man ſagen können, daß ſie einen Gegenſtand mit all den Merkmalen ausſtattet, durch welche er ſich von andern weſentlich unterſcheidet. Nur durch die Beſtimmtheit und Klarheit ihrer fundamentalen Richtigkeit kann eine Ge¬ ſtalt ſich auch äſthetiſch von andern ſondern. Die Correct¬ heit fordert daher z. B. daß in einem Landſchaftbilde die Baumgattungen durch ihren natürlichen Typus unterſchieden, daß in einem Architekturwerk die Säulen nach dem Geſetz ihrer Ordnung in den Verjüngungen und Ornamenten ge¬ gliedert ſeien, daß in einem Gedicht der Charakter ſeiner

� [117/0139] Gattung u. ſ. w. feſtgehalten ſei. Dieſe Beſtimmtheit iſt durchaus erforderlich, weil ohne ſie die Individualiät der Geſtalt nicht zur Erſcheinung kommen kann. Sie iſt inſofern ſchön. Da ſie jedoch erſt auf die formale Uebereinſtimmung der individuellen Geſtalt mit ihrer generiſchen Geſetzmäßigkeit geht, ſo iſt ſie an ſich noch nicht abſolut ſchön, ſondern macht nur die Erfüllung einer für das Schöne unerläßlichen Bedingung aus. Der idealiſche Schwung, die Weihe einer höhern Poeſie liegt noch nicht in ihr und ſie allein vermag daher noch nicht äſthetiſch zu befriedigen.

Sagen wir von einem Kunſtwerk, daß es völlig cor¬ rect ſei, ſo iſt das gewiß ein Lob und ein nicht geringes, denn wir erkennen damit an, daß es den Regeln der Kunſt gemäß ſei. Sagen wir aber nichts weiter von ihm, ſo iſt dies Lob nahe daran, ein Tadel zu werden, denn als nur correct kann es zugleich trocken, ohne Seele, ohne den Sprudel origineller Erfindung ſein. Wir ſehen dies vorzüglich an den Werken derjenigen Kunſtrichtung, die wir die akademiſche nennen. Formell ſind ſie gewöhnlich richtig, indem ſich ihr Verdienſt aber auf die Abweſenheit einzelner Fehler beſchränkt, ermangeln ſie nicht, uns trotz ihrer Correctheit bald zu langweilen, denn ſie ergreifen uns nicht durch eine Begeiſterung, die über das richtige Maaß hinaus uns mit jenem Ueberſchuß göttlicher Eigenart, idealer Wahrheit, urſprünglicher Freiheit entzückte, der ein Kunſtwerk erſt zu einem claſſiſchen macht. Die akademiſche, wohlgeſchulte Cor¬ rectheit, die noch weiter nichts iſt, wird daher mit ihrer oft peinlichen Genauigkeit, dem ſchöpferiſchen Hauch des Genius gegenüber, kalt und dürftig, — alſo häßlich erſcheinen. Nicht das Correcte als ſolches iſt häßlich, ſondern häßlich iſt das Schöne, ſofern es auf der Stufe der bloßen Correctheit

� [118/0140] ſtehen bleibt und ſie nicht zum bloßen Mittel ſeelenvoller Manifeſtation macht. Ein Werk, das in Einzelheiten un¬ richtig, alſo incorrect iſt, kann dagegen, dieſen Verſtößen gegen Zeichnung, Tonſatz, Anordnung, Versbau u. ſ. w. zum Trotz, dennoch ſchön ſein, wenn es im Ganzen von einer idealen Kraft getragen wird, die uns das Fehlerhafte des Details vergeſſen läßt. Die Neuheit der Erfindung, die Kühnheit der Anordnung, die Gewalt oder Lieblichkeit der Ausführung machen, daß wir die einzelnen Inconvenienzen, Irrungen und Mißgriffe im Namen des Genius vergeben. So iſt z. B. Platen außerordentlich correct, jedoch weniger eigenthümlich und eigenſchöpferiſch; Heine dagegen iſt oft incorrect, zuweilen ſogar mit Bewußtſein, allein ſeine productive Kraft, ſeine Originalität iſt ungleich größer. In Folge dieſes Unterſchiedes iſt denn auch ſeine Einwirkung auf unſere Literatur eine bei weitem intenſivere und um¬ faſſendere geweſen, als die Platens.

Daß die Incorrectheit an ſich, da ſie eine nothwendige Formbeſtimmtheit durch Weglaſſen, durch heterogene Zuthat oder durch Veränderung negirt, unter die Kategorie des Häßlichen falle, iſt zweifellos. Die Kunſt muß die Correct¬ heit fordern und darf gegen das Incorrecte keine ſchlechte Toleranz üben. Die Nothwendigkeit, der ſich die Kunſt für die correcte Behandlung im Allgemeinen zu unterwerfen hat, iſt eine phyſiſche, pſychologiſche und hiſtoriſch-con¬ ventionelle. Es kommt hiermit der Begriff der Nach¬ ahmung zur Sprache, weil ſich die Kunſt hier zu einem Gegebenen verhält, dem ſie folgen muß. Sie muß die Formen der Erſcheinung der Natur und des Geiſtes beobachten, denn nur in dieſen Formen kann ſie die Geſtalten indivi¬ dualiſiren. Die Nachahmung hat jedoch bekanntlich nicht

� [119/0141] den Sinn einer bloßen Copirung des zufällig Empiriſchen, ſondern den, durch Hingebung an daſſelbe, durch exacte Nachbildung ſeiner Geſtalt, die ideale Form, das allgemeine Maaß, zu erkennen. Natur und Geiſt ſind wegen der Zu¬ fälligkeit und Willkür, die ihrer Erſcheinung mit Nothwen¬ digkeit anhaftet, oft durch ſich ſelbſt gehemmt, diejenige Form zu erreichen, die ſie ihrem Weſen nach als deſſen adäquate Erſcheinung anſtreben. Ihre Realität bleibt hinter der Ten¬ denz ihres Begriffs oft zurück, weil ſie ſich in ihrer Noth¬ wendigkeit wie in ihrer Freiheit oft unabſichtlich ſtören. Die Kunſt befreiet die äſthetiſche Geſtaltung von dieſer Mi߬ lage, entfernt von ihr alles Verderbliche und Unweſentliche, ſchält den reinen Kern heraus und erfreuet uns mit der Ewigkeit des mangelloſen Ideals. Durch einen nur empiriſchen Eklekticismus iſt dies nicht zu erreichen, denn je exacter die Productionen eines ſolchen ſind, wie bei Wachsfiguren, Automaten, Daguerrotypen u. ſ. w., um ſo mehr entfernen ſie ſich von der Freiheit und Wahrheit des Ideals. Ein Daguerrotypportrait gibt uns nicht den ganzen Menſchen, ſondern den Menſchen, wie er gerade in dieſem Augenblick in ganz particulären Zuſtänden ſich befindet, wie er von einer vorübergehenden Stimmung beherrſcht wird u. ſ. w. Der Künſtler muß das Ideal zuletzt aus der geiſtigen An¬ ſchauung heraus produciren, zu welcher der Gehorſam gegen die Empirie ihm nur das Material liefern kann. Praxiteles würde ſeine Idealſtatue der Aphrodite niemals hervorgebracht haben, hätte er ſich darauf beſchränken wollen, von den Hetären, welche die Athenienſer ihm für ſeine Studien zur Verfügung ſtellten, nur eine treue Zuſammenſetzung ihrer vorzüglichſten Schönheiten zu machen. Denken wir uns, daß er von der einen den Buſen, von der andern den Arm,

� [120/0142] von der dritten den Fuß u. ſ. f. entlehnt und dieſe Einzel¬ heiten äußerlich verbunden hätte, ſo würde er ſicherlich ein ſchönes Ungeheuer, keine anbetungswürdige Göttin der Schönheit erſchaffen haben; aus dem eigenen Innern heraus mußte er den Triumph weiblicher Schönheit erzeugen. Allein deshalb waren ihm jene Hetären nicht unnütz, denn ihr Studium machte ihm die Correctheit möglich, ſofern er in einer jeden eine relativ wahre Erſcheinung des Ideals erblicken konnte. Wie ſehr wird es doch bei unſern modernen Bild¬ hauern und Malern fühlbar, daß ſie nackte weibliche Ge¬ ſtalten oft nur nach Griſettenmodellen bilden, die durch Schnürleiber die reinen Formen der Natur corrumpirt haben. Die Kunſt ſoll, correct zu ſein, das Weſen der natürlichen und geiſtigen Wirklichkeit in ſich aufnehmen, aber ſie ſoll nicht naturaliſiren, ſo wenig als ſie im Sinn einer falſchen Transcendenz idealiſiren ſoll. Wir werden dem Künſtler ein relatives Umbilden der bloßen Richtigkeit einräumen müſſen, ſofern er ſeiner zur Herſtellung der ob¬ jectiven Wahrheit des Ideals bedarf und werden ein ſolches Hinausgehen über die empiriſchen Formen nicht Incorrectheit ſchelten dürfen; nur das ſubjective Idealiſiren werden wir verwerfen müſſen, welches die ſpecifiſche Kraft der Indivi¬ dualität in abſtracten Potenzirungen verpufft.

Die phyſiſche Correctheit läßt ſich am ſicherſten feſt¬ ſtellen, weil die Vergleichung der künſtleriſchen Production mit dem Gegebenen hier am Leichteſten und Zugänglichſten iſt. Den Ausdruck: nach der Natur, gebrauchen wir durch Uebertragung auch in dem allgemeinen Sinn, daß wir das Unmittelbare überhaupt darunter verſtehen. Wir ſagen z. B. auch von einem Architekturgemälde, obwohl der Bau ein Werk des Geiſtes, daß es nach der Natur gemalt ſei. Eben

� [121/0143] ſo ſagen wir auch wohl: nach dem Leben. Obwohl nun aber die Anſchauung der Natur für die richtige Auffaſſung derſelben jederzeit bereitwillig ſich darbietet, ſo iſt die letztere dennoch keineswegs ſo wohlfeil, als es ſcheinen möchte. Ein rein gegenſtändliches Sehen und Hören iſt keineswegs eine ſo allgemein verbreitete Fähigkeit. Bei genauerem Be¬ trachten entdecken wir daher zu unſerm Erſtaunen gewöhnlich mehr Incorrectheiten, als zunächſt glaublich. Andere In¬ correctheiten entſpringen aber auch aus der Fixirung von Manieren, wie z. B. die überlangen Geſtalten, Hände und Füße in der Byzantiniſchen Malerei (25).

Die pſychologiſche Richtigkeit nennen wir oftmals auch Naturwahrheit. Sie umfaßt die Sphäre des Gemüths in ſeinen Begierden, Neigungen und Leidenſchaften; den richtigen Ausdruck derſelben in Gebehrden, Mienen, Worten; nicht weniger aber auch die richtige Motivirung der Affecte. Der Zuſammenhang der Gefühle nach ihrem Inhalt, die Form der Erſcheinung derſelben in mimiſcher, pathognomiſcher und phyſiognomiſcher Beziehung, die Darſtellung derſelben in Ton und Wort, bietet ein unendliches Feld zu Verletzungen der objectiven Wahrheit dar, deren Correctur ſchon nicht ſo leicht iſt, als die von phyſiſchen Incorrectheiten. In der Poeſie, Muſik und Malerei wird die pſychologiſche Verirrung beſtimmter nachgewieſen werden können, als in der Sculptur, weil dieſe, auf den generiſchen Ausdruck hinarbeitend, die Entſchiedenheit des Charakteriſtiſchen abzumildern und nicht ſelten das abſtract Allegoriſche darzuſtellen hat. So haben die Franzoſen z. B. einen Begriff in ihrer Poetik, den ſie la poésie legère nennen. Dieſen Begriff hat Pradier in einer Statue dargeſtellt, von welcher die Franzöſiſchen Kunſt¬ richter in den überſchwänglichſten Ausdrücken reden und auf

� [122/0144] welche die Dichter enthuſiaſtiſche Verſe gemacht haben. Ein ſchönes, tanzendes Weib hält in der Linken eine kleine Harfe, während es die Rechte über den Kopf hin ausſtreckt. Es ſteht auf den Zehen des linken Fußes; der rechte iſt in leichtem Schwunge gehoben und tippt mit der Spitze nach hinten auf den Boden. Daß die Geſtalt, nach Franzöſiſchen Begriffen der poésie fugitive, eine gewiſſe Fülle hat, wollen wir zugeſtehen; mußte aber auch am Kopfe, der himmelwärts gewandt Begeiſterung athmen ſoll, die Mentalregion den Ausdruck eines genußgeſättigten Embonpoints haben? Mußten die Augen ſo klein, ſo opiumſchwer geſchloſſen ſein? Geht dieſe Phyſiognomie nicht zu ſehr in das Phrynenhafte über? Mußte Pradier nicht bedenken, daß ſeine leichte Poeſie zwar einen lasciven Zug haben, jedoch in Kinn und Auge das Spirituelle mehr markiren mußte? Solche Bedenken entſtehen aus dem Gedanken, ob auch der Begriff der ſcherzenden, witzigen, lebensluſtigen, erotiſchen Muſe in dieſen Formen correct ausgedrückt worden. Pradier, nächſt Canova unter den modernen Bildhauern wohl der, welcher den Ausdruck der Lieblichkeit am meiſten in ſeiner Gewalt hatte, würde ſich vielleicht damit vertheidigt haben, daß ein weniger gerun¬ detes Kinn und ein größeres Auge wiederum zu edel, zu Apolliniſch geweſen ſein würden (26).

In der hiſtoriſch-conventionellen Richtigkeit bleibt die Freiheit des Geiſtes der weſentliche Punct, dem ſich die Rückſicht auf das Gegebene unterzuordnen hat. Iſt der pſychologiſche Ausdruck des Gemüthes correct, iſt die eigent¬ liche Subſtanz eines hiſtoriſchen Vorganges richtig gefaßt, ſo kommt es auf die äußerliche Morphologie der Erſcheinung weniger an. Es wird deshalb wegen der Incorrectheit der¬ ſelben hier ein größerer Spielraum verſtattet ſein. Der ge¬

� [123/0145] ſchichtliche Geiſt bringt ſeine Eigenthümlichkeit auch in ſeiner Art, zu wohnen, ſich zu kleiden, in der Form ſeiner Geräth¬ ſchaften, in dem Charakter ſeiner Sitten hervor. In allen dieſen Manifeſtationen geht er zu einer Unendlichkeit von Be¬ ſtimmungen fort, die, ein Ausdruck ſeines Weſens, doch für die Tiefe deſſelben mehr accidentell ſind. Betrachten wir ſolche Dinge im Großen und Ganzen, ſo erfreuen wir uns an der Conſequenz, mit welcher das Individuelle auch bis in die Kleinigkeiten hinunterdringt, aber für die Kunſt müſſen wir anerkennen, daß die Mannigfaltigkeit der beſondern Formen, in welche die Individualität ſich auslegt, gegen das Pathos der Freiheit als den weſentlichen Inhalt einen nur ſecundären Werth anſprechen könne. Die antiquariſche Mikrologie darf nicht den äſthetiſchen Primat einnehmen wollen. Ein Schwert z. B. bleibt endlich immer nur ein Schwert, obwohl es richtig iſt, daß alle Nationen und ein und dieſelbe Nation in verſchiedenen Epochen Klinge und Griff individuell variirt haben. Die Kleidung, wie ſie auch nach dem Klima und der Sitte der Völker und gar erſt nach dem Eigenſinn der Mode verändert werde, behält denn doch immer und überall die Nothwendigkeit, ein Halsloch für den Kopf und zwei Seitenlöcher für die Arme darzubieten u. ſ. w. Die Kunſt muß daher berechtigt ſein, für die Darſtellung des Geſchicht¬ lichen vor allen Dingen das allgemein Menſchliche, den geiſtigen Gehalt, das Innere der Handlung und ſeine Aeuße¬ rung in Geberde, Miene und Wort hervorzuheben, denn dieſe Wahrheit macht gegen die Richtigkeit der conventionellen Formen die Poeſie aus, auf welche es doch dem Schönen zu¬ nächſt ankommen muß. Vorausgeſetzt alſo, daß das ſub¬ ſtantielle Intereſſe befriedigt wird, welches wir an der Er¬ ſcheinung des Geiſtes haben, brauchen wir es mit der Objec¬

� [124/0146] tivität der hiſtoriſchen Treue weit weniger genau zu nehmen, als mit der phyſiſchen und pſychologiſchen. Die gelehrte Ge¬ nauigkeit in der geſchichtlichen Aeußerlichkeit kann niemals Zweck der Kunſt ſein, weil dieſe mehr will, als unterrichten. Fällt, wie bei Walter Scott, die antiquariſche Treue mit dem poetiſchen Reiz zuſammen, ſo wird dies ſehr angenehm ſein, nicht aber darf umgekehrt die Poeſie in der Gelehr¬ ſamkeit untergehen; ſind Productionen ſogleich in dieſer didak¬ tiſchen Tendenz geſchrieben, wie Barthelemy's Voyage en Grêce, wie Beckers Charikles und Gallus, ſo wird von vorn herein zugeſtanden, daß es ſich nur um eine angenehme Einkleidung des Nützlichen handle und die Prätenſion des Kunſtwerks fällt fort. Dem Künſtler geſtehen wir unbedingt eine gewiſſe Läßlichkeit in allen Außenwerken einer hiſtoriſchen Compoſition zu, wenn er uns nur den Menſchen bringt. Selbſt an Anachronismen ſtoßen wir uns nicht, falls ſie nicht geradezu widerſinnig werden oder falls ſie keinen künſtleriſchen Effect hervorbringen, der ſie zu rechtfertigen vermöchte.

In dieſer Freiheit haben große Künſtler die Geſchichte behandelt, ohne daß wir ihnen die Freiheiten, die ſie ſich ge¬ nommen, als Incorrectheiten anrechneten. So hat Shake¬ ſpeare nicht nur die Engliſche, ſondern auch die Römiſche Geſchichte behandelt. Seine Römer ſind in gewiſſem Sinn auch Engländer, aber ſie ſind vor Allem wirkliche Menſchen, Plebejer, Ariſtokraten, voll ewig wahrer Affecte und Leiden¬ ſchaften. Was die Kleinmeiſterei bei ihm hiſtoriſche Incorrect¬ heit genannt hat, zeigt ſich bei genauerer Kritik poetiſch motivirt. Im Wintermährchen läßt er das Meer an Böhmens Küſte branden. Welche Ignoranz, kann hier der Pedantismus ausrufen! Aber es iſt eben ein Mährchen und

� [125/0147] die Geographie des Mährchens iſt phantaſtiſch. Für die da¬ maligen Engländer war Böhmen eben ein fernes Land, ein Land überhaupt, eben ſo hiſtoriſch für das Mährchen, als deſſen Könige und Zauberer. In Gutzkow's Richard Savage treffen wir auf einen Anachronismus, der eine Incorrectheit genannt zu werden verdient. Savage unterredet ſich mit dem bekannten Journaliſten Steele. Dieſer will den melancholiſch Grübelnden zerſtreuen und ſagt zu ihm: „Sieh einmal, ich bemitleide Dich und mich, daß Du uns aus der Stickluft Londons entführt wirſt; aber Botany Bay, mein Freund (ich muß ihn zu tröſten ſuchen) — ver¬ lohnt wirklich einmal ein gründliches Studium. Für mein Journal iſt es mir ungeheuer viel werth, dort einen Cor¬ reſpondenten zu haben.“ Gutzkow gibt auf dem Perſonen¬ verzeichniß die Zeit ſeines Drama’s ſelber 172 * an; er iſt zu gut geſchult, nicht zu wiſſen, daß damals Oceanien noch gar nicht entdeckt war; für die humanitären Gedanken, die Steele ferner ausſpricht, war Botany Bay gar nicht er¬ forderlich; der Anachronismus iſt alſo ganz unmotivirt und dieſe Abſichtlichkeit in der Ueberflüſſigkeit macht ihn incorrect.

Kann nun die Kunſt in ſolchen Dingen ſich gegen die Correctheit gleichgültiger verhalten, ſo darf ſie es doch nicht gegen diejenige, in welcher der poetiſche Nerv liegt. Ein Abweichen von derjenigen Richtigkeit, die ein Ausdruck der Wahrheit der Handlung, ihrer entſprechenden phyſiogno¬ miſchen, pathognomiſchen und rhetoriſchen Erſcheinung iſt, würde zugleich eine Zerſtörung des idealen Weſens ſein, ohne welche das Kunſtwerk nicht als ein ſchönes beſtehen kann. Die Malerei liefert uns ſehr intereſſante Beiſpiele, wie die Trefflichkeit der Compoſition, die hiſtoriſche Incon¬ gruenz der Form kann überſehen laſſen. Die Eykſche

� [126/0148] Schule z. B. hat uns die Maria als ein Deutſches Mädchen gemalt, das in einem wohlgetäfelten Zimmer vor einem nußbraunen Betpult knieet und die Verkündung des Engels vernimmt. Teppiche ſchmücken den Boden; ein Blumentopf mit Lilien prangt in einer Ecke; durch das Fenſter blicken wir auf die burgengeſchmückten Ufer des Rheins. Dieſe ganze Decoration iſt für das Factum objectiv unmöglich, denn in Paläſtina vor Chriſti Geburt konnte es natürlich nicht ſo ausgeſehen haben, wie in einer Rheiniſchen Bürger¬ ſtube des Mittelalters. Inſofern iſt alſo dieſe ganze Um¬ gebung, dies Coſtüm, dieſer Ledergürtel, dies goldblonde Haar, dies blaue Auge, dies Deutſche Profil unhiſtoriſch und incorrect. Aber, fragen wir, iſt in der betend hinge¬ goſſenen Geſtalt, in den Zügen des Antlitzes, im Blick des Auges, die Demuth, die jungfräuliche Hoheit, die ſehn¬ ſüchtig fromme Gläubigkeit enthalten? Finden wir dies und finden wir es in ſeiner natürlichen und pſychologiſchen Cor¬ rectheit dargeſtellt, ſo iſt das hiſtoriſch Conventionelle Neben¬ ſache; die Jungfräulichkeit der Empfängniß, der chriſtliche Gegenſatz zur wollüſtigen Conception einer Danaë, das iſt die Idee des Bildes und dieſe Idee iſt realiſirt.

Im Intereſſe der Schönheit müſſen wir dem Künſtler auch die Umbildung der Mythe und Geſchichte zugeſtehen, ſo¬ fern er dadurch den poetiſchen Gehalt derſelben idealer her¬ ausſtellt, nicht, wie Euripides, durch ſeine Veränderung eine Deformation hevorbringt. Kein großer Künſtler hat ſich vor der Schuld ſolcher Umbildungen geſcheuet, weil ſolche Schuld das Verdienſt hat, die äſthetiſche Correctur der hiſtoriſchen Ueberlieferung zu ſein. Wie Shakeſpeare, Göthe, Schiller, die Geſchichte verändert haben, iſt da¬ durch die hiſtoriſche Wahrheit in ihrem Weſen nicht verletzt.

� [127/0149] Schiller's Don Carlos iſt nicht völlig der hiſtoriſche und doch iſt er es, denn nicht nur ſchildert er die tragiſche Situation eines Prinzen, der ſo unglücklich iſt, durch Talent und Geſinnung den Argwohn eines tyranniſchen Vaters gegen ſich zu haben und ſeine junge, ihm ſelbſt zuerſt als Gattin zugedacht geweſene Stiefmutter zu lieben, ſondern er ſchildert auch dieſe Tragik in der Individualiſirung des Spaniſchen Geiſtes und ſeiner Hofetiquette. Fouqu é hat uns in ſeinem Don Carlos den richtigen, den empiriſch treuen, den hiſtoriſch correcten Don Carlos gegeben — ſo viel wir näm¬ lich von ihm überhaupt wiſſen — aber dieſer Infant von Spanien iſt der Welt ſo gut wie unbekannt geblieben, denn es fehlt ihm doch von der Geſchichte das, was ihr Element iſt — der Geiſt. — Obwohl nun die Kunſt im Hiſtoriſchen, ſofern ſie deſſen ideale Wahrheit erreicht, einer gewiſſen Freiheit genießt, ſo wird doch jeder wahrhafte Künſtler ſich auch um die hiſtoriſche Treue ſchon um deswillen bemühen, weil ſie ihm ein ſo glückliches Mittel der Individualiſirung darbietet. Nur dasjenige wird er von ihr zurückweiſen, was ihn in ſeinen äſthetiſchen Zwecken geradezu hemmt und nur dasjenige umbilden, was die Harmonie der idealen Wahrheit beeinträchtigt. Man durchlaufe die Werke großer Meiſter, ob man ſie der Vernachläſſigung des geſchichtlichen Colorits bezüchtigen könne. Wie ſehr iſt Raphael in ſeinen Logen, ohne alle ängſtliche Akribie, doch hiſtoriſch genau geweſen! Man frage ſich, ob Shakeſpeare in ſeinen Römer¬ tragödien die hiſtoriſche Wahrheit nicht nur im Ganzen feſtgehalten, vielmehr auch bis in die individuellſten Be¬ ziehungen hin getroffen habe? Man frage ſich, ob z. B. ſeine Cleopatra etwa nur ein ſchönes, heißblütiges, wollüſtiges, großherrſcheriſches Weib überhaupt, oder ob ſie nicht auch

� [128/0150] das Aegyptiſche Weib, die „alte Schlange vom Nil“ iſt? Man höre, wie die Hiſtoriker, wie ein Gervinus (27), über den hiſtoriſchen Gehalt dieſer Tragödien ſich ausſprechen. Man zergliedre Schiller's Wallenſtein, ob die Zer¬ klüftung der Europäiſchen Welt zur Zeit des dreißigjährigen Kriegs darin nicht mit geſchichtgeſättigten Farben gemalt iſt? Man betrachte Schinkels Bilder zu Theaterdecorationen, ob er darin nicht die hiſtoriſche Individualität mit dem äſthetiſchen Ideal und mit dem beſondern Bedürfniß des Theaters in Einklang zu ſetzen gewußt habe? — Immer aber werden wir die freie Behandlung, die wir der Kunſt für die Natur und noch mehr für den Geiſt zugeſtehen müſſen, nur unter der Bedingung anerkennen, daß die Idealität im objectiven Sinne des Worts durch ſie gewinne, denn ohne dieſe Steigerung, welche die eigene Tendenz des Weſens zur Klarheit der Erſcheinung befreiet, wird ſie der Kategorie des Incorrecten zufallen müſſen, oder ſie wird komiſch werden.

Wie immer und überall, liegt das Komiſche auch hier darin, daß das dem Begriff nach Unmögliche ſcheinbar wirk¬ lich wird und durch ſeine empiriſche Realität unſerm Verſtande Hohn ſpricht. Wenn, wie oben erwähnt, die Griechiſchen und Römiſchen Heroen und Heroinen auf der Pariſer Bühne ehemals mit gepuderten Allongeperücken, mit Reifröcken, Stelzſchuhen, Petitdegen und Fächern erſchienen, ſo finden wir heut zu Tage in dieſem Coſtüm eine lächerliche Incorrect¬ heit. Wie wenig aber dieſe Aeußerlichkeit für die Sache auf ſich habe, ſehen wir daraus, daß jetzt dieſe Tragödien von Corneille, Racine und Voltaire auf dem Theâtre francais nicht mehr in jenem Hofgallacoſtüm der abſoluten Monarchie, ſondern in wirklich antiken Trachten geſpielt werden, ohne

� [129/0151] daß dieſe Veränderung einen Widerſpruch mit dem Inhalt hervorriefe. Denken wir uns aber eine abſichtliche hiſtoriſche Incorrectheit, ſo muß dieſelbe eine komiſche Wirkung haben, weil ſie als Parodie erſcheinen muß. In einem Puppenſpiel von Glasbrenner, das Paradies, tritt z. B. Adam mit folgenden Worten in die Scene:

„Ich freue mich ſehr darüber, daß ich erſchaffen bin. Man kann nicht wiſſen, wozu das gut iſt. (Er ſieht ſich um.) Ein allerliebſter botaniſcher Garten! Auch die blaue Decke da oben und die warme Laterne drinn ſind nicht ohne Verdienſt. Abgeſehen davon, daß man es als fait accompli hinnehmen muß, wie es einmal da, iſt das All auch wirklich ziemlich gelungen. Der Verfertiger hat Anſpruch auf den Beifall des Publicums. Es iſt doch jetzt wenigſtens der Anfang gemacht, die Initiative für eine Schöpfung ergriffen, welche ſich durch geeignete Maaßregeln einer ſtarken Regierung noch zu einem ganz netten Aufenthalte heranbilden kann. (Er wirft ſeine Blicke nach allen Seiten.) Für ſechs Tage wirklich allens Mögliche! (Schüttelt den Kopf.) An Einen übrigens, der das vollbracht haben ſoll, glaube ich nicht. Es werden mehrere geweſen ſein: eine Union. Jedenfalls hat Radowitz dabei geholfen, denn ohne Den kommt keine Schöpfung zu Stande. u. ſ. w. u. ſ. w.“

Unmöglich, rufen wir aus, kann Adam ſo geſprochen haben! Aber dieſer Adam des Puppenſpiels ſpricht wirklich ſo. Wir ſehen, daß die Schöpfung hier mit einem Berliner blaſirten Kannegießer anfängt und müſſen über dieſen Wider¬ ſpruch des Begriffs des Protoplaſten mit der Realität eines raiſonnirenden Weißbierphiliſters lachen.

Das Correcte beſteht im Allgemeinen in einer treuen Beachtung der poſitiven Normalität der Natur und des


Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 9 � [130/0152] Geiſtes. Die Freiheit der Kunſt vermag jedoch, wie wir ge¬ ſehen haben, in der Beſchränkung auf das Correcte keine ge¬ nügende Befriedigung zu finden; ſie darf unter gewiſſen Be¬ dingungen ſogar incorrect werden, ohne dadurch dem Schönen zu widerſprechen. In parodiſcher Abſichtlichkeit kann es komiſch werden. Wie aber verhält es ſich mit dem Phantaſtiſchen? Wie ſollen wir jene Compoſitionen beurtheilen, die phyſiſch und geiſtig unmöglich ſcheinen und doch durch die Vermittelung der Kunſt mit der ganzen Energie der Wirklichkeit vor uns hintreten? Wie verhalten ſich dieſe Traumgeſtalten zum Be¬ griff des Häßlichen? Die Kunſt hat für ſich freilich kein anderes Geſetz, als die Schönheit, aber die Schönheit hat ein nothwendiges Verhältniß zum Wahren und Guten, das auch in den freieſten Productionen der Kunſt nicht verletzt werden darf. Dieſe Identität iſt ſo wenig eine negative Schranke der Kunſt, daß im Gegentheil erſt durch ſie die poſitive Vollendung des Schönen möglich wird. Von ihr jedoch muß die Richtigkeit unterſchieden werden und dieſe iſt es, welche durch ihre Relativität der Phantaſie erlaubt, mit den Geſtalten der empiriſchen Realität ein träumeriſches Spiel zu treiben. Die Phantaſie genießt ſich recht in ihrem Spiel¬ triebe, indem ſie ſich gleichſam von dem Gehorſam losſagt, mit welchem ſie dem Poſitiven in der Reproduction deſſelben zu huldigen hat, durch ein feſſelloſes Produciren von Geſtalten, die nur ihrer eigenen Schöpferkraft angehören. Sie verge¬ wiſſert ſich ihrer Freiheit durch die Saturnalien ihrer Willkür. Sie ſcherzt mit ihrer Ueberſchwänglichkeit. Sie erſchafft Pflanzen, die in keiner Flora, Thiere, die in keiner Fauna, Begebenheiten, die in keiner Geſchichte vorkommen. Kann auch bei dieſem phantaſtiſchen Weſen noch von Correctheit die Rede ſein? Es ſcheint nicht ſo, denn mit welchen

� [131/0153] poſitiven Normalformen ſollen dieſe Kunſtgebilde verglichen werden?

Zunächſt werden wir uns erinnern müſſen, daß Natur und Geſchichte ſelber reich ſind an phantaſtiſchen Erzeugniſſen. Wenn nur der Verſtand darin wirkſam ſein dürfte, würden dieſelben freilich nicht vorkommen, aber Zufall und Willkür ergehen ſich in den keckſten Ausgelaſſenheiten; es iſt buch¬ ſtäblich wahr, daß die empiriſchen Combinationen mit den Erfindungen der ſubjectiven Phantaſie dreiſt zu wetteifern vermögen. Dem Verſtande allein zufolge dürfte es ſchwerlich Thiere geben, die äußerlich von Pflanzen nicht unterſcheidbar ſind, wie die große Gruppe der Phytozoen. Der Verſtand allein würde jene vorſündfluthlichen Rieſenconvolute wider¬ ſprechender Formen nicht hervorgebracht haben. Auch in der jetzigen organiſchen Epoche der Erde würde er keine fliegenden Fiſche, Flügeleidechſen, fliegende Mäuſe, Eidechſen mit langen, ſpießlöffelförmigem Schnabel, Nagethiere mit Fiſchſchuppen¬ ſchwänzen, warmblütige Säuger, die uns aus den Wogen des Meeres heraus als Fiſche necken u. ſ. w. geduldet haben. Die Natur, mehr als verſtändig, nämlich vernünftig, iſt in ihrer Freiheit auch launig und phantaſtiſch genug, das ſchein¬ bar Widerſprechende zu vereinen. Nur das ſcheinbar Wider¬ ſprechende, denn im Innern des Organismus darf kein Widerſpruch ſein, weil er ſonſt nicht lebensfähig wäre; in der äußern Form hingegen kann er widerſprechend erſcheinen. Die Phantaſtik der Kunſt hätte alſo, wenn ſie Stierlöwen, Adlerſtiere, Greife, Sphinxe, Centauren u. dgl. erſchafft, Analogien der Natur für ſich. Nicht weniger in der Ge¬ ſchichte, denn die Freiheit des Geiſtes erzeugt in Verbindung mit dem Zufall die ungeheuerlichſten, fabelhafteſten Phäno¬ mene, welche die Phantaſtik der Natur unendlich überbieten.


9 * � [132/0154] Der Geiſt bringt zahlloſe phantaſtiſche Geſtalten und Be¬ gebenheiten hervor, deren buntſchillernde Exiſtenz oft die kühnſten Phantasmagorien der Künſtler kaum zu dichten ge¬ wagt haben würden. Napoleons des Erſten Leben — das Leben eines Lieutenants der Artillerie, eines Generals, eines Staatsmannes, eines Eroberers, eines Verbannten, — welche Phantaſie hätte Kraft genug gehabt, ein ſolches Wunderge¬ dicht zu erſinnen? Das Leben der Goldfinder in den Californiſchen und Auſtraliſchen Minen, wer würde es nicht noch vor einem Decennium für ein Mährchen erklärt haben? Der Zug der Mormonen von Nauvoo durch die Wüſte zum Utahſee — wer hätte, während im alten Europa Barri¬ caden gebaut wurden, gleichzeitig ſolche wahrhaft Altteſta¬ mentliche Poeſie in dem verſtändigen Nordamerika erwartet? Othello, geſpielt von Ira Aldridge, einem wirklichen Mohren, — wie hätte Shakeſpeare ſich dies träumen laſſen? — Doch wir halten ein, weitere Thatſachen anzu¬ führen; Thatſachen, die unſerm Jahrhundert, unſerer nächſten Gegenwart angehören; Thatſachen, die nicht durch weite Ent¬ legenheit, durch graues Alterthum, durch Ueberdichtung der Tradition einen phantaſtiſchen Schimmer erſt erhalten haben. — Der Geiſt geht über die verſtändige Zweckmäßigkeit, über das bloße Bedürfniß, über die kahle Nützlichkeit unbedenklich hin¬ aus, wenn es gilt, ſeiner Eigenthümlichkeit Raum zu ſchaffen. Aber auch die reinen Contouren der Schönheit achtet er nicht, wenn er dem Drange folgt, ſeine Individualität zu markiren. Welcher Wunderlichkeit begegnen wir nicht in der Mode der Völker? Man erinnere ſich z B. jener mittelaltrigen Schnabel¬ ſchuhe, die in ein ſpitzes, ſchellenverziertes Horn ſich empor¬ bogen. Forderte die Geſtalt des Fußes eine ſolche Form? Nein. Gewährte ſie eine beſondere Bequemlichkeit? Gewiß

� [133/0155] nicht. Sollten dieſe Hörner ernſtlich auf Schönheit Anſpruch machen? Unmöglich. Wozu alſo exiſtirten ſie? Offenbar nur, um einer tollen Laune des übermüthig ſpielenden Geiſtes zu genügen. Man erinnere ſich jener Trachten des Direc¬ toriums, wie Wattier ſie ſo trefflich auf jenem Bild in der Galerie Moreau gemalt hat. Während die Frauen als merveuilleuses Hals und Buſen, die Arme, ja, durch den Seitenſchlitz der Tunika mehr als nur die Waden bloß trugen, während ſie alſo die Natur enthüllten, ſehen wir die Dandys als Incroyables recht im Gegenſatz die Natur durch ſtupende Haarwulſte, durch ſteife breite Kinntücher, durch ſeltſam zugeſpitzte Rockſchöße gleichſam unkenntlich machen. Solcher Geſtalten erinnere man ſich, um einzugeſtehen, daß die Geſchichte mit ihren phantaſtiſchen Formationen oft mitten am ſonnenhellen Tage in die Traumwelt überzu¬ ſchwanken ſcheint.

Wenden wir uns zur Kunſt zurück, ſo werden wir für ihre Phantaſtik eine äſthetiſche Grenze anzuerkennen haben, nicht was die Richtigkeit, wohl aber, was die Wahr¬ heit der Gebilde anbetrifft. Sie müſſen uns mit der Illuſion ergreifen, zwar kein directes empiriſches Gegenbild, jedoch eine gewiſſe Realität zu haben. Dies Verhältniß nennen wir die ideelle Wahrſcheinlichkeit Unſerm Verſtand widerſprechen ſie und doch müſſen ſie ſich ihn durch ihre Einheit in ihren Widerſprüchen, durch die Natürlichkeit in ihrer Unnatur, durch die Wirklichkeit in ihrer Unmöglichkeit unterwerfen. Wir müſſen anerkennen, daß ſolche Geſchöpfe der Phantaſie, wie Chimären, Hekatoncheiren, Centauren, Sphinxe u. ſ. w. anatomiſch und phyſiologiſch unmöglich wären, aber doch müſſen ſie uns in ſolcher Harmonie mit ſich erſcheinen, daß bei ihrem Anblick ein Zweifel an ihrer

� [134/0156] Realität unmittelbar gar nicht in uns aufkommt. Das von dem Verſchiedenen Hergenommene muß ſeiner Wahrheit nach gebildet ſein. Ohne dieſer Forderung zu entſprechen, würden wir das Phantaſtiſche für incorrect erklären müſſen. Dieſe Correctheit der Einheit, der Symmetrie und der Harmonie im Heterogenen, das die Willkür der Phantaſie verknüpft hat, muß vorhanden ſein, widrigenfalls die Geſtaltung häßlich oder komiſch ausfällt. Eine Aegyptiſche Sphinx vereinigt ein Menſchenhaupt und einen weiblichen Buſen mit dem Leibe der Löwin. Anatomiſch und phyſiologiſch iſt ſolche Einheit unmöglich; die Plaſtik gibt ſie uns aber mit ſolcher Beſtimmtheit und Klarheit, daß wir im Moment des An¬ ſchauen an jenen naturwiſſenſchaftlichen Scrupel gar nicht denken. Wie ruhig liegt doch der Leib auf ſeine Tatzen hingeſtreckt, wie gerade iſt der Hals emporgerichtet, wie ſinnig das Auge vor ſich hinblickend! Und wir ſollten dieſe Exiſtenz in unſerer Phantaſie nicht kategoriſch gewähren laſſen? Wäre freilich das Frauenhaupt mit dem Körper der Löwin nicht in natürlich ſcheinendem Uebergang verſchmolzen, wäre der eine dem andern nur aggregatmäßig angeſetzt, ver¬ ſchwiſterte ſich das an ſich Heterogene nicht ungezwungen mit einander, ſo würden wir die Sphinx häßlich finden. Daſſelbe gilt von den ähnlichen Halbthieren, von den phantaſtiſchen Pflanzen und ſelbſt den Arabesken. Eine Phantaſieblume muß mit ihrer Blattform, Blattſtellung, mit ihrem Kelch den Schein der Naturwahrheit vortäuſchen; ihre Proportionen müſſen äſthetiſch möglich ſein. — Auch für den Geiſt werden wir, wie phantaſtiſch er ausſchweife, die Wahrſcheinlichkeit im Sinne der Idee fordern; im Sinne der Idee, denn dem verſtändig empiriſchen kann die Phantaſtik ſchlechthin widerſprechen, ohne höhere Geſetze zu

� [135/0157] verletzen. Die Excentricität muß innerhalb ihrer Wirbel eine gewiſſe Möglichkeit behalten; d. h. man darf nicht ſchon, womit ſo viele Heutige zufrieden ſind, das Abſurde mit dem Phantaſtiſchen verwechſeln. Manche Autoren der ältern romantiſchen Schule in Deutſchland haben ihre geſunden Anfänge in eine geſchmackloſe Verworrenheit auslaufen laſſen, die ſie für den Gipfel poetiſchen Tiefſinns nahmen, während ſie damit in der That nur beim Abſurden, beim ideenloſen Nihilismus angelangt waren. Arnim's treffliche Dolores, Brentano's Godwi oder das ſteinerne Bild der Mutter, ſind Beiſpiele dazu (28). — Unter den modernen Malern hat Grandville ſich wohl als einen Rieſen der phantaſtiſchen Kunſt bewährt. Wie wunderbar ſind in ſeinen Fleurs animés die Mädchengeſtalten mit den Blumenformen verwebt, ſo daß man nicht weiß, ſoll man ſagen, die Mädchen ſeien zu Blumen oder die Blumen zu Mädchen geworden! Die Blume iſt nur ein Schmuck, aber ein ſo botaniſch correcter, daß ſeine Drapperie mit der menſchlichen Geſtalt den identiſchen Charakter zeigt (29). In ſeinem Werk, un autre monde, unſtreitig dem Culminationspunct ſeines Genies, hat er ſich aber in Wagniſſe eingelaſſen, deren Widerſprüche unſere Phantaſie völlig zerreißen. Wir ſtehen mit ihnen an der Grenze des Wahnſinns und vermögen die Anſchauung kaum zu ertragen. Worin liegt das Peinliche mancher dieſer Bilder? Wir glauben darin, daß Grandville innerhalb des Phantaſtiſchen nicht nur der äſthetiſchen Wahrſcheinlichkeit treu blieb, vielmehr in der abſoluten Losgelaſſenheit der dichtenden Willkür eine erſchreckende Naturwahrheit behalten hat. Die Höllenbreughel, die Teniers und Callot haben für ihre Verſuchungen des heiligen Antonius höchſt phantaſtiſche Figuren erſchaffen, die aber von aller

� [136/0158] Naturtreue abſtrahiren und nur einen phantaſtiſchen àplomb beſitzen. Grandville dagegen hat in ſeinen Verzerrungen nicht blos eine Schildkröte mit einem Pudelkopf, nicht blos einen Bären mit einem Schlangen-, eine Heuſchrecke mit einem Papagaienkopf; er hat nicht blos Maſchinen als Menſchen, Menſchen als Maſchinen gemalt; ſondern er hat unter Anderm auch einen Thierzwinger gemalt, vor welchem ſelbſt antediluvianiſche Monſtra ſich entſetzen würden, denn wir erblicken in ihm Doppelthiere, die nicht blos Syntheſen zwieträchtiger Formen, vielmehr ſich ausſchließende Bildungen ſind, welche die Illuſion der Einheit in einer fürchterlichen Weiſe vernichten. Wir ſehen z. B. einen Büffel, deſſen Schwanz in eine krokodilartige Schlange endet, ſo daß nun zwei Hufe des Büffels nach vorn, zwei Tatzen des Krokodils nach hinten gerichtet ſind, ein Zwieſpalt der Tendenz, der die Einheit auf verrückte Weiſe ſtört. Oder auch wir ſehen von einem Kletterbaum einen Löwen herabſtürzen, deſſen Schwanz ein Pelikanhals iſt, welcher eben einen Fiſch verſchlingt. Dies iſt wirklich häßlich und zu gräßlich, um komiſch wirken zu können. Mit einer komiſchen Wendung werden allerdings ſelbſt die extremſten Widerſprüche erträglich. So hat Grandville in demſelben Werk eine Menagerie gemalt, vor deren Käfigten allerlei neugieriges Thiervolk ſich umtreibt. Da erblicken wir den Engliſchen Einhornleoparden im Käfigt und vor demſelben eine Hundegeſtalt mit dem Kopf und Hut eines Matroſen, der eine kurze Pfeife raucht. Vor einem in ſich verdoppelten Napoleoniſchen Adler ſehen wir eine Sphinx kauern, welche den Kopf einer Elſaſſiſchen Amme hat, die, ſtatt mit der Aegyptiſchen Kalantika, mit ihrer bekannten hohen Haube geziert iſt. Jener Matroſen¬ hund, dieſe Sphinxamme, das iſt phantaſtiſch und witzig,

� [137/0159] ohne häßlich zu ſein. — Um die ſchlechte Unwahrſcheinlichkeit einer falſchen Phantaſtik zu verſpotten, erfindet die Komik auch wohl das Unmögliche, trägt es aber im Ton der doctrinärſten Ehrlichkeit vor, wie Lukianos ſo vortrefflich in ſeinen wahren Geſchichten die Aufſchneiderei der Reiſenden und die Pedanterie der Gelehrten zugleich ver¬ ſpottet (30).

Nun könnte man noch das Mährchen als eine Gattung anführen, in deren Weſen der Widerſpruch mit der Nor¬ malität der Natur und Geſchichte liege. Wimmelt es nicht von Geſtalten und Begebenheiten, welche der poſitiven Ge¬ ſetzmäßigkeit ins Geſicht ſchlagen, alſo unmöglich, alſo incor¬ rect ſind? Das wahrhafte Mährchen wird aber niemals incorrect ſein in dem Sinne, daß ſeine Unmöglichkeiten nicht ſymboliſch wahrſcheinlich wären. Seine Blumen werden ſingen; ſeine Thiere werden ſprechen; Menſchen werden ſich in Thiere, Thiere in Menſchen verwandeln und Wunder über Wunder werden geſchehen: aber durch dieſe Phantaſtik wird ein tiefer, man möchte ſagen, heiliger Anklang der Natur- und Geſchichtwahrheit hindurchgehen; die künſtlichen Hüllen, mit welchen die Civiliſation alle Verhältniſſe umkleidet, werden von der Unbedingtheit der Mährchenwelt durchbrochen. Es bleibt, wie im Orientaliſchen und Altnordiſchen Mähr¬ chenſtock (weniger im Celtiſchen), innerhalb der Idee correct und bewahrt ſich die natürliche Unſchuld der kindlichen Phan¬ taſie. Läßt es einen Menſchen in einen Eſel verwandelt werden, ſo läßt es denſelben noch immer als Menſchen denken und handeln, aber als Eſel Stroh und Diſteln freſſen. Es wird nicht auf ſolche Abſurditäten verfallen, wie ſie unſere jüngſte Mährchenpoeſie uns dargeboten hat. In Redwitzens Mährchen vom Tannenbaum ſoll der

� [138/0160] Tannenbaum ein Symbol Gottes ſein. Der Tannenbaum liebt trocknen ſandigen Grund; Redwitz läßt dennoch ſeinen Wurzeln einen Quell entrauſchen — das ſoll der Menſch ſein, der ſich, der natürlichen Fallkraft folgend, in die Weite und Breite der Welt verliert und endlich in Gefahr iſt, zu ſtagniren und zu vertrocknen. Da ſendet ihm der Baum einen rettenden Aſt nach — und nun fließt der Bach rück¬ wärts ſeinem Urſprung wieder zu! Der Erlöſer der Menſchen — durch einen nachgeſchleuderten Tannenaſt ſymboliſirt! Welche dürre Nadelholzpoeterei! Ein rückwärts fließender Bach! Welch' ein Tiefſinn!


B. Die Incorrec theit in den beſondern Stylarten. Die Kunſt hat an der Idee der Natur und Geſchichte eine allgemeine Norm für die Correctheit ihrer Gebilde. Allein ſie erzeugt ſich auch durch ihre eigene Nothwendigkeit Normen, denen ſie ſich für die Verwirklichung ihrer Werke unterwerfen muß. Wir nennen die beſondere Form ihres typiſchen Verfahrens Styl. Ein Kunſtwerk iſt nur dann correct, wenn es die Eigenthümlichkeit eines be¬ ſondern Styls durchführt. Eine Vernachläſſigung dieſer Identität wird incorrect. Es gehört nicht hieher, die ver¬ ſchiedenen Richtungen abzuleiten, in welche das Ideal für ſeine Realiſirung durch den Styl auseinandergeht. Wir haben dieſelben nur ſo viel hier zu beachten, als erforderlich iſt, uns eine beſondere Form des Häßlichen zu erklären, die aus der Negation der Individualität eines Styls entſpringt.

Aus der Idee des Schönen ſelber ergibt ſich, daß die Darſtellung eines Kunſtwerkes entweder im hohen und

� [139/0161] ſtrengen, im mittlern, oder im leichten und niedern Styl möglich iſt. Für eine dieſer Tonarten muß der Künſtler ſich entſchließen. Jede enthält Abſtufungen in ſich, die Uebergänge zu den andern bilden, aber jede hat eine nur ihr zukommende aſthetitſche Qualität. Die Kunſt muß darauf beſtehen, daß ihre Producte entſchieden in der einen oder andern dieſer Stylarten gehalten ſeien. Werden dieſelben, wie beſonders in der Romanform geſchieht, gemiſcht, ſo müſſen doch innerhalb der Miſchung die Unterſchiede in ihrer Reinheit für ſich hervortreten. Der hohe Styl ſchließt Formen und Wendungen von ſich aus, die dem mittlern er¬ laubt ſind; der mittlere ſolche, deren der niedere ſich bedienen darf und muß. Der hohe Styl ſtrebt ins Erhabene hinauf; der mittlere bewegt ſich würdig und anmuthvoll; der niedere geht in das Gewöhnliche, noch mehr aber in das Burleske und Groteske über. Es iſt folglich incorrect, wenn in einem Kunſtwerk ein durch ſein Weſen geforderter Styl nicht durch¬ gehalten wird. Die Feierlichkeit des Hymnus, die Begeiſte¬ rung des Dithyrambus, der Schwung der Ode ſchließen z. B. Worte und Wendungen von ſich aus, welche für das einfach geſellige Lied unverfänglich ſind. Umgekehrt würde es nicht weniger incorrect ſein, wenn dies im Pomp von Prachtausdrücken ſich ergehen wollte, die lediglich dem hohen Styl eignen. Die Geſchichte der Kunſt bietet uns in An¬ ſehung der Reinheit des Styls die ähnliche Erſcheinung dar, wie die Geſchichte der Wiſſenſchaft in Anſehung der Methode. In der Wiſſenſchaft ſind die Werke äußerſt ſelten, die ein Bewußtſein über ihr Verfahren beſitzen. Die Mehrheit der wiſſenſchaftlichen Darſtellungen iſt ſich nicht klar, ob ſie den Gegenſtand analytiſch, ſynthetiſch oder genetiſch behandelt. Und ſo erkennen wir denn auch in vielen Kunſtwerken eine

� [140/0162] ähnliche Bewußtloſigkeit des Künſtlers über ſein Verhältniß zu dem Ton, den er von vorn herein hätte fixiren müſſen. Manche Widerſprüche entſtehen auch dadurch, daß andere, als nur äſthetiſche Motive die Darſtellung beſtimmten. Die Frazzen z. B., die wir an den Säulknäufen Gothiſcher Kirchen antreffen und die bekanntlich oft ſehr cyniſche Ob¬ jecte in ſich ſchließen, können als ein Luxus der Phantaſie, der die Macht des totalen Eindrucks nicht zu ſchwächen ver¬ mag, geduldet werden; ſie hatten aber nicht in äſthetiſchen Gründen, ſondern in andern Beziehungen ihren Urſprung, die zum Theil der ſocialen Stellung und Tradition der Bau¬ hütten angehörten. Aus dem Styl des Ganzen können ſie nicht abgeleitet werden und dem harmoniſchen Sinn eines Griechen wären ſie als ungehörig erſchienen. Die Verſtöße ſind oft nicht grell, aber doch fühlbar. Hölty's Trink¬ lied (Ein Leben, wie im Paradies, gewährt uns Vater Rhein) iſt im mittlern Styl gedichtet, der in den leichten überklingt. Wenn Hölty aber zuletzt ſingt: Es lebe jeder Deutſche Mann, Der ſeinen Rheinwein trinkt. So lang er's Kelchglas halten kann, Und dann zu Boden ſinkt!

ſo geht dieſe letztere Wendung aus dem mittlern und leichten Ton in den niedern über. Trinken, bis man zu Boden ſinkt — das iſt brutal. Wenn das Leben im Paradieſe, welches der Vater Rhein gewährt, mit dieſem Reſultat endigen ſoll, ſo iſt es nicht ſehr einladend. Und einem ſolchen Zecher noch ein Lebehoch auszubringen, iſt auch nicht anſprechend. In derſelben Strophe läßt Hölty die Winzerin hoch leben, die er ſich zur Königin erkor. Wie nahe lag es, von hier aus einen ganz andern, edleren Schluß zu ge¬

� [141/0163] winnen, als jenen rohen, der die Jovialität des Liedes gar zu Deutſch beendet.

Das unabſichtliche Vermiſchen der Stylarten, das be¬ wußtloſe Ueberſpringen von einer in die andere wird häßlich; komiſch wird es nur, wenn es mit Ironie parodiſtiſch her¬ vorgebracht wird. Im ſiebzehnten und achtzehnten Jahr¬ hundert hat man an und in den Gothiſchen Kirchen und Rathhäuſern viel Reparaturen, Ergänzungen, Umbauten in einem antikiſirenden Styl gemacht, deſſen heitere Schön¬ heit mit der Tendenz zum Erhabenen im Deutſchen Styl gar nicht im Einklang war; ein Widerſpruch, den man nur häßlich, nicht komiſch finden kann, zumal die meiſten dieſer ſupplementariſchen Bauten in ſich ſelbſt oft Monſtra des Styles waren, den ſie ausdrücken ſollten. Wenn aber das Herunterfallen aus einer Tonart in die andere mit Abſicht hervorgebracht wird, kann es ein Hauptmittel der Komik werden. Der große Napoleon erinnerte ſeine Krieger in Aegypten daran, daß vierzig Jahrhunderte von den Pyra¬ miden auf ſie herabſchaueten. Auf einem Bilde erbicken wir Fauſtin I., wie er ſeine halbnackte Garde im ſpärlichen Schatten einiger Palmen mit den Worten haranguirt: „Sol¬ daten! Von der Höhe dieſer Palmen ſchauen — vierzig Affen auf Euch herab!“ Der feierliche Beginn der Rede wider¬ ſpricht ſich durch ihren Ausgang — aber komiſch.

Die allgemeinen Geſetze des äſthetiſchen Ideals werden aber durch den nationalen Styl zu einer charakteriſtiſchen Beſonderung individualiſirt, welche aus der Raçe, aus dem Local, aus der Religion und aus der Hauptbeſchäftigung entſpringt, der ein Volk ſich widmet. Je mehr der Genius einer Nation in Thaten ſich ausdrückt, um ſo mehr geiſtiger Gehalt tritt in ihr Selbſtgefühl und um ſo individueller kann

� [142/0164] ihr Kunſtſtyl werden. Eine Nation verfügt nicht frei über ihr Schickſal; ſie iſt in den ungeheuren Zuſammenhang des ganzen Weltlebens eingegliedert und wird oft durch Be¬ dingungen in ihrer Exiſtenz beſchränkt, die ihr lange ver¬ borgen bleiben, die ihr ſogar zuweilen erſt in der tragiſchen Epoche ihres Unterganges klar werden. In dem National¬ ſtyl können ſich deshalb Formen entwickeln, welche zwar der Eigenthümlichkeit der Nation entſprechen, jedoch zugleich ſo ſehr mit der unvermeidlichen, beſondern Beſchränkheit ihres Selbſtgefühls verwachſen ſind, daß ſie mit den abſoluten Forderungen des Ideals nicht übereinſtimmen und, einmal zur Gewohnheit, zum allgemeinen Vorurtheil geworden, ihre Kunſt auf einem unvollkommneren Standpunct feſthalten. Ein Volk ſetzt dann bei ſeinen Künſtlern ſtillſchweigend die Be¬ folgung dieſer habituellen Normen voraus; ſie werden, indem die Zeit ihre Herrſchaft befeſtigt, zu einem empiriſchen Ideal, an welchem man die Correctheit mißt. Was nicht innerhalb der Schranken deſſelben hervorgebracht wird, gilt alsdann einem Volk für incorrect. Wir bedienen uns ganz richtig, um das Problematiſche des hier entſpringenden Ur¬ theils zu bezeichnen, des Ausdrucks Nationalgeſchmack für die individuelle Typik in der Kunſt einer Nation.

Es verſteht ſich, daß der Nationalgeſchmack mit den Forderungen des Ideals zuſammenfallen kann; eben ſowohl aber kann auch das Gegentheil ſtattfinden. In dieſem letztern Fall wird es möglich, daß der Künſtler gerade dadurch, daß er im höchſten Sinne des Worts correct iſt, im Sinne des Nationalſtyls incorrect wird. Der Künſtler, dem abſoluten Gebote der Kunſt getreu, geräth durch dieſen Gehorſam in Widerſpruch mit dem empiriſch fixirten Ideal. In China z. B. hat ſich die Architektur als Holzbau entwickelt. Um

� [143/0165] nun das Holz, welches die Chineſen als das fünfte Element nehmen, gegen die Witterung zu ſchützen, hat man es mit Porzellanflieſen belegt und mit Firniß überſtrichen und, um die Monotonie zu brechen, ſich an bunte, grelle Farben ge¬ wöhnt. Der Farbenglanz des Lacks, durch Vergoldung ge¬ ſteigert, iſt national geworden und correct im Chineſiſchen Sinn erſcheint nunmehr nur dasjenige, was dieſer hellen Farbenmannigfaltigkeit entſpricht. Oder man erinnere ſich, daß die Franzoſen vermeintlich die abſtracte Einheit des Ortes, der Zeit und der Handlung beim Drama für Ariſto¬ teliſch hielten, daß ſie dieſe Theorie zur abſoluten Norm bei ſich erhoben, ſo wird man begreifen, daß ihnen ein Verſtoß gegen eine der drei Einheiten als incorrect erſcheinen mußte. Sie hatten ſich ſo ſehr in jene abſtracte Einheit hineingedacht, hineingelebt, daß eine Abweichung von derſelben, und wäre ſie noch ſo poetiſch geweſen, von ihnen als häßlich empfunden wurde. Man vergegenwärtige ſich nur eines der bekannten Urtheile, welche Voltaire von ſeinem nationalen Geſichts¬ punct aus über die Engliſche Bühne als eine barbariſche fällte, weil bei dieſer umgekehrt der Wechſel von Ort und Zeit und der Uebergang der Haupthandlung in eine freie Mannigfaltigkeit epiſodiſcher Nebenhandlungen, die von den Franzoſen nur dem Epos geſtattet wurden, zum nationalen Ideal ſich entwickelt hatte. — Verbindet ſich die Beſtimmt¬ heit des nationalen Styls mit religiöſen Anſchauungen, ſo kann dieſelbe, wenn ſie im Sinn des abſoluten Ideals incorrect iſt, die reine Geſtaltung des Schönen oft lange Zeit niederhalten. Die Kunſt kann in ihrer Technik nicht nur, ſondern auf andern Gebieten, die mit dem religiöſen nicht direct zuſammenhängen, auch in ihrem idealen Streben ſchon höhere Stufen erreicht haben, ſieht ſich aber auf dem

� [144/0166] religiöſen gezwungen, die typiſche Geſtalt, wiewohl ſie ſogar häßlich ſein kann, noch immerfort zu reproduciren; wie Gutzkow in ſeinem humoriſtiſchen Roman Mahaguru veranſchaulicht hat, worin die Gebrüder Hali-Yong in Tübet einem Ketzerproceß unterworfen werden, weil ſie ge¬ wagt haben, das Bild des Gottes zu verſchönen und in ihrer Götterfabrik an der Statue des Dalai Lama den Zwiſchenraum zwiſchen Mund und Naſe in einer äſthetiſcheren Dimenſion darzuſtellen, als die geheiligten Traditionen es geſtatteten. So finden wir im Kreiſe des Islam die Plaſtik und Malerei durch das Verbot des Koran gehemmt, eine beſeelte Geſtalt zu bilden; ſie bleibt alſo auf das Feld der Ornamentik beſchränkt und hat die plaſtiſche Productionskraft in den überſchwänglichen Reichthum derſelben ergießen müſſen.

Wir beſitzen in den verſchiedenen Nationalſtylen zugleich verſchiedene objective Formen des äſthetiſchen Ideals. Sie ſind inſofern das adäquate Mittel, gewiſſe Zuſtände, Em¬ pfindungen, Stimmungen auszudrücken. Es wird deshalb zur Correctheit gehören, den einer beſondern Aufgabe ent¬ ſprechenden Styl zu finden und ihn conſequent, nach den ihm inhärirenden Eigenheiten, durchzuführen. Es kann z. B. der äſthetiſchen Wahrheit gemäß ſein, einen Gegenſtand im Chineſiſchen oder Griechiſchen oder Mauriſchen Styl u. ſ. w. darzuſtellen. In ſolchem Fall würde man incorrect werden, nicht auch die richtigen Formen des betreffenden National¬ ſtyls zu verwenden. Man erinnere ſich an Montesquieu's Briefwechſel zwiſchen Usbeck und Rica, der das Perſiſche Coſtum angelegt hat; an Voltaire's Zadig; an Leſſing's Nathan; an Göthe's Weſtöſtlichen Divan; an Rückert's Oeſtliche Roſen u. ſ. w., in welchen Dichtungen überall der Muhammedaniſch Orientaliſche Styl herrſcht.

� [145/0167] Innerhalb einer Nation pflegt ihr Kunſtſtyl wiederum verſchiedene Epochen der Entwicklung zu durchlaufen, die ſich als Schulen geſtalten. Eine Schule fixirt eine Zeit lang einen eigenthümlichen Geſchmack, der in der Realiſirung des Ideals eine beſondere Stufe ausmacht und daher ſich ähnlich, wie ein Nationalſtyl, zu einem relativen äſthetiſchen Kanon machen kann. Im Allgemeinen wird ſich in einer Schule die Richtung eines Nationalſtyls zur reinſten Dar¬ ſtellung zuſammenfaſſen. Das Ideal eines Nationalgeiſtes wird mit dem Ideal einer Schule zuſammenfallen; die übrigen Schulen derſelben Nation werden als voraufgehende und nachfolgende Entwicklungsmomente der Hauptſchule erſcheinen. Ein ſolcher Styl wird durch die Univerſalität, zu welcher er ſich erhebt, auf bleibende Weiſe Organ der Kunſt werden können, wie wenn wir heut zu Tage in der Malerei ſagen, daß ein Bild im Italieniſchen oder Niederländiſchen Styl gemalt ſei, zugleich aber angeben, ob es in der Weiſe der Florentiniſchen oder Römiſchen oder Venetianiſchen oder Sieneſiſchen Schule u. ſ. w. concipirt ſei. Iſt einmal eine ſolche Vorausſetzung gemacht, ſo wird der Künſtler incorrect, wenn er ſich nicht den Eigenheiten unterwirft, die zu den conſtitutiven des beſondern Schulgeſchmacks gehören. Es iſt nicht unmöglich, daß einige derſelben nicht correct ſind im Sinne der Naturwahrheit; der Künſtler würde incorrect im Sinne der Schule werden, wollte er nicht mit ihrer Indi¬ vidualität auch ihre Fehler realiſiren, weil er, aller Wahr¬ ſcheinlichkeit nach, ohne dieſelben auch nicht die Tugenden würde erreichen können, welche den Styl der Schule aus¬ zeichnen.

Hier iſt der Punct, eines Begriffs zu erwähnen, der Göthe viel beſchäftigt hat, nämlich des Dilettantismus.


Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 10 � [146/0168] Göthe hat in ſeiner Bearbeitung von Diderots Verſuch über die Malerei ſich demſelben inſofern entgegengeſetzt, als Diderot die pragmatiſche Nothwendigkeit des Richtigen mit der äſthetiſchen Wahrheit des Ideals verwechſelte. In der wohlbegründeten Polemik, welche er dem Pedantismus der akademiſchen Steifheit entgegenſetzte, wurde er zum unbe¬ dingten Apologeten der Natur, die, ihm zufolge, nichts In¬ correctes macht, denn ſagt er, jede Geſtalt, ſie mag ſchön oder häßlich ſein, hat ihre Urſache, und unter allen exiſtirenden Weſen iſt keins, das nicht wäre, wie es ſein ſoll. Göthe, der Apologet der nach Regeln producirenden Kunſt, geht ſeinerſeits ſo weit, zu behaupten, daß man eher ſagen dürfte: Die Natur iſt niemals correct! „Die Natur arbeitet auf Leben und Daſein, auf Erhaltung und Fortpflanzung ihres Geſchöpfs, unbekümmert, ob es ſchön oder häßlich erſcheine. Eine Geſtalt, die von Geburt an ſchön zu ſein beſtimmt war, kann, durch irgend einen Zufall, in Einem Theile ver¬ letzt werden: ſogleich leiden andre Theile mit. Denn nun braucht die Natur Kräfte, den verletzten Theil wiederherzu¬ ſtellen, und ſo wird den übrigen etwas entzogen, wodurch ihre Entwickelung durchaus geſtört werden muß. Das Ge¬ ſchöpf wird nicht mehr, was es ſein ſollte, ſondern was es ſein kann.“ Die Zucht der Schule und den unſchätzbaren Werth ihrer Erfahrung hervorhebend ruft Göthe weiterhin aus: „welches Genie der Welt wird, auf Einmal, durch das bloße Anſchauen der Natur, ohne Ueberlieferung, ſich zu Proportionen entſcheiden, die ächten Formen ergreifen, den wahren Styl erwählen und ſich ſelbſt eine Alles umfaſſende Methode erſchaffen!“ Dieſe Tendenz hat er 1799 in dem Ent¬ wurf eines Werkes verfolgt, von welchem zu bedauern iſt, daß er keine Ausführung, auch nicht von einem Göthe¬

� [147/0169] enthuſiaſten, erhalten hat. Wenn bei uns Deutſchen etwas einmal im Ganzen vollbracht iſt, dann wird es bis zur Schäbigkeit wiederholt, aber einen kleinen Schritt vorwärts zu gehen und ſelbſt weiter fortzuarbeiten, iſt das bei Weitem Seltnere. Die bequeme Manier, Fragmente zuſammen¬ drucken zu laſſen und mit ſolcher Blumenleſerei ſich doch auch einen literariſchen Namen zu machen, iſt wohl bei keiner Nation ſo, wie bei der unſrigen, im Schwange. Jener Auf¬ ſatz, den wir meinen, findet ſich in den Werken Band 44.: über den ſogenannten Dilettantismus oder die praktiſche Lieb¬ haberei in den Künſten. Er enthält eine vollſtändige, oft ſehr detaillirte Dispoſition, deren Entwicklung wir hiermit einer jüngern Kraft empfehlen und an's Herz legen wollen. Göthe ſtellt zuerſt den Begriff des Dilettantismus im All¬ gemeinen auf, paralleliſirt ihn der Pfuſcherei im Handwerk, ſpecificirt ihn in den einzelnen Künſten, gibt ſeinen Nutzen und zuletzt ſeinen Schaden an. Wir wollen aus dieſen Be¬ merkungen dasjenige ausheben, was ſich auf die Erzeugung des Häßlichen bezieht. „Die Kunſt gebietet der Zeit, der Dilettantismus folgt der Neigung der Zeit. Wenn die Meiſter in der Kunſt dem falſchen Geſchmack folgen, glaubt der Dilettant deſto geſchwinder auf dem Niveau der Kunſt zu ſein. Weil der Dilettant ſeinen Beruf zum Selbſtproduciren erſt aus den Wirkungen der Kunſtwerke auf ſich empfängt, ſo verwechſelt er dieſe Wirkungen mit den objectiven Urſachen und Motiven und meint nun den Empfindungszuſtand, in den er verſetzt iſt, auch productiv und praktiſch zu machen; wie wenn man mit dem Geruch einer Blume die Blume ſelbſt hervorzubringen gedächte. Das an das Gefühl Sprechende, die letzte Wirkung aller poetiſchen Organiſationen, welche aber den Aufwand der ganzen Kunſt ſelbſt vorausſetzt, ſieht


10 * � [148/0170] der Dilettant als das Weſen derſelben an und will damit ſelbſt hervorbringen. — Was ihm eigentlich fehlt, iſt Archi¬ tektonik im höchſten Sinne, diejenige ausübende Kraft, welche erſchafft, bildet, conſtituirt. Er hat davon nur eine Art von Ahnung, gibt ſich aber durchaus dem Stoff dahin, anſtatt ihn zu beherrſchen. Man wird finden, daß der Dilettant zuletzt vorzüglich auf Reinlichkeit ausgeht, welches die Vollendung des Vorhandenen iſt, wodurch eine Täuſchung entſteht, als wenn das Vorhandene zu exiſtiren werth ſei. Eben ſo iſt es mit der Accurateſſe und mit allen letzten Be¬ dingungen der Form, welche eben ſo gut die Unform be¬ gleiten können. — Der Dilettant überſpringt die Stufen, beharrt auf gewiſſen Stufen, die er als Ziel anſieht und hält ſich berechtigt, von da aus das Ganze zu beurtheilen, hin¬ dert alſo ſeine Perfectibilität. Er ſetzt ſich in die Nothwen¬ digkeit, nach falſchen Regeln zu handeln, weil er ohne Regeln auch nicht dilettantiſch wirken kann und er die ächten objectiven Regeln nicht kennt. Er kommt immer mehr von der Wahrheit der Gegenſtände ab und verliert ſich auf ſubjec¬ tiven Irrwegen. Der Dilettantismus nimmt der Kunſt ihr Element und verſchlechtert ihr Publicum, dem er den Ernſt und den Rigorismus nimmt. Alles Vorliebnehmen zerſtört die Kunſt, und der Dilettantismus führt Nachſicht und Gunſt ein. Er bringt diejenigen Künſtler, welche dem Dilettantis¬ mus näher ſtehen, auf Unkoſten der ächten Künſtler in An¬ ſehen. — Der poetiſche Dilettantismus vernachläſſigt entweder das unerläßlich Mechaniſche und glaubt genug gethan zu haben, wenn er Geiſt und Gefühl zeigt; oder er ſucht die Poeſie blos im Mechaniſchen, worin er ſich eine handwerks¬ mäßige Fertigkeit erwerben kann, und iſt ohne Geiſt und Ge¬ halt. Beide ſind ſchädlich, doch ſchadet jener mehr der Kunſt,

� [149/0171] dieſer mehr dem Subject ſelbſt. — Alle Dilettanten ſind Plagiarii. Sie entnerven und vernichten jedes Original ſchon in der Sprache und im Gedanken, indem ſie es nach¬ ſprechen, nachäffen und ihre Leerheit damit ausflicken. So wird die Sprache nach und nach mit zuſammengeplünderten Phraſen und Formeln angefüllt, die nichts mehr ſagen, und man kann ganze Bücher leſen, die ſchön ſtyliſirt ſind und gar nichts enthalten. Kurz alles wahrhaft Schöne und Gute der ächten Poeſie wird durch den überhandnehmenden Dilet¬ tantismus profanirt, herumgeſchleppt und entwürdigt.“


C. Die Incorrectheit in den einzelnen Künſten. Im Allgemeinen beſteht alſo, wie wir geſehen haben, die Incorrectheit in der Unrichtigkeit, in dem Abweichen von der Geſetzlichkeit, welche der Natur und dem Geiſt einwohnt. Im Beſondern beſteht ſie in dem Ungehorſam und Wider¬ ſpruch gegen die ideale Beſtimmtheit eines Styls, gegen den Styl einer Nation, gegen den Styl einer Schule. Wenn man Kant's Unterſcheidung von Ideal und Normalexiſtenz (31) auf den Begriff des Incorrecten anwendet, ſo kann man ſagen, daß das äſthetiſche Ideal innerhalb des Geſchmacks einer Nation, einer Schule, zu einer particulären Normal¬ exiſtenz fortgebildet und fixirt werde. Eine Schule oder Nation identificirt dann die empiriſch durch den geſchichtlichen Proceß entſtandene Normalexiſtenz mit dem abſoluten Ideal. Die Correctheit kann inſofern, wie wir uns überzeugten, zu einer negativen Schranke der äſthetiſchen Production werden.

� [150/0172] Glücklicherweiſe hat aber jede Kunſt, ſchon durch die Be¬ ſchaffenheit ihres Darſtellungsmittels, einen ihr eigenthüm¬ lichen Trieb, der ſolche Beengtheit wieder durchbricht und unabweisliche Incorrectheiten im Sinne des conventionellen Styls erzeugt, weil er ſonſt der ſpecifiſchen Nothwendigkeit, der für ſeine Kunſt erforderlichen Correctheit, nicht würde genügen können. Hierin liegt das Geheimniß, weshalb allgemeine Richtungen, auch wenn ſie legislative Autorität gewonnen haben, die künſtleriſche Production doch niemals ganz zu ruiniren vermögen. Es iſt die individuelle Correctheit der einzelnen Kunſt, von welcher dieſe höchſt objective Wirkung ausgeht.

Alle Künſte ſollen das Schöne darſtellen, jede aber kann es nur innerhalb ihres ſpecifiſchen Mediums. Die Aeſthetik hat im Syſtem der einzelnen Künſte die Regeln des daraus reſultirenden Verfahrens zu entwickeln. Wie ſchon früher bemerkt worden, würde es von unſerer Seite unge¬ ſchickt ſein, hier in das Detail zu gehen, weil es nur in der Litanei beſtehen könnte, allen poſitiven Beſtimmungen die Abweichung als einen Verſtoß gegen die nöthige Correctheit hinzuzufügen. Wir haben uns deshalb mit der Angabe einiger allgemeinen Puncte zu begnügen, aus welchen diejenige In¬ correctheit erſichtlich wird, die gerade einer jeden Kunſt aus ihrer Eigenthümlichkeit heraus als die Gefahr einer beſondern Verhäßlichung drohet.

Die bildenden Künſte laſſen uns das Schöne im Raum, in der ſtummen Materie, erſcheinen. Die Baukunſt hat die Aufgabe, die Materie durch die Materie zu heben und zu tragen. Sie muß daher vor allen Dingen den Schwerpunct beachten. Verfehlt ſie dieſen, ſo wird ſie incorrect und alle ſonſtige ornamentale oder pittoreske Schönheit kann den ar¬ chitektoniſchen Grundfehler nicht vergüten. Die Schwere

� [151/0173] corrigirt dann ſelbſt den Fehler d. h. das Gebauete ſtürzt wieder ein; eine theure Art der Correctur, die aber in unſerer Zeit ſehr beliebt iſt. Scheinbar kann der Schwerpunct ver¬ rückt ſein, allein nicht thatſächlich. So iſt der ſchiefe Thurm zu Piſa mit dem fundamentalen Geſetz der Architektur nur ſcheinbar in Widerſpruch; er iſt ein Kunſtſtück des techniſchen Uebermuthes; Niemand aber wird dies ſchön finden, denn die Baukunſt ſoll auch in der größten Kühnheit der Verhältniſſe das Gefühl der Sicherheit und der Dauer erzeugen. Erſt wenn dieſer primitiven Forderung genügt iſt, können auch andere architektoniſche Conſequenzen befriedigt werden. Ein Bau muß in der Erde ruhen, ſoll aber, falls er nicht Hypo¬ gäenbau iſt, über die Erde hinaus ſich in die Lüfte erſtrecken, denn die Materie ſoll ja eben die Materie — die Wand die Decke — tragen. Dieſe aus der Mutter Erde zum Himmel emporſtrebende Tragkraft verleihet erſt jedem Bau ſeinen charakteriſtiſchen Schwung, ſeine Freiheit. Es iſt alſo die Beachtung des Schwerpunctes die innere, centripetale, die Beachtung des Aufſteigens aus der Erde die äußere, cen¬ trifugale Correctheit zu nennen. So iſt es z. B. an Klenze's ſonſt trefflicher Glyptothek zu München incorrect, daß ſie ſich ſo wenig aus der Fundamentirung hervorhebt.

Für die Plaſtik entſteht die ihr eigene Incorrectheit aus dem Verfehlen der natürlichen Maaßverhältniſſe der leben¬ digen, insbeſondere der menſchlichen Geſtalt. Die plaſtiſchen Werke ſtellen ſich uns in der Fülle aller Raumdimenſionen als beharrende Erſcheinung hin und verletzen deshalb unſer Gefühl durch Unmaaß, Uebermaaß, falſche Bildung, un¬ mögliche Stellungen, auf das Empfindlichſte. Der berühmte Kanon des Polyklet verdankt ſeinen Urſprung dem Be¬ dürfniß der Kunſt, die normalen Proportionen der Menſchen¬

� [152/0174] geſtalt als Anhalt zu fixiren. Allein gerade in der Plaſtik finden wir auch Abweichungen von den poſitiven natürlichen Verhältniſſen, die, nur empiriſch genommen, Incorrectheit genannt werden könnten. Es ſind diejenigen, die ſich durch das Bedürfniß einer höhern Harmonie rechtfertigen, wie ſchon früherhin bei dem allgemeinen Begriff des Incorrecten be¬ merkt worden. Eine weſentliche Norm wird freilich niemals verletzt werden dürfen, wohl aber ſind jene zarten, leiſen Abweichungen von der natürlichen Richtigkeit geſtattet, welche dem geiſtigen Gehalt erſt die volle Realiſirung ſeiner Eigen¬ thümlichkeit möglich machen, wie z.B. bekanntlich der Bauch des Vatikaniſchen Apollo anatomiſch vielleicht nicht ganz correct iſt; wir werden dies aber nicht als einen Fehler ge¬ wahr, weil die Schlankheit der Geſtalt durch die Schmäch¬ tigkeit der Hüften eine eigenthümliche vom Boden zum Himmel aufſchwebende Elaſticität empfängt, die mit der Begeiſterung des Hauptes harmonirt. Auch coloſſale Formen würden im Sinn der empiriſchen Nichtigkeit nicht correct ſein; für be¬ ſtimmte Zwecke aber, erhabene Effecte hervorzubringen, können ſie für die Kunſt vollkommen correct werden. Dennoch wird es bei ihnen auf den Grad des Maaßes und auf die In¬ dividualität des Gegenſtandes ankommen. Auf das Maaß, denn es darf nicht ſo groß ſein, daß die Auffaſſung der Einheit der Geſtalt darunter leidet; auf den Gegenſtand, denn er muß, ſchön zu ſein an ſich eine edle Form haben. Die coloſſalen Stiere und Löwen in den Paläſten von Niniveh ſind ſchön, denn Stier und Löwe bieten an ſich edle Formen dar; ſtellen wir uns aber vor, daß ein Künſtler eine auf den Hinterfüßen ſitzende Ratte, wenn auch noch ſo vollkommen, als ein plaſtiſches Werk bilden wollte, ſo würde daſſelbe unter allen Umſtänden ſcheußlich ſein. Das

� [153/0175] Nämliche gilt von der Verkleinerung, die ebenfalls an der Größe wie an dem Gegenſtande ihre Grenze hat. Auch in den einzelnen Gliedern der Geſtalt wird die Plaſtik eine Temperirung der natürlichen Normalität ſich erlauben, allein ſie wird dabei nicht in das Abnorme überſchweifen dürfen. Sie wird einen Muskel, um ihn in beſonderer Beziehung zu accentuiren, etwas ſtraffer anſchwellen oder ſanfter in ſich zuſammenſinken laſſen, als von Natur möglich wäre, ihm aber ſeine richtige Stelle und Form zu geben haben, denn ein Verſtoß gegen die anatomiſche Grundwahrheit würde ſich auch ſofort äſthetiſch rächen. Die Griechen haben bekanntermaaßen in der Bildung des Augenknochens die ge¬ wöhnliche Formation der Natur übertrieben, allein nur innerhalb der Plaſtik, um der farbloſen Statue durch das tiefer liegende Auge die Kraft der Blickhaftigkeit zu geben; der optiſche Schein gleicht daher die oſteologiſche Incorrectheit wieder aus.

Für die Malerei liegt die ſpecifiſche Energie in der Farbe und in der Beleuchtung; die Zeichnung als das plaſtiſche Moment tritt dagegen zurück. Die Umriſſe der Geſtalten müſſen allerdings richtig ſein; weil jedoch die Malerei die individuelle Geſtalt in der Lebendigkeit ihrer charakteriſtiſchen Färbung, im Wechſelſpiel von Licht und Schatten und in der Maaßveränderung des perſpektiviſchen Scheines zu geben hat, ſo iſt bei ihr ein Fehler gegen die Zeichnung eher zu ertragen, als in der Plaſtik, die uns ihre Geſtalten als Vollgebilde darbietet, welche ihre Farbe un¬ mittelbar an ſich ſelbſt haben und ihre Beleuchtung von Außen her empfangen. Bei der Plaſtik iſt umgekehrt die Farbe unweſentlich, weil es ihr auf die Geſtalt als ſolche ankommt; mit der Starrheit des plaſtiſchen Werkes ſteht

� [154/0176] die individualiſirende Farbe in Widerſpruch; ihre Anwendung wird für ſie ein incorrectes Verfahren, wie man bemalten Statuen und Wachsfiguren gegenüber empfindet. In Klöſtern und auf ſogenannten Stationen der Paſſion Chriſti, auf Calvarienbergen, findet man zuweilen die Statuen durch Anwendung von wirklichen Haaren und Kleidern der Natür¬ lichkeit noch mehr, als nur durch Uebermalung, genähert und die Statue empfängt durch ſolchen Schein des unmittel¬ baren Lebens etwas Geſpenſtiſches. Wenn man in Salz¬ burg z. B. die Stationen des Capuzinerberges bis zu dem guten Hirten hinaufſteigt, wie ſchauerlich blicken da nicht die grellen Geſtalten der Juden, der Kriegsknechte und des ge¬ marterten Chriſtus hinter den Drathgittern aus den Felſen¬ kammern hervor.

Das Correcte iſt eigentlich diejenige Schönheit, die gelernt werden kann, die äſthetiſche Technik. Dies zeigt ſich vorzüglich in der Muſik, denn obwohl dieſe Kunſt die innerſten Regungen des Gemüths darſtellt, ſo iſt ſie doch gerade durch die Natur des Tones an die Regeln einer ſtrengen Arithmetik gebunden und kann deshalb in ihren Incorrectheiten auf das Genaueſte controlirt werden.

In der Poeſie iſt die Correctheit unbeſtimmter, weil es in ihr mehr noch, als in den übrigen Künſten, auf die Tiefe des geiſtigen Gehaltes ankommt und weil zugleich dieſer Gehalt mehr, als anderwärts, eine etwaige Incor¬ rectheit kann verzeihen laſſen. Ariſtoteles, Horaz, Brileau und Batteur, haben die Regeln der Poeſie und mit ihnen den Begriff des poetiſch Incorrecten zu be¬ ſtimmen geſucht. Sprachreinigkeit, metriſche Richtigkeit, rhe¬ toriſche Vollkommenheit und Auseinanderhalten der Gattungen ſind Forderungen, die an jedes poetiſche Werk geſtellt werden

� [155/0177] müſſen. Diejenige Incorrectheit, an welcher unſere Zeit leidet, liegt vorzüglich in dem letzten Punct begründet, da wir übergenug Epen ohne Kampf, Lieder ohne Gefühl, Dramen ohne Handlung erhalten und beſonders der Titel Novelle für die charakterloſeſten Miſchlingsproducte beliebt iſt.

Eine eigene Art der Incorrectheit entſteht nun durch die ungehörige Vermiſchung der Künſte. Sie können und ſollen ſich einander unterſtützen, denn ſie ſind geſelliger Natur und die Oper dankt ja ihre unvergleichliche Macht dem Zuſammenwirken alle Künſte. Etwas Anderes aber iſt es, wenn die einzelnen Künſte nach vorwärts oder rück¬ wärts über ihre Sphäre hinausgehen und Effecte hervor¬ bringen wollen, die ihnen kraft ihrer Eigenthümlichkeit ver¬ ſagt bleiben müſſen. Jede Kunſt hat ihre Stärke nur innerhalb ihrer qualitativen Beſtimmtheit. Verläßt ſie dieſelbe und ſtrebt ſie Wirkungen an, die nicht durch ihr Medium, nur durch das einer andern Kunſt möglich ſind, ſo widerſpricht ſie ſich und verfällt damit dem Häßlichen. Ein Kunſtwerk kann alſo correct nur ſein, ſofern es die im particulären Medium einer Kunſt liegende Grenze innehält. Ueberſpannt ſie ſich, ſo wird ſie freilich mit eben dieſem Wagniß Effect machen, denn ſie bringt ja dann etwas hervor, was ſie nicht her¬ vorbringen ſollte und was als eine ſeltſame Erſcheinung immerhin intereſſant ſein kann, jedenfalls aber die Geſetze der wahren Kunſt verletzt. Man verſtehe dies richtig. Daß eine Kunſt die andere unterſtützt, iſt ſchön; daß aber eine Kunſt die Individualität einer andern auslöſcht, iſt häßlich. Die Architektur z. B. kann alſo von der Sculptur und ſogar von der Malerei unterſtützt werden, allein nicht ſo darf dies geſchehen, daß nicht die Baukunſt ſich ihre Selbſt¬ ſtändigkeit erhielte und, was Sculptur und Malerei zu

� [156/0178] ihrem Werk hinzuthun, nur die Rangſtufe des Ornamentes behielte. Die Polychromie der Alten hat, wie es nach den Berichten von Semper und Kugler (32) ſcheint, dieſe Grenze ſorgfältig beachtet. Die Architektur bereitet der Sculptur und der Malerei eine Stätte; ſollen nun aber die Thaten dieſer Künſte von den Maſſen der Architektur nicht erdrückt werden, ſo muß dieſe eine beſondere Rückſicht nehmen und, um der Statue das Poſtament, um dem Bilde die Wandfläche zu bereiten, den baulichen Organismus zu dieſem Zweck modificiren. Muſik und Poeſie können ſich ebenfalls unterſtützen, und die Poeſie kann ſogar geſungen werden, aber auch hier kommt es darauf an, daß die Muſik als begleitende Inſtrumentalmuſik das Wort nicht völlig unhörbar mache und, wie in ſo manchen modernen Opern, den Sänger zum Schreien und Brüllen zwinge, an welchem nur noch die phyſiſche Gewalt anzuſtaunen, aber nichts Schönes zu lieben iſt.

Leſſing hat bekanntlich in ſeinem Laokoon die Grenzen der Malerei und Poeſie zu beſtimmen geſucht. Er hat die Incorrectheiten angedeutet, welche dadurch entſtehen, daß die Malerei ihre Fundamentalbedingung, die Coëxiſtenz, und die Poeſie die ihrige, die Succeſſion, vergißt. Er hat die Fehler, die aus ſolcher Vergeſſenheit reſultiren, für die Poeſie als Schilderungsſucht und für die Malerei als die Allegoriſterei bezeichnet: „indem man jene zu einem redenden Gemälde hat machen wollen, ohne eigentlich zu wiſſen, was ſie malen könne und ſolle, und dieſe zu einem ſtummen Gedichte, ohne überlegt zu haben, in welchem Maaße ſie allgemeine Begriffe ausdrücken könne, ohne ſich von ihrer Beſtimmung zu entfernen und zu einer willkür¬ lichen Schriftart zu werden.“ Bei dieſer Unterſuchung hat

� [157/0179] Leſſing von Abſchnitt 33. bis 35. die Häßlichkeit von der Malerei ausgeſchloſſen und der Poeſie vindicirt. Dies iſt aber ein Irrthum und nach ſeiner feinen Art wird Leſſing ſelbſt zum Zweifel geführt, ob nicht die Malerei, zur Er¬ reichung des Lächerlichen und Schrecklichen, ſich häßlicher Formen bedienen dürfe? „Ich will es nicht wagen, ſo ge¬ radezu mit Nein hierauf zu antworten.“ Er unterſcheidet nun eine unſchädliche Häßlichkeit für das Lächerliche und eine ſchädliche für das Schreckliche und behauptet, daß in der Malerei der erſte Eindruck des Lächerlichen und Schreck¬ lichen ſich bald verliere und nur das Unangenehme und Un¬ förmliche zurückbleibe. In ſeiner Ausführung nimmt er aber die Materialien ſeines Beweiſes immer nur aus Werken der Poeſie, nicht auch der Malerei her und hat deshalb, wie wir tiefer unten beim Begriff des Ekelhaften im folgenden Theil unſerer Unterſuchung ſehen werden, die Malerei zu eng umgrenzt.

Es zeigt ſich unter den Künſten ein innerer Zuſammen¬ hang, der uns den immanenten Uebergang der einen in die andere darſtellt. In ihrem vornehmſten Organ, in der Säule, kündigt die Architektur ſchon die Statue an, aber die Säule iſt deshalb doch keine Statue. Im Relief kündigt die Sculp¬ tur ſchon die Malerei an, aber das Relief als ſolches hat noch kein maleriſches Princip, denn es hat noch keine Per¬ ſpective und noch keinen andern Schatten, als den der zu¬ fälligen Beleuchtung. Die Malerei drückt die Wärme des individuellen Lebens ſchon mit ſolcher Macht aus, daß der Ton nur zufällig zu fehlen ſcheint, aber das Spiel des Lichts, die Töne der Farben ſind noch kein wirklicher Klang. Erſt die Muſik ſchildert in ihren Tönen unſere Gefühle. Wir empfinden ſie in der Symbolik ihres Tongewoges, ſehnen

� [158/0180] uns aber, je mehr ſie unſer Inneres ausdrückt, aus ihrer myſtiſchen Tiefe zur Poeſie, um in der Beſtimmtheit der Vorſtellung und des Wortes zur Klarheit zu gelangen. Jene ſchweſterliche Hülfe, welche ſich die Künſte unter einander gewähren, und dieſer innere Uebergang derſelben von der Architektur bis zur Poeſie, iſt etwas ganz Anderes, als das falſche Uebergreifen der Künſte in einander, denn dies beſteht nicht in einer natürlichen Steigerung, ſondern darin, daß eine Kunſt durch Uſurpation oder Degradation Wir¬ kungen hervorzwingen ſoll, die ihr vermöge der Qualität ihres Elementes unzugänglich ſind oder doch bleiben ſollten. Greift eine Kunſt unberechtigt vor, ſo uſurpirt ſie; ſtellt ſie ſich niedriger, als ſie ihrem Begriff nach ſteht, ſo degradirt ſie ſich; Uſurpation aber und Degradation haben, wie die Wiſſen¬ ſchaft der Idee als ein allgemeines Geſetz zeigt, die Mon¬ ſtroſität in ihrem Gefolge. Nur einige Beiſpiele zur Er¬ läuterung ſeien geſtattet. Für die Architektur iſt ein Zurück¬ greifen in eine andere Kunſt nicht möglich; nach vorwärts hin ſoll ſie ihre großen Verhältniſſe nicht durch die Sculptur oder Malerei abſchwächen. Die Sculptur ſoll nicht rückwärts die Rolle der Säule für die Architektur übernehmen. Atlanten von herkuliſchem Bau ſind zwar geeigneter als zierliche Frucht¬ korbträgerinnen, zu Karyatiden zu dienen und Gebälk und Decken zu ſtützen; niemals aber werden ſolche Träger ent¬ ſcheidende architektoniſche Glieder, immer aber eine Degradation der menſchlichen Geſtalt ſein, die zu edel iſt, nur zum Tragen eines Balkens zu dienen. Wie der rieſige Atlas die ganze Erde zu tragen, hat einen poetiſchen Sinn, weil es eine ſchlechthin unendliche Kraft vorausſetzt; aber zu vollbringen, was eine Säule eben ſo gut oder vielmehr beſſer thun würde, iſt gegen die Würde der Menſchengeſtalt. Umgekehrt, wenn

� [159/0181] wirkliche Säulen, wie viele Aegyptiſche, ſtatt des Capitäls einen Kopf haben, wenn es auch der Kopf der Iſis ſelber iſt, ſo iſt das von Seiten der Säulenformation eine Uſur¬ pation, d. h. eine äſthetiſch ungerechtfertigte Anticipation der Statue. Verſucht die Muſik, zu malen, was nur geſehen werden könnte, ſo ſtrengt ſie ihre Mittel vergeblich an. Die berühmte Paſſage in Haydn's Schöpfung, es werde Licht und es ward Licht! kann niemals das Licht als Licht ſchildern, ſondern immer nur die ungeheure Bewegung, die ſeine Er¬ ſcheinung im Univerſum hervorbrachte. In den Jahres¬ zeiten kommen Haydn die ſelbſt tönenden Verſchiedenheiten der Naturereigniſſe und der Beſchäftigungen der Menſchen zu Hülfe, im Klang maleriſch zu werden; den Jäger charak¬ teriſirt der Ruf des Horns, den Hirten der Lockton der Schal¬ mei, den Ackerer der Tanzſchritt der Flöte. Das Rauſchen des Waſſerfalls, das Brauſen des Sturms, das Grollen des Donners kann die Muſik nachahmen; Gefühle aber vermögen nur einen ſymboliſchen Ausdruck zu gewinnen. Wenn man für die muſikaliſche Malerei öfter aus Figaro's Hochzeit von Mozart die Stelle anführt, wo die „kleine, unglück¬ ſelige Nadel“ geſucht wird, ſo iſt zu erwägen, daß ohne dieſes Wort und ohne die mimiſche Darſtellung ſchwerlich irgend Jemand aus der Muſik die Vorſtellung: hier wird zum Schein eine verlorene Nadel geſucht, würde heraus¬ nehmen können. Umgekehrt kann die Malerei nicht dasjenige darſtellen, was nur muſikaliſch oder nur poetiſch, wohl gar nur ganz proſaiſch, ausgedrückt werden kann. Die Poeſie freilich kann durch das Medium des Wortes Alles darſtellen; ihrer descriptiven Kraft kann ſich nichts entziehen; die Malerei hingegen kann nur dasjenige darſtellen, was in das Bereich der Sichtbarkeit zu treten vermag. Es iſt ſehr ſchwer,

� [160/0182] hierüber im Allgemeinen etwas ein für alle mal feſtzuſetzen; für ein beſtimmtes Urtheil, ob die Malerei ihre Grenzen ſchon überſchreitet oder nicht, wird man ſich an den concreten Fall halten müſſen. Das ſchlechthin Innerliche, Lyriſche, wohl gar Intellectuelle, hört auf, maleriſch zu ſein; die Malerei muß das Subjective in eine Situation verlegen, um es maleriſch zu machen. Ein Pariſer Maler, de Le¬ mud, malt uns einen Maler, der düſter blickend auf einer Bank vor einer Kruke ſitzt, die neben Pinſeln und anderm Ge¬ räth auf einer Erhöhung ſich befindet; neben ihm ſteht mit ermuthigender Gebärde, einen Schlüſſel in der Hand, ein ältliches Frauenzimmer; beide in mittelaltrigem Coſtüm. Was in aller Welt ſoll dies Bild? Ohne die Inſpiration des Katalogs würden wir es nimmer errathen. Es ſoll Johann von Eyck und ſeine Schweſter Margarethe darſtellen, wie ſie die Oelmalerei nach vielem Kopfzerbrechen erfinden. Hätte Herr de Leumud doch Leſſing's Laokoon geleſen gehabt! Die Erfindung oder vielmehr Entdeckung des Schießpulvers kann man malen, denn man kann den Mönch B. Schwarz darſtellen, wie er vor dem explodirenden Mörſer erſchreckt zurücktritt. Die Exploſion macht hier die Scene klar; die Entdeckung der Oelmalerei aber kann man nicht malen, nur erzählen, wie die Schopenhauer es gethan hat.

Die Incorrectheit innerhalb der einzelnen Künſte kann, wie jede Beſtimmung des Häßlichen, ſofort in's Komiſche gewandt werden, als ſie vom Künſtler mit Abſicht geübt wird. In der Architektur und Sculptur wird dies jedoch wegen der Strenge und Einfachheit dieſer Künſte, in der Muſik wegen ihrer arithmetiſchen Grundlage wenig möglich ſein, mehr in der Malerei, am meiſten in der Poeſie. Da die letztere durch die Sprache darſtellt, ſo wird die Incor¬

� [161/0183] rectheit derſelben ein vorzügliches Mittel der Komik. Sprach¬ unrichtigkeit, Jargon und Sprachmengerei, ſind vom Standpunct der Schönheit aus gewiß incorrect. Werden ſie aber mit Abſicht verwandt, ſo können ſie den Widerſpruch des Geiſtes mit ſich und zugleich ſein humoriſtiſches Darüber¬ hinausſein, weil die Sprache doch immer nur Mittel bleibt, ſehr ergötzlich darſtellen. Das ſonſt Häßliche wird dann höchſt lächerlich und die dramatiſche Poeſie macht daher einen großen Gebrauch von dieſer Form des Incorrecten. Shakeſpeare hat die Sprachunrichtigkeit faſt durch alle Töne ihrer ungeheuren Scala mit unendlichem Witz ver¬ folgt (33). — Zur Sprachunrichtigkeit kann man auch das Stottern rechnen, an deſſen komiſcher Production ſich die Italiener ſo außerordentlich vergnügen, daß unter den Neapoli¬ taniſchen Masken immer ein Balbutore. Der Dialekt, ob¬ wohl an ſich correct, kann einer gebildeten Schriftſprache gegenüber als incorrect erſcheinen; die Komiker benutzen ihn daher zur Contraſtirung, wie Ariſtophanes, Shakeſpeare, Moli è re. Wie köſtlich ſind nicht der Capitain Fluellen und der Paſtor Evans von Shakeſpeare in ihren Dialekten gezeichnet! Das Schäferlied des letztern macht noch in Tiecks Ueberſetzung lachen:

Am ſtille Pach, pey teſſe Fall Ertönt der Vöckel Matrikal, Laß uns ein Pett mit Roſe ſtreun, Und tauſend würz'ge Plume drein!

Vom Dialekt iſt der Jargon verſchieden, der eine aus verſchiedenen Sprachgebieten zuſammengeraubte aber doch in ſich wieder zu einer gewiſſen Einheit gelangte Sprache iſt, wie das Rothwälſch der Gaunerſprache, wie das Argot der Bagno's, wie das Sprachchaos des Pöbels großer Städte.


Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 11 � [162/0184] Bulwer, Sue u. A. haben von dieſem Mittel zuweilen auch für das Entſetzliche einen reichen Gebrauch gemacht, weil eine ſolche aparte Sprache uns aus der geſitteten und gebildeten bürgerlichen Geſellſchaft herausfallen läßt. Wir ſchaudern, die Sprache der Barbarei zu vernehmen, die mitten unter uns im Dunkel der Heimlichkeit lebt und für uns die Sprache unſerer Feinde iſt. Der Berliner Jargon hat wohl deshalb ſeit einigen Decennien eine ſo große Aus¬ breitung erhalten, weil er ein gewiſſes Element heiterer Selbſtironiſirung enthält, das ihn, ſo zu ſagen, geſellſchafts¬ fähig macht. In Glasbrenner hat er ſeinen Claſſiker er¬ halten, der Nante Strumpf, Herrn Buffey, Madam Piſecke, Buffey's Sohn, Willem u. ſ. w. eben ſo populair gemacht hat, als vordem Bäuerle mit dem Wiener Dialekt den Herrn Staberle gemacht hatte. Daß der Jargon auch Sprachfehler macht, verſteht ſich von ſelbſt.

Vom Jargon und von der Sprachunrichtigkeit ver¬ ſchieden iſt noch die Sprachmengerei. Da eine jede Sprache ein harmoniſches Ganze ſein ſollte, ſo wären ſtreng genom¬ men alle Wörter aus andern Sprachen zu tadeln. Allein ſo weit läßt der Purismus ſich nicht treiben. Da, wo ſich Miſch¬ ſprachen erzeugen, wie die heutigen Romaniſchen Sprachen, oder wo der Kosmopolitismus der univerſellen Civiliſation, wie in Europa und Amerika, die Völker zur innigſten Wechſel¬ wirkung mit einander durchdringt, da iſt Sprachreinheit eine Unmöglichkeit geworden. Ja es kann ſogar ein Fehler werden, in einem vorkommenden Fall nicht das allverſtänd¬ liche Fremdwort zu gebrauchen. Die Sprachmengerei wird häßlich, wenn ſie, wie in unſerer Literatur in der Mitte des ſiebzehnten Jahrhunderts, die äſthetiſche Einheit aufhebt; ein Fehler, in den bei uns auch Sealsfield öfter verfällt,

� [163/0185] wenn er die Charakteriſtik der verſchiedenen Nationen durch Einmiſchung ihrer gewöhnlichſten Phraſen outrirt. Aber die Sprachmengerei wird komiſch, ſobald ſie einen innern Wider¬ ſpruch auszudrücken dient, wie in des Gryphius Horri¬ biliſcribrifrax, oder ſobald ſie den lächerlichen Verſuch macht, aus zwei Sprachen eine ganz neue ſelbſtſtändige andere willkürlich erſchaffen zu wollen, wie dies im ſoge¬ nannten Macaroniſchen geſchehen iſt (34). Aber eben dies zeigt, in ſeiner Geſchichte, daß es nur da mit rechtem Glück hervorgebracht werden kann, wo die Sprachen eine gewiſſe Verwandſchaft haben, wie die Italieniſche mit der Lateiniſchen. Aus dieſem Grunde iſt es, daß Theophilo Folengo immer der größte Macoroniſche Dichter bleiben wird. — Die Sprachmengerei der Epiſtolae obscurorum virorum iſt nicht Macaroniſch, ſondern eigentlich nur, was man einen Germanismus im Lateiniſchen zu nennen pflegt, vulgo Küchenlatein.


11 * � [164/0186] Dritter Abſchnitt. Die Defiguration oder die Verbildung. Das Häßliche iſt keine bloße Abweſenheit des Schönen, ſondern eine poſitive Negation deſſelben. Was ſeinem Be¬ griff nach nicht unter die Kategorie des Schönen fällt, das kann auch nicht unter die des Häßlichen ſubſumirt werden. Ein Rechenexempel iſt nicht ſchön, aber auch nicht häßlich; ein mathematiſcher Punct, der gar keine Länge und Breite hat, iſt nicht ſchön, aber auch nicht häßlich; eben ſo ein abſtracter Gedanke u. ſ. w. Weil das Häßliche das Schöne poſitiv negirt, ſo iſt es nicht blos als ein Uebergewicht des Sinnlichen über das Geiſtige zu nehmen, wie manche Aeſthe¬ tiker es kurzſichtig definiren, denn das Sinnliche als ſolches iſt doch das Natürliche und das Natürliche, wie wir früher geſehen haben, iſt zwar ſeinem Begriff nach nicht noth¬ wendig ſchön, da es vor allen Dingen zweckmäßig zu ſein ſtrebt und ſeiner teleologiſchen Einheit die äſthetiſche Form unterordnet; allein eben ſo wenig iſt es auch, ſeinem Be¬ griff nach, nothwendig häßlich; vielmehr kann es, ohne ſeinem Begriff zu widerſprechen, auch ſchön ſein, wie ſelbſt die unorganiſche Natur in ihrer elementariſchen Geſtal¬ tung zeigt. Wie ſchön kann ein Berg, ein Fels, See, Strom, ein Waſſerfall, eine Wolke ſein! Wäre der Satz richtig, daß das Sinnliche das Princip der Häßlichkeit ausmache, ſo würde das nur Natürliche häßlich ſein müſſen. —

� [165/0187] Umgekehrt aber kann eben ſo wenig behauptet werden, daß das Geiſtige an ſich das Princip des Schönen ſei, weil zum Schönen einmal das Sinnliche als ein conſtitutives Moment gehört. Das Geiſtige in ſeiner abſtracten Iſolirung von der Natur, in ſeiner gegen das Sinnliche negativen Innerlichkeit, iſt kein äſthetiſches Object. Erſt von da ab wird es zu einem ſolchen, wo es durch die Vermittlung der Natur oder Kunſt in den Kreis der endlichen, ſinnlich wahr¬ nehmbaren Erſcheinung eintritt. — Daher kann man auch nicht ſagen, daß das Böſe und das Gefühl ſeiner Ver¬ dammniß Princip des Häßlichen ſei, denn obwohl das Böſe und ſein Schuldgefühl Urſache des Häßlichen werden können, ſo iſt dies doch nicht ſchlechthin nothwendig. Die religöſe Vorſtellung drückt dies populär aus, wenn ſie ſagt, daß der Teufel ſich auch in einen Engel des Lichts — der er ja urſprünglich geweſen — verſtellen könne. Das Häßliche kann ſich auch ohne das Böſe erzeugen. Das Schuldgefühl aber, ſofern es nicht die haarſträubende Angſt vor der Strafe iſt, kann als ächte Reue einem Geſicht ſogar einen über¬ irdiſch ſchönen Ausdruck verleihen, wie die Maler ihn der büßenden Magdalena zu geben ſuchen. Wenn ein Bild¬ hauer eine ſchlechte Statue, ein Muſiker eine ſchlechte Oper, ein Poet ein ſchlechtes Gedicht macht, ſo braucht dieſe Hä߬ lichkeit ihrer Production nicht von einer Häßlichkeit ihres Herzens, von ihrer Schlechtigkeit abgeleitet zu werden. Sie können die beſten Menſchen von der Welt ſein, denen es jedoch an Talent und Geſchick gebricht. Kann ja doch das Gute ſelber Urſache des Häßlichen werden, wie wir bei manchen harten, gefährlichen, ſchmuzigen Arbeiten des Men¬ ſchen ſehen. Arbeiter in Arſenikgruben, Bleiweißfabriken, Kloaken, Schornſteinfeger u. ſ. w. ſind gewiß höchſt ehren¬

� [166/0188] werth in ihrer Thätigkeit; werden ſie aber durch dieſelbe verſchönt?

Wir haben uns überzeugt, wie die Möglichkeit des Häßlichen zunächſt darin liegt, daß die allgemeine Maa߬ beſtimmtheit der Einheit, des Unterſchiedes, der Harmonie verletzt wird; eine Negation, die als ſolche mit dem Gegen¬ ſatz von Natur und Geiſt, von Gutem und Böſem, noch nichts zu thun hat. — Wir haben uns ferner überzeugt, wie das Häßliche dadurch entſtehen kann, daß die beſondere Formbeſtimmtheit, welche dem Natürlichen und Geiſtigen nothwendigerweiſe zukommt, negirt wird. Die Correctheit einer Erſcheinung beſteht in der ungehemmten Uebereinſtim¬ mung des Einzelnen mit der Gattung, in der Vollſtän¬ digkeit und Richtigkeit, mit welchen die Erſcheinung ihrem Weſen entſpricht. Wird dieſe Norm verletzt, ſo ergibt ſich die Incorrectheit, eine Häßlichkeit, die viele Einſchränkungen leidet, weil die bloße Richtigkeit ſich der idealen Wahrheit unterzuordnen hat. — Der letzte Grund der Schönheit näm¬ lich iſt erſt die Freiheit; dies Wort hier nicht blos in dem ausſchließend ethiſchen, ſondern in dem allgemeinen Sinn der Spontaneität genommen, die ihre abſolute Vollendung freilich in der ſittlichen Selbſtbeſtimmung findet, die aber auch im Spiel des Lebens, im dynamiſchen und organiſchen Proceſſe, äſthetiſches Object wird. Einheit, Regelmäßigkeit, Symmetrie, Ordnung, Naturwahrheit, pſychologiſche und hiſtoriſche Richtigkeit allein vermögen dem Begriff des Schönen noch nicht vollkommen zu genügen. Dies erfordert noch die Beſeelung durch Selbſtthätigkeit, durch ein ihm ſelber entſtrömendes Leben. Dieſe Selbſtthätigkeit kann in äſthetiſcher Hinſicht, wie wir zugeben müſſen, eine Wahrheit und in realer ein bloßer Schein ſein. Die Aeſthetik darf

� [167/0189] ſich an den Schein halten. Wenn der Strahl einer Fontaine emporſprühet, ſo iſt dieſe Erſcheinung ein rein mechaniſches Product der Fallhöhe, welche das Waſſer zuvor durchlaufen muß; aber die Gewalt, mit welcher es aufſchießt, gibt ihm den Schein der freien Bewegung. Eine Blume wiegt ihren Kelch hin und her. Nicht ſie ſelber iſt es, die ſich auf und ab, hin und her wendet; der Wind iſt es, der ſie ſchaukelt; der Schein aber läßt ſie als ſich ſelbſt bewegend erſcheinen.

Ohne Freiheit alſo keine wahrhafte Schönheit; ohne Unfreiheit alſo keine wahrhafte Häßlichkeit. Formloſigkeit und Incorrectheit erreichen erſt in der Unfreiheit ihren Gipfel, ihren genetiſchen Grund. Von ihr aus entwickelt ſich die Verbildung der Geſtalten. Das Schöne überhaupt wird im Beſondern zur Entgegenſetzung des erhaben und des gefällig Schönen; ein Gegenſatz, der im abſolut Schönen ſich zur Vermählung der Würde mit der Anmuth aufhebt. In dieſer, wie uns ſcheint, natürlichen Eintheilung wird das Erhabene nicht, wie man ſeit Kant gewöhnlich thut, dem Schönen entgegengeſtellt, ſondern als eine Form des Schönen ſelber behandelt, als ein Extrem ſeiner Erſcheinung, mit welchem ſie in die Unendlichkeit übergeht. Eben deshalb ſetzt dieſe Eintheilung auch das Gefällige als eine poſitive, weſentliche Form des Schönen, als das andere Extrem ſeiner Erſchei¬ nung, als den Uebergang derſelben in die Verendlichung. Das Erhabene wie das Gefällige ſind ſchön und als ſchön, als einander entgegengeſetzt, coordinirt; ſubordinirt ſind ſie dem abſolut Schönen, das, als ihre concrete Einheit, eben ſowohl erhaben als gefällig, weil nämlich nicht einſeitig das eine oder das andere iſt. Das Häßliche als die Negation des Schönen muß daher poſitiv das Erhabene, das Ge¬ fällige, das ſchlechthin Schöne verkehren; durch dieſe Ver¬

� [168/0190] kehrung entſteht es. Paradox könnte man ſagen: das Er¬ habene, das Gefällige, das Würdige und Anmuthige, ſind ſchön, aber ſie können häßlich werden; allein ſolche para¬ doxe Faſſungen ſind für das richtige Verſtändniß ſehr ge¬ fährlich, weil ſie leicht unbedingt genommen werden; in unſerm Fall ſo, als ob das Erhabene und Gefällige nicht ſchön wären, als ob die abſolute Schönheit nicht alle Hä߬ lichkeit von ſich ausſchlöſſe. Weiße in ſeiner Aeſthetik hatte die Kühnheit, im dialektiſchen Verlauf ſeiner Entwicklung (35) ſogar zu ſagen, daß das unmittelbar Schöne das Häßliche ſei. Der abſtracte Verſtand lohnt ſolche Kühnheiten, die bei den Griechiſchen Philoſophen gar nicht ſelten ſind, jetzt nur noch mit Schmähungen, weil er nicht in die Tiefe der Dinge untertaucht, weil er nicht, wie Fauſt, zu den Müt¬ tern herunterſteigt, die alles Werden in ihrem Dunkel hegen. Das Häßliche muß, um begriffen zu werden, nicht blos als ein Daſeiendes, es muß als ein Werdendes be¬ griffen werden. Das Erhabene wird dadurch negirt, daß es, ſtatt der Unendlichkeit der Freiheit, die Endlichkeit der Un¬ freiheit zeigt. Nicht die Unfreiheit des Endlichen, denn dieſe iſt äſthetiſch harmlos. Die Endlichkeit aber, die in der Un¬ freiheit liegt, wird zum Widerſpruch gegen die Freiheit, deren Weſen in ſich unendlich iſt. In dieſem Contraſt nennen wir ſie gemein. Gemeinheit hat einen Sinn nur, ſofern ſie nicht ſein ſoll, weil ſie nämlich dem Weſen als einem frei ſein ſollenden widerſpricht. Der Begriff der Erhabenheit iſt die Bedingung des Begriffs der Gemeinheit. Wir nennen z. B. eine Phyſiognomie gemein, wenn ſie die Abhängigkeit ihres Inhabers von einem Laſter verräth, weil eine ſolche Abhängigkeit gegen den Begriff des Menſchen iſt, als welcher darüber hinaus ſein ſollte. — Das Gefällige läßt

� [169/0191] die Freiheit in untergeordneten Beſtimmungen, in endlichen Beziehungen erſcheinen. Es feſſelt uns durch den Reiz der Selbſtbeſchränkung der Freiheit. Das Gefällige iſt daher recht eigentlich das geſellig Schöne und das geſelligſte Volk, richtiger wohl noch, geſellſchaftlichſte Volk, das Franzöſiſche, ſpricht daher auch ſeine Anerkennung des Schönen mehr in dem Prädicat des joli als dem des beau aus. Die Negation der Freiheit, die mit ihrer Verendlichung ſpielt, iſt die Auf¬ hebung der Freiheit durch die ſich ſelbſt widerſprechende Un¬ freiheit. Eine ſolche iſt widrig, denn ſie negirt Schranken, die nach der Nothwendigkeit der Freiheit ſein ſollten, und ſetzt Schranken, die nach eben derſelben nicht ſein ſollten. Die Freiheit im Zuſtande der Unfreiheit iſt widrig und das Widrige iſt daher dem Gefälligen entgegengeſetzt, weil es die Freiheit in dem Widerſpruch erſcheinen läßt, an dem End¬ lichen, das nur ein Moment und Mittel ihrer Bewegung ſein ſollte, eine Schranke zu haben, die ſie nicht aufhebt, und zugleich Schranken, welche ſein ſollten, aufzuheben. Warum iſt z. B. Verweſung des Lebendigen ein widriger Anblick? Unſtreitig, weil es verweſend den elementariſchen Mächten anheimfällt, als deren Macht es, ſo lang es lebte, exiſtirt. Verweſend zeigt es uns noch die Form, in welcher wir es als ein ſich ſelbſt beſtimmendes, ſeine elementariſche Vorausſetzung beherrſchendes Weſen zu ſchauen gewohnt waren, allein eben dieſe Form ſehen wir ſich auflöſen, ſehen wir ſich gerade den Mächten unterwerfen, die es lebend be¬ zwang. Dies iſt widrig, denn das ſeinem Begriff nach Freie iſt nunmehr in einen Zuſtand gerathen, deſſen Un¬ freiheit in eine Verendlichung auseinandergeht, welche die ihm als Lebendigem nothwendigen Schranken aufhebt. Das Verweſende fällt und fließt auseinander und ſo nothwendig

� [170/0192] dieſer Proceß unter gegebenen Umſtänden ſein kann, ſo widrig iſt er, weil wir äſthetiſch die Fiction machen, daß die Form auch noch die Kraft des Lebens in ſich trage.

Gemeinheit und Widrigkeit hängen natürlich zuſammen, ſind aber auch unterſchieden. Das Gemeine wird in der Regel auch widrig. Wenn ſich Jemand im Eſſen und Trinken übernimmt, ſo iſt das eine Gemeinheit. Erbricht er ſich in Folge ſeiner Völlerei, ſo geht die Gemeinheit in die Widrig¬ keit über. Die Endlichkeit der Unfreiheit wird zu einem Zu¬ ſtand der Unfreiheit im Endlichen. Das Uebermaaß verkehrt den geordneten Gang der Natur und degradirt den Mund zum After.

Im abſolut Schönen wird das Erhabene zur Würde und das Gefällige zur Anmuth. Die Unendlichkeit des erſtern wird in ihm zur Kraft der Selbſtbeſtimmung und die Endlich¬ keit der zweiten zur Sänftigung der Selbſtbegrenzung. Das häßliche Analogon des abſolut Schönen iſt daher diejenige äſthetiſche Geſtaltung, welche die Endlichkeit der Unfreiheit im Zuſtand der Unfreiheit des Endlichen, aber ſo darſtellt, daß die Unfreiheit den Schein der Freiheit und die Endlich¬ keit den Schein der Unendlichkeit annimmt. Eine ſolche Ge¬ ſtalt iſt häßlich, denn das wahrhaft Häßliche iſt das Freie, das ſich ſelbſt durch ſeine Unfreiheit widerſpricht und im End¬ lichen ſich eine Schranke ſetzt, die nicht ſein ſollte. Durch den Schein der Freiheit mildert ſich aber die Häßlichkeit; wir vergleichen ſie mit derjenigen Form, die ihr ideales Gegenbild ausmacht; eine Vergleichung, welche die häßliche Erſcheinung in's Komiſche hinüberſpielt. Die Selbſtvernichtung des Hä߬ lichen durch den Schein der Freiheit und Unendlichkeit, die gerade in der Verzerrung des Ideals hervorbricht, iſt komiſch. Wir nennen dieſe eigenthümliche Form des Häßlichen die

� [171/0193] Caricatur. Caricare heißt im Italieniſchen überladen und wir definiren daher die Caricatur gewöhnlich als die Ueber¬ treibung des Charakteriſchen. Im Allgemeinen iſt dieſe De¬ finition richtig; im Beſondern aber muß ſie durch den Zu¬ ſammenhang, in welchem eine Erſcheinung ſteht, genauer be¬ ſtimmt werden. Das Charakteriſche iſt das Element der In¬ dividualiſirung. Uebertreibt dieſelbe das Individuelle, ſo ver¬ ſchwindet das Allgemeine dagegen, indem das Inviduelle, ſo zu ſagen, ſich zur Gattung aufſpreizt. Eben hierdurch aber erzeugt ſich die Aufforderung, den Contraſt der Hyperindivi¬ dualiſirung mit dem Maaße der nothwendigen Allgemeinheit zu vergleichen und eben in dieſer Reflexion liegt das Weſen der Caricatur. Das abſolut Schöne gleicht die Extreme des Erhabenen und Gefälligen poſitiv in ſich aus, die Caricatur hingegen treibt die Extreme des Gemeinen und Widrigen hervor, indem ſie aber zugleich das Erhabene und Gefällige durch¬ blicken läßt und das Erhabene als das Gefällige, das Ge¬ fällige als das Erhabene, das Gemeine als das Erhabene, das Widrige als das Gefällige und die Nullität der charakter¬ loſen Leerheit als das Abſolutſchöne ſetzt.

Hieraus wird die große Vielſeitigkeit des Begriffs der Caricatur, ja die Möglichkeit ſeiner Ausdehnung auf den Be¬ griff des Häßlichen überhaupt erhellen. Das nur Formloſe oder Incorrecte ſowohl, als das nur Gemeine oder Widrige iſt deshalb noch keine Caricatur. Das Unſymmetriſche z. B. iſt noch keine Caricatur; es iſt die einfache Negation der Symmetrie. Allein eine Uebertreibung der Symmetrie, wo ſie ſchon gar nicht mehr hingehört, wird als Verzerrung der¬ ſelben zu einer Carikirung, zu einem Hinausgehen über das dem Begriff der Sache nach erforderliche Maaß des Symme¬ triſchen. Oder daß Jemand Sprichwörter in ſeine Rede ein¬

� [172/0194] miſcht, iſt noch nicht incorrect; wenn Jemand aber, wie Sancho Panſa, endlich nur noch in Sprichwörtern redet, ſo wird ein ſolches Aggregat von Sprichwörtern zu einer Verzerrung, in welcher die ſententiöſe Kraft des zu rechter Zeit angewendeten Sprichwortes durch Uebertreibung verloren geht. Eine gemeine Phyſiognomie iſt als ſolche noch keine Caricatur; wenn aber ein Geſicht ganz in einem ſeiner Theile aufzu¬ gehen, wenn es nur Unterkiefer, nur Naſe, Stirn u. ſ. w. zu ſein ſcheint, ſo entſteht eine Verzerrung; ein Menſch mit einer ſogenannten Pfundnaſe läßt uns nach den übrigen Theilen des Geſichts gleichſam ſuchen. Und ſo iſt auch das Widrige als ſolches noch keineswegs Caricatur. Wenn ein widriger Zuſtand einen Menſchen zwingt, ihm ſich willen¬ los zu ergeben, ſo vermag dies unſer innigſtes Mitleiden zu erregen, wie z. B. in der Epilepſie. Wenn wir aber in den Ekkleziazuſen des Ariſtophanes den Blepyros ſehen, wie er in der eilig aufgerafften Kleidung ſeiner Frau im Frühroth aus dem Hauſe tritt, ſeine Nothdurft zu ver¬ richten, ſo wird das Widrige zur Caricatur komödirt, indem Blepyros unbemerkt zu ſein glaubt (35).

Ein ſo großer Künſtler, wie Ariſtophanes, verbindet mit einem ſolchen Zug eine Ueberſchwänglichkeit feiner An¬ ſpielungen, ganz abgeſehen davon, daß er das frühe Auf¬ ſtehen des Blepyros durch den Drang des „Meiſters Kothios“, wie Voß überſetzt, ungezwungen motivirt. Worin liegt hier die Carikirung beſonders? Offenbar darin, daß die Frau des ehrſamen Athenienſiſchen Spie߬ bürgers, die Praxagora, in den Kleidern ihres Mannes ſchon auf den Markt zu einer Verſammlung der Weiber ge¬ gangen iſt und während Blepyros ſich mit der Verrichtung eines gemeinen Bedürfniſſes herumbalgt, dort eine andere

� [173/0195] Einrichtung des Gemeinweſens geſetzlich ordnen will. Die Männer, heißt dies, ſind nicht mehr Männer; die Weiber ſind hier die Männer. Daher erſcheint Blepyros auch mit dem halbgefütterten Mäntelchen ſeiner Frau und in ihren Perſerſchuhen; ſein Nachbar tritt zu ihm — und beide ehren¬ werthe Staatsbürger unterhalten ſich nun über die Noth¬ durft des Blepyros, dem plötzlich „eine Holzbirne den Nahrungsgang eingeſperrt hält.“ Geiſtreicher Geſprächs¬ ſtoff, den Ariſtophanes aber ſogleich ſatiriſch wendet, mit dieſer Scene nicht nur politiſche Anſpielungen verknüpfend, ſondern auch jene Dichter verſpottend, die in ihren Komödien dem Publicum durch ein Uebermaaß ſo greller Cynismen das Attiſche Salz, deſſen ſie entbehrten, erſetzen wollten.

Die Caricatur treibt ein Beſonderes über das Maaß hinaus, erzeugt dadurch ein Mißverhältniß und wird, indem ſie an ihr ideales Gegentheil erinnert, komiſch. Sie wird damit komiſch, denn an ſich iſt es nicht nothwendig, daß jede Caricatur komiſch wirke, da ſie nämlich als Verzerrung auch einfach häßlich oder fürchterlich ſein kann. Die gleich¬ mäßige Vergrößerung oder Verkleinerung über die normale Größe hinaus würde z. B. noch keine Caricatur hervor¬ bringen, weil bei ſolchem Hinausgehen über die Norm oder Zurückbleiben hinter derſelben doch die Einheit aller Verhält¬ niſſe bewahrt bleiben würde. Napoleons Statue auf der Vendomeſäule iſt coloſſal und muß es ſein, den Propor¬ tionen der umgebenden Häuſermaſſen und der Säule ſelber gemäß. Eine Nachbildung dieſer Statue aus Eiſenguß in Fingergröße, die wir auf unſern Schreibtiſch ſtellen, iſt keine Caricatur. So iſt ein Lappländer, der nur vier Fuß groß, aber vollkommen proportionirt iſt, ſo wenig eine Caricatur, als die Zwergbirke ſeiner Triften. Die Zwerggröße iſt die

� [174/0196] Normalgröße des Lappländers. Der Buſchmann hingegen, deſſen Kopf groß, deſſen Schenkel dünn, deſſen Beine faſt wadenlos ſind, ſtreift ſchon in's Affenartige und wird hiermit zu einer Caricatur der Menſchengeſtalt. Ein particuläres Moment in ſeiner einſeitigen Ueberwucherung bringt in der Geſtalt erſt diejenige Entzweiung hervor, die Caricatur zu heißen verdient, wenn wir auch, wie ſchon erinnert, geneigt ſind, alles Häßliche als eine Verzerrung des Schönen auf¬ zufaſſen. Wir ſtehen z. B. im gewöhnlichen Leben nicht an, etwa die Phorkyas eine Caricatur zu nennen, weil ſie, der ſchönen Helena gegenüber, uns die Häßlichkeit über¬ haupt, das äſthetiſch Böſe, repräſentirt. Im engern Sinn aber ſind dieſe zahnloſen Kiefern, dieſe Runzeln, dieſe fleiſch¬ loſen Arme, dieſer platte, welke Buſen, dieſe eilig langſame Geberde, nur einfach häßlich und faſt in's Grauenhafte hin¬ überſchwankend. Um Caricatur zu ſein, müßte an der Phor¬ kyas ein beſonderer Punct der Verbildung ins Abnorme tendiren, den man aber an ihr nicht findet, es wäre denn höchſtens ihre extreme, ſkelettartige Magerkeit; wie umge¬ kehrt uns auch die Rieſendamen der Jahrmärkte nicht durch ihre Größe, ſondern durch ihre unförmliche Dicke, als Zerr¬ geſtalten zu erſcheinen pflegen. Der Bruch in einer Geſtalt muß zur Carikirung die Unfreiheit zum Inhalt und die End¬ lichkeit zur Form haben, allein er muß zugleich den Schein der Freiheit beſitzen, denn ohne dieſen ſinkt die Erſcheinung theils in die bloße Gemeinheit, theils in die bloße Widrig¬ keit zurück. Je größer dieſer Schein der Freiheit wird, um ſo mehr wird die Caricatur komödiſch begeiſtet. Die Ueber¬ treibung des Charakteriſtiſchen, die Ueberladung mit dem Unmaaß, muß als ihre eigene That erſcheinen. Das Luſtſpiel liebt daher, den Widerſpruch der Meinung der Menſchen

� [175/0197] mit ihren wirklichen Eigenſchaften und Zuſtänden zu benutzen, weil ſie durch die Freiheit, welche ihnen die Unwiſſenheit über ihre wahre Erſcheinung verleihet, den Reiz des Lächer¬ lichen ſteigert. Ein Buckligter z. B. kann häßlich ſein; er kann aber ſich dennoch für ſchön halten; ja er kann, wie man dies von vielen Buckligten beobachtet haben will, kaum wiſſen, daß er buckligt iſt. Er macht alſo die Prätenſion der Schönheit, der normalen Geſtaltung und hiermit wird er erſt zu einer Caricatur und zwar zu einer komiſchen, denn nun fordert ſein Betragen ſelber uns auf, ihn mit ſeiner Normalform zu vergleichen.

Doch genug mit ſolchen vorläufigen Erläuterungen. Sie ſollen uns nur erkennen laſſen, daß der letzte Grund des Häßlichen als der Defiguration, als des Gemeinen und Widrigen, in der Unfreiheit liegt. Die Unfreiheit iſt nicht eine bloße Abweſenheit der Freiheit, ſondern poſitive Negation der wirklichen Freiheit. Wird nun aber die Unfreiheit und die aus ihr reſultirende äſthetiſch negative Form als ein Product der Freiheit geſetzt, ſo wird dadurch — ſcheinbar — die Unfreiheit aufgehoben. Genauer können wir dieſe ſchwie¬ rige Dialektik vielleicht ſo ausdrücken: das Gemeine, das Widrige, das Leere, ſind Producte der Freiheit, die in ſolchen Zuſtänden ſich ſelbſt als Unfreiheit hervorbringt; wenn aber dieſe Unfreiheit ihren Widerſpruch mit der wahren Freiheit vergißt, wenn ſie alſo in ſelbſtzufriedener Behag¬ lichkeit ſchwelgt, wenn ſie im Gemeinen, Widrigen, Leeren Genugthuung findet und in ihm die Exiſtenz des Ideals ignorirt, ſo erfüllt ſich die Erſcheinung dadurch formell mit Freiheit, und dieſe macht die Caricatur komiſch. Unfreiheit iſt denkbar, ohne weder gemein, noch widrig zu ſein. Epiktet als Sclav, Huß, Columbus, Galilei im

� [176/0198] Kerker, waren äußerlich in einem unfreien Zuſtand, der ſie aber nicht mit Gemeinheit befleckte. Ihre Situation, weil ſie innerlich der Freiheit treu blieben, erſcheint uns daher auch nicht gemein und widrig, ſondern traurig erhaben. Eben ſo iſt Aufhebung der wirklichen Unfreiheit möglich, ohne alle Verhäßlichung, im Gegentheil durch den Uebergang zur wirklichen Freiheit als Verſchönung. Die Freiheit aber, die wir hier zu beſchreiben verſuchen, iſt die Spontaneität der in ſich verſunkenen Unfreiheit. Dieſe freie Unfreiheit verabſolutirt das Charakteriſtiſche als eine endliche Seite der Individualität, entzweiet ſich dadurch mit dem Ideal, bleibt aber mit ihrer Scheinrealität verſöhnt und gewährt durch ſolchen Widerſpruch dem Anſchauenden Stoff zum Lachen.


A. Das Gemeine. Die wiſſenſchaftliche Darſtellung des Häßlichen darf niemals vergeſſen, daß ſie ihren logiſchen Leitfaden nur aus der poſitiven Idee des Schönen zu entnehmen vermag, weil das Häßliche nur an und aus dem Schönen als deſſen Ne¬ gation entſtehen kann. Es verhält ſich mit dem Begriff des Häßlichen hierin gerade ſo wie mit dem Begriff der Krank¬ heit oder des Böſen, deſſen Logik auch durch die Natur des Geſunden und des Guten gegeben iſt. Nun würde das Bedürfniß der Wiſſenſchaft, wie es ſcheint, am Gründlichſten durch die logiſche Präciſion gefördert werden, denn wer in der Erkenntniß etwas leiſten will, muß, wie Schiller ſagt, tief eindringen, ſcharf unterſcheiden, vielſeitig verbinden, und ſtandhaft beharren. Niemand wird dies leugnen. Allein der

� [177/0199] Schriftſteller wird den Begriff auch durch Beiſpiele erläutern müſſen, zumal auf einem Gebiete, das noch weniger ange¬ bauet iſt; erſt mit dem Beiſpiel wird er oft den Zweifel zerſtreuen, welcher ſeinen abſtracten Beſtimmungen ſich noch anheften kann. Mit dem Beiſpiel läuft er jedoch eine neue Gefahr, weil daſſelbe, als ein beſonderer Fall, die Allge¬ meinheit des Wahren beſchränkt und das Zufällige mit dem Nothwendigen zu vermiſchen drohet. Ein Schriftſteller, ſagt daher Schiller mit Recht (36), dem es um wiſſen¬ ſchaftliche Strenge zu thun iſt, wird ſich deswegen der Bei¬ ſpiele ſehr ungern und ſehr ſparſam bedienen. Dennoch werden wir in dem Verfolg dieſer Abhandlung gegen dieſe im Allgemeinen richtige Regel verſtoßen müſſen, weil wir es hier mit einem Gegenſtande zu thun haben, welcher der Anſchauung angehört und für deſſen abſtracte Begriffsbe¬ ſtimmung wir an dem Beiſpiel gleichſam die Probe ſeiner Wahrheit zu machen haben. Die Ungeduld der Menſchen, das Allgemeine auf ein Beſonderes anzuwenden, die Unge¬ übtheit der meiſten Leſer, in rein begrifflichen Beſtimmungen lange zu verweilen, wird den heutigen Schriftſteller, ſobald er für einen größeren Kreis, als den der bloßen Schule, darſtellen will, zu der Conceſſion zwingen, viel in Beiſpielen zu denken. Man darf nur an der Geſchichte eines Begriffs ſehen, wie ſehr ſich die traditionelle Bildung an ein Beiſpiel anhängt, um die außerordentliche Bedeutung eines ſolchen zu erkennen. Leſſing war gewiß ein Mann genauer, ſcharfer Begriffsbeſtimmung. Man beobachte aber auf unſerm Felde, wie unzählige Mal ihm nachgeſprochen worden, daß wir den Therſites zwar von Homer gedichtet uns vorſtellen, nicht aber gemalt würden anſchauen können; ein Gedanke, auf den Leſſing ſelber erſt durch den Grafen Caylus gerieth, der in


Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 12 � [178/0200] ſeinen Zeichnungen zum Homer den Therſites fortgelaſſen hatte. Schiller in ſeiner Abhandlung über den Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen in der Kunſt geht, den Leſſing¬ ſchen Fußtapfen folgend, ſchon weiter, indem er behauptet, den von Homer als Bettler vorgeſtellten Odyſſeus würden wir gemalt nicht ertragen können, weil mit einer ſolchen Anſchauung zu viel niedrige Nebenvorſtellungen verknüpft wären. Eine ganz grundloſe Meinung, an welche ſich die Malerei glücklicherweiſe niemals gekehrt hat.

Das wahrhaft Schöne iſt die glückliche Mitte zwiſchen dem Erhabenen und Gefälligen; die glückliche Mitte, die ſich nämlich mit der Unendlichkeit des Erhabenen und mit der Endlichkeit des Gefälligen gleichmäßig erfüllt. Das erhabene Schöne iſt eine Form des Schönen, die an und für ſich beſtimmt iſt. Kant hat in der Kritik der Urtheilskraft die Definition des Erhabenen ganz in's Subjective geſpielt, weil es nach ihm dasjenige ſein ſoll, was auch nur denken zu können eine Macht des Gemüths beweiſt, die alles Sinnliche über¬ ſteigt. Dieſe Theorie iſt dann nicht blos dahin ausgebildet worden, daß man, wie Schiller in jenem bekannten Diſti¬ chon, das Erhabene des unendlichen Raums leugnete, ſondern bis ſo weit, daß man, wie von Ruge und K. Fiſcher ge¬ ſchehen (37), der Natur das Erhabene überhaupt abſprach. Dies iſt ein Irrthum, denn die Natur iſt, unter Anderm, auch an ſich ſelbſt erhaben. Wir wiſſen ſehr wohl, wo das Erhabene in ihr exiſtirt; wir ſuchen es auf, es zu genießen; wir machen es zum Ziel beſchwerlicher Reiſen. Wenn wir auf dem ſchneebedeckten Gipfel des rauchenden Aetna ſtehen und nun Sicilien zwiſchen den Küſten Calabriens und Afrika's von den Wellen des Meeres umfluthet erblicken, ſo iſt das Erhabene dieſes Anblicks nicht unſere ſubjective That, viel¬

� [179/0201] mehr das objective Werk der Natur, das wir, bevor wir noch auf dem Gipfel angelangt waren, ſchon erwarteten. Oder wenn der Niagarafall mit zum Himmel dampfendem Giſcht über die bebende Felſenmauer meilenbreit hindonnert, ſo iſt er an ſich erhaben, mag ein Menſch Zeuge dieſes Schauſpiels ſein oder nicht. — Was aber das Sinnliche an¬ betrifft, ſo iſt daſſelbe nicht im Geringſten ein Gegengrund gegen das Erhabene. Weder die Natur, noch die Kunſt, können vom Sinnlichen abſtrahiren. Kant hat auch nur von der Macht des Gemüths geſprochen, die alles Sinnliche überſteigt; Spätere haben erſt das Sinnliche ganz aus dem Erhabenen eliminirt und daſſelbe ausſchließend in's Moraliſche und Religiöſe verlegt. Das Erhabene hat das Endliche, Sinnliche an ſich, indem es zugleich über daſſelbe hinaus¬ geht. Nicht wir nur denken das Unendliche, ſondern die Unendlichkeit realiſirt ſich und dieſe Anſchauung iſt es, die uns von den Schranken des Endlichen entlaſtet. Die Er¬ hebung unſeres Gemüthes wiederholt nur, was objectiv vor¬ handen iſt. Wenn wir vom eisgekrönten Aetna aus Himmel, Erde und Meer in ſo großen Verhältniſſen anſchauen, daß, was ſonſt ſchon die Schranke des Horizontes ausmacht, tief unter uns liegt, ſo befreiet uns dieſer makrokosmiſche Blick von aller ſubjectiven Engheit und erhebt uns zu den im Weltall waltenden Göttern, wie Hölderlin im Tod des Empedokles ſo herrlich geſchildert hat.

Man würde ſich für den Begriff des Erhabenen auch dadurch manches Mißverſtändniß erſpart haben, wenn man ſeine Unterſchiede beachtet und nicht einen derſelben mit dem allgemeinen Begriff oft identificirt hätte, denn das Erhabene iſt einmal diejenige Erſcheinung des Schönen, welche die Negation der Freiheit durch Aufhebung ihrer Schranken, ſei


12 * � [180/0202] es ideell, ſei es reell, ſo realiſirt, daß ihre Unendlichkeit uns Gegenſtand wird: die Größe; ſodann diejenige, welche die Unendlichkeit der Freiheit in der Macht des Schaffens oder Zerſtörens darſtellt; endlich die in der Größe ihrer Schöpfung oder Zerſtörung mit ruhiger Selbſtgewißheit in ſich verhar¬ rende Macht: die Majeſtät. In der Größe erhebt ſich die Freiheit über ihre Schranken; in der Macht enfaltet ſie po¬ ſitiv oder negativ die Stärke ihres Weſens; in der Majeſtät erſcheint ſie eben ſo groß als mächtig. Hieraus folgt, daß das Gemeine als die Negation des Erhabenen 1. diejenige Form des Häßlichen iſt, die eine Exiſtenz unter die Schranken herabſetzt, welche ihr zukommen: die Kleinlichkeit; 2. die¬ jenige Form, welche eine Exiſtenz hinter demjenigen Maaß von Kraft zurückbleiben läßt, das ihr nach ihrem Weſen einwohnen ſollte: die Schwächlichkeit; 3. diejenige, welche Beſchränktheit und Ohnmacht mit der Unterordnung der Freiheit unter die Unfreiheit vereinigt: die Niedrigkeit. Es ſtehen ſich alſo von Seiten des Erhabenen und Gemeinen als Wechſelbegriffe einander gegenüber das Große und das Kleinliche; das Mächtige und das Schwächliche; das Majeſtätiſche und das Niedrige; Gegenſätze, die in concreto nach ihren feineren Schattirungen noch mit vielen andern Namen bezeichnet werden.


I. Das Kleinliche. Größe (magnitudo) überhaupt iſt noch nicht erhaben; zwanzig Millionen Thaler ſind ein großes Vermögen, das zu beſitzen wahrſcheinlich recht angenehm iſt, allein etwas Erhabenes liegt gewiß nicht darin. So iſt denn auch Klein¬

� [181/0203] heit (parvitas) überhaupt noch nicht gemein. Ein Vermögen, das nur zehn Thaler enthält, iſt ſehr klein, aber es iſt immer ein Vermögen, in welchem nichts Verächtliches liegt. Ein Vaterunſer, das ſehr klein auf einem Kirſchkern ge¬ ſchrieben iſt, iſt deshalb nicht häßlich, es iſt eben nur ſehr klein geſchrieben. Die Kleinheit kann am rechten Ort und zu rechter Zeit äſthetiſch eben ſo nothwendig ſein, als die Größe. Auch die Ueberkleinheit kann wie die Uebergröße in einem gegebenen Falle ſich rechtfertigen. Das Kleinliche iſt aber der Begriff einer nichtſeinſollenden Kleinheit, nämlich derjenigen, welche eine Exiſtenz unter die ihr nothwendigen Schranken herabſetzt Das erhabene Große hebt durch ſeine Unendlichkeit die Schranken des Raums und der Zeit, des Lebens und des Willens, der Unterſchiede der Bildung und des Standes auf; es realiſirt darin die Freiheit. Das Klein¬ liche hingegen befeſtigt dieſe Schranken über die ihnen zu¬ kommende Nothwendigkeit hinaus; es wird mit ihrer Ver¬ abſolutirung die Verkehrung des Großen. Schiller ſagt, gemein ſei Alles, was nicht zum Geiſt ſpreche und woran man nur ein ſinnliches Intereſſe nehmen könne. Er hat mit dieſen Worten das Element der Unfreiheit andeuten wollen, durch welche ſich das Gemeine charakteriſirt. Die Kleinlich¬ keit iſt nur deshalb gemein, weil ſie die Freiheit einer Exiſtenz da ſchon beſchränkt, wo es noch gar nicht nothwendig wäre. Wir nennen z. B. einen Menſchen im Leben kleinlich, wenn er durch ein pedantiſches Feſthalten am Unweſentlichen das Weſentliche an ſeiner Verwirklichung hindert; ein ſolcher Menſch iſt gegen das Unweſentliche unfrei, kann ſich nicht darüber erheben.

Von der Natur läßt ſich, was ihre Einzelgebilde an¬ betrifft, die Kleinlichkeit nur ſelten und nur relativ ausſagen;

� [182/0204] in landſchaftlicher Beziehung jedoch wird dieſer Begriff für ſie nur zu häufig möglich. Es gibt Gegenden, denen der Stempel der Unfreiheit aufgedrückt iſt. Da ſind Felſen, die uns aber weder durch Maſſe noch Höhe imponiren; da iſt ein Waſſerfall, allein ſo ſeicht, daß er kaum hinreicht, eine Mühle zu treiben; da ſind Bäume und Büſche, aber klein und dünn geſäet; da ſind Thäler, aber eigentlich nur mul¬ denförmige Auswaſchungen zwiſchen beſcheidenen Hügeln; da ſchleicht ein Fluß vorbei und bildet ſogar eine Inſel, die aber nur eine kleine, ſchwachbegrünte Sandbank iſt — wie klein¬ lich iſt dies Alles!

In der Kunſt liegt die Kleinlichkeit entweder in dem Gegenſtande oder in der Behandlung; im Gegenſtande, wenn derſelbe durch die Nullität ſeines Inhalts der Darſtellung unwerth iſt; in der Behandlung, wenn dieſelbe ſich mit der breiten Ausführung von Nebenbeſtimmungen beſchäftigt und darüber das Hervorheben des Weſentlichen vergißt; oder wenn ſie ſogar das an ſich Große überhaupt, gegen ſeinen Begriff, klein nimmt. Der Gegenſtand der Kunſt ſollte nicht das Kleinliche ſein; d. h. nicht etwa, ſie ſolle nicht das Einfache darſtellen, wie es in manchen Zuſtänden vor¬ kommt. Durchaus nicht. Das Genre in der Malerei und die Idylle in der Poeſie zeigen uns, wie die Kunſt auch in der Hütte des Armen die Schönheit auszufinden weiß. George Sand hat in ihren neueren Erzählungen, in der Jeanne, in la mare au diable, in der petite Fadette Bauern des Berry geſchildert; die höchſte Einfachheit der Charaktere und Situationen und die größte Treue in der Nachbildung der Wirklichkeit hat ſie nicht gehindert, den ganzen Reichthum des menſchlichen Gemüths mit einer ſo bewundernswürdigen Tiefe darzulegen, daß man am Schluß einer ſolchen Er¬

� [183/0205] zählung ſich unwillkürlich fragt, ob man in der That nur von ſchlichten Bauern und zum Theil ſogar in der naiven Sprache derſelben geleſen habe. So ſehr iſt der, wie es ſcheint, gemeine Stoff durch die Behandlung geadelt worden. Eine Schaafhirtin, wie Jeanne, eine Bäuerin, wie Marie, eine Gänſehüterin, wie Fadette, erſcheinen uns, ohne Ver¬ künſtelung ihrer dörflichen Lage, durch die Reinheit ihrer Seele, durch die Hohheit ihres Geiſtes, wahrhaft groß. Wenn aber ein Dichter einen an ſich völlig indifferenten Stoff als ein Diminutivum ſich zum Gegenſtande macht, ſo wird er kleinlich und in weiterer Folge wohl gar widrig. In Rückert's Gedichten, 1836, Bd. II., S. 145., Nr. 38., finden wir z. B. folgende Verſe:

Geſtern hab' ich vom Nachtbeſuch beim Liebchen, (Welch' ein nagendes Liebesangedenken!) Ach, ein Flöhchen mit heimgetragen, das nun, Den jungfräulichen Aufenthalt vermiſſend, Hüpfend, wühlend, mich quält den ganzen Tag lang. Gegen Abend, auf meinem Sopha liegend, Da die Stunde gekommen, wo ich dachte Hinzugehen und das Flöhchen hinzutragen; Wie ich höre, daß draußen Regen praſſelt, Und ich ſage: nun ich kann heut nicht hingehn! Tobt das Thierchen an mir ganz ungeheuer.

Dergleichen kann man nur kleinlich finden. Ein Lieb¬ haber, der ein Flöhchen der Geliebten beſingt; ein Liebhaber, der ſich vom Regen abhalten läßt, zur Geliebten zu gehen; ein Liebhaber, der ſich mit ſeinem Affect recht bequem auf das Sopha hinſtreckt und nun die Kreuz- und Queerzüge des lieben Flöhchens beobachtet — iſt ungeheuer proſaiſch. — Es kann die Kleinlichkeit aber auch in der Behandlung liegen.

� [184/0206] In dieſen Fehler verfällt die Kunſt, wenn ſie ſich ſo ſehr in das Nebenſächliche vertieft, daß ſie dadurch von dem Weſent¬ lichen abgezogen wird. Sie räumt dann dem an ſich Unter¬ geordneten eine Breite ein, die ihm in ſeinem Verhältniß zur Hauptſache nicht zuſteht. In der Epik ſoll uns z. B. zwar auch das Local, die Kleidung, Bewaffnung u. dgl. vorgeſtellt werden. Geht ſie jedoch über den poetiſchen Zweck hinaus, beſchreibt ſie uns, wie in neueren Romanen geſchieht, Pflanzen mit wiſſenſchaftlicher Genauigkeit, wohl gar mit Hinzufügung des Lateiniſchen Namens; beſchreibt ſie uns Kleider mit der Sorgfalt eines Modejournals, Meubel und Hausrath mit techniſcher Accurateſſe, ſo wird eine ſolche Ausführlichkeit kleinlich und damit häßlich. Selbſt beſſere Schriftſteller, wie Balzac bei den Franzoſen, Max Waldau bei uns in der erſten Ausgabe ſeiner Romannovelle: „Nach der Natur“, kranken öfter an dieſem kleinlichen Zuge. Eben ſo kann die Poeſie nach der Innenſeite des Geiſtes hin kleinlich werden, wenn ſie das Gefühl zu weitläufigen Analyſen unter¬ wirft und die Vermittelungen des pſychologiſchen Pragma¬ tismus ohne objective Berechtigung in haarſpaltenden Unter¬ ſchieden entwickelt. Eine ſolche Behandlung iſt ganz dazu gemacht, ſelbſt der Anlage nach große Gefühle in der Sub¬ tilität der Zergliederung wegzuſchwemmen. Dies war der Fehler Richardſons in ſeiner Clariſſe und Pamela; dies der Fehler — man darf es ja wohl heut zu Tage ſagen, ohne anathematiſirt zu werden— der Fehler Rouſſeau's in ſeiner Neuen Heloiſe. Es kann die Kleinlichkeit der Behandlung aber auch darin liegen, daß ein an ſich großer Vorwurf von vorn herein zu klein genommen und in allen ſeinen Verhältniſſen gegen ſeinen Begriff verzwergt wird. Das Kleine, wie oben ſchon bemerkt worden, ἐυτοπῶς χαὶ

� [185/0207] ἑυχαιρῶς, rechtfertigt ſich ſelbſt. Denken wir uns aber einen großen Inhalt nicht blos nach einzelnen Seiten der Ausführung verkleinlicht, ſondern denken wir ihn uns von vorn herein zu klein gefaßt, ſo wird er nothwendig ebenfalls zu einer häßlichen Erſcheinung. Die Kleinheit der Formen, in denen er ſich darſtellt, widerſpricht alsdann der Größe ſeines Weſens. Soll z. B. eine Kirche gebauet werden, ſo ſollte ein ſolcher Bau den großen Zweck, dem er gewidmet iſt, unzweideutig ausſprechen. Er ſollte die Einheit einer Volksgemeinde ausdrücken und daher in ſeinen Mauern, Thüren, Fenſtern uns ſofort die Anſchauung geben, daß er ſchlechthin über das Privatleben hinausgehe. Erblicken wir ſtatt deſſen ein charakterloſes Gebäude, das ein Pferdeſtall, ein Gartenhaus, eine Reſſourçe ſein könnte, ſo iſt das, der im Begriff eines Tempels liegenden Erhabenheit gegenüber, kleinlich und deshalb gemein. Eine Kirche kann natürlich auch klein ſein; eine Capelle iſt ja nur eine kleine Kirche; allein ihr Styl muß edel ſein und die Größe ihrer Beſtim¬ mung in ſeiner Totalität ausdrücken. Unſere Zeit nennt ſolche Kirchen, die auch Fabrikgebäude, Bahnhofgebäude u. ſ. w. ſein könnten, Polkakirchen.

Daß das Kleinliche als Parodie der Größe, namentlich auch der falſchen Größe, komiſch gewendet werden könne, liegt auf der Hand, weil es durch ſeine Uebertreibung ſich dann ſelbſt vernichtet. So hat Gutzkow in ſeinem Blaſe¬ dow den Alten vortrefflich geſchildert, wie die Vorſtellung von zehn Thalern, die ihm fehlen, ſein ganzes Bewußtſein erfüllt und Alles ihn an die zehn Thaler erinnert, bis ſie von ſeiner Phantaſie zu einem Ungeheuer aufgeſchwellt ſind. Das Flöhchen in Rückerts Gedicht mußte uns als ein kleinlicher Gegenſtand erſcheinen; daſſelbe Thierchen als Gegen¬

� [186/0208] ſtand eines epiſch descriptiven Gedichts macht uns lachen, wie in jener Macaroniſchen Floïa, die mit den Worten beginnt:

Deiriculos canam, qui bene huppere possunt ꝛc.

In der Behandlung eines Gegenſtandes kann ein Humoriſt, Dickens Boz, unbedenklich auch die einzelnſten Details hervorziehen, wie in Kopperfield z. B. die weit¬ läuftigſte Beſchreibung des feierlichen Ceremoniels, mit wel¬ chem Maicawber Punſch bereitet; oder der Anſtrengungen, denen ſich die kleine Frau unterwirft, ihr Haushaltbuch zu ſchreiben u. ſ. w. uns nicht zu weitläufig iſt.

Ein an ſich großer Gegenſtand kann von vorn herein mit Bewußtſein klein genommen werden; er wird dann tra¬ veſtirt, wie der pius Aeneas in Blumauers Aeneide, oder er wird boshaft perſiflirt, wie die Begeiſterung der helden¬ müthigen Jeanne d'Arc in Voltaire's Pucelle d' Orléans (38) auf lauter kleinliche, ja ſchändliche Motive zurückge¬ führt wird.


II. Das Schwächliche. Das Kleinliche kann zugleich das Schwächliche ſein, ſo wie das Schwächliche in der Regel auch kleinlich ſein wird. Dennnoch iſt zwiſchen beiden ein Unterſchied. Das Kleinliche ſetzt eine Exiſtenz unter Schranken herunter, die ſie aufheben ſollte; das Schwächliche läßt die Kraft einer Exiſtenz hinter demjenigen Maaß zurückbleiben, das ihr, ihrem Weſen gemäß, einwohnen ſollte. Das Erhabene als das dynamiſch Erhabene äußert ſeine Unendlichkeit im Schaffen und Zerſtören. Sie erſcheint als Kraft, Gewalt und kann auch furchtbar und

� [187/0209] gräßlich werden. Das Schwächliche dagegen ſtellt ſeine Endlichkeit in der Ohnmacht des Hervorbringens, in der Paſſivität des Duldens und Leidens heraus.

Die Schwäche an ſich iſt noch nicht häßlich, ſo wenig, als die Kleinheit an ſich häßlich iſt. Sie wird es erſt, wenn ſie da erſcheint, wo die Kraft erwartet wird. Die Freiheit als die Seele aller wahren Schönheit manifeſtirt ihre Macht im Schaffen und Zerſtören oder im Widerſtand gegen eine Macht; die Schwäche zeigt ihre Unkraft in der Unfruchtbar¬ keit ihres Thuns, in der Nachgibigkeit gegen die Gewalt, in dem abſoluten Beſtimmtwerden. Eine ſchwächliche Phantaſie, ein ſchwächlicher Witz, ein ſchwächliches Colorit, ein ſchwäch¬ licher Ton, eine matte Diction, ſind etwas Anderes, als eine zarte Phantaſie, als ein feiner Witz, als ein ſanftes Colorit, als ein weicher Ton, als eine leichte Diction. Das dynamiſch Erhabene äußert ſeine Macht als eine abſolute, ihr Handeln von ſich anfangende. Die Selbſtbeſtimmung kann, was ihre reale Vermittlung betrifft, ein Schein ſein, äſthetiſch aber muß ſie als ſolche ſich darſtellen. Sehen wir, wie ein Krahn aus einem Schiffsraum eine große Laſt emporhebt, ſo finden wir darin nichts Erhabenes, weil der Anblick der Maſchine jeden Gedanken an irgend welche freie Bewegung entfernt. Wirft dagegen ein Vulcan Lavagüſſe, Steine, Aſchenregen aus ſeinem Innern heraus, ſo iſt dies ein er¬ habenes Schauſpiel, weil hier ein freier elementariſcher Proceß vorhanden iſt; die elaſtiſche Spannung der Dämpfe im Erd¬ innern wirkt auch mechaniſch, allein mit einer ſpontanen Gewalt. Nun wäre es ſehr ungeſchickt, zu folgern, daß eine Maſchine, weil ſie nicht den Eindruck des Erhabenen macht, den des Schwächlichen mit ſich führen müßte. Dies iſt nicht der Fall; ſie erſcheint auch in ihren größten Leiſtun¬

� [188/0210] gen nur deshalb nicht erhaben, weil ſie von einer andern Macht, von der Intelligenz und dem Willen des Menſchen, abhängig iſt, alſo nicht, wie der Begriff des Erhabenen es verlangt, ihren Urſprung und den Anfang ihrer Bewegung aus ſich nimmt. Der Geiſt dagegen, der eine ungeheure Naturkraft ſo bemeiſtern, der ihre Nothwendigkeit in ſolchem Grade ſeiner Freiheit unterwerfen kann, wird uns erhaben dünken. Er kann ſeinen Maſchinen den Schein der Selbſt¬ ſtändigkeit verleihen und dann wird es auf die nähern Um¬ ſtände ankommen, ob ſie nicht ſogar einen an das Erhabene grenzenden Eindruck hervorzubringen vermögen; an das Er¬ habene doch nur grenzenden, weil unſer Bewußtſein der Genauigkeit der mechaniſchen Berechnung die äſthetiſche Wir¬ kung zum Theil wieder aufhebt, wie wir empfinden, wenn ein großer Wagenzug auf der Eiſenbahn bei uns vorüber¬ ſauſt. — Das organiſche Leben wird erhaben erſcheinen können, wenn es ſeine Macht als Gewalt realiſirt. Un¬ mittelbar werden wir kein Thier erhaben zu nennen ver¬ mögen. Schauen wir aber den Adler, wie er die Schwingen entfaltet und nun über Wälder und Berge, ja über Wolken hinaus, mit ruhigem Flügelſchlage aufſchwebt; ſchauen wir den plumpen Elephanten, wie er mit den Säulen ſeiner Füße einen Tiger zerſtampft; oder den Löwen, wie er mit einem ſichern Rieſenſprung auf die Gazelle ſtürzt: ſo werden dieſe Thiere uns erhaben ſcheinen, weil ſie die ihnen in¬ wohnende Macht durch die Aeußerung derſelben als Gewalt in ihrer Unendlichkeit darſtellen. Für den Adler ſcheint keine Grenze des Fluges; für den Elephanten und Löwen keine Schranke am Widerſtand eines andern Thiers zu exiſtiren.

Der Geiſt wirkt erhaben, wenn er, der Nothwendigkeit der Natur, wie der Freiheit anderer Geiſter gegenüber, ſeine

� [189/0211] Freiheit als ſeine eigene Nothwendigkeit feſthält, auch dann noch, wenn er der Gewalt unterliegt. An die abſolute Macht der Freiheit reicht die Natur auch mit ihren furchtbarſten Schrecken nicht heran. Der Menſch kann von der Natur überwältigt, aber, wenn er im Untergang ſeine Würde be¬ wahrt, nicht beſiegt werden. Er erhält ſich gegen ſie in ſich frei; worin die Erhabenheit des ſtoiſchen Weiſen liegt, den die Trümmer des zuſammenbrechenden Univerſums unerſchrocken begraben würden. Man braucht ſich die Freiheit nicht als abſtracte Fühlloſigkeit vorzuſtellen; die Schranke des Lebens, die Herbheit des Schmerzes kann gefühlt und die Freiheit dennoch erhalten werden. Das Opfer wird erhabener, je härter die Nothwendigkeit iſt, deren Gewalt es durch ſeine Freiheit überwindet und je tiefer die Empfindung des Gegen¬ ſatzes gefühlt wird. Ein Curtius, der in den Schlund der Erde hinabſprengte, am lichten Tag, in voller Rüſtung, von ſeinen Mitbürgern umringt, konnte den ganzen Werth des Lebens innigſt fühlen — und doch ſtürzte er, die Natur zu bezwingen, in die finſtere Tiefe mit freiem Muth hinab. — Im Conflict der Freiheit mit der Freiheit wird die Erhaben¬ heit der Geſinnung auch hauptſächlich durch die Erhebung über den unvermeidlichen Schmerz des Gemüths erſcheinen — Nun werden wir in der relativen Schwäche kleiner Thiere, des Weibes, des Kranken, des Kindes, des Unerfahrenen und Ungeübten, da ſie eine ganz natürliche iſt, noch nichts Häßliches finden. Hört aber dieſe Unbefangenheit auf, macht eine Exiſtenz Anſpruch auf Kraft und genügt ihm nicht, ſo geht die Schwäche in eine Schwächlichkeit über, die häßlich wird, weil ſie einen Widerſpruch enthält. Hier zeigt ſich alſo eine wohl zu beachtende Grenzlinie. Tritt das Erhabene mit ſeiner abſoluten Gewalt auf, ſo kann gegen dieſelbe auch

� [190/0212] dasjenige relativ ſchwach erſcheinen, was außerdem wohl ſelbſt eine Macht iſt. Eine ſolche Schwäche iſt dann noch nicht Schwächlichkeit im negativen Sinn. Gegen die Uebel¬ macht der elementariſchen Natur z. B. wird alle Kraft des Lebens, alle Energie der Freiheit, wie groß ſie ſeien, ohn¬ mächtig. Die erbebende Erde, die anſtürmende Fluth, das entfeſſelte Feuer, ſind ſolche erbarmungloſe Gewalten. Die erzitternde, aufklaffende, Thiere, Menſchen, Städte ver¬ ſchlingende Erde iſt erhaben, in ihrer Rückſichtsloſigkeit aber gegen Alles, was, ihrem Schooß entſprungen, auf ihrem Rücken ſich des Daſeins erfreut hat, gräßlich erhaben. Das Lebendige in ſeiner Angſt, wie es flüchtet und in irrer Ver¬ zweiflung nach jedem Schatten der Rettung haſcht, erſcheint gegen ſie ohnmächtig; weil aber das Verhältniß ein incom¬ menſurables iſt, kann man es nicht der Schwächlichkeit zeihen. Wenn die Wogen des Meeres mit den größten Schiffen ſpielen, ihre Maſten zertrümmern, ſie gegen Felſen ſchleudern, ſo erſcheinen ſie furchtbar erhaben und die um¬ ſonſt nach Rettung ringenden Menſchen ohnmächtig; ſchwäch¬ lich aber nur, ſofern ſie einer ungemeſſenen Verzweiflung ſich hingeben würden. Eine Ueberſchwemmung, wie die Sündfluth, kann die Fruchtloſigkeit der Mühen des In¬ dividuums, aber zugleich ſeine Freiheit darſtellen, die ſich alsdann, auch ſterbend, der Gewalt überlegen zeigt. So hat Girodet in ſeinem berühmten Bilde im Louvre eine Scene aus der Sündfluth gemalt, die uns eine Familie noch im Untergang an der Pietät feſthaltend erblicken läßt. Der Mann hat den greiſen ſchon halbtodten Vater auf den Schultern hängend. Mit der Linken umklammert er einen dürren ſchon eingebrochenen Baumſtamm; mit der Rechten verſucht er ſein Weib aus den Wellen zu ziehen. Aber als

� [191/0213] Mutter will dies die Kinder nicht laſſen; das eine, ein Säugling, umſchlingt die Bruſt; das andere hängt ſich an die Haare der Mutter; ſchon hat dieſe den Fuß auf den Felsrand geſetzt, allein die Laſt iſt zu groß, der Aſt wird gänzlich brechen — und alle werden ihr Grab gemeinſam finden; noch im Tode wird die Familie Eines ſein. Das Thier kann in ſolchen Situationen nur den Inſtinct der Selbſterhaltung ohne jede andere Rückſicht walten laſſen, wie ein neuerer Deutſcher Maler uns z. B. einen Waldbrand gemalt hat. Mit nimmerſattem Rachen verzehrt das Feuer Sträucher und Bäume und ſcheucht die Thiere aus ihren Lagern auf; in dichten Schaaren mit geſträubtem Haar, mit ſchreckentflammtem Blick, mit lechzender Zunge, ſtürzen ſie hervor und ſcheinen ihre ſonſtige Natur vergeſſen zu haben, indem Bär und Büffel, Panther und Reh, Wolf und Schaaf, neben einander im großen Knäuel eine von der all¬ gemeinen Gefahr erzwungene Friedfertigkeit athmen. Im Entſetzen dieſer fliehenden Beſtien malt ſich die Wuth des hölliſchen Elementes.

Thiere im Kampf mit einander können nur dann er¬ haben werden, wenn ſie groß ſind. Ein kleines Thier kann ſehr ſtark und muthig ſein, allein ſeine Kraft kann nicht den Schein ſich aus ſich ſelbſt erzeugender und ſich in ſich er¬ neuernder Unendlichkeit gewinnen. Ein Hahnenkampf iſt nichts Erhabenes. Der Gegenkampf kleinerer und ſchwächerer Thiere gegen größere und ſtärkere eben ſo wenig. Die Maus unter den Tatzen der Katze, der Haſe in den Klauen des Geiers, die Taube unter den Zähnen des Marders zittern ihrem gewiſſen Untergange entgegen. Man kann ſie darin auch nicht häßlich nennen, denn der Kampf iſt ungleich. — Der Naturmacht gegenüber ſollte der Menſch ſeine Freiheit

� [192/0214] bewahren und ihr die Kraft ſeines Bewußtſeins und ſeines Willens entgegenſetzen. Unterliegt er ihr, indem er vor ihrer Gewalt erbangt, ſo erſcheint er ſchwach. Ob aber dieſe Schwäche ſchon häßlich zu nennen ſei, kommt auf die nähern Umſtände, auf den Grad ſeiner Furcht und auf die Form an, in welcher er ſie ausdrückt. Der Menſch, der das Raubthier mit einer Keule anzugreifen, der auf einem gehöhlten Baumſtamm die unwirthliche Woge zu durchmeſſen den Muth hat, erhebt uns eben ſo ſehr, als ein umgekehrtes Verhalten uns demüthigt. Der Feindſeligkeit der elemen¬ tariſchen Naturmacht gegenüber kann jedoch auch für den höchſten Heroismus aller Kampf vergeblich ſein; dann bleibt der Freiheit, ſich zu erhalten, nichts übrig, als im äußern Erliegen den unſterblichen, den ungebeugten Muth, innerlich zu bewahren.

Die Geſinnung, die auch im härteſten Leiden ſich gleich bleibt, iſt erhaben, wie die des Aeſchyleiſchen Prome¬ theus, wie die des Calderon'ſchen ſtandhaften Prinzen; die Schwäche, die ſich zwingen läßt, iſt häßlich, wofern ſie nicht lächerlich wird. So im Allgemeinen iſt dies wahr; im Beſondern aber erzeugt die Geſchichte eine unendliche Man¬ nigfaltigkeit von Verhältniſſen, in denen der Zwang oft die ſüßeſten, verführeriſchſten, ja von der Berufung auf heilige Pflichten unterſtützten Formen annimmt. Hier, im Gebiet der moraliſchen Colliſionen, werden Situationen möglich, wo die Schwäche durch perſönliche Liebenswürdigkeit ſich den Schein der Freiheit erhält, wo ſie durch Sophiſtik ſelbſt die Form der Kraft uſurpiren kann, wie dies das bekannte Thema ſo vieler Romane iſt. An der Liebenswürdigkeit ſolcher ſentimentalen Helden hat der Künſtler das Mittel, die Erſcheinung des Häßlichen zu mildern, ja, es intereſſant

� [193/0215] zu machen. Leichtſinn, Schwanken, Inconſequenz, Zaudern, Vergeſſenheit, unzeitige Nachgibigkeit, voreiliges Handeln, dürfen allerdings nicht als etwas hingeſtellt werden, das an ſich ſelber recht oder liebenswürdig wäre. Die Liebenswür¬ digkeit muß in den Geiſt, in die Phantaſie, in das perſön¬ liche Benehmen verlegt werden; die Schwächlichkeit des Willens muß durch die Beſchaffenheit des Temperaments, durch die Schwierigkeit der Verhältniſſe, durch die Möglich¬ keit, mit einem entſchiedenen Handeln nach andern Seiten hin Unrecht zu thun, entſchuldigt, ſie darf aber nicht gerecht¬ fertigt werden. Die Schönſeligkeit der moraliſchen Schwäche iſt immer dicht daran, in die Niedrigkeit zu verfallen, die zum wirklichen Verbrechen wird; es kommt, wie die Xenien ſagen, nur auf die Gelegenheit an. Sie wird ſophiſtiſch, ſich vor ſich ſelbſt als edel hinzuſtellen, aber in dieſer Sophiſterei wird ſie oft das Scheußlichſte hervorbringen helfen. Aus Bequem¬ lichkeit, aus Trägheit, aus Mangel an Muth, aus Eitelkeit, ſinkt ſie der Sache nach in das Gemeine herunter und erträgt eine Abhängigkeit von einem fremden Willen, den ſie vielleicht verabſcheut, den ſie aber aus anderweiten egoiſtiſchen Rück¬ ſichten anerkennt. Solche Erniedrigung verhüllt ſie ſich durch ein pſychologiſches Raiſonnement, durch Fiction von Krank¬ heit, durch Annahme eines grauſamen Schickſals, gegen deſſen Nothwendigkeit der Einzelne unvermögend ſei. Man muß aber unterſcheiden zwiſchen der Schwäche, wie ſie Gegenſtand der Darſtellung iſt, und zwiſchen der Schwächlichkeit, wie ſie ein Fehler der äſthetiſchen Behandlung wird. Die Schwäche darzuſtellen, muß erlaubt ſein. Die Werther, die Weis¬ lingen, die Brackenburg, die Fernando's, die Eduarde, wie Göthe ſie ſchildert; die Woldemar, wie Jacobi, die Roquairol, wie Jean Paul ſie malt; die Andr é und


Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 13 � [194/0216] Stenio, wie George Sand ſie gleichſam daguerrotypirt, haben auch ihr Recht zur Darſtellung. Aber etwas Anderes iſt es, wenn die Darſtellung ſelber ſchwächlich iſt, wenn alſo vorzüglich da, wo Kraft erwartet werden ſollte, unmächtige, ſchwache, matte Formen erſcheinen. Dies iſt ein entſchiedener Fehler, der zu derjenigen Auflöſung der äſthetiſchen Geſtalt führt, die wir früher als das Unduliſtiſche und Nebuliſtiſche kennen gelernt haben und die von einer jeden Kunſt nach der Eigenthümlichkeit ihres Elementes ſpecificirt wird.

Da Schwächlichkeit im negativen Sinn und Stärke einander entgegengeſetzt ſind, ſo kann es die Kunſt reizen, den Uebergang von der einen zur andern darzuſtellen. Dies mit pſychologiſcher Wahrheit zu thun, iſt eine ſehr ſchwere Aufgabe, die in der Regel nur großen Künſtlern wahrhaft gelingt. Iffland und Kotzebue, die dramatiſchen Ver¬ herrlicher der Schwäche, haben uns viele Scheinübergänge ge¬ geben. Byron hat merkwürdiger Weiſe Göthe zwei Dramen gewidmet, die zu ihrem Gegenſtande die Schwäche haben, den Sardanapal und den Irner. Im Sardanapal erhebt ſich eine an ſich edle, aber zu weiche, humane, aber zu nachſichtige Natur, von ſorglos heiterer Hingebung an den Genuß des Lebens Schritt um Schritt zur wahrhaft könig¬ lichen Würde, zum Heldenmuth, zur Tapferkeit, zur Er¬ habenheit des Opfertodes; ein Seelengemälde von ſo unver¬ gleichlicher Tiefe und Schönheit, daß es völlig räthſelhaft bleibt, warum keine Bühne uns daſſelbe vorführt. Im Irner hat der Dichter dagegen gezeigt, wie eine an ſich ebenfalls edle Natur durch ihre Schwäche bis zur Gemein¬ heit fortgeriſſen wird und nun das ganze übrige Leben an der ſchamvollen Erinnerung ihres Vergehens würgt. Irner, in großer Noth, ſtiehlt ſeinem ſchlummernden Todfeind hundert

� [195/0217] Ducaten. Vor ſich ſelbſt, vor ſeiner Frau, ſeinem Sohn, will er ſich damit rechtfertigen, daß er da nur geſtohlen habe, wo er ſeinen Todfeind hätte morden können. Schiller hat aber ſchon genugſam gezeigt, daß der Mord, weil er mehr Kraft erfordert, äſthetiſch höher ſteht, als der Diebſtahl. Irner würde ſchuldiger, und doch weniger gemein gehandelt haben, hätte er Stralenheim ermordet. Seine Schwäche hat ihn nur ſtehlen laſſen und die Sophiſterei, daß das Geld im Grunde ja ſein Eigenthum ſei, hält vor ſeinem Gewiſſen nicht aus. Sein Sohn Ulrich vollbringt, ohne Wiſſen des Vaters, den Mord. Als Irner dieſe entſetzliche Entdeckung macht, muß er vom Sohn als Vertheidigung die Doctrin der Schwäche vernehmen, die er ſelbſt ihn gelehrt habe:

Wer hat mir geſagt, die Gelegenheit entſchuldige manche Laſter? Die Leidenſchaft ſei unſere Natur? Auf Des Glückes Güter folgten die des Himmels? Wer wies mir ſeine Menſchlichkeit abhängig Nur von den Nerven? Wer nahm alle Macht mir, Mich zu vertheidgen, zu zeigen mich Im offnen Kampf, durch ſeine Schmach, die mich Vielleicht mit Baſtardſchaft gar ſtempelt, ihn mit Des Miſſethäters Brandmal? Er, der warm Zumal und ſchwach iſt, der zu Thaten reizt, die Er thun will und nicht wagt. Iſt es ſo ſeltſam, Daß ich vollbringe, was du denkſt?

Wie die Schwäche und Schwächlichkeit, ohne es zu ahnen, vielmehr im Wahn, recht gut zu ſein, in das Böſe übergeht, hat G. Sand meiſterhaft in der Fadette gezeigt. Fadette klärt Sylvain über ſich auf, wie er ſchwach, ſenti¬ mental, tyranniſch gegen ſeine Umgebung, ſophiſtiſch und


13 * � [196/0218] egoiſtiſch iſt; „la faiblesse engendre la fausseté et c'est pour cela, que vous êtes égoïste et ingrat.“ Sylvain be¬ greift ſich endlich und nun wird dieſer Mutterverzug, dieſer Stubenhocker, ein ganz anderer Menſch, der ſeine Liebe zur Fadette im Schlachtenlärm der Napoleoniſchen Kriege zu vergeſſen ſucht.

Am Häßlichſten muß die Schwächlichkeit offenbar er¬ ſcheinen, wenn ſie mit der Macht ſelber verbunden iſt. Die Macht ſollte ſich mit ihr nicht beſtecken; um ſo mehr degra¬ dirt ſie ſich, wenn ſie es dennoch thut. Für die Natur hat dies keinen Sinn, weil ihr der freie Wille fehlt. Wenn dem rieſigen Elephanten in der Nähe der winzigen Maus der Angſtſchweiß ausbricht, ſo iſt das keine Schwächlichkeit deſſelben, ſondern ein ganz richtiger Inſtinct, weil die Maus, kröche ſie in ſeinen Rüſſel, ihn mit ihrem Gekrabbel bis zur Tobſucht aufſtacheln würde. Fröhnt aber ein Fürſt, ein Held, ein hoher Prieſter, ſeinen Launen, ſeinen Schwächen, ſo fällt er damit in eine Gemeinheit, die mit ſeinem Weſen um ſo greller contraſtirt. Daß z. B. der König David den Urias verrätheriſch aus dem Wege räumt, deſſen Weib Bathſeba ungeſcheut genießen zu können, iſt zumal für einen König von der Tendenz ſeines Charakters eine Schwäche, in welcher er bis zur Gemeinheit und bis zum Verbrechen herunterſinkt. Wenn Meißners Weib des Urias ein mißrathenes Drama iſt, ſo liegt die eine Hälfte der Schuld an der Wahl des Stoffs.

Ins Komiſche ſchlägt das Schwächliche um, wenn daſſelbe ſich verkennt und ſich als Stärke gerirt. Jedoch wird dieſer Widerſpruch nur dann lächerlich, wenn der Inhalt der Schwäche die Forderungen der Tugend nicht zu empfindlich verletzt. Es werden daher intellektuelle Schwächen, Schwächen

� [197/0219] unſchädlicher Art, die mehr von der Natur oder von den Um¬ ſtänden abhängen, ſich dazu eignen, wie wir dies vorzüglich im Luſtſpiel ſehen. Wird die Entwicklung der Schwäche an die Fiction eines Schickſals angeknüpft, wird ſie dadurch mit dem Schein der Nothwendigkeit umgeben, ſo wird der komiſche Effect dadurch geſteigert. Ein glänzendes Meiſter¬ werk dieſer Komik wird ewig Diderot's Jacques le fataliste et son maître bleiben. Daß der Herr ohne den Diener nicht leben kann, iſt eine Schwäche, die Niemandem ſchadet; daß der Herr vor allen Dingen gern erzählen hört, iſt eine Schwäche, die Andern Gelegenheit gibt, ihr Erzählertalent zu entfalten; daß der Herr den Diener, der ihn offen be¬ herrſcht, von der Falſchheit ſeines Fatalismus überzeugen will, iſt eine Schwäche, die liebenswürdig iſt. Mit welch unvergleichlichem Humor weiß Diderot den Fatalismus des Jacques ins Spiel zu ſetzen. Alles geſchieht, parceque c'étoit écrit là en-haut, sur le grand rouleau. Diderot wäre aber nicht Diderot geweſen, wenn er nicht an die Plaudereien des Dieners und der Wirthin, an den Fatalismus des Dieners und an die Kritik des Herrn, die tiefſten Probleme des menſchlichen Daſeins anzuknüpfen gewußt hätte. Man irrt ſehr, wenn man nach gewiſſen landläufigen Schilde¬ rungen meint, daß Jacques nur eine frivole Tendenz habe (39). Sein Grundtext iſt vielmehr die Idee des Schick¬ ſals, was Diderot durch das Prädicat fataliſtiſch auch ſelber angedeutet hat.


III. Das Niedrige. Das Erhabene in ſeiner Schrankenloſigkeit iſt groß; in der widerſtandloſen Aeußerung ſeiner Macht gewaltig; in der

� [198/0220] unbedingten Selbſtbeſtimmung ſeiner Unendlichkeit majeſtätiſch. Die Majeſtät vereint die abſolute Größe mit der abſoluten Macht. Der Gegenſatz des erhaben Großen iſt das Klein¬ liche, welches unter die ſeinem Weſen nothwendigen Schranken heruntergeht; der Gegenſatz des erhaben Mächtigen das Schwächliche, welches hinter dem ihm möglichen Maaß von Kraft zurückbleibt; der Gegenſatz des Majeſtätiſchen iſt das Niedrige, welches in ſeiner Selbſtbeſtimmung von zufälligen und beſchränkten, von kleinlichen und egoiſtiſchen Motiven beſtimmt wird. Niedrig iſt allerdings ein Ausdruck, der auch relativ iſt; wird er aber nicht comparativ, ſondern poſitiv gebraucht, ſo bezeichnet er das Unvollkommene, Ge¬ ringe, Gemeine ſchlechthin. Es hat ſich im Deutſchen der Uſus gebildet, daß man niedrig und nieder unterſcheidet, indem man unter erſterem das Gemeine, unter dem zweiten das Einfache, Schlichte, Untere, verſteht. Eine niedrige Geſinnung, eine niedrige Behandlung, ein niedriger Streich u. ſ. w.; dagegen ein niederes Dach, eine niedere Hütte, ein niedrer Stand u. ſ. w. Vordem ſagte man nur niedrig überhaupt. Das Majeſtätiſche iſt in ſeiner ruhigen Größe einzig und in ſeinem Handeln, als nicht von Außen und nicht durch den Zufall beſtimmbar, abſolut ſicher. Es kann daher zwar, ſofern es als ein beſonderes Daſein der Welt der Erſcheinungen angehört, Seiten haben, welche dem An¬ griff von Außen her preisgegeben ſind, es kann leiden, es kann den Schmerz fühlen, aber innerlich wird es ſich in der Gleichheit mit ſich erhalten und im Untergang deſſen, was an ſeiner Exiſtenz vergänglich iſt, ſeiner Unendlichkeit gewiß bleiben. Hieraus erklärt ſich der ſcheinbare Widerſpruch, weshalb die Majeſtät gerade im Leiden ihre Größe und Macht am Herrlichſten zu offenbaren vermöge. Die Niedrigkeit

� [199/0221] hingegen wird: 1. unmittelbar das Alltägliche, Gewöhnliche, Triviale ſein; 2. relativ das Wechſelnde und Haltloſe, das Zufällige und Willkürliche; 3. die Rohheit als die Erniedri¬ gung der Freiheit unter eine ihr fremde Nothwendigkeit oder gar als das Hervorbringen einer ſolchen Erniedrigung. Alle dieſe Begriffe werden auch mit vielen andern Synonymen bezeichnet, wie wir auch das Majeſtätiſche nach ſeiner gra¬ duellen Verſchiedenheit mit noch andern Namen edel, hoch, vornehm, imponirend, grandios u. ſ. w. benennen.

a) Das Gewöhnliche. Das Gewöhnliche, ſofern es die empiriſche Exiſtenz des Allgemeinen ausmacht, iſt deshalb noch nicht häßlich; dies Prädicat kann ihm erſt relativ zukommen; es wird unter gewiſſen Bedingungen häßlich. Das majeſtätiſch Erhabene iſt in ſeiner Erſcheinung inſofern einzig, als es eine ganze Welt in ſich zuſammennimmt, denn einzig in dem Sinn, empiriſch nicht ihres Gleichen zu haben, iſt am Ende nach dem Leibnitziſchen principium indiscernibilium jede Exiſtenz, auch die gewöhnlichſte. Die Majeſtät aber iſt andern Er¬ ſcheinungen nicht blos überhaupt empiriſch ungleich, ſondern ſie iſt einzig als ohne Vergleich innerhalb einer gegebenen Sphäre. Man ſtelle ſich eine Bergkette vor, ſo kann die¬ ſelbe ſchon durch ihre Größe erhaben ſein. Nun ſoll aber aus ihrem Kamm hervor Ein Berg noch weit in den Aether ſein Haupt erheben, ſo wird derſelbe nicht nur erhaben über¬ haupt, ſondern majeſtätiſch erhaben erſcheinen, weil er der ungeheuren Maſſe gleichſam einen perſönlichen Ausdruck ver¬ leihen wird. So ſtrahlt das Licht des Mondes unter den Sternen als ein einziges in ſanfter Majeſtät u. ſ. f. Dies ſind Beiſpiele aus dem Gebiet des Raumes; aber auch die

� [200/0222] Zeit kann an dem Räumlichen majeſtätiſch erſcheinen, wenn uns daſſelbe die unendliche Reihe der Jahre, die es als ein Entſtandenes beſteht, unmittelbar vergegenwärtigt. Das Entſtehen iſt auch ein Vergehen. Ein Entſtandenes, das in der Flucht der Zeiten ſich gleich bleibt, gewinnt da¬ durch den Anſchein der Ewigkeit, aus deren Unendlichkeit heraus der Strom der Zeit entſpringt. Im Steppenlande morgenwärts vom todten Meere hängen die Felſenthore, durch welche die Moabiterkönige von Baſan vor viertauſend Jahren aus- und einzogen, noch in denſelben Angeln. Jetzt ſind es nur ärmliche Ziegenhirten, die ſie paſſiren, aber die Thore ſind die nämlichen. Es verſteht ſich, daß der Gegen¬ ſtand, erhaben zu wirken, groß und mächtig ſein muß; die Dauer allein würde ihn nicht erhaben machen, auch wenn er Jahrtauſende unverändert exiſtirte, wie z. B. im neuen Berliner Muſeum ein Ziegel von denen gezeigt wird, welche die Juden in Aegypten ſtreichen mußten. Ein Ziegel wird auch durch Ewigkeiten nicht erhaben. In der Geſchichte ſind Perſonen, Thaten, Begebenheiten voller Majeſtät, wenn ſie poſitiv einzig ſind und eine Gattung, eine ganze Welt in ſich concentriren. Ein Moſes, ein Alexander, ein So¬ krates ſind majeſtätiſch erhabene Perſönlichkeiten, weil ſie im poſitiven Sinn einzig ſind. Daß Sokrates nicht floh, daß er nicht durch rhetoriſche Kunſt die Richter zu beſtechen ſuchte, daß er den Tod im Kerker mit heiterem Ernſt erwartete, — was Alles nämlich Menſchen gewöhnlichen Schlages nicht würden gethan haben, — gibt ihm den majeſtätiſchen Nimbus. So iſt der Brand von Moskau eine furchtbar majeſtätiſche Begebenheit, weil der Widerſtand der Ruſſen in dieſem erhabenen Brandopfer ſich auf eine welthiſtoriſch einzige Weiſe concentrirte. Drücken Perſonen

� [201/0223] und Thaten nicht ſolche von der Idee affirmativ getragene Einzigkeit aus, ſo ſind ſie auch nicht majeſtätiſch; eine Einzigkeit, welche durch ihre Negativität ſich auszeichnet, kann auf das Prädicat des Majeſtätiſchen keinen Anſpruch machen; ſie wird im Gegentheil ins Häßliche fallen. Ein Commodus, ein Heliogabalus, Herrn der Welt, ſind mo¬ raliſche Abnormitäten, welche die Majeſtät, je mehr ſie die¬ ſelbe mit ihrem knabenhaften Wahnſinn in launiſcher Tyrannei geltend machen wollten, nur um ſo mehr verzerrten; ſie ſind einzig in dieſer Verzerrung, aber dieſe Einzigkeit iſt die traurige der coloſſalen Ausſchweifung verrückten Eigendünkels. Heroſtrat, als er die Fackel in den Tempel der Epheſiniſchen Artemis warf, hat ſeinen Zweck erreicht, aber dieſe nichts¬ würdige Handlung iſt in ihrer frivolen Einzigkeit das Ge¬ gentheil aller Majeſtät. Die wahrhafte Majeſtät wird natürlich ihrem Afterbilde gegenüber um ſo einziger erſcheinen, wie Chriſtus, dem elend neugierigen König Herodes gegen¬ über, die Unendlichkeit ſeiner Majeſtät in vernichtendes Schweigen hüllte. Herodes, ein König, fragt einen ge¬ fangenen, verurtheilten Juden — und dieſer würdigt ihn keiner Antwort; dem entſittlichten Schattenkönige öffnen dieſe ſonſt ſo freundlichen, liebeathmenden Lippen ſich nicht; dies Schweigen — welch eine furchtbare Majeſtät!

Das Gewöhnliche iſt, wie geſagt, keineswegs auch ſchon das Häßliche. Niemand kann in ſeinem Begriff dieſe Nothwendigkeit nachweiſen und es kann ſogar, wenn auch nicht ſchön, doch hübſch ſein. Allein als das, was in vielen Exemplaren vorhanden iſt, was nach keiner Seite hin her¬ vorſticht, erſcheint es äſthetiſch bedeutungslos. Es fehlt ihm an charakteriſtiſcher Individualiſirung. Das Schöne ſoll uns allerdings die allgemeine Wahrheit der Dinge darſtellen,

� [202/0224] allein es ſoll dies in der Form individueller Freiheit thun, welche die Nothwendigkeit des Allgemeinen in ihrer Eigen¬ thümlichkeit vereinzigt. Das Gewöhnliche, Alltägliche, wird durch ſeinen Mangel an Unterſcheidung nichtsſagend, lang¬ weilig, gemein und geht damit in die Häßlichkeit über. Man mißverſtehe dies nicht. Nicht das Schöne wird unſchön, das iſt unmöglich, aber die Häufigkeit der Wiederholung, die Breite einer maſſenhaften Exiſtenz, läßt es gleichgültig werden, weil ein anderes Exemplar als eine bloße Tautologie ohne den Reiz der Neuheit iſt. In den Motiven wird jede Kunſt ſich innerhalb eines gewiſſen Kreislaufs bewegen müſſen. Sie hat inſofern eine Grenze der Erfindung. Aber dieſe im Begriff der Sache liegende Wiederholung iſt kein Vorwurf für die Kunſt; es kommt darauf an, daß ſie die an ſich immer gleichen Motive durch die Individualiſirung, uns neu erſcheinen laſſe. Man erinnere ſich z. B. daß man alle tragiſchen Colliſionen ausgerechnet hat; mehr als acht und zwanzig ſind nach Benjamin Conſtant nicht möglich; dieſe werden alſo, wie der Dichter es auch anfangen möge, ſich immer wieder darbieten; er hat an ihnen eine ethiſche Schranke ſeiner Production, allein er muß es verſtehen, dieſe unvermeidliche Gleichheit des Inhalts ſo zu behandeln, daß der von ihm gewählte, doch als ein neuer, einziger Fall erſcheint. Die bloße Wiederholung mit einer oberflächlichen, nur formellen Differenz genügt uns nicht. Die Unmöglich¬ lichkeit, die Idee ſelber und ihre Nothwendigkeit zu verändern, begreifen wir; für die Erſcheinung aber fordern wir mit Recht, daß der Künſtler ſie uns in einer wieder andern, überraſchenden Weiſe darſtelle. Wenn man aus Werken, wie die von Valentin Schmidt über die romantiſche Poeſie, von Dunlop's history of the fiction, von v. d. Hagen

� [203/0225] über die kleinen Erzählungen des Mittelalters, von Wolf über die Geſchichte des Romans und ähnlichen die Einſicht gewinnt, daß gewiſſe Stoffe durch verſchiedene Völker, Zeitalter, Sprachen hindurch immer dieſelben bleiben, ſo kann uns die Phantaſie der Dichter ſehr arm vorkommen; allein dies iſt ein Irrthum, denn die Fruchtbarkeit und die Schöpferkraft der Phantaſie zeigt ſich vielmehr darin, daß ſie innerhalb der von der Natur des Stoffs bedingten Schranken eine ſo große Mannigfaltigkeit der Ausführung zu gewinnen weiß. Nehmen wir z. B. ein Verhältniß, wie das von Herr und Diener, ſo liegen in demſelben ſofort beſtimmte Grenzen, beſtimmte Motive. Herr und Diener machen einen großen Theil des Stoffs des antiken Luſtſpiels aus. Herr und Diener, das iſt das formale Thema des Don Quirote von Cervantes, des Jacques von Diderot, der Pickwickier von Boz u. ſ. w. Aber ſo verſchieden bei dieſen Dichtern die Herren ſind, ein Don Quixote, der Maître und Herr Pickwick, ſo verſchieden ſind auch die Diener Sancho, Jacques, Samweller. In dieſer Verſchiedenheit bleibt die Gleichheit der Motive, weil ſie von der allgemeinen Situation unzertrennlich iſt. Die Herren wie die Diener beſitzen daher eine gewiſſe Familienähnlichkeit; allein inner¬ halb derſelben gehen ſie durch ihre Individualität wieder aus¬ einander und hierin liegt die Originalität der ſchaffenden Phantaſie. Diderot's Maitre, wie er nach der Uhr ſieht, eine Priſe nimmt und Jacques wieder einen Anſtoß gibt, die Geſchichte ſeiner Liebſchaften fortzuerzählen, iſt eine einzige Figur, die zwar als Gattung, aber nicht individuell weder mit Don Quixote noch mit Herrn Picknick etwas gemein hat, ſo wenig als dieſe mit ihr. Die Nachahmung als bloße Co¬ pirung, als formelle, müßige Wiederholung, wohl gar als

� [204/0226] Plagiat, ärgert uns und wir rufen ihr mit dem Rabbi Akhiba in Gutzkows Uriel Acoſta verdrießlich zu: Alles ſchon da¬ geweſen! Wir können die erlaubte Identität der Motive von der nichtſeinſollenden Gleichheit der Behandlung dadurch unterſcheiden, daß wir die Letztere als den Gemeinplatz be¬ zeichnen. Alle Künſte haben ihre Gemeinplätze; alle Epochen haben die ihrigen. Der Gemeinplatz iſt die ſchon als ſolche bekannte, erkannte und geſtempelte Trivialität. Das Ge¬ meinplätzliche iſt einſt auch neu und intereſſant geweſen; aber in der Häufigkeit der Wiederholung iſt es verbraucht, entgeiſtet. Es wird daher, ſobald es mit der Prätenſion der Neuheit auftritt, lächerlich. In der Poeſie muß man es jedoch nicht zum Gemeinplatz rechnen, wenn zum Stoff ihrer Bilder immer wieder die großen Naturgegenſtände, Sonne, Meer, Berg, Wald, Blume u. ſ. w. oder die Griechiſchen Mythen genommen werden. Beide ſind einmal ewige Symbole ge¬ worden, in denen die gebildete Menſchheit ſich allverſtändlich ausdrückt. Wie die Natur und die Götter immer wieder ſchön und unergründlich ſind, ſo auch kann jener Bilderſtoff immer wieder anders gewendet und verjüngt werden. Haben nicht Schiller und Hölderlin die Griechiſche Mythe mit univerſellem Geiſte fortgedichtet und romantiſch beſeelt?

Wenn Leſſing dem Gewöhnlichan das Ungewöhnliche entgegengeſetzt hat, ſo kann man dagegen zunächſt nichts er¬ innern, denn dieſe Unterſcheidung iſt nur erſt ein limitatives Urtheil. Wenn er nun aber das Gewöhnliche für das Natür¬ liche erklärt, ſo würde folgen, daß das Ungewöhnliche nicht natürlich ſein dürfte. „Wenn der Dichter nichts auf das Theater bringt, als was er in der einfachen Natur findet, ſo wird er ſeinen Zuſchauern nichts zu ſehen und zu hören geben, als was man alle Tage ſieht und hört. Wer beſucht

� [205/0227] aber deswegen den Schauplatz, damit er das daſelbſt an¬ treffe, was er außer demſelben mehr als zu häufig findet? Er muß alſo ungewöhnliche Züge in ſeine Charaktere ein¬ miſchen, wenn er die Aufmerkſamkeit der Zuſchauer auf ſich ziehen will. Was iſt aber das Ungewöhnliche anders, als eine Abweichung von dem Natürlichen?“ Abweichung von dem Natürlichen ſoll hier das Ungewöhnliche charakteriſiren. Conſequent langt man mit ihr bei der Zauberei und beim Wunder, oder auch bei der Künſtelei und dem Widernatür¬ lichen an, denn dies ſind doch wohl die ſtärkſten Abweichungen vom Natürlichen. Allein ſo hat Leſſing es nicht gemeint, ſondern, wie der Zuſammenhang zeigt, hat er nur ſagen wollen, daß die Kunſt noch nicht Kunſt ſei, wenn ſie die gemeine Wirklichkeit abſchreibe, gegen welche gehalten alle Poeſie, alle Kunſt ſelber das Ungewöhnliche iſt. Auch ver¬ wechsle man nicht die Gewöhnlichkeit mit der Verviel¬ fältigung. Das Schöne als ſolches kann durch ſeine Ver¬ vielfältigung nicht alterirt werden, weil es in ſich unendlich iſt; wie wir nicht müde werden, das Blau des Himmels, das Grün der Erde, die Blüthen des Frühlings, den Geſang der Nachtigall mit immer friſcher Dankbarkeit zu genießen. An der theatraliſchen Erneuung der Sophokleïſchen Antigone haben wir in unſern Tagen ein recht merkwürdiges Beiſpiel der unſterblichen Kraft erlebt, welche dem wahrhaft Schönen unalternd einwohnt. Es iſt eine der wichtigſten Seiten der modernen Technik, daß ihre Vervollkommnung Werke der bildenden Kunſt in immer wohlfeilern und doch treuen Ver¬ vielfältigungen möglich und damit den Genuß derſelben immer allgemeiner macht. Solche Vervielfältigung iſt etwas Anderes, als die ſchaale Reproduction typiſcher Vorbilder in der erfin¬ dungsloſen Nachahmung der unproduktiven Schwäche. Welche

� [206/0228] Gewöhnlichkeit in den Minneliedern des Mittelalters, die Schiller zu dem Sarkasmus veranlaßte, daß in ihnen nichts enthalten ſei, als der Frühling, der komme, der Winter, welcher gehe, und die Langeweile, welche bleibe; wenn die Sperlinge, meinte er, einen Muſenalmanach ſchreiben könnten, würde ungefähr daſſelbe herauskommen. So ſind tauſende von Sonetten der Petrarchiſten, Hunderte von Tyrannen¬ tragödien der ältern Franzöſiſchen Bühne, ſo die Fabrikwaare unſerer Kindermährchenalbernheiten, ſo das Heer unſerer Ent¬ ſagungsromane, ſo in der jetzigen Deutſchen Malerei das zahl¬ reiche Geſchlecht der trauernden Königspaare, Juden, Mütter, (Hauſer's Bethlehemitiſcher Kindermord) (40), Toggen¬ burge u. ſ. w. zu Gewöhnlichkeiten geworden. Die Nach¬ ahmer halten ſich oft für claſſiſche Künſtler, weil ſie nämlich auf ein Haar daſſelbe hervorzubringen ſcheinen, was aner¬ kannte Auctoritäten auch producirt haben. Allein eben die außerordentliche Aehnlichkeit mit ihren Vorbildern iſt das Langweilige an ihnen, was das Publicum, das ſie ungerecht ſchelten, von ihren Werken entfernt. Hätten ſie daſſelbe, was ſie bieten, als ein Neues aus ſich hervorgebracht, ſo würden ſie mit Recht Anſpruch auf Beifall machen können; nunmehr aber dürfen ſie uns nicht verargen, wenn wir ihre hübſch gemeißelten, bunt colorirten, richtig contrapunctirten, nett ſtyliſirten Werke trivial finden. Ein ächter Künſtler, der dem Ideal mit heiligem Ernſt nachſtrebt, wird freilich auch Eine Idee in immer andern Wendungen darſtellen. Weil er jedoch darin dem Ideal immer näher zu kommen ſucht, ſo wird er uns doch nicht ermüden. Jede ſeiner Schöpfungen wird ſein Urbild nach einer neuen Seite hin offenbaren. Für Petrarcha waren die Sonette und Can¬ zonen, in denen er ſeine Leidenſchaft für Laura nach allen

� [207/0229] Höhen und Tiefen ſchilderte, ſo wenig ſchlechte Tautologieen, als für Raphael ſeine Madonnen, als für Byron ſeine düſtern Helden, als für Lyſippus ſeine Bildſäulen des gött¬ lichen Alexander u. ſ. w. Die Mittelmäßigkeit oder gar die völlige Ohnmacht wiederholt das ſchon Geſchaffene ohne Fort¬ ſchritt, ohne productive Vertiefung und entgeiſtert uns durch ihre von ihr ſelbſt unerkannte Gewöhnlichkeit eben ſo ſehr, als das wahre Genie uns durch die einfache Urſprünglichkeit ſeiner Compoſitionen begeiſtert.

Hat die Mittelmäßigkeit eine wiewohl uneingeſtandene Ahnung von der Gewöhnlichkeit ihrer Leiſtungen, ſo ſchmückt ſie dieſelben wohl, um die Plattheit zu verbergen, mit hete¬ rogenen Reizmitteln. Der Erfolg ihrer Anwendung wird jedoch nur ſein, die Flachheit der Conception, die Armuth der Ausführung, um ſo fühlbarer zu machen. Heut zu Tage betrügen ſich Dichterlinge vorzüglich mit dem gefährlichen Lobe, das ihnen wohl gezollt wird, geiſtreich zu ſein. Wirklicher Reichthum des Geiſtes, gewonnen aus der Weite vielſeitiger Erfahrung, aus der Tiefe gewaltiger Kämpfe, wie ſelten iſt er nicht! Wie gewöhnlich dagegen iſt jenes Halbgemiſch von Anſchauung und Reflexion, von Poeſie und Philoſophie geworden, deſſen verworrene Buntheit man heut zu Tage geiſtreich zu nennen beliebt. Die Impotenz hat jetzt an der dialektiſchen Reflexion das Mittel, den Schein des ſchöpferiſchen Producirens einen Augenblick hindurch vorzutäuſchen.

Daß das Gewöhnliche ſich ſelbſt richtet, indem es durch ſeine Uebertreibung komiſch wird, erhellt ſchon aus dem Ge¬ ſagten. Allein von der Komik, welcher es objectiv und un¬ willkürlich verfällt, iſt diejenige Komik zu unterſcheiden, welche die Leerheit des Gewöhnlichen mit Bewußtſein parodirt. Wenn

� [208/0230] das Gewöhnliche die Nullität ſeines Inhalts durch den Bom¬ baſt eines falſchen Pathos auszuſpreizen bemühet iſt, ſo iſt das eine unbeabſichtigte Lächerlichkeit. Unſer Lachen über das Häßliche bedeutet in dieſem Fall ſeine Verurtheilung. Wird aber das dem Inhalt nach Gewöhnliche in der Form der Erhabenheit, oder umgekehrt das dem ſeinſollenden Inhalt nach Erhabene in der Form der Gewöhnlichkeit vorgeführt, ſo entſteht beidemal eine komiſche Wirkung. Das Erſtere iſt der Fall in der Traveſtie, wie wenn die Fröſche in der Batrachomyomachie die Sprache der Homeriſchen Helden reden; das Zweite iſt der Fall in der Parodie, wie wenn die Idee des Schickſals als einer an ſich erhabenen Macht auf einen futilen Gegegenſtand gewendet wird. So perſiflirte Natalis mit ſeinem Strickſtrumpfdrama, ſo Platen mit ſeiner Gabel die Verirrungen unſerer fataliſtiſchen Schule; ſo perſiflirte Baggeſen den Schwulſt, in welchen das geiſtliche Epos bei uns verfallen war, mit ſeinem Adam und Eva. Die erſten Menſchen ſind gewiß ein naiv erhabener Gegenſtand. Theologie ſtudiren und Franzöſiſch lernen ſind gewiß ſehr gewöhnliche Beſchäftigungen der heutigen Welt. Baggeſen läßt nun Adam bis zwölf Uhr Theologie ſtudiren. Eva ſpaziert unterdeſſen im Paradieſesgarten umher, wo die Thiere ihr ſehr artig den Hof machen und ihr ſchmeichelnd den niedlichen Fuß lecken. Vorzüglich fein benimmt ſich die buntſchillernde Schlange. Sie macht ſich für Eva höchſt intereſſant dadurch, daß ſie Franzöſiſch ſprechen kann und viel von Paris zu erzählen weiß. Adam, mit welchem Eva gut bürgerlich um zwölf Uhr zu Mittag ſpeiſt, hat längere Zeit keine Ahnung von dieſer gefährlichen Bekanntſchaft, bis er ſie auf einer gemeinſchaftlichen Promenade mit ſeiner Frau zufällig entdeckt u. ſ. w. Dieſe ganze Behandlung macht

� [209/0231] die Protoplaſten zu heutigen Menſchen; indem aber zu all den Gewöhnlichkeiten, wie Theologie ſtudiren, um zwölf Uhr zu Mittag eſſen, Franzöſiſch lernen, einen verdauenden Spazier¬ gang machen, die phantaſtiſchen Vorausſetzungen des para¬ dieſiſchen Zuſtandes hinzugenommen ſind, worin die Thiere noch ohne Entzweiung ſind und worin die Schlange ſpricht, ſo erzeugt ſich ein ſehr ergötzlicher Widerſpruch, der dem Dichter zu ſinnreichen ſatiriſchen Zügen Gelegenheit gegeben hat, unter denen nicht einer der ſchlechteſten iſt, daß die Schlange Evchens unſchuldige Phantaſie mit den Erzählungen von Paris vergiftet und ihr die Sprache dieſes Babels einſchmeichelt.

Das Gewöhnliche kann auch dadurch ins Komiſche gewendet werden, daß es mit Ironie über ſich ſelbſt behan¬ delt wird. Schon vorhin iſt angedeutet worden, daß, was wir äſthetiſch als das Gewöhnliche vermeiden, reeller Weiſe ſehr wichtig ſein kann. Kommt nicht in ihm die Nothwen¬ digkeit, der wir alle unterthan ſind, zum Vorſchein? Iſt daſſelbe nicht das Element, in welchem der Fürſt mit dem Bettler ſich begegnet? Müſſen wir nicht alle eſſen und trinken, ſchlafen und verdauen? Müſſen wir nicht alle arbeiten, wenigſtens an unſerm Nichtsthun? Müſſen die Kinder nicht geboren werden? Kann eine Kaiſerin ſich die Wehen der Geburt wegdecretiren laſſen? Können wir nicht alle krank werden, trotz Reichthum und Bildung? Müſſen wir alle nicht endlich ſterben? Iſt daher dieſe Alltäglichkeit nicht auch ſehr ernſt und ehrwürdig? Machen ihre Zuſtände nicht das in ſeiner ſtabilen Gleichheit epiſche Element der Geſchichte aus? Faßt die Kunſt ſie von dieſer Seite auf, ſo verſchwindet an ihnen alle Gemeinheit. Und ſo haben in der That Sculptur, Malerei und Poeſie den göttlichen


Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 14 � [210/0232] Schlaf, die Arbeit des Menſchen, das gemeinſame Mahl, Hochzeit, Geburt und Tod, nach dem Adel ihrer poſitiven und univerſellen Bedeutung geſchildert. Man erinnere ſich, wie Homer auf dem Schilde des Kriegers Achilleus den ganzen Cyklus der Begehungen und Feſte des Friedens vom Hephaiſtos hat bilden laſſen; man erinnere ſich der Werke und Tage des Heſiodos; man erinnere ſich der Idyllik, der ſocialen, der ſkoliſchen Lyrik; man erinnere ſich, wie das antike Relief, die antike Vaſenmalerei, die Pompejaniſche Wandmalerei unſere gewöhlichen Zuſtände in naiver Heiter¬ keit vorführt; wie die chriſtliche Poeſie, Plaſtik und Malerei aus der Geſchichte der Patriarchen und Chriſti heraus alle gewöhnlichen Vorkommniſſe des Menſchenlebens nach ihrem idealen Werth gebildet haben, ſo wird man erkennen, welch' großen Umfang das Gewöhnliche in der Kunſt mit einem vollkommen affirmativen Charakter einnimmt. Allein eben weil dieſe epiſchen Elemente des Weltlebens in ihrer unend¬ lichen praktiſchen Wichtigkeit doch zugleich die alltäglichen ſind, welche auch die Abhängigkeit des Menſchen von der Natur verrathen und in ihrer ſteten Wiederkehr die Lange¬ weile unſeres Daſeins enthalten, immer wieder eſſen und trinken, arbeiten und ſchlafen, gebären und ſterben zu müſſen, ſo liegt auch in ihnen ſelbſt ſchon ein ironiſcher Anflug. Die Kunſt darf aus ihnen nur den Punct unſeres Zuſam¬ menhangs mit der Natur, unſerer Gebundenheit an das Endliche, ſchärfer hervorheben, ſo iſt die Komik im Nu fertig. Dann entſteht auch ein Genrebild, aber ein ſolches, das uns ein Lächeln abgewinnt, weil es uns die Freiheit in ihrer natürlichen Beſchränktheit zeigt. In der großen Totalität iſt der einzelne Zuſtand nur ein Moment; welche Befriedi¬ gung ein Zuſtand relativ und momentan gewähre, ſo muß

� [211/0233] er doch in den allgemeinen Zuſammenhang ſich auflöſen; die Andeutung dieſes Ueberganges wird ſeine Ironiſirung. Ohne im epiſchen Sinn ernſt und würdig, ohne im ironiſchen komiſch zu ſein, wird die pittoreske wie die poetiſche Genre¬ bildlichkeit gemein und langweilig. Unſerer dermaligen Genre¬ malerei wäre Leſſings Rath für den komiſchen Dichter, von dem Gewöhnlichen durch ein Abweichen von der puren, cru¬ den, alltäglichen Natur loszukommen, wohl auch zu empfehlen, denn wir haben durch ſie die ganz ideenloſe Conterfeis unſerer beſchränkteſten empiriſchen Zuſtände, eine nur zu getreue Abſchilderung der Köchinnen, Obſtverkäuferinnen, Schulbuben, Strümpfe ſtopfenden Mütter, Stiefel flickenden Schuſter, im Schlaflock meditirenden Paſtore, in Kneipen herumlungernden Müſſiggänger u. ſ. w. ohne die geringſte ideale Verklärung, ohne ein Atom von Witz erhalten. Da wir Deutſche keine gemeinſame große Geſchichte, keinen ein¬ heitlichen, himmelantragenden Enthuſiasmus haben, ſo erklärt ſich, weshalb unſere Kunſt ſo ſehr um würdige Gegenſtände verlegen ſein und ſo leicht in die gehaltloſeſte Tändelei und Quängelei mit dem Gewöhnlichen verfallen kann. Hegel und Hotho (41) haben allerdings an der Genremalerei mit Recht hervorgehoben, daß die Unbedeutendheit der Objecte um ſo mehr den Reiz einer glänzenden Ausführung geſtatte, allein man thut dieſen Philoſophen Unrecht, wenn man ihre Begeiſterung für das Genre in der Niederländiſchen Schule als ein Zugeſtändniß dafür nimmt, daß auch der bloße Abdruck einer empiriſchen Realität ihnen ſchon genügen könnte und daß ideale Compoſitionen in ihrem Detail dem Glanz der virtuoſen Technik nicht eben ſo günſtig ſeien. Eine ſolche Vorſtellung, zum allgemeinen Vorurtheil gemacht, würde den Kunſtſinn der Nation vollends ruiniren, denn ſie


14 * � [212/0234] würde uns die Beſchränktheit als ein Letztes verehren laſſen, uns in einer flachen Gemüthſeligkeit, in einem idylliſchen Duſel verdumpfen und uns immer unfähiger machen, den wahrhaften Schmerz des Lebens zu faſſen, deſſen Gefühl und Erkenntniß unſerm Daſein erſt die Weihe ächter Heiter¬ keit zu geben vermag. Der Mangel an Idealität, die Tri¬ vialität des Inhalts, führt in allen Künſten zur Breite des Details, deſſen Ausputz ſchon für Poeſie genommen wird; es entſteht ein maaßloſes Verweilen im Gewöhnlichen, weil man nichts übergehen will, und mit dieſer Tendenz zur ſchlech¬ ten Vollſtändigkeit die entſetzlichſte Langeweile. Voltaire hat bekanntlich geſagt, daß alle Gattungen gut und erlaubt ſeien, hors le genre ennuyeux; eben derſelbe hat aber auch geſagt: le secret, d'être ennuyant, c'est de tout dire. Man darf ſich nicht wundern, wenn in ſolchen Epochen gerade höhere Naturen, ſtrebende Gemüther, aus Ekel über die Götzen¬ dienerei, die mit dem Gemeinen und Gewöhnlichen getrieben wird, die Ironie gegen das Endliche wieder übertreiben und bald ins Frivole, bald ins Pietiſtiſche, bald ins Verrückte fallen. Der rechte Künſtler wird alſo das Gewöhnliche ent¬ weder ſo darſtellen, daß er deſſen poſitive Berechtigung als eine nothwendige Form des allgemeinen Weltlaufs hervor¬ kehrt; oder ſo, daß er ironiſch die Beſchränktheit eines Zu¬ ſtandes zugleich in die Freiheit reflectirt, die darüber hinaus iſt; oder ſo, daß er es direct ins Komiſche wendet. Wodurch ſind Murillo's Bettelknaben ſo berühmt geworden? Weil ihre Dürftigkeit ſie nicht genirt und weil aus ihren Lumpen das Frohgefühl einer über alle äußere Noth ſorgloſen Seele hervorblickt. Murillo hat die affirmative Seite ihrer Exiſtenz ergriffen. Wodurch iſt Biard zu ſo großem Ruf gekom¬ men? Weil er das ironiſche Moment im Gewöhnlichen her¬

� [213/0235] vorzukehren verſteht. Seine berühmte Springergeſell¬ ſchaft wartet des ſtrömenden Regens halber heute umſonſt auf Beſuch. Das Licht bei den Wachsfiguren, unter denen wir ſelbſt einige Olympiſche Gottheiten bemerken, brennt umſonſt herunter. Die Vorſtände der Geſellſchaft, um eine verſchmitzt erfahrene Alte verſammelt, überzeugen ſich gründ¬ lich von dem leeren Boden der Caſſe. Der Erklärer der Wachsfiguren, die Gerte unter dem Arm, ſchaut verdrießlich auf die düſtere Straße hinaus, auf welcher die regenſchirm¬ beſchirmten Menſchen ſchattenartig vorüberhuſchen. Man ſieht es den Leuten an, daß ſie, lebenserfahren, an Täu¬ ſchung gewöhnt, hungergeübt, zwar ſo bald die Laune nicht verlieren, daß jedoch die Zuſtände augenblicklich höchſt troſt¬ los ſind. Aber da vorn auf dem Eſtrich, welch liebliche Er¬ ſcheinung? Ein junges Mädchen in knabenhaftem Anzug ſitzt mit einer Violine beſchäftigt unberührt von all dem Elend um es herum. Es wird dies Elend theilen; es wird ſchlecht und wenig eſſen und trinken; es wird in ſeinen dünnen Kleidern frieren; aber es wird die Kunſt lieben um der Kunſt willen. Dieſe ſchwarzen Haare, dieſe ſehnſüchtigen Züge, dieſe feurigen Blicke verbürgen uns das Genie und reißen uns aus aller Gewöhnlichkeit heraus. Unter den Düſſeldorfer Malern verdient Haſenclevers Komik her¬ vorgehoben zu werden; ſeine Tanzſtunde, ſein Maleratelier, ſeine Theegeſellſchaft, ſein Jobs als Nachtwächter, welch' köſtliche Bilder!

Die Alten ſtellten der Megalographie als der Ma¬ lerei der Götter und Heroen die Rhyparographie, auch Rhypographie, oder auch, wie Th. Welker meint, Rho¬ pographie, entgegen, weil das Schmuzige auch mit dem Gewöhnlichen und Niedrigen zuſammenhängt. W. Gring¬

� [214/0236] muth in einer eigenen Abhandlung (42) und Hettner in in einem Abſchnitt ſeiner Vorſchule der Kunſt haben dieſe antike Genremalerei näher zu ſchildern unternommen. Aus den auf uns gekommenen Bildwerken erſehen wir, daß die Alten Amoretten, die ſich mit Waffen umherſchleppen, Schuſterſtuben, malende Zwerge, Kämpfe von Pygmäen mit Hähnen und Kranichen, Stillleben von Früchten, Vögeln, Gefäßen dahin rechneten.

b) Das Zufällige und Willkürliche. Das Gemeine iſt in ſeiner Beſchränktheit eben ſo ge¬ wöhnlich, als das Erhabene in ſeiner Einzigkeit majeſtätiſch. In ſeinem ſchöpferiſchen, ſich ſchlechthin aus ſich beſtimmen¬ den Verhalten handelt das Majeſtätiſche wohl plötzlich, aber nicht zufällig, wohl frei, aber nicht willkürlich. Moſes ſchlägt in der Wüſte mit ſeinem Stabe an einen Felſen und plötzlich quillt aus deſſen dürrer Bruſt ein Strom lebendigen Waſſers. Dies majeſtätiſche Handeln iſt weder zufällig, noch willkür¬ lich; nicht zufällig, denn Moſes iſt der gottgeſandte Führer des Volkes, der alſo für daſſelbe ſorgen muß; nicht willkür¬ lich, denn das Volk war nahe daran, zu verſchmachten. Das majeſtätiſche Handeln iſt ſeiner ſelbſt als eines ſchöpfe¬ riſchen abſolut ſicher und erreicht ſein Ziel ohne ſonderliche äußerliche Vermittelung; im Grunde durch den einfachen Act des bloßen Wollens. Der Vatikaniſche Apollo hat von ſeinen Tempelmauern irgend welchen Unhold, ſei es nun Python, ſeien es die Erinnyen, weggeſcheucht. Er hält zwar noch den Bogen in der Hand, allein ſeine Haltung und Miene ſprechen entſchieden aus, daß er, der fernhintreffende Gott, ſich des Erfolgs ſeines Handelns vorher gewiß war. Er will den Unhold tödten und er tödtet ihn. Kein Zweifeln,

� [215/0237] Schwanken, Zaudern darf in ein Weſen eintreten, das auf Majeſtät Anſpruch macht. Fällt die Majeſtät in ihrem Handeln dem Zufall und der Willkür anheim, ſo wird ſie häßlich. Ihr Handeln muß mühelos, jedoch in ſeiner Leich¬ tigkeit am rechten Ort, zu rechter Zeit, nothwendig ſein, weshalb ein ſogenannter Deus ex machina und Alles, was ihm ähnlich iſt, den Eindruck der Majeſtät verfehlt. — Er¬ reicht eine majeſtätiſch ſein ſollende Exiſtenz in ihrem Handeln nicht einmal, was ſie beabſichtigt, ſo widerſpricht ſie damit der bei ihr vorausgeſetzten Sicherheit und wird häßlich oder komiſch. Stellen wir uns einen Löwen vor, der aus einem Hinterhalt auf eine Gazelle zuſpringt, in ſeinem Sprung aber ſich überbietet, ſo daß er über ſie hinwegſpringt, während ſie unter ihm davonläuft, ſo wird der König der Thiere lächerlich erſcheinen. Auch darf die Majeſtät in der Form ihres Handeln ſich nicht haſten, weil ihre Autonomie feierlich auftreten muß. Die im Innern vorhandene abſolute Sicher¬ heit muß ſich auch in der Ruhe und Gemeſſenheit des Aeußern darſtellen. Bäume neigen ihre Kronen majeſtätiſch, wenn ſie ſich langſam auf und ab beugen; ein Ton iſt feierlich, wenn er ſich ſelbſt anhält und in gemeſſenen Pauſen die Stille wieder unterbricht; ein Schritt iſt feierlich, wenn er, da das Gehen ein aufgehobenes Fallen, den Fuß mehr von hinten her ſchleift, als nach vorn hin fallen läßt. Alle Be¬ wegungen daher, welche ein majeſtätiſch ſein ſollendes Indi¬ viduum als ein unruhiges, haſtiges, hin und her gezerrtes erſcheinen laſſen, ſind häßlich, weil ſie der unbedingten Selbſtgewißheit als dem Weſen der Majeſtät widerſprechen. Auch die Sprache der Majeſtät wird kurz, lapidariſch, ehern, maaßvoll ſein müſſen. Wortfülle, limitirende Wendungen, eigenen ſich nicht für ſie; weit eher ein humoriſtiſches Spiel

� [216/0238] mit dem Scherze, weil im Spiel ſich die Herrſchaft über etwas zeigt. Ein queckſilbern beweglicher, ſtolpernder und polternder Fürſt, der nicht Meiſter ſeiner Affecte bleibt, und in ſeinem Benehmen verräth, daß er über alle den gemeinen Menſchen beunruhigende Störung nicht hinaus iſt, ſteht auf dem Sprunge, lächerlich zu werden.

Im Gegenſatz zum reflexionsloſen, ſich ſelbſt genügenden Handeln der Majeſtät charakteriſirt ſich die Gemeinheit durch Zufälligkeit und Willkür. Der Zufall an ſich iſt ſo wenig gemein, als die Willkür. Sie als ſolche ſind daher auch noch nicht häßlich; ſie werden es erſt, wenn ſie ſich an die Stelle der Nothwendigkeit und der Freiheit ſetzen. Die Schönheit hat nicht den Zwang, wohl aber die Nothwendig¬ keit, nicht die Geſetzloſigkeit, aber die Freiheit, zum Inhalt. Die Nothwendigkeit der Freiheit iſt ihre Seele und Zufall ſowohl als Willkür kann ſie daher nur tragiſch oder komiſch wenden. Wird die Nothwendigkeit im Zuſammenhang der Erſcheinung der Freiheit zu einer Grille, ſo wird das Schick¬ ſal zufällig und willkürlich, während es als die ſich objectiv von ſelbſt ergebende Grenze für die Ausſchweifungen des Zu¬ falls und der Willkür majeſtätiſch wirkt. Der ſogenannte Zufall iſt für die tragiſche Entwicklung nur die Form, in welche die abſolute Nothwendigkeit ſich ſelbſt verhüllt. Das Schickſal ſoll nicht blos eine Grenze überhaupt, ſondern die¬ jenige ausdrücken, die wir als eine durch das Weſen der Freiheit nothwendige anerkennen, in welcher Hinſicht die Colliſionen auch der antiken fataliſtiſchen Tragödie ſittlicher Natur ſind, wenn auch das Fehlen von ihr noch nicht als ethiſcher Widerſpruch genommen wird, ſondern als ein moraliſch ungewolltes Thun, deſſen Begründung ſogar in den Schooß der Götter hinabreicht. Die Schuld aber, die in unſerm

� [217/0239] Sinn nicht als moraliſche exiſtirt, wird von der alten Tragödie doch anerkannt, wie die bekannten Sophokleiſchen Verſe ſo unübertrefflich ausdrücken:

ἀλλ ἐι μεν ὀυν ταδ᾽ ἐν ϑεοις ϰαλα, παϑοντες ἀν ξυγγνοιμεν ἠμαστηϰοτες.

Für die Komik iſt natürlich der Zufall nicht weniger als die Willkür der abſolute Hebel, weil ſie allein auch wieder die Häßlichkeit des ſchlechten Zufalls und der ſchlechten Willkür durch ſubjective Maaßloſigkeit zu parodiren im Stande ſind. Es iſt das Bizarre und Barocke, das Groteske und Burleske, worin ſich das Zufällige und Willkürliche vom Häßlichen zur Verklärung des Komiſchen emporhebt. Keine dieſer Formen iſt ſchön im Sinne des Ideals; in jeder exiſtirt eine gewiſſe Häßlichkeit, aber in jeder auch die Möglichkeit, in die heiterſte Komik überzugehen.

Das Bizarre iſt der Eigenſinn der Laune. Das Wort kommt vom Italieniſchen bizza her, welches Zorn, auch Bosheit bedeutet. Weil die Bosheit etwas Singuläres iſt, ſo iſt es dann auch auf das Abſonderliche, Seltſame über¬ tragen worden, in deſſen Hervorbringen die Laune ſich ge¬ fällt. Bedenkt man, daß das Schöne auf die Darſtellung des Ideals geht, ſo kann man nicht erwarten, daß das Bizarre ſchön ſei. Eher tendirt es in's Komiſche, iſt jedoch durch ſeinen zu aparten Inhalt ſelten rein lächerlich. Die Bizarrerie übertreibt das Individualiſiren ſo, daß es häßlich erſcheint oder wenigſtens an das Häßliche ſtreift. Es ver¬ bindet in ſeiner Laune, was man zu trennen, es trennt, was man zu verbinden pflegt. Der Engliſche Spleen iſt reich an bizarren Einfällen. Schwangere Frauen, in der Entwicklung begriffene Mädchen haben öfter bizarre Gelüſte, z. B. Tabacksaſche zu genießen. Hypochonder quälen ſich

� [218/0240] mit bizarren Einbildungen. Die Liebe als Leidenſchaft reizt auch zu bizarren Handlungen, wie der Troubadour Peire Vidal aus Toulouſe ſich dadurch vorzüglich im Andenken erhalten hat. Wir können ſeinen ſentimentalen Albernheiten von den Deutſchen Minneſingern die Ulrichs von Lichten¬ ſtein an die Seite ſetzen (43). In der Architektur und Sculptur kann das Bizarre ſich noch wenig geltend machen, weil der Ernſt und die Eigenthümlichkeit des Materials dieſer Künſte ſeine Ausſchweifungen hemmen. In der Malerei gewinnt es ſchon einen bedeutenden Spielraum, namentlich durch ganz eigene Farbentöne. In der Muſik kann es natürlich die Unergründlichkeit ſeiner Metamorphoſen recht nach Wohlgefallen in dem weichen, nachgibigen, unbeſtimmt¬ beſtimmten Element der Töne auslaſſen und die Muſik nennt auch manche ihrer wunderlichen Schöpfungen aus¬ drücklich Capriçen. In der Poeſie endlich verſteht ſich die mannigfaltigſte Darſtellung des Indefiniſſabeln, was im Bi¬ zarren liegt, von ſelbſt. Shakeſpeare hat ihm in einigen ſeiner Luſtſpiele glänzende Verherrlichungen angedeihen laſſen. Unter den neuern Franzoſen zeichnet ſich Balzac in der Kunſt aus, das Bizarre zu idealiſiren. So hat er einen Roman geſchrieben, welcher den Swedenborgianismus ſchildert. Die Heldin deſſelben erſcheint wegen ihrer engelhaften Natur den Männern als Jungfrau, als Seraphita, den Frauen als Jüngling, als Seraphitus. Dieſer pſychologiſche Hermaphroditismus führt nun auch zu bizarren Situationen. Unter den neuern Deutſchen Autoren hat Gutzkow eine vorzügliche Begabung zur Erfindung bizarrer Charaktere und Situationen. Sein Mahaguru, ſeine Wally, ſeine Se¬ raphine, ſein Nero, ſein Prinz von Madagascar, ſein Blaſedow, ſein Hackert in den Rittern vom

� [219/0241] Geiſt ſind im eminenteſten Sinn bizarr und berühren eben ſo oft das Erhabene als das Lächerliche. In der Schöpfung des nachtwandleriſchen, geheimpolizeilichen, häßlichgeiſtvollen, boshaftguten Hackert hat Gutzkow das Bizarre auf das Treffendſte geſchildert. Im Prinzen von Madagascar hat er das Bizarre beſonders in die Situationen gelegt. Welche bizarre Lage des Prinzen, von ſeinen eigenen Unterthanen gefangen und als Sclav verkauft zu werden! Auch in kleinern Erzählungen wird man bei Gutzkow die Neigung zum Bizarren als ein Hauptingrediens finden bis zur köſtlich erzählten Geſchichte jenes Kanarienvogels hin, der ſich ſeltſamer Weiſe in ſein eigenes Spiegelbild verliebte und aus Melancholie über die Unrealität ſeines vis à vis ſtarb. Selbſt Charakterbilder ſolcher Art ſind Gutzkow außerordentlich gelungen, wie ſein Portrait Schottky's, zu welchem wohl nur Schall's Portrait von Laube als Pendant gelten kann.

Die pointirte Abenteuerlichkeit, die phantaſtiſche Be¬ weglichkeit des Bizarren, machen es zur Ironie des Gewöhn¬ lichen und laſſen es in dieſer Richtung ſelbſt an eine kokette Geſuchtheit ſtreifen. Wie leicht dieſelbe ins entſchieden Hä߬ liche fallen kann, ſehen wir zuweilen bei Tieck, der ſo reich an ächt bizarren Geſtalten iſt. In der Novelle: Eigenſinn und Laune, läßt er die Heldin Emmeline zuletzt als Bor¬ dellwirthin auftreten. Dieſe Laune iſt häßlich und ihre Motivirung übergeht der Dichter, während er die ſonſtigen Verirrungen Emmeline's in einem Zuſammenhange darſtellt, der ſie einigermaaßen begreifen läßt. Emmeline konnte einen Kutſcher heirathen wollen, konnte ſich von einem leichtſin¬ nigen Commis ſchwängern laſſen, konnte einen Geldariſto¬ kraten heirathen, konnte mit einem Officier durchgehen, in welchem ſie doch den Kutſcher Martin wiederfand — brauchte

� [220/0242] ſie aber ſo tief zu ſinken, daß ſie aus der Proſtitution ein Gewerbe machte, ein Gewerbe nicht bloß für ſich, ſondern in der ſcheußlichſten Weiſe, als Vorſteherin eines Bordells? Dieſer Ausgang iſt mehr als bizarr. Emmeline zeigt bis dahin Eigenſinn und Laune, aber nicht dieſe empörende Ge¬ meinheit. — Von dem Bizarren iſt das Barocke ſchwer zu unterſcheiden. Man könnte aber wohl ſagen, daß es darin beſtehe, dem Gewöhnlichen, dem Zufälligen und Willkürlichen durch die Außerordentlichkeit der Form eine Bedeutung zu geben. Man leitet das Wort von einer bekannten Schlu߬ form ab, welche den Namen barocco hat; nach Andern ſoll es ſo viel als ſchief bedeuten und von den vertieften Rahmen gebraucht ſein, die mit ſchräger Fläche zum Bild oder Spiegel ſich abſenken und noch jetzt Barockrahmen heißen. Sollte es aber nicht von baro herkommen, im Lateiniſchen ein dummer Menſch, im Italieniſchen ein falſcher Spieler, Schurke? Sollte nicht das Barocke den Begriff des falſchen Spiels auf das Spiel mit dem Zufälligen übertragen haben? Es liegt in ihm eine gewiſſe Keckheit und Schroffheit der ſich ſelbſt überbietenden Willkür, die oft in's Komiſche, aber auch ins Grauſame und Düſtere überſpringen kann, wie wir dies in den Strafen der Völker finden, die oft eben ſo brutal als barock waren — und leider noch ſind. Jener Syriſche Paſcha fand ſogar ein offenbar ſehr barockes Ver¬ gnügen darin, die Geſichter von Verbrechern höchſt eigen¬ händig mit einem Meſſer künſtleriſch zu bearbeiten, um Naſen, Ohren und Lippen die ihm genehme Geſtalt zu geben. Eugene Sue hat das Barocke zuweilen mit vielem Geiſt, immer jedoch nach der grauenhaften Seite hin, darzuſtellen verſtanden. In der Mathilde, ſeinem vollendetſten Roman, hat er die tiefe Bosheit des Fräulein von Maran durch

� [221/0243] bizarre Launen und barocke Wendungen ſehr charakteriſtiſch gezeichnet. Die Willkür dieſer ſataniſchen Perſon äußert ſich nämlich auch in der Schöpfung von Worten, die nur in ihrem Lexikon zu finden ſind, wie z. B. wenn ſie, etwas ſehr bemerkenswerth zu finden, ſagt: c'est pharamineux!

Dem Barocken, wie dem Bizarren verwandt, und doch von ihnen durch eine individuelle Paradoxie verſchieden iſt das Groteske. Seinen Namen hat es — nachdem es längſt in aller Komik exiſtirte — in Italien zur Zeit Cel¬ linis von einer beſondern Art der Gold- und Silberarbeit erhalten, worin verſchiedene Stoffe in ſeltſamer Miſchung zuſammengewürfelt wurden; dann wurde das Wort auf die buntſcheckige Manier übertragen, mit welcher Grotten und Gartenhallen, Waſſerbecken u. dgl. mittelſt farbigter Steine, Korallen, Muſcheln, Erzſtufen, Moos ausgelegt wurden. Von dieſem Buntgemiſch ging der Name auf alle Formen über, in denen ein ſonderbares Durcheinander unberechen¬ barer Schnörkel und unerwarteter Sprünge unſere Aufmerk¬ ſamkeit eben ſo ſehr feſſelt als zerſtreuet. Nun wurden auch die Tänzer, die in Verrenkungen wunderlichſter Art uns vergeſſen machen, daß ſie, wie wir, Knochen haben, Gro¬ tesktänzer genannt. Ihr Beinausſpreizen, ihr Wippen, Wiegen, Drehen, Froſchhüpfen, Bauchkriechen, iſt wahr¬ lich nichts weniger, als ſchön; es iſt auch nicht komiſch; aber es iſt als eine Willkür, die aller Geſetze zu ſpotten ſcheint, grotesk. Flögel hat als Fortſetzung ſeiner Geſchichte der komiſchen Literatur Collectaneen hinterlaſſen, die man unter dem Titel einer Geſchichte des Groteskkomiſchen 1788 herausgegeben hat. In dieſer Geſchichte beſchäftigt er ſich vom Satyrſpiel der Griechen an vorzugsweiſe mit dem Hans¬ wurſt, den Marionetten, den Narrenfeſten und Geckenge¬

� [222/0244] ſellſchaften und verſteht unter dem Groteskkomiſchen beſonders das Niedrigkomiſche, zumal wie es ins Derbſinnliche, Un¬ züchtige und Rohe übergeht. Schon 1761 hatte Möſer ſeinen Harlequin oder Vertheidigung des Groteskkomiſchen geſchrieben und den Begriff deſſelben ebenfalls vorzüglich an den Italieniſchen Masken nach Riccoboni erläutert. Er nimmt es auch als gleichſinnig mit dem Niedrigkomiſchen, mit der Poſſenreißerei, mit der zweideutigen Anſpielung. Seine Heirath Harlequins oder die Tugend auf der Schaubühne (abgedruckt in den ſämmtlichen Werken, her¬ ausgegeben von Abeken, Berlin 1843, Th. 9., S. 107. ff.) iſt jedoch ziemlich zahm gehalten. Das Groteske iſt in vieler Beziehung der Kindergeſchmack, die Chineſiſche Aeſthetik.

Das Bizarre, Barocke und Groteske können ins Bur¬ leske übergehen. Burla heißt im Italieniſchen und Spani¬ ſchen Spott. Von Italien kam die burleske Manier nach Frankreich und wurde hier vorzüglich durch Scarron's Tra¬ veſtirung der Aeneide ſo verbreitet, daß die kurzen Verſe der¬ ſelben ſchlechthin als burleske Verſe in Umlauf kamen nnd ſogar die Geſchichte Chriſti ganz ernſthaft, aber, wie ſchon der Titel meldete (44), in burlesken Verſen bearbeitet ward. Das Burleske iſt die parodiſche Ueppigkeit der Willkür, die zur Ausführung heiterer Caricaturen außerordentlich geeignet iſt. Aus dieſem Grunde macht es die Seele des Italieniſchen Maskenſpiels und aller ihm ähnlichen Komik aus. Das ſtumme Spiel, was wir, aus dem corrumpirten aczioni, lazzi nennen, gehört dem Burlesken als ſeine eigentlich claſſiſche Darſtellung an. Der ſchöpferiſche Uebermuth muß mit ſeinem tollen Sprudelgeiſt dieſe unbeſchreiblichen Geſten, Beugungen, Sprünge, Faxen, Grimaſſen hervorbringen, die nur im Moment ihrer Bewegung und im Contraſt mit ihren Um¬

� [223/0245] gebungen ein Intereſſe haben. Im heutigen komiſchen Vaudeville hat es ſich eine feinere Exiſtenz zurecht gemacht. Die Franzoſen beſitzen namentlich an der Parodie der Eng¬ länder einen unendlichen Schatz für burleske Erfindungen, wie z. B. im Vaudeville Sport und Turff. Wegen des Parodiſchen lieben ſie es aber überhaupt und man wird beob¬ achten können, wie ſehr es ihre Schauſpieler aus einer Rolle herauszufinden und zu entwickeln verſtehen. Man nehme z. B. ein Vaudeville, wie den Koch Vatel, im Ehrgeiz in der Küche, ſo iſt dieſe Rolle, in der auch Seydelmann ſo claſſiſch war, ohne die Schöpferlaune des Schauſpielers in burlesken Mienen und Geberden nur die Hälfte deſſen, was ſie ſein ſoll. Vatel will ſich eines mißrathenen Puddings halber mit dem Küchenmeſſer ermorden. Die Ehre der Koch¬ kunſt, die Ehre ſeiner Ahnen befiehlt es ihm. Dieſe Scene iſt köſtlich, ſobald ſie als burleske Parodie des Pathos der großen Tragödie geſpielt wird. Vatel, mit der weißen Schürze, mit der weißen Mütze des Kochs bekleidet, wohl¬ beleibt, das Küchenmeſſer ſchwingend, hält einen rührenden Monolog, der uns vor Lachen faſt erſticken macht — wenn die Genialität des Schauſpielers die Burleske in der Gewalt hat. Vorſchreiben läßt ſich dergleichen nicht. In dem Vau¬ deville, les vieux péchés, ſehen wir einen ehemaligen Pariſer Tanzmeiſter, der unter anderm Namen ſich als wohlhabender Rentier in ein Städtchen der Provinz zurückgezogen, ſich die Achtung und das Vertrauen ſeiner Mitbürger erworben hat und endlich zum Maire ernannt wird. Sobald nun dieſer treffliche Mann in Affect geräth, fällt er unwillkürlich in ſymboliſche Tänzerattitüden, ſo daß das Pathos der magiſtralen Würde und das frivole Enjambement des Ballets höchſt burlesk ſich widerſprechen. Nur die Laune des Schauſpielers,

� [224/0246] nur ſeine burleske Grazie kann ermöglichen, daß dieſer Wider¬ ſpruch nicht ein unerträglich häßlicher werde. Oder man vergegenwärtige ſich jenes Vaudeville, in welchem ein alter Rentier der Fanny Elsler nachreiſt, und im Gaſthof, als er Morgens Toilette macht, von der Vorſtellung ihrer Nähe bezaubert, in ſelige Erinnerung verloren, mit der Barbier¬ ſerviette um den Hals und dem Raſirmeſſer in der Hand der liebenswürdigen Tänzerin ihre anmuthig verführeriſche Cachucha auf das Scheußlichſte aber Lächerlichſte nachtanzt.

Dergleichen iſt burlesk. Wenn wir uns mit dieſen Veranſchaulichungen in das dramatiſche Gebiet verloren haben, ſo müſſen wir bemerken, daß dies nur geſchehen iſt, weil daſſelbe das Maximum der burlesken Energie möglich macht, keineswegs jedoch, als ob nicht andern Kunſtgattungen das Burleske eben ſo wohl möglich wäre. Die Poeſie beſitzt ſogar gewiſſe ſtereotype Mittel, das Burleske zu erzeugen, wie im gezwungenen Reime, in der Sprachmiſcherei, im Jargon, wovon oben ſchon bei einer andern Gelegenheit gehandelt worden (45). Worin liegt hier das äſthetiſch Er¬ laubte? Offenbar darin, daß in dem, was wir an ſich als häßlich verurtheilen müßten, die Freiheit als ein heiteres Spiel ſich geltend macht und durch die bewußte Maa߬ loſigkeit der Willkür das Häßliche ins Lächerliche verklärt. Einen unrichtigen Reim wird z. B. Niemand ſchön finden. Ein gezwungener Reim verzerrt ein Wort, um es zum richtigen Reim zu machen. Dieſe Mißhandlung der Sprache iſt auch nicht ſchön; weil ſie aber aus der Freiheit entſpringt, welche die Sprache ſelber geſchaffen hat und aus welcher heraus das Wort auch ſo heißen könnte, ſo müſſen wir lachen. Daſſelbe iſt der Fall mit den Fiſchart'ſchen und ähnlichen Wortungeheuern. Wenn eine bekannte Parodie

� [225/0247] des Mignonliedes anhebt: „Nach Italjen, nach Italjen, Möcht' ich, Alter, nur einmalgen!“, ſo iſt das Zeitwort: einmaligen, ein unerhörtes, unmögliches. Aber die burleske Laune wagt ſich damit hervor und fordert unſer Lachen heraus.

Wegen der Verwandtſchaft, worin das Bizarre, Ba¬ rocke, Groteske und Burleske unter einander ſtehen, wird die Poſſe, die komiſche Oper und der komiſche Roman ſie uns in den mannigfaltigſten Uebergängen vorführen. Cramer, Jean Paul und Tieck bei uns, Smollet und Sterne bei den Briten, Scarron und Paul de Kock unter den Franzoſen, haben uns ſolche Verſchmelzungen gegeben. Tieck iſt hierbei weniger in der Anlage des Ganzen, deſto mehr im Detail glücklich. Welch' ein barocker Einfall, in der Novelle: die Geſellſchaft auf dem Lande, den Accuſativ als einen anmuthigen, freundlich entgegenkommenden Jüngling, den Dativ als einen ſitzenden, bärtigen, verdrießlich auf ſeinen Schooß niederſchauenden Alten zu bilden. Dazu aber die burleske Rechtfertigung, die in pathetiſchem Ton ausführt, daß mit dieſer Erfindung den bildenden Künſten, die ſich an der antiken und Nordiſchen und chriſtlichen Mythologie er¬ ſchöpft hätten, ein ganz neues Feld aufgethan ſei. Welch' eine Zukunft, wo auch der fürſtliche Infinitiv, der ſouve¬ raine Imperativ von Bildhauern und Malern würden ver¬ herrlicht werden! Dieſe Rede iſt eine Meiſterſtück der feinſten Burleske. Paul de Kock ſteht in dem Ruf, frivol zu ſein. Er iſt es auch, allein er iſt dennoch weit weniger ge¬ fährlich, als ſo manche andere wohlgelittene Schriftſteller, weil er nämlich komiſch, weil er vor allen Dingen grotesk und burlesk iſt. So läßt er z. B. in einem ſeiner Romane einen jungen Mann endlich ein Rendezvous mit ſeiner Ge¬


Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 15 � [226/0248] liebten in einem Gartenpavillon hoffen. Er kommt auch zum Pavillon, verirrt ſich aber in ein anderes Zimmer, muß, unter ein Sopha gekauert, die Zärtlichkeiten zweier Gatten mitgenießen, die ſich ſchlafen legen, ſchleicht, als ſie ſchlafen, aus der Stube, findet die Treppe, findet das rechte Zimmer, findet die Geliebte. Kaum aber hat er ſich ihr im Bette zugeſellt, als Feuer ausbricht. Es entſteht Lärm, er muß fliehen, ergreift aber in der Eil die Kleider ſeiner Geliebten, flüchtet mit ihnen durch ein Fenſter und entkommt glücklich über die Gartenhecke. Da will er ſich anziehen, findet zu ſeinem Schrecken das Damengewand, muß nothgedrungen in daſſelbe ſchlüpfen und erlebt nun in dieſer grotesken Ver¬ kleidung auf dem kurzen Wege nach Paris tauſend Aben¬ teuer. Nicht die Willkür, aber der Zufall iſt hier burlesk.

c) Das Rohe. Die Gemeinheit überhaupt iſt die Erniedrigung der Freiheit unter eine Nothwendigkeit, die nicht ihre eigene iſt. Als Rohheit iſt ſie eine Hingebung an eine Abhängigkeit von der Natur, welche die Freiheit aufhebt, oder ein Hervorbringen von Zwang gegen die Freiheit, oder ein Verhöhnen des ab¬ ſoluten Grundes, auf welchem alle Freiheit beruhet, des Glaubens an Gott. — Das Majeſtätiſche kann auch dem Leiden verfallen, aber nur von ſeiner endlichen und ſterblichen Seite, die es der äußern Gewalt preisgeben muß, während es ſich in ſich als frei behauptet und daher gerade im Leiden die durch daſſelbe unverkümmerte Unendlichkeit ſeines Handelns um ſo energiſcher zu bewähren vermag, wie Rückert ſo ſchön ſagt:

Es trübt die ſchmutzge Welle die reine Perle nicht, Ob ſich ihr Schaum auch wüthend an ihrer Schaale bricht.

� [227/0249] Die Freiheit widerſpricht ſich noch nicht, wenn ſie erſt unvollkommen ſich ausdrückt, wovon ſchon in der Einleitung gehandelt worden. Gegen die höhere, gegen die letzte Stufe der möglichen Entwicklung gehalten, können die erſten, un¬ unreifen Geſtalten unſchön erſcheinen und, ſofern ſich die werdende Kraft darin gewaltſam hervordrängt, eine rohe Form haben. Eine ſolche Exiſtenz entſpricht dann in ihrer Realität noch nicht vollkommen ihrem Begriff, allein dies Nochnichtentſprechen iſt keineswegs ein Widerſprechen, viel¬ mehr auf dem Wege zur wirklichen Congruenz des Weſens und ſeiner Erſcheinung. Die Rohheit, die wir dann ausſagen müſſen, iſt nicht eine dem Schönen conträr entgegengeſetzte Häßlichkeit. Es ſind niedrigere, oft unvermeidliche Stadien, welche die Exiſtenz durchlaufen muß, ſucceſſiv ihren Begriff vollſtändig zu realiſiren. Die rohe Anlage iſt ein Zuſtand der Anfänglichkeit, der die Schönheit nicht poſitiv von ſich ausſchließt und dem wir den Zuſtand der Ausglättung und Ausfeilung, der Politur entgegenſetzen. In dieſem Sinn kann Rohheit, ſofern ein Ueberſchwang gährender Produc¬ tionskraft darin waltet, uns ſogar ein Unterpfand künftiger Tüchtigkeit ſein. Der große Inhalt einer Conception kann in markigen Entwürfen erſcheinen, aus deren Rohheit den¬ noch ihre mögliche, ihnen ſchon inwohnende Schönheit her¬ vorleuchtet. Handzeichnungen von Bildhauern und Malern, Baupläne, dramatiſche Skizzen, können uns in ihrer em¬ bryoniſchen Geſtalt doch ſchon die ganze Unendlichkeit ächter Kunſt offenbaren. In den Erſtlingswerken nationaler Kunſt¬ beſtrebungen finden wir mit der Rohheit der Darſtellung doch oft ſchon einen Typus wahrhafter Schönheit verbunden, deſſen Ringen mit der Unvollkommenheit der Erſcheinung etwas tief Ergreifendes haben kann. Ganz unbedenklich


15 * � [228/0250] kann man ſelbſt von einer rohen Majeſtät ſprechen, weil es möglich iſt, daß ihre Größe und Macht noch der feinern Ausarbeitung entbehrt, wohl aber ſchon in dem freien, un¬ abhängigen, kühnen Wurf der ganzen Geſtaltung ſicht¬ bar wird.

Dieſe Art der Rohheit betrifft alſo die Feinheit der Form und die Ausführung in den Detailbeſtimmungen. Von ihr iſt diejenige Rohheit zu unterſcheiden, die einen Wider¬ ſpruch der Freiheit mit ſich ſelber enthält und zwar zunächſt dadurch, daß ſich dieſelbe vom Sinnlichen, welches ihr als ein Mittel untergeordnet ſein ſollte, abhängig macht. Der Geiſt ſoll das Sinnliche genießen, ohne in dieſen Ge¬ nuß völlig aufzugehen und ihm ſeine freie Herrſchaft da¬ rüber aufzuopfern. Die Häßlichkeit der Gefräßigkeit Trunk¬ ſucht und Ausſchweifung liegt in einer Gebundenheit der Freiheit, die gegen ihren Begriff iſt. Weder die Ernährung noch die Zeugung als ſolche ſind, als eine reine Nothwen¬ digkeit der Natur, unſchön. Sie werden es erſt, ſofern ſie die Freiheit des Geiſtes unterjochen. Für die Thierwelt kann daher dieſe Geſtalt der Häßlichkeit, als eine durch ſittliche Begriffe vermittelte, nicht exiſtiren. Dem Thiere fehlt die Freiheit der Beſinnung, die Vergleichung ſeines Zu¬ ſtandes mit einem ſeinſollenden Begriff. Schieben wir jedoch, wie in der Fabel geſchieht, den Thieren analogiſch die Vor¬ ſtellung unſerer Freiheit unter, ſo kann auch das Thier kraft ſolcher Fiction zur häßlichen Anſchauung werden. Die Hyäne z. B. kann dann in ihrer Gefräßigkeit darin ſcheu߬ lich erſcheinen, daß ihre Gier auch die Gräber nicht ver¬ ſchont und ihr unerſättlicher Schlund auch die Leichen ver¬ ſchlingt. Es tritt hier alſo ein ethiſches Moment ein, das unſer Urtheil beſtimmt. Weil jedoch Ernährung und Zeu¬

� [229/0251] gung an ſich nothwendige Acte der Natur ſind, ſo kann die Komik gerade an ihnen außerordentliche Mittel gewinnen, indem der Menſch, wenn er von der ſtrengen Geſetzmäßig¬ keit der Freiheit abfällt und ſich dem Sinnengenuß behaglich überläßt, die Schuld von ſich auf die Natur abwirft, der er nur als ein homuncio ſeinen Tribut zahle, wie der Fran¬ zöſiſche Leichtſinn ſich dafür die Phraſe erfunden hat, zu ſagen: c'est plus fort, que moi. Ohne Laune aber iſt dies nicht möglich. Alle Tiſch- und Trinklieder, die nicht von ihr durchathmet werden, ſind häßlich. Die Komik kann mit dem Naturtriebe auch ironiſch ſpielen. Sie kann die Leidenſchaft für den ſinnlichen Genuß ſcherzhaft übertreiben, als ob für den Menſchen oder gar für die Götter nichts Höheres und Wichtigeres exiſtirte. So haben die antiken Komiker den He¬ rakles gern als einen Landſtreicher dargeſtellt, deſſen Hunger durch nichts zu ſtillen. Ariſtophanes hat dieſer Hanswurſtia¬ den geſpottet, ihre Manier jedoch beibehalten z. B. in den Fröſchen. Von den Satyrſpielen iſt uns nur der Euripi¬ deiſche Kyklops erhalten, der uns die coloſſale Rohheit des Polyphemos vorführt. Im Gargantua und Pantagruel hat der gelehrte und weltkundige Arzt Rabelais den Pariſern ein Spiegelbild ihrer Unſitten vorgehalten, indem er Saufen und Freſſen als ein ernſtes Studium ſchildert, mit welchem ſich die Helden auf der Univerſität in gründlicher Forſchungs¬ luſt beſchäftigen. In Immermanns Münchhauſen treffen wir den Bedienten Karl Buttervogel, wie er zum gnädigen Fräulein von Poſemuckel nur deshalb eine brennende Liebe fingirt, um von ihr mit fetten Butterbröden und ſonſtigen Victualien regalirt zu werden. — Für die komiſche Behandlung des Geſchlechtstriebes iſt diejenige Situation vorzüglich günſtig, welche die Nothwendigkeit der Natur

� [230/0252] ganz verleugnen, ihr in falſchem Hochmuth eine eingebildete Naturloſigkeit entgegenſetzen möchte und nun, von der Macht der Natur überraſcht, zu einer halb unfreiwilligen Aner¬ kennung derſelben gezwungen wird. Dieſer komiſche Zug durchzittert ſchon die altindiſchen Geſchichten jener Büßer¬ könige, die den Göttern durch ihre Kraft gefährlich zu werden drohten und denen ſie daher eine der reizendſten Apſaraſen zuſchickten, ſie in ihrer heiligen Einſamkeit zu ver¬ führen. Derſelbe Zug belebt eine Unzahl der mittelaltrigen Erzählungen, welche den in ihm enthaltenen Contraſt am zierlichſten in jenen Geſchichtchen vorgeſtellt haben, wie Alexander dem Ariſtoteles eine Buhlin zuſendet, die den Philoſophen von der Höhe ſeiner Abſtractionen dazu herab¬ ſchmeichelt, daß er, auf allen Vieren kriechend, es ſich ge¬ fallen läßt, ihre holde Bürde auf ſeinem Rücken umherzu¬ tragen, in anmuthigen Beſchäftigung ihn der lachende Alexander überraſcht. Welche ſchlüpfrige Hiſtorien im Boc¬ caccio und im Wieland auf dieſem Element beruhen, iſt bekannt genug.

Obwohl nun der Erhaltungs- wie der Gattungstrieb nur durch ſittliche Weihe oder durch die Komik äſthetiſch möglich werden, ſo iſt es doch intereſſant, zu ſehen, wie mit den natürlichen Folgen ihrer Befriedigung Zuſtände ver¬ bunden ſein können, die äſthetiſch uns noch roher zu er¬ ſcheinen vermögen. Die Natur zwingt z. B. den Menſchen, wie das Thier, zur Entäußerung des Ueberflüſſigen und zwar in einer noch viel dringlicheren Weiſe, als zum Eſſen und Trinken ſelber, weshalb wir auch im Deutſchen dieſe gemeine Nothwendigkeit mit einem beſondern Wort Noth¬ durft nennen. Der Organismus befreiet ſich darin von dem, was er zu ſeinem Leben nicht hat verwenden können,

� [231/0253] was er als ein relativ Todtes von ſich ausſcheidet, was ein vom Organismus producirtes Unorganiſches, ein vom Leben getödtetes Daſein iſt. Dieſe Entäußerung iſt, wie nothwendig ſie ſei, häßlich, weil ſie den Menſchen in der niedrigſten Abhängigkeit von der Natur erſcheinen läßt. Er ſucht daher auch die Verrichtung der Nothdurft, ſo viel er kann, zu verbergen. Das Thier iſt natürlich in Anſehung auch dieſes Actes ſorglos und nur die reinliche, ſich immer beleckende und putzende Katze verſcharrt ihren an heimlichen Orten entleerten Koth. Das Kind thut anfänglich wie das Thier und die Unſchicklichkeit der lieben Kleinen kann der Geſchloſſenheit conventioneller Formen gegenüber ſehr unan¬ genehm ergötzliche Contraſte hervorbringen. Die Darſtellung der Nothdurft iſt daher unter allen Umſtänden unäſthetiſch und nur die Komik kann ſie erträglich machen. Potter hat eine „piſſende Kuh“ gemalt, die zuletzt nach Petersburg hin um einen ungeheuern Preis verkauft iſt; wäre Potter aber nicht ein ſo guter Thiermaler geweſen, ſo würde auch die exacteſte Copirung der Kuh in jenem Zuſtand gerade den Werth des Kunſtwerks wohl nicht geſteigert haben. Wir geſtehen uns, daß wir das Piſſen der Kuh wohl miſſen könnten und daß aus ihm heraus uns keine äſthetiſche Be¬ friedigung erwächſt. Dennoch dürfen wir an das Thier nicht den Maaßſtab des Menſchen legen und dies iſt der Grund, weshalb eine „piſſende Kuh“ uns nicht verletzt. Wir müſſen hier umgekehrt ſagen: quod licet bovi, non licet Jovi. In Brüſſel heißt eine bekannte Fontaine, an welcher die Fluth der faſhionabeln Welt vorüberſtrömt, Mannekenpiss, weil ein derber Junge das Waſſer pißt. Aber dieſe Nieder¬ ländiſche Komik iſt kaum noch komiſch, denn Waſſer ſoll rein, ſoll eben Waſſer ſein und es miſcht ſich etwas Widriges

� [232/0254] in die Vorſtellung, aus ſo entſtandenem Waſſer zu ſchöpfen und zu trinken. Wenn Rembrand dagegen den Ganymed gemalt hat, wie er, vom Adler emporgetragen, in der Ueber¬ raſchung vor Schrecken nach Kinderart pißt, ſo iſt das wirklich komiſch. Der feiſte Junge hält in der Linken noch die Weintraube, die er ſich hat ſchmecken laſſen, als der Vogel des hochher donnernden Zeus ihn ergriffen und ihm mit der Kralle das Hemdchen über ſeinen rundlichen Hintern emporgezogen hat. Wie Ariſtophanes das Hoſiren ſogar auf die Bühne gebracht hat, iſt in anderer Hinſicht oben ſchon erwähnt. Im Pfaffen von Kalenberge, im Pfaffen Amis und im Eulenſpiegel wimmelt es von ſo grob¬ fläthigen Scherzen. Auch der häßliche, cyniſche Morolf mit ſeiner ganzen Italieniſchen Sippe gehört hierher.

Die übermäßige Befriedigung des Nahrungstriebes kann als Folge die Geſtalt auch wampig, wanſtig und dadurch häßlich machen, eine Deformität, die von der Komik immer auf's Neue zu ganz unfehlbarem Effect ausgebeutet wird, wenn auch ſchon Ariſtophanes darüber ſchmält, daß die Komiker, Lachen zu erzwingen, es ſich mit der Anwendung von Dickbäuchen zu bequem machten. Der dicke Bauch, der ſo viel Inconvenienzen mit ſich bringt, vor welchem der In¬ haber ſeine eigenen Füße nicht mehr ſehen kann, der ſo bos¬ haft den Dichtern das Aetheriſche, den Prieſtern das Geiſtliche nimmt, der dicke Bauch, den man vor ſich hertragen muß und der an einer Straßenecke eher, als ſein Träger, ſichtbar wird, iſt bis zum Spitzbauch des ſchalkiſchen Punch herunter ein Liebling der niedern Komik geweſen. Ohne Geiſt, ohne Witz, ohne Ironie iſt das Lächerliche eines Dickbauchs aller¬ dings ſehr dünn, bei einem Fallſtaff aber wird er zu einer unerſchöpflichen Fundgrube humoriſtiſcher Witze.

� [233/0255] Trunkenheit kann liebenswürdig erſcheinen, ſo lange ſie die Freiheit des Menſchen ſteigert und ihm nur die Schranken wegräumt, die ihn ſonſt einengen. Als enthuſiaſtiſche kann ſie daher die Geſtalt ſogar verklären, wie die feſtliche Raſerei der himmelanſchauenden Mänaden. Dem Silenos hat das Bakchiſche Feuer zwar den Gebrauch ſeiner Füße geraubt; man muß ihm auf den Eſel helfen; allein ſein ſinniges Lächeln zeigt, daß die göttliche Trunkenheit die Gegenwart ſeines Geiſtes nur intenſiver geſpannt, keineswegs vernichtet hat. Der Uebergang des Trunkenen aus der Beſonnenheit in die Unbewußtheit iſt die Zeugeſtätte für die Poſſenreißerei und ſelbſt für die feinere Komik, wenn ſie Jemand als „beſpitzt“ darſtellt. Erreicht aber die Trunkenheit einen Grad, der dem Menſchen alle Beſinnung raubt, ſo wird ſie nothwendig häßlich. In vielen Aeſthetiken wird zwar ohne Weiteres vom Betrunkenen ſo geſprochen, als ob er un¬ mittelbar lächerlich ſei. Dies iſt jedoch keineswegs der Fall, denn der Untergang der perſönlichen Freiheit, der den Menſchen dem Thier nähert, kann nur häßlich erſcheinen. Lächerlich kann dieſer Zuſtand nur ſo lange ſein, als er die Freiheit in vergeblichem Kampf mit der Natur darſtellt und wir bei dieſer Anſchauung von aller ſittlichen Zurechnung einſtweilen wegſehen. Das Lallen und Stottern des Trunkenen, ſein Schwanken, ſein unbewachtes Ausplaudern von Geheimniſſen, ſeine Monologe, ſeine Dialoge mit nicht vorhandenen Per¬ ſonen, ſeine Kreuz- und Queerzüge von A. bis Z. ſind komiſch, ſo lange ſie noch eine gewiſſe Selbſtbeherrſchung verrathen. Schon kann der Betrunkene nicht anders, als dem Zufall und der Willkür anheimfallen, aber noch möchte er anders und dieſer Schein der im Nebel ſeines Unbewußtſeins unter¬ gehenden Freiheit iſt für uns komiſch. Wegen dieſer Unent¬

� [234/0256] behrlichkeit der Mimik und der Tonmalerei iſt es, daß nur Pantomimen und Dramatiker dieſen Zuſtand recht erfolgreich benutzen können, was ſie denn auch ſo häufig gethan haben, daß Beiſpiele anzuführen entrathen werden kann.

Blähungen ſind unter allen Umſtänden etwas Häßliches. Weil ſie aber gegen die Freiheit des Menſchen etwas Unwill¬ kürliches behaupten, weil ſie ihn oft zu ſeinem Schrecken am unrechten Ort überraſchen, bei einer ſchnellen Bewegung ihm unbeaufſichtigt entſchlüpfen, ſo haben ſie die Eigenſchaft eines neckiſchen Kobolds, der unangemeldet sans gène in Verlegenheit ſetzt. Die Komiker haben ſich daher ihrer im Grotesken und Burlesken immer bedient, mindeſtens in An¬ ſpielungen. Es können die lächerlichſten Scenen durch dieſe „tönenden Unſchicklichkeiten“ hervorgebracht werden, unter welchen von den bekannten die Anekdote vom Förſter und ſeinen Hunden gewiß die ergötzlichſte iſt. Karl Vogt er¬ zählt ſie auch in ſeinen Bildern aus dem Thierleben (46). — Weil wir Menſchen, wie wir auch ſonſt an Alter, Bildung, Wohlſtand und Rang uns unterſcheiden mögen, uns in dieſer unwillkürlichen Niedrigkeit unſerer Natur begegnen, ſo verfehlen auch die Anſpielungen darauf ſelten, dem Pu¬ blicum ein Lachen abzunöthigen und die niedere Komik liebt daher alle hieher einſchlägigen Grobianismen, Unfläthereien und Tölpeleien außerordentlich. Auch der eleganteſte Cir¬ cus producirt ſie in ſeinen Clowns doch von Neuem. Ohne Witz, mindeſtens ohne Laune, ſind ſie überaus ſchaal, dürftig, abſtoßend, ja wahrhaft widrig; die bengaliſche Flamme des Witzes vermag freilich ſelbſt die Cynismen zu begeiſten. In Paris hatte ein Hundeſcheerer ſich zwei Hunde auf ſeinen Schild malen laſſen, die ſich gegen¬ ſeitig in den Hintern rochen. Darunter hatte er aber

� [235/0257] die Worte geſchrieben: Au bon jour des chiens! und alle Welt lachte.

Von dieſen Natürlichkeiten, die dem Menſchen ſelbſt bei größter Vorſicht ἀτοπῶς χαὶ ἀχαιρῶς paſſiren können, iſt die Gemeinheit des Obscönen verſchieden, weil daſſelbe ſchamlos iſt. Die Scham iſt heilig und ſchön, denn ſie drückt das Gefühl des Geiſtes aus, ſeinem Weſen nach über die Natur hinaus zu ſein; naturlos kann er nicht ſein, aber naturfrei ſollte er ſein. Die Natur kennt die Scham nicht und das liebe Vieh, wie man im Deutſchen ſagt, ſchämt ſich nicht; der Menſch aber, ſeines Unterſchiedes von der Natur ſich innewerdend, ſchämt ſich. Das Obscöne beſteht in der abſichtlichen Verletzung der Scham. Schon eine zufällige und unabſichtliche Entblößung erweckt Verlegenheit, vielleicht einen peinlich komiſchen Moment, aber ſie iſt nicht obscön. Bei Kindern, bei unbefangen Badenden, bei ſchönen Statuen oder Bildern, die den nackten Körper in ſeiner Totalität darſtellen, wird Niemand von Obscönität reden, denn auch die Natur iſt göttlich und auch die Schamglieder ſind an ſich ein eben ſo natürliches, gottgeſchaffenes Organ, als Naſe und Mund. Feigenblätter aber, auf die Schamtheile von Statuen geklebt, bringen ſchon obscöne Wirkungen hervor, weil ſie aufmerkſam darauf machen und ſie iſoliren. Man wolle dies nicht ſo verſtehen, als ſollte geſagt ſein, daß die Kunſt nicht wohl thue, keuſch zu ſein; wir wollen nur be¬ merklich machen, daß Keuſchheit und Prüderie nicht daſſelbe iſt. Das Obscöne beginnt erſt mit der ſexuellen Beziehung, weil das geſchlechtliche Gefühl das Schamglied des Mannes erregt und ihm eine häßliche Form gibt, die in dieſem Zu¬ ſtande zur übrigen Geſtalt in ein Mißverhältniß tritt. Das Weib iſt von der Natur ſchämiger behandelt worden, aber

� [236/0258] die Katamenien ſind es, die ihm doch eine Verhüllung der Scham aufdrängen. Alle Darſtellung der Scham und der Geſchlechtsverhältniſſe in Bild oder Wort, welche nicht in wiſſenſchaftlicher oder ethiſcher Beziehung, ſondern der Lüſtern¬ heit halber gemacht wird, iſt obscön und häßlich, denn ſie iſt eine Profanation der heiligen Myſterien der Natur. Alles Phalliſche, obwohl in den Religionen heilig, iſt doch, äſthetiſch genommen, häßlich. Alle phalliſchen Götter ſind häßlich. Der Priap in der Geradlinigkeit ſeines ausgeſteiften Gliedes iſt häßlich. Die Masken der alten und die Moha¬ bazzin oder Straßenſchauſpieler der neuen Aegyptier, die mit beweglichen Gliedern ein obscönes Spiel treiben; oder gar die Zwergfiguren der Römer mit ihren coloſſalen männlichen Gliedern, der Sannio, der Morion, der Drillops, ſind häßlich, denn der Penis einer ſolchen Figur iſt beinahe ſo groß, als ſie ſelber (47). — Iſt aber ſchon die Oſtentation der Schamglieder an ſich häßlich, ſo muß die Häßlichkeit ſich noch ſteigern, wenn die ſexuelle Beziehung in beſtimmter Weiſe hervortritt, wie z. B. im Indiſchen Lingam, der den Phallus in der Yoni d. h. in den weiblichen Schamtheilen ſteckend darſtellt, was freilich innerhalb des Indiſchen Cultus religiös gemeint iſt. Wie viele Menſchen übrigens auf dieſem Indiſchen Standpunct auch in Europa ſtehen, wie ſehr die Phantaſie der Menge ſich immer mit Phalliſchen Bildern befleckt, ſieht man in jeder Stadt, wo eine Mauer, ein Thorweg nur recht friſch und rein angeſtrichen zu werden braucht, um ſchon Tags darauf mit ſolchen Figuren beſudelt zu ſein. Im Mittelalter war es eine Zeitlang ſogar üblich, dem Zuckerwerk des Nachtiſchs phalliſche Formen zu geben. — Alle Priapeiſchen Bilder, Gedichte und Romane ſind daher häßlich, mit einem wie großen Aufwand von Phantaſie,

� [237/0259] Witz und techniſcher Virtuoſität ſie auch gemacht ſeien. Man ſehe die Ueberſicht der weitläufigen, hiehergehörigen Romanliteratur in O. L. B. Wolf's Geſchichte des Romans (48). In der Malerei fingen die Pornographen, welche die verſchiedenen τϱόποι τῆς Ἀφϱοδίτης darſtellten, zur Zeit Alexanders an; für die moderne Welt haben die bekannten Bilder des Pietro von Arezzo und die von Julio Romano gezeichneten von Raimondi geſtochenen Figuren den Grund zu ſolchen Darſtellungen gelegt. Im Roman hat Petronius mit ſeinem Satyrikon das Fundament ſolcher obscön wollüſtigen Schilderungen mit einer gewiſſen Großheit der Anſchauung gegeben, die ſeinen Nachfolgern fehlt. Nichts wohl iſt für dieſe infame Gattung charakteriſtiſcher, als daß Sad é, der ſogenannte König der Galeerenſclaven, in ihr der vornehmſte Claſſiker geworden iſt. Die blaſirten Nerven jener Wüſtlinge, die Alles durchgenoſſen haben, kitzeln ſich noch in der Phantaſie mit ſolchen Raffinements auf. Eine traurige Erſcheinung der neueren Zeit, daß ſolche obscöne Schriften und Bilder eine immer größere Verbrei¬ tung finden und, wie der Touriſt Kohl erzählt, in den Straßen Londons ſelbſt der Jugend ſchon in die Hände ge¬ ſpielt werden. Auch unſer modernes Ballet iſt von ſolchen Elementen inficirt und äſthetiſch hauptſächlich dadurch ſo ſehr heruntergekommen, daß es nicht ſymboliſch die Leiden¬ ſchaft der Liebe, ſondern die Zuckungen der Wolluſt darzu¬ ſtellen ſucht. Dieſe Pirouetten und Windmühlengeſtalten, dies freche himmelanſchreiende Beinausſtrecken und ekelhafte Kreuzen von Tänzer und Tänzerin, werden für den Triumph der Kunſt gehalten. Da iſt nicht mehr von idealer Schön¬ heit und Grazie, nur von gemeinem Kitzel die Rede. Der Chahut und Cancan ſind in dem Tanz der heutigen Ge¬

� [238/0260] ſellſchaft die unausbleiblichen Conſequenzen eines ſolchen Standpuncts, der nur noch von den halbnackten oder nackten Geſtalten in den lebenden Bildern eines Quirinus Müller überboten werden kann. Der Franzöſiſche Chicard war bis vor einiger Zeit der Gipfel dieſer obscönen Tendenz. A. Stahr, Zwei Monate in Paris, 1851, ll., S. 155 beſchreibt ihn folgendermaaßen: „Keine Spur von dem Hin¬ geriſſenſein in den Taumel der Sinne und des Bluts, in jene Trunkenheit der Leidenſchaft, die ihre Entſchuldigung in ſich trägt; keine Ausgelaſſenheit der Jugend, welche die Ueberfülle der Kraft im wilden Rhythmus der Leibesbewe¬ gung aufjauchzen läßt. Nein, hier war nichts, als kaltes, bewußtes, überlegtes Raffinement des Häßlichen und Nie¬ derträchtigen. Dieſer Chicard war der Genius der Polizei¬ ſittlichkeit, die ſich ſelbſt ironiſirt. Die ihm zur Seite ſtehen¬ den Wächter derſelben dienten nur dazu, als Folie den Glanz ſeiner Triumphe zu erhöhen. Denn alles Intereſſe beruhte weſentlich darauf, wie weit er es in der Darſtellung des Abſcheulichen, Sittenloſen zu treiben verſuchen werde, ehe dieſe Wächter der Sittlichkeit ſich geſetzlich berechtigt erachteten, ſeine Kunſtleiſtungen zu unterbrechen, und ihn ſelbſt von dem Schauplatz ſeiner Triumphe zu entfernen. Es war die Verhöhnung der uniformirten Moral, der betreßten, ſäbel¬ tragenden Sittlichkeit, des für Geld gemietheten Tugend¬ ſchutzes, um die ſich das ganze Intereſſe bei dieſem Tanze drehete. Der Chicard wagte das Aeußerſte und er ging als Sieger hervor.“ Dieſe pikante Schilderung iſt jedoch ſehr einſeitig; man vergleiche mit ihr die ausführliche Darſtellung vom Chicard durch Taxile Delord in den Français peints par eux mêmes, II., p. 361 — 76, (49). — Die Griechen mit ihrem tiefen, ethiſch wahren Kunſtſinn milderten das

� [239/0261] Obscöne dadurch, daß ſie es größtentheils halbmenſchlich ge¬ ſtalteten Weſen beilegten, wie den Satyrn und den Faunen. Geriren ſolche Individuen, die ſich unterhalb mit Bocks¬ füßen präſentiren, dann auch böckiſch, ſo darf uns das billig nicht Wunder nehmen. Mehre Pompejaniſche Bilder zeigen uns Satyrn, wie ſie im Wald eine Nymphe beſchleichen, die ſich in aller Pracht ihrer ſchneeigen Glieder auf den mooſigen Pfühl hingebettet hat. Die Schöne ſtellt ſich gewöhnlich in einer halben Rückenlage dar und iſt öfter mit einem Schleier bedeckt geweſen, den der genußlüſterne Satyr aufhebt. Mit vor Wolluſt ſchauernden Gliedern, in die Erſtarrung des Sinnenrauſchs verloren, ſteht hier die ins Thieriſche fallende Häßlichkeit vor der halbſchlummernden Schönheit. Wie ganz anders ſchauen dieſe üppigen, obscöndecenten Bilder ſich an, als jene erotiſchen Scenen aus den cubiculis Veneris der Pompejaniſchen Häuſer, wo Liebende in mannigfachen Stellungen dem Werk der Natur obliegen und gewöhnlich ein Sclav dabeiſteht, der den Aphrodiſiſchen Trank gereicht hat und deſſen Gegenwart erſt recht lebhaft die Empfindung des Obscönen hervorbringt. Ekelhaft!

Um das Obscöne zu mildern, wendet der Geiſt die Liſt der Zweideutigkeit an, d. h. der mehr oder weniger verdeckten und verſteckten Anſpielung auf unvermeidliche cyniſche Verrichtungen oder auf die geſchlechtlichen Verhältniſſe des Menſchen. Die Zweideutigkeit iſt ein indirectes Anſchauen deſſen, was uns Scham einflößt. Sie entſpringt offenbar ſelber aus dieſer Scham, indem ſie ihr zugleich durch das Eingehen auf die Geſchlechtsverhältniſſe widerſpricht, verhüllt aber dieſe Unſchamhaftigkeit durch Formen, die zunächſt einen andern Sinn einzuſchließen ſcheinen, ſich jedoch leicht in eine andere Verſion überſetzen laſſen. Das Spiel der Phantaſie

� [240/0262] kann ſich daher hier gerade in witzigen Analogien recht her¬ vorthun. Man erwäge, was Schopenhauer über das Verhältniß der beiden Geſchlechter ſagt (50), ſo wird man begreiflich finden, weshalb durch alle Culturen und Stände hindurch in allen Zeitaltern die ſexuelle Zweideutigkeit als die Amphibolie par excellence eine Lieblingsbeſchäftigung der Menſchheit geweſen iſt. Mit der Civiliſation vermehrt ſich das Wohlgefallen daran ſo lange bis aus ihr die noch höhere, reine, ideale Bildung geboren wird. Die Religionen in ihrer Obscönität ſind ohne alle Verſchleierung der Geſchlechtsver¬ hältniſſe und, was ein Phallus, Lingam, Priap, iſt nicht erſt durch ſymboliſche Deutung auszumachen. Die Religionen erkennen darin die göttliche, heilige Kraft der Natur und entkräften durch ihre Offenheit den Verſuch, damit zu ſpielen. In den Bildern, Reliefs und Gemmen aus dem Alter¬ thum (51), die uns Opfer darſtellen, welche junge Frauen dem Priap darbringen, wird man nichts Wollüſtiges, viel¬ mehr eine ſtrenge Haltung finden. Sculptur und Malerei können nun allerdings wollüſtig und obscön werden, allein der Corruption der Zweideutigkeit erliegen ſie weit weniger, als die Mimik und die Poeſie. Die Muſik iſt ihrer gar nicht fähig Die Zweideutigkeit beſchäftigt unſere Phantaſie und unſern Verſtand zugleich und iſt durch ihre Alluſion nicht ganz daſſelbe mit der Zote, die ihrerſeits auch eine Zwei¬ deutigkeit ſein kann, während umgekehrt eine Zweideutigkeit nicht auch ſchon eine Zote zu ſein braucht. Die Zote be¬ ſitzt eine Derbheit, Dreiſtigkeit, Grobheit, von welcher die Zweideutigkeit als dem Witz verpflichtet ſich entfernt. Die Zote, ein Hauptelement des ſogenannten Niedrigkomiſchen, ſpielt am liebſten mit den Entäußerungen der Nothdurft. Sie lacht über den Menſchen, daß er als ein ſo privile¬

� [241/0263] girtes Weſen doch nicht umhin kann, ſein Waſſer abzuſchlagen und zu Stuhle zu gehen. Wie ſprudelt Rabelais von Zoten, wie ſparſam iſt er mit der Zweideutigkeit! Wie reich iſt Shakeſpeare an Zweideutigkeiten und wie mager an Zoten! Bei Rabelais iſt es ganz im Weſen der Zote, daß ſein Held ſich z. B. ernſthaft mit der tiefſinnigen Forſchung be¬ ſchäftigt, welcherlei Arten von Torcheculs wohl die vor¬ züglichſten, deshalb eine lange Reihe von Experimenten an¬ ſtellt, die gewiſſenhaft in einem Katalog aufgezählt werden, und mit dem Reſultate ſchließt, daß der Steiß von jungen Hühnern, die eben aus dem Ei gekrochen, unſerm Hintern am angenehmſten ſei. Es verſteht ſich, daß Rabelais nebenbei durch ſeine Behandlung dieſes Themas die ſterile Wiſſen¬ ſchaft perſifliren will, die ſich oft ſo gründlich mit dem Nichts abgibt. Von der Satire kann die Zote überhaupt als Correctiv gegen die Prüderie gewendet werden, durch ihre Naturwüchſigkeit die Zimperlichkeit zu erinnern, daß ihre affectirte Engelhaftigkeit eine Lüge. Wenn die Abge¬ ſchmacktheit des Puritaniſchen Rigorismus in Nordamerika verbietet, in Gegenwart von Damen das Wort Hemde oder Beinkleid zu gebrauchen, ſo beweiſt der Ausdruck Inexpressibles am beſten, daß man recht gut wiſſe, was Hoſen ſeien. Ein Titel eines Romans, wie der: die Hoſen des Herrn von Brederlow, von W. Alexis, würde den Autor in Nordamerika für ewig geſellſchaftsunfähig gemacht haben. Es kommt viel darauf an, wie die Zote vorbereitet wird, in welcher Kunſt Heine großes Geſchick beſitzt. Man erin¬ nere ſich an ſeine Polemik gegen Platen in den Reiſebil¬ dern; an ſeine Memoiren des Herrn von Schnabelowopski; an ſeinen Schluß des Wintermährchens, wo die feiſte Ham¬ monia ihm den Nachſtuhlthron Karls des Großen aufzu¬


Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 16 � [242/0264] decken befiehlt. Die Zweideutigkeit dagegen bewegt ſich vor¬ nämlich auf dem Gebiet mehr oder weniger verſteckter ge¬ ſchlechtlicher Anſpielungen. Das ſiebzehnte und das acht¬ zehnte Jahrhundert haben ſich denſelben außerordentlich über¬ laſſen. Ronſard, Voltaire, Crebillon, Greſſet u. A. ge¬ hören hieher. Als ein Maximum der damaligen äquivoken Franzöſiſchen Literatur pflegt immer ein Werk Diderot's angeführt zu werden: les bijoux indiscrets. Man würde ſich jedoch ſehr irren, wenn man daſſelbe nach der Art, wie es gewöhnlich erwähnt wird, in die Claſſe Sotadiſcher Er¬ findungen ſetzen wollte. Die Literarhiſtoriker pflanzen noth¬ gedrungen Urtheile fort, ohne den Gegenſtand derſelben zu kennen. Eine gleichſam banale Phraſe heftet ſich als ſtereotypes Prädicat einem Buche an. Die bijoux indiscrets ſind der Sache nach eine Fortſetzung der Lettres Persanes von Mon¬ tesquieu, eine Satire auf die grenzenloſe Liederlichkeit und politiſche Corruption der Zeit, ein Sittengericht über die geheimſten Laſter und Schändlichkeiten der damaligen Geſell¬ ſchaft, vorgetragen mit allem Geiſt eines Diderot, aber, es läßt ſich nicht leugnen, nicht ohne einen frivolen Einſchlags¬ faden, nicht ohne ein gewiſſes Wohlgefallen an den erotiſchen Scenen. Diderot hat in dem Sultan Mongogul und in ſeiner Favoritin Mirzoza die zarteſten Verhältniſſe den extra¬ vaganten Cynismen, welche durch den Zauberring des weiſen Cucufa enthüllt werden, tactvoll gegenübergeſtellt; er hat Liebe und Zärtlichkeit von Wolluſt und Gemeinheit ſtreng geſchieden; er überſchreitet niemals eine gewiſſe Grenze, ſondern bricht ab, wo ein Autor, dem es um Erregung des Sinnenkitzels zu thun geweſen wäre, ſich erſt recht ver¬ tieft hätte; er läßt durch das ganze Buch die bittre Erkennt¬ niß durchſchmecken, die der Sultan ſelber in die Worte zu¬

� [243/0265] ſammenfaßt (Oeuvres de Diderot, ed. Naigeon, X., p. 126.): „Que d'horreurs! un époux, déshonoré, l'état trahi, des cito¬ yens sacrifiés, ces forfaits ignorés, récompensés même comme des vertus: et tout cela à propos d'un bijou.“ Und den¬ noch macht das Buch einen widerwärtigen Eindruck, weil die fundamentale Fiction zur Enthüllung der Abgründe menſch¬ licher Leidenſchaften ſchlechthin häßlich iſt. Die Gemeinheit dieſer Vorausſetzung wirkt durch die ganze Reihe der Er¬ zählungen hin ähnlich, wie in Ben Jonſons Epicöne (oder das ſtumme Frauenzimmer, überſetzt von Tieck, auf¬ genommen in ſeine ſämmtlichen Werke Bd. 12.) die Baſis des Stücks, daß ein Heirathsvertrag propter frigiditatem wieder zurückgenommen werden ſoll.

Eine eigenthümliche Gruppe des Häßlichen bieten hier noch diejenigen Darſtellungen, die nicht im Sinne der Lüſternheit oder Zweideutigkeit ſchamlos ſind und dennoch das Schamgefühl tief verletzen, weil ſie einen Inhalt, den wir von der Muſe der Geſchichte mit unbefangenem Ernſt aufnehmen würden, poetiſch machen wollen. Es gibt eine Offenheit der Corruption, die zu einer verkehrten Unſchuld wird. Man kann gewiſſen Darſtellungen nicht den Vor¬ wurf machen, daß ſie die Wolluſt durch Verſchleirung pikanter ſchilderten oder umgekehrt, die Sinne zu beſtechen, einen beſondern Aufwand trieben. Ihre Treue in den Ge¬ mälden der phyſiſchen und ethiſchen Verworfenheit, ihre peinlich genaue Anatomie der Gemeinheit, läßt uns gegen ſie nicht den Vorwurf erheben, daß wir durch halbverrathene Reize verführt oder durch kokette Farben überwältigt würden, allein gerade weil dieſe Entſchuldigung fehlt, iſt die Wirkung ſolcher Producte eine um ſo ekelhaftere. Wenn ein Sue¬ tonius und Tacitus uns mit objectiver Wahrheitsliebe der¬


16 * � [244/0266] gleichen berichten, ſo ſchaudern wir über die Brutalität, zu welcher ſich die Menſchheit verirren kann; wenn wir uns aber ſolche Scheußlichkeiten mit dem Anſpruch dargeboten ſehen, Poeſie darin zu finden, ſo fühlen wir uns ethiſch und äſthetiſch zugleich vernichtet. Beaumont und Fletcher haben dieſen Fehler oft gemacht; er iſt auch Lohenſteins Fehler in ſeinen Dramen; er iſt der Fehler ſo vieler Pro¬ ducte der neuern Franzöſiſchen Hyperromantik, wie jetzt in der Cam é liendame des jüngern Dumas; der Fehler Sue's in vielen Partieen ſeiner Pariſer Myſterien z. B. in der mediciniſch correcten Beſchreibung des amor furens; — alle Phantaſie reicht nicht hin, das entſetzlich Proſaiſche, das einmal in der Sache liegt, zu vertilgen. Auch Diderot hat in ſeiner Réligieuse einen abſchreckenden Beleg hierzu gegeben. Unter dem culturhiſtoriſchen Geſichtspunct iſt dies Buch gewiß eines der wichtigſten Vermächtniſſe des acht¬ zehnten Jahrhunderts, denn an intimer Kenntniß der furcht¬ baren Geheimniſſe der Nonnenklöſter übertrifft es ſogar die Geſchichte der ſchwarzen Nonne von Mont Real in Canada. Und welche einfache, hinreißende Darſtellung! Unter dem äſthetiſchen Geſichtspunct aber iſt dieſe Schilderung durch¬ aus verwerflich, denn eine dicke, wollüſtige Aebteſſin, die ihre Nonnen zu Lesbiſchen Sünden zwingt, iſt ein unpoetiſches Scheuſal. Freilich könnte Diderot ſagen, weshalb wir ihm die Prätenſion aufdrängten, einen Roman, ein Kunſtwerk gegeben zu haben; allein er ſelbſt, wie Naigeon (51) be¬ richtet, überzeugte ſich, auch ohne ſolchen Anſpruch zu machen, von der Gefährlichkeit ſeiner Darſtellungen und wollte ſie ſogar caſtigiren, woran ihn jedoch ſeine Krankheit, an welcher er ſtarb, hinderte. Auch in Jacques le fataliste finden wir eine Art Entſchuldigung für die Nüditäten, die

� [245/0267] darin vorkommen, eingeflochten (52). — Die Romaniſche Literatur hat einen Hang zum Schlüpfrigen, Obscönen, Zweideutigen, Lasciven, der ſchon vom Mittelalter, von den contes und fabliaux an, von den galanten Abenteuern der Artusritter her, bis zu den Chansons eines B é ranger ſich hinzieht, welchen Autor man, wenn man an ſeine Frétillon denkt, von dem ſpecifiſchen Wohlgefallen der Franzoſen an ſinnlich frivolen Vorſtellungen nicht wird frei¬ ſprechen können, mit welcher Laune und Anmuth er auch ſo häßliche Stoffe zu behandeln wiſſe. Die Fiction eines ge¬ wiſſen Fatalismus der Liebe, die wir auch ſchon in der Triſtanſage finden und die von den Göthe'ſchen Wahlver¬ wandtſchaften in‘s Tragiſche und damit Sittliche gewendet worden, iſt von den Franzoſen zu einer ungenügenden Ent¬ ſchuldigung für ſehr zweideutige Darſtellungen gemacht. Noch immer iſt bei ihnen einer der beliebteſten Romane Manon L'escaut von Prev ô t d'Exiles. Zwei Liebende ſind darin gleichſam magiſch mit einander verkettet und bleiben ſich durch allen, oft ſehr herben Wechſel des Geſchicks, bis in den Tod getreu. Aber wie? Wenn ihre äußerliche Noth ſehr groß wird, ſo verfällt die ſchöne, liebenswürdige Manon regelmäßig auf das Auskunftsmittel, ſich mit Zuſtimmung ihres Geliebten irgend einem Reichen in die Arme zu werfen, ihn gehörig auszubeuten und dann mit den durch ihre Pro¬ ſtitution erworbenen Schätzen ſich und ihrem Geliebten wieder ein ſorgenfreies Leben zu bereiten. Manon bleibt ihrem Geliebten treu, ſo treu, daß ſie für ihn ſich proſtituirt! Und er, der Herr Ritter Desgrieux? Er verdient durch falſches Spiel! Pikant ſind dieſe Situationen gewiß und Franzöſiſch ſind ſie gewiß auch, wie die vielen, noch immer neu er¬ ſcheinenden Ausgaben der Manon L'escaut beweiſen. Aber

� [246/0268] ethiſch und äſthetiſch gemein und niedrig ſind ſie gewiß auch. Daß die Liebenden hinterher nach Amerika ziehen dort ſehr tugendhaft werden und ein rührendes Ende nehmen, das Vorbild zu Chateaubriands Atala, iſt keine Rechtfertigung, ſondern ethiſch und äſthetiſch ein Fehler, weil dieſe Manon und dieſer Desgrieur auf Amerikaniſchem Boden gar nicht mehr dieſelben Perſonen ſind, George Sand hat ſich verleiten laſſen, in ihrem Leone Leoni ein Seitenſtück zur Manon liefern zu wollen, mit dem Unterſchiede, daß Julie keuſch iſt und das Gewerbe Leoni's, der auch ein falſcher Spieler, nicht kennt. Sie iſt aber ganz ins Häßliche ver¬ fallen, denn, was bei Prevôt d'Exiles durch die offne Ueberein¬ kunft der Liebenden zu einer, wie wir oben ſagten, verkehrten Unſchuld wird, das wird durch die Tücke und den Zwang Leonis gegen Julie, die er einem Engländer in der brutalſten Weiſe verhandelt, zum Unerträglichen. Die Treue Manons hat nichts Unnatürliches, aber die leidenſchaftliche Anhäglich¬ keit Juliens an ein ſittliches Ungeheuer, das ſie zu einem Mittel des Erwerbs hat erniedrigen wollen und ſie auf das Ehrloſeſte betrügt, iſt empörend (53).

Dieſe ganze Region der ſexuellen Gemeinheit kann nur durch die Komik äſthetiſch befreiet werden. Die ethiſche Seite muß in dieſem Fall ignorirt und nur der thatſäch¬ liche Widerſpruch, der in der Situation als ſolcher liegt, feſtgehalten werden. Die Komik muß ſich nur dem Geſchehen als ſolchem zuwenden, denn jede tiefere Auffaſſung würde ſie ſtören. Byron hat in ſeinem Don Juan dieſe Komik in ſehr pikanten Scenen geübt, die uns lachen laſſen, ohne uns zu entrüſten. Julia, die üppige Spaniern, ſtopft, als ihr Mann mit den Alguazils in ihr Zimmer dringt, Don Juan unter das Bettdeck und hält nun eine fulminante

� [247/0269] Predigt, wie man ſo ſchamlos ſein könne, bis an ihr Bett zu dringen. Man durchſucht Alles in der Stube bis unter das Bett und findet nichts Verdächtiges, während der Schuldige im Bette ſchwitzt. Oder Don Juan wird von der Sultanin in Konſtantinopel als Sclav gekauft, als Mädchen verkleidet, in den Harem geſteckt, da es aber noch an einem Bett für ihn fehlt, proviſoriſch für die erſte Nacht einer der Odalisken zugeſellt, welche dann einen ſo ſonder¬ baren und lebhaften Traum träumt, daß ihr Aufſchrei den ganzen Schlafſaal in Aufruhr bringt. In dieſen Fällen muß die Komik, wie geſagt, von aller ſittlichen Kritik abſtrahiren, allein die Möglichkeit dieſer Abſtraction muß auch in dem ganzen übrigen Complex der Umſtände liegen, wie wir z. B. hier in einem Harem von einem als Mädchen verkleideten Don Juan, der ohne ſein Zuthun einer Odaliskin als Bett¬ genoſſe zuertheilt wird, die Vergeſſenheit der ethiſchen Poſtu¬ late nicht überraſchend finden werden. Byron malt in ſeinem Don Juan niemals in der Weiſe mit lüſternen Farben, wie es Wieland thut, der ſich im Auskoſten des Sinn¬ lichen gefällt. Unter den Neuern hat ſich für dies Genre vorzüglich Paul de Kock die friſche Sorgloſigkeit bewahrt, ohne welche es durch und durch abſtoßend iſt. Man fühlt ihm an, daß das Lächerliche der Situation ihm die Haupt¬ ſache iſt und daß er das Sinnliche zwar lasciv, allein ohne Hintergedanken behandelt. So läßt er einmal eine alte Jungfer auf die Vorſtellung verfallen, alle ſexuelle Unſittlich¬ keit lediglich daraus abzuleiten, daß ſo viele Frauenzimmer keine Hoſen trügen. Sie duldet daher in ihrem Hauſe kein weibliches Weſen, das nicht bebeinkleidert wäre. Miethet ſie eine Magd, ſo muß dieſelbe angeloben, Hoſen zu tragen. Eingetreten in das Haus, muß ſie erſcheinen, die Röcke auf¬

� [248/0270] heben und zeigen, daß ſie ſittlich behoſt iſt. Sie nimmt eine Nichte zu ſich. Das junge Mädchen muß ſofort vor allen Dingen Calençons anziehen, denn Hoſentragen iſt für die ehrwürdige Dame mit Anſtand und Sittlichkeit identiſch geworden und ſie hält dem jungen Mädchen weitläufige Aus¬ einanderſetzungen über die Wichtigkeit dieſes ethiſchen Princips. Eines Tags nun ſitzt die Nichte mit ihrem Vetter im Garten auf einer Bank. Die Bank kippt auf, die jungen Leute fallen herunter und durch dieſen Zufall entdeckt der Vetter, daß ſeine Couſine allerliebſte Hoſen trägt. Unglückliche Ent¬ deckung, denn man ſieht vorher, daß ſie Folgen haben kann, welche den erhabenen Intentionen der weiſen Pädagogin ganz entgegen laufen. Früher haben wir ſchon einmal geſagt, daß Paul de Kock überhaupt durch ſeine Komik, weil dieſelbe in's Groteske und Burleske tendirt, viel weniger gefährlich ſei, als mancher andere Autor. Dieſe joviale Laune hat er mit großem Glück beſonders in einem Roman, la maison blanche, entfaltet. Von den vielen ächt komiſchen Situationen deſſelben wollen wir zur Beleuchtung unſeres Thema's nur eine einzige anführen. Robineau, ein Parvenu, hat ein Schloß in der Provinz gekauft und veranſtaltet auf demſelben ein ländliches Feſt. Unter andern Beluſtigungen findet ſich auch ein Mât de Cocagne. Allein alle gewinnluſtigen Jungen gleiten von der glatten Kletterſtange ab und ſchon hat es den Anſchein, als ob Niemand den Preis erlangen würde. Da erſcheint die rüſtige Köchin, ſchlägt die Röcke feſt zuſammen, klimmt eben ſo decent als glücklich hinan, ergreift den Preis und beginnt den Rückrutſch. Allein inzwiſchen haben ſich ihre Kleider oben verhakt und falten ſich ungeahnt über ihrem Kopf zuſammen, ſo daß das Publicum die derben, unbehoſten Hinterbacken der Siegerin zu ſchauen bekommt.

� [249/0271] Dieſe höchſt lächerliche Situation iſt von Kock ganz unge¬ zwungen herbeigeführt. —

Die bisher als Formen der Rohheit aufgeführten Be¬ griffe haben die Abhängigkeit der Freiheit von dem Sinn¬ lichen gemeinſam. Von ihnen unterſcheidet ſich die Bruta¬ lität, die nämlich an dem Zwang, den ſie der Freiheit Anderer anthut, ein Vergnügen hat. Das majeſtätiſche Handeln kann auch Andere leiden laſſen, allein nur, wenn die Gerechtigkeit es fordert; noch erhabener erſcheint die Majeſtät, wenn ihre Gnade verzeihen kann. Die Gemein¬ heit dagegen vollendet ihre Rohheit darin, daß ſie in Andern zur Genugthung ihres Egoismus Leiden hervorbringt. Das Wort brutal charakteriſirt ſich ſchon durch ſeinen etymolo¬ giſchen Urſprung, obwohl das Vieh ſelber, eben weil es Vieh iſt, nicht brutal ſein kann. Nur der Menſch kann brutal werden, weil er aus ſeiner Freiheit heraus ſich in eine Gewaltſamkeit verlieren kann, die einen viehiſchen Charakter annimmt. Wenn ein Kater, ein Eber ihre Jungen freſſen, ſo iſt das unnatürlich, allein es iſt nicht brutal, denn das Thier iſt der Pietät unfähig. Die Rückſichtsloſigkeit, mit welcher der thieriſche Drang verfährt, iſt recht eigentlich das Weſen des Brutalen; das Thier folgt ihm unbekümmert; der Menſch aber ſollte ihn ſeinem Willen unterwerfen. Die Brutalität iſt roh, weil ſie gegen die Freiheit mit gewalt¬ ſamer Willkür, alſo grauſam, verfährt, und weil ſie in dieſem Verhalten zugleich Luſt empfindet. Grauſamkeit wird im Brutalen zur Wolluſt, Wolluſt zur Grauſamkeit. Je berechneter die Gewalt in ihrer Grauſamkeit, je raffinirter die Schwelgelei in ihrer Wolluſt, um ſo brutaler werden ſie — und äſthetiſch um ſo häßlicher, weil nämlich die Ent¬ ſchuldigung einer Uebereilung durch den Affect dann um ſo

� [250/0272] mehr wegfällt und das Brutale um ſo mehr als ein Werk des ſelbſtbewußten freien Willens erſcheint. Die Brutalität mißbraucht die Gewalt des Stärkern gegen den Schwächern, des Mannes gegen das Weib, des Erwachſenen gegen das Kind, des Geſunden gegen den Kranken, des Freien gegen den Gefangenen, des Bewaffneten gegen den Wehrloſen, des Herrn gegen den Sclaven, des Schuldigen gegen den Unſchuldigen. Der Zwang, den die Uebermacht in ihrer Selbſtſucht gegen den Schwachen ausübt, iſt das Himmel¬ ſchreiende in der Brutalität.

Der Form nach kann die Brutalität aber theils eine gröbere, theils eine feinere ſein. Eine gröbere, wenn das Leiden, das ſie hervorbringt, einen direct ſinnlichen Ausdruck annimmt, wie bei Thierhetzen, Stiergefechten, Hinrichtungen, Torturen u. dgl.; eine feinere, wenn das Leiden mehr auf einem pſychologiſchen Zwange beruht. Die erſtere Form iſt diejenige, die in den criminaliſtiſchen Dramen, in Ritter- und Räuberromanen, in Proletariernovellen, in Sclavengeſchichten herrſcht. Als Eugene Sue ſeine Pariſer Geheimniſſe geſchrieben hatte, was für Brutalitäten der gröbſten Art häuften da nicht ſeine Nachahmer zuſammen! Sue hat für die Schilderung des Brutalen ein außerordent¬ liches Talent; er iſt oft grell, allein zuweilen auch wahrhaft plaſtiſch. Seine Geſchichte von Gringalet und Coupe- en-deux in den Myſterien iſt ein Meiſterſtück. Dieſer Coupe-en-deux iſt noch ganz in der Weiſe des Blaubart gehalten, dieſes finſtern, aus den Feudalzeiten ſtammenden Wüthrichtypus. Er hat ſich eine Menagerie hülfloſer Kleinen zuſammengebracht, die er Tags über ausſendet, den einen mit einer Schildkröte, den andern mit einem Affen; wehe ihnen, wenn ſie am Abend ohne reichlichen Erlös zurück¬

� [251/0273] kehren; Schimpfworte, Mißhandlungen, Prügel, Hunger warten ihrer dann in der entſetzlichſten Grauſamkeit. — Die feinere Form der Brutalität, der pſychologiſche Zwang, hat wohl nirgends eine tiefere Durchbildung, als in dem Calderon'ſchen Drama erhalten, deſſen Dialektik von Glaube, Liebe und Ehre die unerhörteſten Peinigungen auch an Andern hervorruft, denn die Qual, die Jemand ſich ſelbſt zufügt, kann man nicht Brutalität nennen, beſtände ſie auch, wie bei Origenes, in Selbſtcaſtration, wie bei Suſo, im Tragen eines Stachelgürtels, im Schlafen auf einem hölzernen Kreuz u. ſ. w. Die große Phantaſie des Spaniſchen Dichters und das religiöskatholiſche Intereſſe, das ſich mit ihm verbindet, haben in ſeiner Betrachtung allerdings die Anerkennung, ja auch nur die Bemerklich¬ machung des brutalen Elementes ſehr zurückgedrängt. In¬ deſſen beſitzen wir auch eine Arbeit, die ſich mit vieler Gründlichkeit der Mühe unterzogen hat, an den berühmteſten Dramen Calderons die empörende Unmenſchlichkeit nachzu¬ weiſen, in welche die Dialektik von Glaube, Ehre und Liebe ausartet. Wir meinen Julian Schmidt in ſeiner Geſchichte der Romantik im Zeitalter der Reformation und der Re¬ volution, 1848, Bd. I., S. 244 — 302. Nur aus dem Schluß dieſer ſcharfſinnigen Entwicklung wollen wir hier dasjenige anziehen, was S. 290 — 91. ſich auf unſer Thema bezieht. Julian Schmidt (54) ſagt: „Hinter dieſer Mytho¬ logie der Ehre, des Glaubens und der Liebe, dieſen blüthen¬ reichen Träumen der Phantaſie, verbirgt ſich eine kalt be¬ rechnende, abſtracte Selbſtſucht. — Der äußerliche Gottes¬ dienſt läßt alle Naturkräfte frei, und der düſtere Reiz des Aberglaubens verkehrt das Leben in einen wüſten Tummel¬ platz böſer Geiſter. Wer in Calderon die üppig ſchaffende

� [252/0274] Phantaſie bewundert, vergeſſe nicht, daß in dieſer Phantaſie das Wort des Geheimniſſes ſich verbirgt, das Spaniens Verderben überdeckt. Dieſe blüthenreiche Sprache feierte mit derſelben Pracht die Glaubenshandlungen der Inqui¬ ſition, ſie übertönte mit ihrem ſüßen Geflüſter das Geheul der Ketzer in den Flammen, ſie breitete ſich wie der Duft eines Arabiſchen Weihrauchs verhüllend über die unwürdige Opferſtätte des Fanatismus. — Das Weſen des Fanatismus iſt, ſich an eine Abſtraction zu veräußern, die ſich als abſo¬ lute Negativität gegen alles Concrete richtet. So iſt das Leben im vollſten Sinne des Wortes ein Traum, geträumt von einem abſtracten Weſen. Die Wirklichkeit iſt dem Augen¬ blick anheimgegeben, weil ſie von dem Abſoluten nicht aner¬ kannt wird. Dafür wird ſie von ihm auch nicht einge¬ ſchränkt; ſie kennt kein Maaß. Die Natur bricht in der Gluth der Leidenſchaft, gedankenlos und ohne Zügel, brau¬ ſend aus dem dunkeln Quell des unheiligen Gemüths, und zerſtört heute, was ſie geſtern geliebt. Es iſt Nichts feſt, als das Jenſeits. In allen Formen ſpielt dieſe Leidenſchaft, dieſe auf ſich concentrirte, von der Heiligkeit der Abſtraction nicht gebrochene Subjectivität; der Einzelne iſt im Haß wie in der Liebe, im Edelmuth wie in der Bosheit ſchranken¬ los; die Gluth des Lebens, von keiner Subſtantialität ge¬ nährt, flammt mit deſto unbändigerer Gewalt im Innerſten des Menſchen. Die Rechtfertigung des Menſchen iſt, daß er von ſich und der Wirklichkeit abſtrahirt: hat er den Kelch der irdiſchen Luſt bis auf die Neige geleert, ſo ſchwingt er ſich auf den Flügeln der Abſtraction durch ein Wunder in die Seligkeit des Himmels. — Da die erlöſende Wirkung dieſer blinden Kraft auf äußerliche Weiſe eintritt, ohne innere Entzweiung, ſo geht der Menſch in ſeiner nackten natürlichen

� [253/0275] Wildheit unbefangen und gedankenlos dieſem wüſten Schick¬ ſal entgegen. Auf der einen Seite die Blutgier des Tigers, das gedankenlos um ſich wüthende Tollwerden, auf der andern die Heiligkeit, die alle Abſtraction von der Welt be¬ reits vollbracht hat und ſich im reinen Ueberſinnlichen bewegt. All dieſe Figuren ſind Abſtractionen, weil ſie ohne Entzweiung und ohne Entwickelung ſind; ſie empören das Gefühl, weil das Thieriſche oder Göttliche als Natur gegen den Geiſt ſich geltend macht. Strebt der Menſch nach der Erkenntniß des Abſoluten, ſo greift er zur Magie; findet eine Wiedergeburt ſtatt, ſo iſt es durch ein Wunder.“ — Was Schmidt Ab¬ ſtraction nennt, nennen wir bei Calderon den pſychologiſchen Zwang, denn die Motivirung der Handlungen wird immer aus dem Calcul entnommen, ob das Leben der Liebe, ob die Liebe der Ehre, ob die Ehre dem Glauben nachzuſetzen ſei. Wenn in La nina de Gomez Arias die Frau nach den ent¬ ſetzlichſten Mißhandlungen von Seiten des Mannes, der ſie ſogar den Mauren als Sclavin verkauft, dem Manne dennoch verzeiht, ſo iſt es die Macht der Liebe, die als abſolute Leidenſchaft des Weibes ihr die Ehre unterzuordnen erlaubt. Wenn in dem bei uns bekannter gewordenen Schauſpiel El medico de su honra Don Gutierre auf einen bloßen Ver¬ dacht hin, daß ſie durch ein Verhältniß zu einem Prinzen die Treue verletzt habe, ſeine Frau grauſam ermordet und, als die Nichtigkeit ſeines Argwohns ſich entdeckt, dennoch ruhig bleibt, ja eine andere heirathet, ſo iſt es die Leiden¬ ſchaft des Mannes für die Ehre, die ihm die Liebe für die Ehre aufzuopfern befiehlt. Wenn im principe constante der Infant Fernando in der Gefangenſchaft, obwohl von der Tochter des Marokkaniſchen Königs geliebt, obwohl in der Möglichkeit, durch die Auslieferung von Ceuta ſich zu be¬

� [254/0276] freien, dennoch das größte Elend, die äußerſte Schmach erduldet und darin auch umkommt, ſo iſt es, weil der Glaube von ihm als Chriſten fordert, Liebe, Freiheit, Leben für Nichts gegen ſeine Herrlichkeit zu achten. In dieſer Dialektik hat die Brutalität der Entehrung, des Mordes, der Mi߬ handlung, des Märtyrertodes ihre Methode. — Von dieſer feinern Brutalität des pſychologiſchen Zwanges ſind auch manche unſerer neuern Tragödien inficirt, wie z. B. Halm's Griſeldis (55). Die Vergleichung derſelben mit der Be¬ handlung des ähnlichen Thema's in Shakeſpeare's Cymbeline kann uns begreifen laſſen, daß weder von Seiten Parzivals noch von Seiten der Griſeldis hier wahrhafte Liebe ein tra¬ giſches Pathos aufkommen läßt, denn Parzival könnte ſonſt unmöglich in der Peinigung ſeines Weibes bis zu ſo grauen¬ hafter Brutalität fortgehen und Griſeldis in der Hingebung für ihn ſich nicht bis zu ſo entwürdigender Erniedrigung ſinken laſſen. Der Reiz der gebildetſten Sprache und die Steigerung der Proben, denen der übermüthige Parzival die Treue ſeiner Frau unterwirft, reißen uns hin, ohne uns zu erheben.

Wenn die Rohheit der Gewalt die Unſchuld mißhan¬ delt, ſo wird die Brutalität ihres Zwanges um ſo häßlicher, je mehr die Unſchuld entweder die des Kindes iſt, das noch nicht in die überall mit Schuld befleckte Verwirrung der Geſchichte ſich eingelebt hat, das noch nicht durch eigene That ſchuldig geworden iſt; oder jemehr die Unſchuld die ſelbſtbewußte Hohheit der Sittlichkeit iſt, die ſich von dem allgemeinen Verderben befreiet hat. Dorthin gehört z. B. der Bethlemitiſche Kindermord, den die Maler ſo gern gemalt haben, den Marini beſungen hat. Aehnliches kann in der Form feinerer Barbarei ſich darſtellen, wie

� [255/0277] Sue in ſeiner Mathilde die niederträchtigen Quälereien geſchildert hat, mit denen Mademoiſelle de Maran die kleine Mathilde ſyſtematiſch unter dem Schein abmartert, ihr eine gewiſſenhafte, ſorgfältige Erziehung zu geben. Wie grenzenlos brutal iſt jenes Ungeheuer in der Scene, wo ſie, im Bett liegend, der Kleinen ihr ſchönes Haar abſchneidet! In der berüchtigten Chouette der Pariſer Myſterien hat Sue nur einen ſchon carikirten, ins Grobe gezeichneten Abklatſch dieſer diaboliſchen Egoität gegeben. — Den Contraſt der Majeſtät ſelbſtbewußter Freiheit mit der Brutalität finden wir be¬ ſonders durch die Paſſionsgeſchichte Chriſti zum Gegen¬ ſtande der Kunſt gemacht. In der antiken Kunſt war dieſer Gegenſatz noch nicht hervorgetreten. Niobe, Dirke, Laokoon waren durch Hybris; Oedipus, Oreſtes durch unfreiwillig frei¬ williges Handeln ſchuldig; Marſyas, dem Gotte gegenüber ebenfalls durch Hybris ſchuldig, kann uns durch die Art ſeiner Strafe Mitleiden erregen, weil es unſern heutigen Gefühlen widerſagt, daß ein Gott ſelber, auch wenn er be¬ rechtigt iſt, eine ſolche Strafe vollzieht, ſeinem überwun¬ denen Gegner mit einem Meſſer die Haut abzuſtreifen. An¬ tike Darſtellungen auf Reliefs mildern daher auch dieſe brutale Anſchauung dadurch, daß ſie den Apollo mit dem Meſſer auf den an einen Baumſtamm gebundenen Marſyos nur zuſchreiten laſſen. In der Paſſion Chriſti aber erblicken wir den diametralen Gegenſatz der Unſchuld zur Brutalität, die ihr in feinern und gröbern Formen gegenübertritt. Früh hat die Malerei dieſen Contraſt ergriffen und die ältere Deutſche Schule vornämlich hat ſich angelegen ſein laſſen, den Phariſäern, Schriftgelehrten und Kriegsknechten recht brutal diaboliſche Phyſiognomieen zu geben (56). Von der Geſchichte Chriſti aus wurde dieſer Contraſt in der Geſchichte

� [256/0278] der Märtyrer und Heiligen nach allen Seiten hin weiter entwickelt. In tauſendfachen Schattirungen wurde hier die Verſpottung Chriſti durch die Kriegsknechte, die ihn mit Ruthen ſtrichen, mit Dornen krönten, ihm ſein Kreuz zu tragen auferlegten, wiederholt. Das Kneipen mit glühenden Zangen, das Annageln an das Kreuz, bei Petrus ſogar mit dem Kopf nach Unten, das Braten auf einem Roſt, das Schinden der Haut, das Ausreißen der Gedärme, das Köpfen, das Auszerren der Glieder auf Folterbänken, das Sieden in Oel, das Eingraben in die Erde u. ſ. w. ſind Brutalitäten, die äſthetiſch nicht weniger, als ethiſch den Fluch verdienen. So ſehr auch das Genie der Künſtler be¬ mühet geweſen iſt, dieſe Stoffe mit den Forderungen der Schönheit zu verſöhnen, ſo ſelten iſt dies doch wirklich ge¬ lungen. Man ſage nicht, daß ein Schlachtgemälde uns doch auch das Schauſpiel des Mordes und der Todesqual in mannigfaltigen Geſtalten darbiete. In der Schlacht tritt Gewalt der Gewalt gegenüber; der Krieger kämpft mit dem Krieger; der Angegriffene iſt zugleich der Angreifende. Den¬ noch wird der Maler mit den Schrecken des Krieges haus¬ hälteriſch verfahren; er wird uns Verwundete und Sterbende aller Art malen, allein gewiſſe Verſtümmelungen wird er unſerer Anſchauung darzubieten Anſtand nehmen. Auch die antike Malerei hat das Schreckliche ungeſcheut dargeſtellt, allein nur das Nothwendige, von welchem Göthe in der Betrachtung der Philoſtratiſchen Gemälde ſagt, daß es das Schickliche ſei. Bd. 39. S. 65. äußert er bei Gelegen¬ heit der Zerfleiſchung des Abderos: „In dieſen Bildern finden wir das Bedeutende niemals vermieden, ſondern viel¬ mehr dem Zuſchauer mächtig entgegen gebracht. So finden wir die Köpfe und Schädel, welche der Straßenräuber am

� [257/0279] alten Baum als Trophäen aufgehängt; eben ſo wenig fehlen die Köpfe der Feier Hippodamias am Palaſte des Vaters aufgeſteckt; und wie ſollen wir uns bei den Strömen Blutes benehmen, die in ſo manchen Bildern mit Staub vermiſcht hin und wieder fließen und ſtocken. Und ſo dürfen wir wohl ſagen, der höchſte Grundſatz der Alten war das Bedeutende, das höchſte Reſultat einer glücklichen Behandlung aber das Schöne. Und iſt es bei uns Neueren nicht derſelbe Fall? Denn wo wollten wir in Kirchen und Galerien die Augen hinwenden, nöthigten uns nicht vollendete Meiſter ſo manches widerwärtige Martyrthum dankbar und behaglich anzuſchauen.“ Ein äſthetiſcher Gegenſtand kann die Brutalität, welche den wehrloſen Heiligen ausgeſuchte Leiden bereitet, nur inſofern werden, als die Darſtellung den Sieg der innern Freiheit über die äußere Gewalt zur Erſcheinung bringt. Die Henker müſſen daher musculöſe Körper, harte, fühlloſe Geſichter, grinſende Mienen haben, mit ihrem gräßlichen Geſchäft per¬ ſönlich in Einklang zu ſtehen, während die Geſtalt und das Antlitz der Heiligen uns durch Würde und Schönheit feſſeln muß. Die Ohnmacht der Brutalität über die Freiheit muß durch die Verklärung der Phyſignomie, durch den Adel in der Haltung der Gemarterten ſich zweifellos herausſtellen. Die ſelbſtgewiſſe Majeſtät des Glaubens muß der Banden und der Qualen, des Todes und Hohnes, man kann nicht einmal ſagen, ſpotten, weil dies noch eine gewiſſe Befan¬ genheit, eine Endlichkeit der Entgegenſetzung in ſich ſchließen würde, ſondern ſie muß ſchlechthin darüber hinaus ſein und im Erleiden und Empfinden des Schmerzes triumphiren. Im Anblick ſolcher erhabenen Ruhe muß das Graunvolle der brutalen Handlungen als ein Nichts verſchwinden. Ohne dieſen Untergang des Entſetzlichen in der Größe und Macht


Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 17 � [258/0280] der göttlichen Geſinnung wird die Anſchauung einer bloßen Henkerarbeit unerträglich und mit dieſem Gräuelanblick pei¬ nigen uns diejenigen Maler und Bildhauer ſogleich, die uns Chriſtus, die Apoſtel und die Heiligen als Irokeſen darſtellen, welche ſich ſelbſt damit ergötzen, den Qualen, mit denen ihre Feinde ſie martern, den Trotz einer abſtracten Un¬ empfindlichkeit entgegenzuſetzen. Die Unſterblichkeit des für die abſolute Wahrheit opferfreudigen Geiſtes muß die Grau¬ ſamkeit in ſich aufzehren. Und doch ſind ſolche Scenen für die bildende Kunſt durch ihre effectvollen Contraſte noch immer günſtiger, als für die Poeſie, denn das Bild oder die Gruppe gibt uns mit Einemmale, was, durch die Breite der Be¬ ſchreibung hindurchgezerrt, uns nur noch abſtoßender berühren kann. Es ſcheint dies dem Leſſingſchen Kanon zuwider zu ſein, allein jeder, der jene Legenden des Mittelalters kennt, in denen die Martyrien von Heiligen mit protokollartiger Gründlichkeit beſchrieben ſind, wird uns beipflichten; es gibt kaum etwas langweilig Häßlicheres. Manche Stoffe aus dieſer Region ſind bei den Malern von jeher außerordentlich beliebt geweſen, weil ſie Gelegenheit zu grellen Contraſten darbieten, ſtehen aber an einer bedenklichen Grenze und ſind deshalb auch häufig genug bei der Ausführung ins Häßliche verfallen. Wie mancher Maler hat den Bethlehemitiſchen Kindermord zu einer ſcheußlichen Schlächterei entſtellt! Wie mancher hat die Herodias gemalt, nicht als ob ſie das blutige Haupt eines Märtyrers, ſondern als ob ſie einen Blumenſtrauß oder in der Schüſſel gar ein leckeres Gericht trüge! Das Mittelalter fühlte hier eine Lücke, daß Jugend, Schönheit, Weltluſt, Leichtſinn ſo fühllos der Würde, Ent¬ ſagung, Gottergebenheit, Ausdauer, ſollte entgegentreten können und erfand daher eine Liebesgeſchichte der ſchönen

� [259/0281] Tänzerin zu dem Propheten, der ſie verſchmähet hatte und an welchem ſie nun durch ſeinen Tod ſich rächen wollte.

Um an der Brutalität das Graſſe der Erſcheinung zu ſänftigen, wird ein Zuſammenhang des Gewaltthätigen mit der Gerechtigkeit immer die günſtigſte Situation bleiben, weil ſie den Gedanken der bloßen Willkür und Zufälligkeit ent¬ fernt. Wir haben vorhin aufmerkſam gemacht, wie die antike Kunſt den ſchwarzen Faden der Schuld in ſolchen Fällen feſtgehalten hat. Die Bildhauer Apollonios und Tauriskos haben in der berühmten Gruppe des Farne¬ ſiſchen Stieres, die ſich jetzt zu Neapel befindet, die Dirke dargeſtellt, wie Amphion und Zethos ſie an die Hörner eines Stieres binden, der bereits zum gliederzerſchmetternden Lauf ſich emporbäumt. Wie ſchön iſt dies Weib! Aber ihre Schönheit rührt nicht die kraftvollen Jünglinge. Dieſe haben auch nicht etwa Freude an ihrem brutalen Werk, ſondern ſie üben nach antiken Begriffen eine Pflicht aus, die Rache für ihre Mutter. Sie thun daſſelbe, was Apollon und Ar¬ temis, wenn ſie die Kinder der Niobe tödteten. Der Mangel der ſogenannten poetiſchen Gerechtigkeit wird daher von uns als eine unverantwortliche Brutalität empfunden werden. Die moderne Franzöſiſche Tragik nach ihrem Grund¬ ſatz, le laid c'est le beau, hat es auch hieran nicht fehlen laſſen. In einem Trauerſpiel, le Roi s'omuse, hat z. B. Victor Hugo dieſen Fehler gemacht. Der Majeſtät eines ſchönen und ritterlichen Königs, Franz I., hat er hier in Tri¬ boulet einen häßlichen und buckligen Narren entgegengeſtellt. Den König degradirt er aber zu einem wahren liederlichen Lumpen, der jeder Schürze den Hof macht und verkleidet bis in die unſauberſten Kneipen ſelbſt den gemeinſten Schenker¬ mädchen nachläuft. Ein ſolcher König iſt kein König, denn


17 * � [260/0282] von der Orgie an, in welcher wir ihn zuerſt kennen lernen, bis zu dem ekelhaften Abentheuer in der Spelunke, worin er ermordet werden ſoll, iſt auch nicht eine Spur edlen Weſens an ihm zu entdecken. Dieſer Triboulet aber, der ſo giftige Impromtus auf Jedermann ſchleudert, der ſo bos¬ hafte Rathſchläge gibt, der den unglücklichen St. Vallier ſeiner vom Könige geſchändeten Tochter halber verhöhnt, ſoll doch zugleich ein zärtlicher Vater ſein und neben ſeinem Narrenthum, das er nur als Gewerbe betreibt, ein wahrhaft prieſterliches, humanes Bewußtſein beſitzen. Er hat zu ſeinem Unglück eine ſchöne Tochter, die dem Könige gefällt. Der König, der ſie in der Kirche geſehen, weiß nicht, daß Blanche die Tochter ſeines Hofnarren iſt. Verkleidet ſchleicht er ihr nach. Höflinge, von Triboulets Sarkasmen beleidigt, über¬ fallen ſeine Tochter, knebeln ſie, rauben ſie und führen ſie dem Könige zu, der ſie, die weinende und flehende, in ſein Cabinet nimmt, deſſen Thür verſchließt und ſie con amore ſchändet, während eben dieſe Thür von den Höflingen be¬ wacht und gegen den ahnungsvoll auf ſie eindringenden Triboulet vertheidigt wird. Kann man ſich eine brutalere Situation erſinnen? Nun will der Narr den König von einem Zigeuner Saltabadil für zwanzig Goldſtücke ermorden laſſen, der aber durch Zufall und Wirrniß Triboulets Tochter ermordet, welche den König liebt, obwohl er ſie ihrer Ehre beraubt hat. Saltabadil ſteckt die Leiche in einen Sack; Triboulet ſetzt darin die Leiche des Königs voraus und will den Sack in die Seine werfen. Jedoch, ſeine Rache recht zu erſättigen, will er den Gemordeten noch einmal ſehen. In der pechfinſtern Nacht wäre dies freilich unmöglich, allein der gefällige Dichter läßt ſofort ein Gewitter heraufziehen, mit dem Schein ſeiner Blitze zuweilen zu leuchten. Triboulet

� [261/0283] ſchneidet den Sack mit einem Dolch auf und erkennt ſeine Tochter, die noch etwas lebt, und, mit halbem Leibe im Sack ſteckend, noch einige rührende Reden hält, voll ſenti¬ mentaler Leidenſchaft für den König, der in der Kneipe hatte ermordet werden ſollen, wohin er ſich geſtohlen, um bei der Schweſter des Zigeuners, Magelone, die Nacht zu¬ zubringen. Hierauf ſtirbt ſie; ein herbeieilender Chirurg er¬ klärt dem Vater mit handwerksmäßiger Sentenz, daß ſeine Tochter nun wirklich todt ſei, worauf Triboulet ſich nicht einmal ermordet, ſondern nur die Beſinnung verliert, während der König, durch Magelone vom Tode errettet, unbekannt mit den Vorgängen um ſich herum, ausgeſchlafen und trällernd von dannen geht! Dieſe Strafloſigkeit iſt offenbar die ärgſte Brutalität in dieſem Schauſpiel, das ſo recht eine Muſter¬ karte von Gemeinheiten. Es würde uns zu weit führen, wollten wir uns noch auf andere Dramen dieſes Dichters einlaſſen und wir begnügen uns mit der Bemerkung, daß ſeit Victor Hugo die Verletzung der poetiſchen Gerechtigkeit bei den Franzoſen nichts Seltenes geworden iſt. Eine der gländzendſten Rollen der Rachel iſt die der Adrienne Le¬ couvreur, welche Scribe eigends für ſie geſchrieben. Adrienne, eine Schauſpielerin, welcher der Marſchall von Sachſen den Hof macht, empfängt von der eiferſüchtigen Geliebten deſſelben, einer verheiratheten Herzogin, einen ver¬ gifteten Blumenſtrauß, der ſie richtig tödtet, während die Frau Herzogin frei ausgeht. Die eigentliche Pointe dieſes Stücks iſt aber nicht einmal dieſe Diſſonanz, ſondern die pathologiſch exacte Darſtellung des Sterbens der Unglücklichen. Alle Phaſen, welche das Gift bewirkt, werden in ihren gräßlichen Uebergängen bis zum Aushauchen des letzten Seuf¬ zers nur zu correct vorgeführt. Auch bei der Caméliendame

� [262/0284] des jüngern Dumas iſt das treu geſchilderte Sterben der Lorette zur intereſſanteſten Brutalität für das Publicum geworden.

Obſchon es unſere Aufgabe iſt, den Begriff des Hä߬ lichen zu entwickeln, ſo wollen wir doch nicht anſtehen, zu bekennen, daß es uns, bei allem wiſſenſchaftlichen Muth, unmöglich fällt, uns noch in diejenige Form des Brutalen zu vertiefen, welche durch die Verbindung der Grauſamkeit mit der Wolluſt und durch die Unnatur der Wolluſt entſteht. Die Annalen der Kunſtgeſchichte ſind leider überreich an ſolchen Producten. Wir begnügen uns, aus der Deutſchen Literatur nur an Lohenſteins Agrippina zu erinnern (57). Nothzucht, gröbere und feinere, iſt natürlich die Lieblings¬ brutalität aus dieſem Gebiet.

Das Brutale kann auch in's Komiſche gewendet werden. Dieſe Wendung wird als Parodie am Gewöhnlichſten ſein, wie in neuerer Zeit die Münchener Fliegenden Blätter das Brutale in Bänkelſängerballaden und in kleinen tragi¬ komödiſchen Actionen oft köſtlich perſiflirt haben und die Marionettentheater zu Paris und London (58) mit ſolcher Parodie die Unnatur der Situationen und das geſchraubte, falſche Pathos, worin die Tragödie epochenweiſe verfiel, ab¬ ſichtlich geißelten. Jedoch kann die komiſche Wendung auch ohne Parodie möglich werden. Der Raub der Sabine¬ rinnen iſt an ſich eine Gewaltthat; der plötzliche Ueberfall der Jungfrauen iſt brutal; indem hier aber das Urverhältniß der Geſchlechter intervenirt, mildert ſich Angſt und Schrecken! Die Bildhauer und Maler haben dieſen Vorfall daher ſehr gern dargeſtellt, weil ſie durch ihn Gelegenheit haben, die erſchreckten Mienen zugleich mit dem Ausdruck ſüßen Er¬ bangens, das Sträuben der Scham mit unwillkürlicher Hin¬

� [263/0285] gebung zu verſchönen; von den kühnen Römern geraubt zu werden, iſt am Ende nicht zu unangenehm. Aehnlich verhält es ſich mit dem Raub der Proſerpina, mit der Entführung der Europa u. ſ. w. Wenn Reinecke das Weib Iſegrimms vor deſſen Augen auf dem Eiſe noth¬ züchtigt, ſo iſt das unbedingt brutal, wird aber durch die nähern Umſtände komiſch (59). Auch gibt es manche Hand¬ lungen, die gewaltthätig ſind, ohne brutal genannt werden zu können; dieſe können nur als komiſche Gegenſtand der Kunſt werden; dahin gehören alle jene Bilder der Nieder¬ ländiſchen Schule, welche uns Zahnbrecher darſtellen, wie ſie mit einfältigen Jungen, die ganz ungebärdig ſchreien, oder mit Bauern hanthieren, die ſich wie arme Sünder zu einer Hinrichtung anſchicken. —

Wir haben bis jetzt das Obscöne und das Brutale als Formen der Rohheit betrachtet, es iſt noch eine Form zurück: das Frivole, welches dem Erhabenen, ſofern es das Heilige iſt, durch ſeine abſolute Willkür widerſpricht und damit den innerſten Halt des Univerſums antaſtet. Natur und Geſchichte haben einen Sinn endlich nur unter Vor¬ ausſetzung der Wahrheit des Sittlichen und Göttlichen. Frivol iſt nicht, wer die Exiſtenz dieſer Wahrheit deshalb negirt, weil er ſich von derſelben nicht überzeugen kann, ſondern der¬ jenige, der aus grundloſer Frechheit heraus den Glauben an das Heilige verſpottet. Der Skeptiker, der zum Atheiſten wird, braucht deshalb noch keineswegs frivol zu ſein; der Egoiſt aber, dem das Heilige zur Poſſe wird, weil die Wirk¬ lichkeit ſeines Daſeins ihm unbequem fällt, iſt frivol. Die Willkür frevelt mit ihrem Hohn an dem Weſen, welches der Grund aller Freiheit und Nothwendigkeit ſelber iſt, wäh¬ rend dem wiſſenſchaftlichen Atheimus, der als das traurige

� [264/0286] Reſultat ernſter Bemühungen möglich iſt, das Gepräge einer religiöſen Verzweiflung aufgedrückt ſein kann. Die Frivolität iſt häßlich, weil ſie der Affe der göttlichen Majeſtät iſt, von welcher alle Majeſtät der Natur und Geſchichte zu Lehen trägt. Sie ſetzt ſich ſelber als das Abſolute. Für die Natur iſt daher dieſe Form des Häßlichen unmöglich, weil dieſelbe, als ohne Bewußtſein, ihre eigene Nothwendigkeit nicht ver¬ lachen kann. Unter den Künſten iſt die Poeſie für die Dar¬ ſtellung des Frivolen am meiſten geeignet, weil ſie durch die Sprache in den Gedanken ſich zu vertiefen im Stande iſt. Die Frivolität gibt das Heilige dem Gelächter als ein in ſich Nichtiges preis; die Pietät in der Ehe, Freundſchaft, Vater¬ landsliebe, Religion, gelten ihr als eine Bornirtheit und Schwachheit, über welche ſich der ſtarke Geiſt als über Vor¬ urtheile des gemeinen Haufens erhebt. Dieſe Stärke des Geiſtes iſt jedoch nichts, als die Willkür, die aus ihrem ſubjectiven Belieben das Göttliche als eine Nullität purer Einbildung verachtet und damit dasjenige eigentlich für ge¬ mein erklärt, was unter den Völkern den objectiven An¬ ſpruch macht, als ein Ehrwürdiges und Höchſtes verehrt zu werden.

Es iſt ſehr wohl zu unterſcheiden zwiſchen dem Glauben der Menſchen an die Exiſtenz des Abſoluten und zwiſchen den Irrthümern, denen ſie darin zugleich unterworfen ſein können, weil ſie frei ſind und weil es mit dem Weſen des Göttlichen ſtreiten würde, den Menſchen den Glauben an ſich äußerlich abzuzwingen. Im Beſondern werden alſo die Menſchen keineswegs immer die abſolute Wahrheit zum In¬ halt ihres Glaubens haben; ſie werden die Wahrheit mit dem Wahn verwechſeln und dieſen ſogar, als eine falſche Religion, vergöttern können. Die Religionen haben im

� [265/0287] Beſondern einen verſchiedenen Inhalt, ſind aber darin iden¬ tiſch, Religion zu ſein und den Menſchen in ein Verhältniß zum Abſoluten zu ſetzen; der wahre Buddhiſt, Jude, Muha¬ medaner ſtirbt eben ſo freudig für die Wahrheit ſeines Glau¬ bens, als der wahre Katholik, Lutheraner, Methodiſt u. ſ. w. Auch in der Beſonderheit der Sitte ſind die Völker ver¬ ſchieden, aber jedem iſt ſeine Sitte heilig. Der Wilde be¬ beeifert ſich, von ſeinem ſittlichen Standpunct aus, ſeinem Gaſt ſeine Töchter, ſeine Frau, zum Beiſchlaf anzubieten, was ein anderer Standpunct für eine Entehrung hält. Die Sitten deſſelben Volkes ſind zu verſchiedenen Zeiten ver¬ ſchiedene und noch im achtzehnten Jahrhundert würde man es bei uns für ein frivoles Untergraben aller Auctorität an¬ geſehen haben, wenn Kinder ihre Eltern zu duzen gewagt hätten, was nun ſogar Mitglieder fürſtlicher Familien thun. Weil die Sitte die Geſtalt iſt, welche der Wille eines Volkes in ſeiner Gewöhnung annimmt, ſo achten die Völker ſich in ihren Sitten, wie abweichend dieſelben auch von einander ſein mögen, und es gilt mit Recht für frivol, den Einzelnen, der in ihre allgemeine Nothwendigkeit hineingeboren und hineinerzogen wird, deshalb zu verſpotten. — Sehr wohl iſt nun auch ein Conflict mit der Sitte, mit dem Glauben eines Volkes denkbar, der nichts weniger als frivol zu ſein braucht, vielmehr ſogar aus der tiefſten Sittlichkeit und Re¬ ligioſität hervorgehen kann, wie dies bei allen großen Re¬ formatoren der Fall iſt. — Frivol wird erſt die Ernſtloſigkeit, die ein Wohlgefallen daran verräth, die Achtung einer Sitte, den Glauben an ein Göttliches, als Widerſinn und Betrug, als Wahn und Selbſttäuſchung darzuſtellen. Die Frivolität iſt nicht der heilige Kampf jener erhabenen Skepſis, die aus der innerſten Wahrhaftigkeit des Geiſtes entſpringt; ſie iſt

� [266/0288] die unreine Freude der geiſtigen Verliederlichung, die ſich vom Abſoluten als einem dummen Geſpenſt emancipirt hat und es recht ſehr zufrieden iſt, daß Zufall und Willkür als die einzigen Factoren alles Geſchehens im Grunde nichts, als ein ephemeres Genußleben geſtatten. Die Frivolität charakteriſirt ſich daher äſthetiſch durch die Wolluſt der Grau¬ ſamkeit, mit welcher ſie den Glauben als eine Beſchränktheit, die Sitte als eine Verkehrtheit zu zerſtören ſich kitzelt.

In Anſehung der concreten Erſcheinung aber wird das Urtheil, ob etwas frivol ſei, oft ſehr ſchwer fallen, weil in der Geſchichte des Geiſtes die Erkenntniß des Wahren im Conflict mit dem als falſch Erkannten und die Ausübung der Tugend im Conflict mit privilegirten Laſtern den Schein der Frivolität gewinnen kann. Die an und für ſich berech¬ tigte Polemik des ewig Wahren und Guten gegen die Plattheit und Nichtswürdigkeit, die ſich oft empiriſch dafür ausgibt, wird von eben dieſer als frivol ausgeſchrieen. Es iſt natürlich, daß jene Polemik nicht immer den wehmüthigen Zug des unendlichen Schmerzes über das ſittliche und geiſtige Unglück der Menſchheit an der Stirn tragen kann; ſie wird als menſchliche ſich nicht entrathen können, über die Anmaaßung ihrer Gegner auch wohl in ein Gelächter auszubrechen und ihr mit Satire zu entgegnen, die dann unfehlbar Frivolität geſcholten werden wird. Hier erzeugen ſich nun für den beſtimmten Fall wieder feine Grenzlinien, denn ſehr leicht kann die an ſich ernſt begründete Polemik durch die Luſt am Witz zu Aeußerungen fortgeriſſen werden, die ſchon ſelber einen frivolen Beigeſchmack haben. Der zer¬ malmende Zorneifer eines Ariſtophanes iſt zugleich von dem Behagen erfüllt, das ihm die Verſpottung ſeiner Gegner einflößt, und das komiſche Element reißt ihn zu manchen

� [267/0289] Wendungen hin, die, vom Griechiſchen Standpunct aus, eine kauſtiſche Frivolität athmen (60). Das Gelächter, welches der Unſitte und dem Unglauben ſeiner Gegner gelten ſoll, trifft unwillkürlich auch wohl die Sitte und den Glauben ſelber. Heine wird eben dadurch oft ſo gemein, daß er dem Gelüſten nicht widerſtehen kann, dem Witz auch das Heilige mit rückſichtsloſer Rohheit zu opfern und dann wirk¬ lich frivol zu werden. Seine Poeſie würde ohne dieſe frivolen Ausläufer viel mehr Poeſie ſein (61). In der Frivolität kennzeichnet ſich ihre Wahrheit durch eine gewiſſe Brutalität, mit welcher ſie, was einem Menſchen oder Volk als heilig gilt, vernichtet und an der Herabſetzung des Heiligen zu einer lächerlichen Fratze Freude empfindet. Der Begriff der Frivolität iſt daher zwar im Allgemeinen ein ganz beſtimmter, im Beſondern aber ein relativer, wie wir dies ganz poſitiv durch die Verſchiedenheit der Geſetzgebungen ſehen, die für ſeine Verwirklichung Strafen feſtſetzen. Was auf einem beſchränktern Standpuct noch für frivol gilt und von ihm aus mit Recht verurtheilt wird, hat auf einem höhern und freiern nicht mehr dieſe Bedeutung. Wir haben hier nur die äſthetiſche Seite der Sache aufzufaſſen, welche darauf beruhet, daß das wahrhaft Schöne ſich nur in der Einheit mit dem wahrhaft Guten vollenden kann, daß alſo ein äſthetiſches Product, welches dieſem Axian widerſpricht, auch nicht wirklich ſchön zu ſein vermag, alſo mehr oder weniger häßlich ſein wird. Daß eine Sitte oder ein Glaube von einem andern Standpunct aus als lächerlich empfunden wird, iſt noch keine Frivolität; erſt wenn man die, welche einer Sitte anhängen, in ihrer Befolgung; die welche einem Glauben ergeben ſind, in ihrem Vertrauen verſpotten wollte, würde man frivol werden. Wir haben oben angeführt, daß

� [268/0290] in Dahomey und Benin jeder, auch ein Miniſter oder General, der von dem Könige ein Geſchenk empfängt, öffentlich vor ihm tanzen muß. Wie lächerlich auch dies dem Fran¬ zöſiſchen Geſandten Boué erſchien, ſo hütete er ſich wohl, zu lachen. Wenn die Ruſſiſchen Hetären ſich Jemand hin¬ geben, ſo tragen ſie Sorge, das Bild des heiligen Nikolaus mit einem Schleier zu bedecken, weil ſie ſich vor ihm ſchämen. Wer wollte es wagen, dieſen Ausdruck des heiligen Scham¬ gefühls, ſo lächerlich er uns erſcheinen kann, in ihrer Ge¬ genwart zu verlachen? Man kann in ſo zarten Materien mit ſeinem Urtheil und Benehmen nicht vorſichtig genug ſein. Wollte man aber der Komik die Berechtigung nicht zugeſtehen, Sitten fremder Nationen oder vergangener Zeiten, religiöſe Vorſtellungen anderer Völker oder überwundener Bildungsformen, als lächerliche Widerſprüche der Wahrheit und Freiheit des Geiſtes zu behandeln, ſo begreift man, daß nicht nur die Kunſt, ſondern auch die Wiſſenſchaft auf eine Trappiſtiſche Lebensweiſe ſich einrichten müßten. Der Scherz hat von den moraliſch engherzigen Biedermännern eben ſo viel zu leiden, als von den dumm bigotten Frömmig¬ keitsbefliſſenen, weil die Kurzſichtigkeit beider in ſeinem be¬ weglichen Spiel überall ſchon ein gefährliches Attentat auf die gute Sitte und den rechten Glauben erblickt. Ging es lediglich nach ihnen, ſo würden wir in einer Stagnation der hausbackenſten Proſa erſticken müſſen. Nichts hat von dieſer Seite der unbefangenen Würdigung poetiſcher Kunſt¬ werke mehr geſchadet, als das Iſoliren einzelner Stellen, das Premiren einzelner Worte. Die Geſchichte der Poeſie beſitzt über ſolche Conflicte höchſt denkwürdige Actenſtücke in den Proceſſen, denen B é ranger unter der Reſtauration unterworfen war und worin Marchangy und Champanhet

� [269/0291] die Anklage eben ſo geiſtvoll begründeten, als Dupin, Barthe und Berville ihnen, mit der intereſſanteſten Bezugnahme auf die Geſchichte der Chanſon in Frankreich, antworteten. Hätten wir hier nur den Begriff des Frivolen zu erörtern, ſo würden wir nicht ermangeln, näher darauf einzugehen; für uns iſt aber das Frivole nur ein Moment in einer viel größern Totalität (62). Wir beſchränken uns darauf, durch einige Beiſpiele die bisherige Auseinanderſetzung zu illuſtriren. Wenn Heine in ſeinem Gedicht: Disputation, den Mönch gegen den Rabbi zur Vertheidigung des chriſtlichen Glaubens ſagen läßt: Trotzen kann ich deinen Geiſtern, Deinen dunkeln Höllenpoſſen, Denn in mir iſt Jeſus Chriſtus, Habe ſeinen Leib genoſſen.

ſo läßt ſich unter den einmal vorhandenen Umſtänden, auf Spaniſchem Boden, im Mittelalter, nichts dagegen ſagen. Wenn er nun aber den Mönch fortfahren läßt: Chriſtus iſt mein Leibgericht, Schmeckt viel beſſer als Leviathan Mit der weißen Knoblauchſauce, Die vielleicht gekocht der Satan.

ſo iſt der Ausdruck: Leibgericht, ſchlechthin frivol und durch die Gemeinheit des Fanatismus, der hier geſchildert werden ſoll, nicht zu rechtfertigen. — Man kann von Heine nicht fordern, daß er das Sacrament des Abendmahls zu einem Moment ſeines eigenen Glaubens mache; allein die Poeſie darf von ihm fordern, daß er nicht mit Hohn überſchütte, was tauſenden der Hörer, an die er ſich wendet, heilig iſt. Die Trockenheit, die doctrinäre Einfachheit, womit er ſich ausſpricht, ſteigern nur die Verletzung. In den Romanzen

� [270/0292] von Vitzliputzli, die ſo reich an den größten dichteriſchen Schönheiten ſind, bricht ſein Haß gegen daß Chriſtenthum, gegen das Abendmahl, in folgenden Verſen aus: „Menſchenopfer“ heißt das Stück Uralt iſt der Stoff, die Fabel; In der chriſtlichen Behandlung Iſt das Schauſpiel nicht ſo gräßlich, Denn dem Blute wurde Rothwein, Und dem Leichnam, welcher vorkam, Wurde eine harmlos dünne Mehlbreiſpeis transſubſtituiret —

Wir abſtrahiren hier ganz vom religiöſen Standpunct; wir legen nur den äſthetiſchen Maaßſtab an und von ihm aus verurtheilen wir dieſe Verſe als ſchlechte Verſe, denn was in ihnen wäre wohl poetiſch? Klingen ſie nicht, als wären ſie in ihrer Hölzernheit aus Daumers berüchtigter Abhand¬ lung über die chriſtliche Anthropophagie abgeſchrieben? Heine ſagt kein Wort des Abſcheus, der Verachtung; er referirt wie ein accurater Hiſtoriker; aber welche unermeßliche Frivoli¬ tät liegt nicht in dieſen kalten Worten, die ſich über ein religiöſes Myſterium auslaſſen, als ob es ein culinariſches Object wäre!

Einem Dichter kann, wie wir bemerkten, dadurch großes Unrecht geſchehen, daß man ihn nicht im Zuſammenhange auffaßt und ihm da eine Frivolität aufbürdet, wo ſie nur ſcheinbar vorhanden iſt. In den zuvor angeführten Verſen kann die zweite Strophe gänzlich fehlen und das Gedicht würde nichts verlieren, vielmehr ſehr gewinnen. Wir wollen aber auch aus Heine ein Beiſpiel geben, wie ihm Unrecht gethan werden könnte. In einem Gedicht: der Schöpfer erzählt er, wie Gott die Sonne, Sterne, Ochſen, Löwen, Katzen geſchaffen habe und fährt fort:

� [271/0293] Zur Bevölkerung der Wildniß Ward hernach der Menſch erſchaffen; Nach des Menſchen holdem Bildniß Schuf er gar nachher die Affen. Satan ſah dem zu lachte: Ei! der Herr copirt ſich ſelber! Nach dem Bilde ſeiner Ochſen Macht er noch am Ende Kälber!

Jedermann erkennt aus dieſen Verſen ſofort die Satire auf Religionen, in welchen der Thierdienſt herrſchte, auf das goldene Kalb, welches ſelbſt die Israeliten umtanzten. Nun könnte man das Verlachen Gottes durch den Satan frivol finden: allein das Gedicht beſteht aus vier kleinern, im zweiten entgegnet Gott:

Und der Gott ſprach zu dem Teufel Ich der Herr copir mich ſelber, Nach der Sonne mach' ich Sterne, Nach den Ochſen mach' ich Kälber, Nach den Löwen mit den Tatzen Mach' ich kleine, liebe Katzen, Nach den Menſchen mach' ich Affen: Aber du kannſt gar nichts ſchaffen.

Dieſe Antwort gebührt dem Satan und muß zu ſeinem Spott als deſſen göttliche Negation hinzugenommen werden. Um nun aber die Heineſche Malice recht zu faſſen, muß man auf den Schluß des Ganzen ſehen; im vierten Gedicht dieſes kleinen Cyklus, worin er von Größerem immer auf Kleineres übergeht, läßt er Gott zuletzt ſagen:

Das Schaffen ſelbſt iſt eitel Bewegung, Das ſtümpert ſich leicht in kurzer Friſt.

� [272/0294] Jedoch der Plan, die Ueberlegung, Das zeigt erſt, wer ein Künſtler iſt. Ich hab' allein dreihundert Jahre Tagtäglich drüber nachgedacht, Wie man am beſten Doctores Juris Und gar die kleinen Flöhe macht.

Dieſe Pointe geht auf Göthe, der eine juriſtiſche Ab¬ handlung über die Flöhe geſchrieben, die 1839 in Berlin gedruckt wurde.

Die Frivolität wird ſehr begreiflich den religiöſen und den ethiſchen Nihilismus zu gegenſeitiger Verſtärkung mit¬ einander verbinden. Die meiſten Werke der obscönen Lite¬ ratur ſind zugleich materialiſtiſche und atheiſtiſche. Eine ge¬ wiſſe ſtumpfe und düſtere Apathie, der geradeſte Gegenſatz einer edlen Melancholie, lagert ſich über ſie hin und öfter wühlt in ihren verzweifelten Reflexionen ein halber Wahn¬ ſinn, wie dies vorzüglich in dem berüchtigten Roman, Therèse philosophe, der Fall iſt. Die Franzöſiſche Literatur hat die Schuld auf ſich, die Vereinigung von Unzucht und Gott¬ loſigkeit auf's Höchſte getrieben zu haben. Voltaires Pu¬ celle d'Orléans iſt der Anfang, Evariſte Parny's Guerre des dieux der Gipfel dieſer Richtung. Man kann beiden Schriftſtellern den Spott auf Frömmelei, auf die Auswüchſe des Kloſterlebens, auf die Verkehrtheiten des Aberglaubens und des kirchlichen Fanatismus zugeben; allein gegen die Art und Weiſe, wie ſie den Glauben an Gott ſelber, wie ſie die fundamentalen Vorſtellungen des Chriſtenthums zer¬ fleiſchen, wird man immer die Anklage der Frivolität er¬ heben müſſen. Die Virtuoſität ihrer eleganten Sprache, der Witz ihres Scharſinns, die Fülle ihrer lächerlichinfernalen Erfindungen, die Correctheit ihrer Zeichnungen, vermögen

� [273/0295] nicht, das Gefühl der Gemeinheit aufzuheben, mit welchem ſie uns erniedrigen. Parny hat die Griechiſchen Götter mit den Perſonen der chriſtlichen Trinität kämpfen und dieſe von den brutalrieſigen Scandinaviſchen Göttern faſt beſiegen laſſen. Er hat die heidniſchen Götter verſpottet, aber nur um die Mythologie des chriſtlichen Glaubens deſto mehr zu verlachen. Daß Chriſtus als ein Lamm, aufgeputzt mit einem blauen Bändchen; daß der heilige Geiſt als eine zierliche Taube; daß Maria als eine „ſüße Dame“, wie das Mittelalter ſie nannte, von ihm aufgeführt wird, iſt natürlich zu erwarten, denn der Widerſpruch des ſinnlichen Elementes mit dem Be¬ griff Gottes als des Geiſtes gibt ſeinem abſtracten Verſtande reiche Nahrung. Gottvater ſtellt er als einen etwas bornirten Judengott dar, der zuweilen Spuren von Altersſchwäche zeigt. Er muß, genau auf der Erde zu ſehen, ſich einer Brille be¬ dienen; ſeine Donner ſind ſchon etwas abgebraucht; ſein Arm iſt nicht mehr ſicher. Einſt erblickt ſein Sohn einen Räuber, der einen Prieſter tödten will; der Sohn fordert ihn auf, mit dem Blitz zu interveniren; er ſchleudert den tödtlichen Strahl, trifft aber ſtatt des Räubers den Prieſter u. ſ. w. Die chriſtlichen Götter als die neuen erregen immer mehr die Aufmerkſamkeit der antiken und um ſie kennen zu lernen, ladet man ſie zu einem Diner auf dem Olymp ein. Bei dieſer Gelegenheit beſieht ſich die neugierige Maria den Palaſt der Olympier, Apollon ſchleicht ihr nach und noth¬ züchtigt ſie. Nothzucht iſt Parny's Leidenſchaft; in den ver¬ ſchiedenſten Situationen ergötzt er ſich an ihr; mitten im Gefecht der Götter läßt er den Engel Gabriel die Artemis nothzüchtigen. Dieſer unreine Geiſt läßt ihn mit höchſtem Intereſſe die alte apokryphiſche Sage weitläufig ausmalen, daß Chriſtus ein unehelicher Sohn der Maria und des


Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 18 � [274/0296] Römiſchen Ritters Pantheras; läßt ihn die Fiction machen, daß Priap nebſt den Satyrn ſich taufen laſſen, um als Mönche ein feiſtes, wollüſtiges Leben zu führen u. ſ. w. Wenn ein Faun dichtete, würde er wie Parny dichten, denn durch den Priap läßt er endlich die Ruhe zwiſchen den Göttern wiederherſtellen, nachdem unter Conſtantin ſich ein¬ mal ſo viele Menſchen den Olympiern entwöhnt und den Chriſtengöttern ſich zugewendet hätten:

Ici l'on plaide, et l'on juge la bas: L'homne a jugé: bien ou mal, il n'importe.

Damit aber iſt Parny noch nicht zufrieden, ſondern in einem Epilog nimmt er, um in ſeinem frivolen Hohn recht methodiſch gründlich zu ſein, die Miene eines heiligen Sängers an, deſſen Herz rein, deſſen Zunge lauter ſei, ſchildert den Untergang der Welt und das Gericht des Herrn mit den lebhafteſten Farben und verſetzt ſich ſchließlich in's Paradies:

Moi qui, plug sage, ai cru sans examen, Au paradis radieux je m'enlève: l'entre; et tandis qu'auprès de Geneviève Je suis assis dans le céleste Eden, L'enfer reçoit nos soldats téméraires, Qui de Jésus houspillent les vicaires, Lez persiffleurs du culte de nos pères, Et les amans des filles de nos mères, Et les frondeurs de mes rimes sincères, In saecula saeculorum; amen!

Man wird ſich wohl an dieſem einen Beiſpiel ächter Frivolität genügen laſſen, denn es widerſteht uns, uns weiter auf ein Feld zu begeben, auf welchem der Witz zur Aermlichkeit der fadeſten Pointen und das Schöne zu ſtereo¬

� [275/0297] typen Nuditäten einer wahren Bordellphantaſie zuſammen¬ ſchrumpft. Wir Deutſche haben uns zwar auch zuweilen im Frivolen verſucht, aber gegen die Franzoſen gehalten ſind wir immer nur blöde Schüler derſelben geweſen; ſelbſt wenn wir den dürrſten Rationalismus und doctrinärſten Atheismus zur Schau tragen, können wir doch nicht hin¬ dern, daß nicht das Gemüth ſich in naiven Inconſequenzen geltend mache, wie einem Bergſee, deſſen klare Oberfläche zu ſtagniren ſcheint, unterirdiſche Zuflüſſe in der Tiefe ein heimliches Leben erhalten. Ein neuerer Dichter, Rudolph Gottſchall, hat z. B. die Göttin, nämlich die deésse de la raison der alten Franzöſiſchen Revolution, beſungen. Aber wie keuſch, wie romantiſch, wie tragiſch iſt dieſer Stoff von dem Dichter erfaßt; wie hat er ſich bemühet, die Vernunftgöttin durch eine ſchmerzliche, lange Erfahrung hin¬ durch in ſich zu vertiefen, ſo daß ſie nicht blos als ein ſchönes Phantom der Sinnlichkeit erſcheint, vielmehr mit Geiſt und Herz des Namens einer Göttin würdig ſein will und an der unausbleiblichen Enttäuſchung dieſes Wahns, als Robespierre den Glauben an Gott als das höchſte Weſen decretirt, in wahnſinniger Verzweiflung untergeht; wie hat der Dichter ächt Deutſch ihren Schritt, ſich allem Volk ausſtellen zu laſſen, durch die Liebe zu ihrem Gatten motivirt, den ſie damit vom Tode loszukaufen hofft. Philo¬ ſophiſch ſteht dieſer Dichter bekanntlich auf dem Feuerbach¬ ſchen Standpunct, allein ſein anthropologiſch revolutionaires Pathos iſt in ſich gebrochen und verliert ſich theils in die weichſten elegiſchen Töne, theils in dithyrambiſche Ausbrüche ſkeptiſchen Wahnſinns. Seine Vernunftgöttin Marie vereint die Schönheit der ſchaumgeborenen Aphrodite mit dem Adel und der Innigkeit einer Madonna, denn


18 * � [276/0298] um die edlen Züge, Welche Hellas' Stempel tragen, Hat der träumende Gedanke Düſtern Mantel umgeſchlagen — Wie madonnenhaftes Leuchten Zuckt um's Haupt ein Glorienſchein, Kündend des Gedankens Qualen, Lebensnoth und Herzenspein.

In's Komiſche kann das Frivole übergehen, wenn es durch die Wahrheit berechtigt, alſo nur ſcheinbar ein Frevel am Heiligen iſt. Es deckt dann den Widerſpruch auf, der zwiſchen dem Weſen und ſeiner Form vorhanden ſein kann. Werke, die von hier entſpringen, können denjenigen, die polemiſch davon berührt werden, auch frivol erſcheinen, ohne es zu ſein. Sie werden zwar Incongruenzen der Vorſtellung des Göttlichen angreifen, aber ſie werden niemals die Sitt¬ lichkeit beleidigen. Lukianos beſitzt eine vorzügliche Stärke in der heitern Art, wie er die innern Widerſprüche des antiken Olymps ſchonungslos aufdeckt. Uns werden ſeine Götterparodieen als ein nothwendiges Moment in der Auf¬ löſung des Heidenthums, einem damaligen Griechen aber konnten ſie auch frivol vorkommen. In ſeinem tragiſchen Zeus läßt er einen Stoiker Timokles mit einem Epikuräer Damis öffentlich über die Exiſtenz der Götter und ihrer Vorſehung kämpfen. Der Stoiker bringt die gewöhnlichen teleologiſchen Argumente vor, ſchimpft gewaltig auf die Ruch¬ loſigkeit ſeines Gegners, weiß aber zuletzt, nachdem ſeine Vergleichung der Welt mit einem von einem Steuermann gelenkten Schiff an des Damis Dialektik Schiffbruch gelitten, ſich nur auf den Schluß zurückzuziehen, daß, weil es Altäre gebe, es doch auch Götter geben müſſe. Zeus nimmt an

� [277/0299] dieſer Disputation ein großes Intereſſe, weil die Opfer der Menſchen ſich durch die ſteigende Aufklärung immer mehr vermindern. Hermes muß daher alle Götter, auch die bar¬ bariſchen, zu einer Berathung einladen. Sie kommen und werden nach dem Werth des Stoffs ihrer Bildſäulen rangirt, ſo daß die goldenen und ſilbernen Barbarengötter vor den ſchönen aber nur marmornen oder erznen Hellenengöttern den Vorſitz erhalten. Die verſchiedenſten Vorſchläge werden erörtert und bei ihrer Widerlegung die ſchwache Seite der Göttlichkeit dieſer Götter perſiflirt, an Apollon die dunkle Zweideutigkeit ſeiner Orakelſprüche, an Herakles die Rohheit ſeiner phyſiſchen Gewalt u. ſ. w. Als die disputirenden Philoſophen zu Athen ihren Streit wieder aufnehmen, weiß der Vater der Menſchen und Götter vor Angſt über den Ausgang endlich nichts weiter zu rathen, als daß die Götter mit ihm für den Vertheidiger ihres Daſeins, Timokles, der die Faſſung verloren zu haben ſcheine, beten möchten. „Darum wollen wir wenigſtens thun, was an uns iſt, und — für ihn beten, aber

Nur unter uns in der Stille, damit nicht Damis es höre!“


B. Das Widrige. Unwillkürlich haben wir bei der Darſtellung der letzten Begriffsbeſtimmungen des Gemeinen auch ſchon den Begriff des Widrigen als die gegen das Gemeine äſthetiſch noch häßlichere Geſtaltung erwähnen müſſen. Der poſitive Gegen¬ ſatz des erhaben Schönen iſt nämlich das gefällig Schöne.

� [278/0300] Das Erhabene ſtrebt in die Unendlichkeit hinaus, während das Gefällige ſich in die Schranken der Endlichkeit hinein¬ ſchmiegt. Das erſtere iſt groß, gewaltig, majeſtätiſch; das letztere niedlich, ſpielend, reizend. Der negative Gegenſatz des Erhabenen, das Gemeine, ſtellt dem Großen das Klein¬ liche, dem Gewaltigen das Schwächliche, dem Majeſtätiſchen das Niedrige entgegen. Der negative Gegenſatz des gefällig Schönen iſt das Widrige, denn es ſtellt dem Niedlichen das Plumpe, dem Spielenden das Leere und Todte, dem Reizenden das Scheußliche entgegen. Das gefällig Schöne ladet uns zu ſeinem Genuß ein, indem es uns von vorn herein ent¬ gegenkommt und alle ſinnlich angenehmen Seiten, uns zu feſſeln, nicht ohne Abſichtlichkeit hervorkehrt. Die Unnah¬ barkeit des Erhabenen reißt uns über die gemeinen Schranken hinaus und erfüllt uns mit Bewunderung und Ehrfurcht. Der Reiz des Gefälligen lockt uns zu ſich hin, es zu ge¬ nießen, und ſchmeichelt uns in allen unſern Sinnen. Das Widrige dagegen ſtößt uns von ſich ab, weil es uns durch ſeine Plumpheit Mißfallen, durch ſeine Todtheit Grauen, durch ſeine Scheußlichkeit Ekel erweckt. Ein Mangel an Einheit der Form, an ſymmetriſcher Gliederung, an harmo¬ niſcher Eurythmie, iſt häßlich, aber noch nicht widrig. Eine Statue z. B. kann verſtümmelt und dann reſtaurirt worden ſein. Iſt dieſe Reſtauration nicht glücklich, bringt ſie einen fremden Zug in die Geſtalt, verhält ſich das Maaß ihrer Theile nicht vollkommen proportional zum urſprünglichen Kunſtwerk, ſcheiden ſich die reſtaurirten Theile zu grell von den Originalreſten, ſo wird eine ſolche Dualität nicht ſchön ſein, allein ſie kann noch weithin haben, widrig zu ſein. Dies würde ſie erſt werden, wenn die Reſtauration die ur¬ ſprüngliche Idee geradezu aufhöbe. Eine Geſtalt kann auch

� [279/0301] incorrect ſein und mit der Normalität, die in ihr ſich aus¬ drücken ſollte, mehr oder weniger in Widerſpruch ſtehen, allein ſie braucht deshalb noch nicht von ſich zurückzuſchrecken. Große Incorrectheiten können ſogar durch große mit ihnen nach andern Seiten hin verbundene Schönheiten bis zur Vergeſſenheit aufgewogen werden. Erſt dann wird das In¬ correcte widrig, wenn es die Totalität der Geſtalt zerſtückelt, wenn es eine durchgängige Stümperhaftigkeit verräth, deren Anmaaßung uns empört, falls ſie uns nicht lächerlich wird. Das Gemeine iſt häßlich, weil es in ſeiner Kleinlichkeit, Schwächlichkeit und Niedrigkeit die Unfreiheit darſtellt, die ſich über ihre Schranken erheben könnte, ſtatt deſſen aber in der Plattheit des Zufalls und der Willkür, in der Dürftig¬ keit der Ohnmacht, in der Niedrigkeit des Sinnlichen und Rohen verharrt. Das Gemeine iſt unſchön, allein es iſt deshalb noch nicht widrig und die Frivolität beſtrebt ſich ſogar, uns durch ſinnlichen Zauber zu beſtricken, und uns ſeine Verhöhnung des Heiligen durch formelle Liebenswür¬ digkeit recht eingänglich zu machen.

Das Widrige erzeugt ſich aus dem gefällig Schönen als deſſen negative Entgegenſetzung. Als poſitiver Gegenſatz des quantitativ Erhabenen iſt das Gefällige dasjenige Kleine, das in ſeiner Totalität leicht überſichtlich, in ſeinen Theilen zierlich ausgearbeitet iſt und das wir im Deutſchen niedlich nennen. Das Kleine als ſolches, ein kleines Haus, ein kleiner Baum, ein kleines Gedicht u. ſ. f. iſt deshalb noch nicht niedlich, ſondern erſt dasjenige Kleine iſt es, das in ſeinen Theilen Zartheit und Sauberkeit der Ausgeſtaltung zeigt. Wie niedlich hat die Natur, manche Schneckenge¬ häuſe und Muſchelſchaalen gebildet! Wie ſind die Blätter und Blüthen vieler Pflanzen ſo überaus niedlich, weil ſie bei

� [280/0302] ihrer Kleinheit auch in ihren beſondern Verhältniſſen zierlich und bunt ſich darſtellen. Wie niedlich ſind Alexanderpapa¬ geien, Canarienvögel, Goldfiſchchen, Bologneſerhündchen, Affenpinſcher, Sagoins u. ſ. w., weil dieſe Thierchen man¬ nigfach gegliedert und in ihren Details zierlich ſind. — Als der poſitive Gegenſatz des dynamiſch Erhabenen iſt das Ge¬ fällige das Spielende Das Erhabene als Macht äußert ſeine Unendlichkeit im Schaffen und Zerſtören des Großen und man kann nicht mit Unrecht ſagen, daß es in der abſo¬ luten Freiheit ſeines Thuns mit ſeiner Macht gleichſam ſpiele, wie ja Theologen und Dichter die Weltſchöpfung ſelber als ein Spiel der göttlichen Liebe bezeichnet haben. Das Erhabene an ſich iſt ernſt und der Ausdruck Spiel ſoll bei ihm nur die abſolute Leichtigkeit der göttlichen Production charakteri¬ ſiren. Zum Spiel als bloßem Spiel gehört eine Bewegung, welcher der Ernſt des Zweckes fehlt, wie der Wind mit den Wolken, Wellen und Blumen ſpielt. Die Unruhe der Ver¬ änderung geht im Spiel von Form zu Form lediglich des Wechſels wegen über. Es iſt eine nur accidentelle Bewegung, die an der Subſtanz nichts ändert; es gewährt den ſüßen, halbträumeriſchen Genuß der Oberfläche des Daſeins, während dies in ſeinen Grundveſten ſich gleich bleibt. Der Proceß des Spiels muß daher die Gefahr von ſich ausſchließen; ein Sturm, welcher die Rieſenbäume eines Waldes krümmt und zerbricht, ſpielt nur gleichſam mit ihnen in furchtbarem Ernſt, während ein lauer Weſt koſend die Blumen wirklich umſpielt; Wogen des tobenden Meers, welche die Schiffe zu den Wolken emporheben, um ſie ſofort wieder in den klaffenden Abgrund zu ſtürzen, ſpielen nur gleichſam mit ihnen, während die ſanft an den Strand klatſchende Welle mit dem Uferſande wirklich ſpielt. Alles Spiel, welches als zweck- und gefahr¬

� [281/0303] los ein gefälliges iſt, tändelt mit der Veränderung, indem es die Veränderung, die es hervorbringt, ſogleich mit heiterer Laune als ein Nichts wieder zurücknimmt. Selbſt wenn es erſchreckt, will es nur Vergnügen, ja Lachen erregen, wie beſonders in jenen grotesken Vermummungen, welche die wilden Völker nicht weniger, als die civiliſirten, ſo leiden¬ ſchaftlich lieben. Das Spielende iſt ſchön, weil es uns die verſchiedenen Seiten eines Weſens in dem Schein einer Ver¬ änderung zeigt, deren Hin und Her die Einheit deſſelben unangetaſtet läßt.

Endlich der poſitive Gegenſatz des majeſtätiſch Er¬ habenen innerhalb des Gefälligſchönen iſt das Reizende. Auch das Niedliche, auch das Spielende kann, wie ſich von ſelbſt verſteht, reizend ſein; das Reizende als ſolches aber wird die Zierlichkeit der Geſtalt mit dem heitern Spiel der Bewegung vereinen. Es iſt merkwürdig, welche Voreingenommenheit gegen das Reizende ſich bei manchen Aeſthetikern findet. Sie verachten es oft, weil es durch ſeine Sinnlichkeit in das Aeſthetiſche eine praktiſche Aufforderung einmiſche. Wir halten dieſen Vorwurf für ungerecht, denn in dem cyniſchen Sinn kann für das unreine Gemüth auch die idealſte Schön¬ heit, auch eine Madonne reizend werden. Das Erhabene allerdings läßt, auch wenn es der Natur angehört, das Sinnliche in die Wirkung ſeiner Unendlichkeit verſchwinden, indeſſen das Reizende uns die ſinnliche Seite der Erſcheinung des Schönen mit verführeriſcher Anmuth hervorkehrt. Aber kann denn dieſer Reiz nicht ein ſchuldloſer ſein? Muß das Sinnliche denn unmittelbar mit dem Böſen identiſch ſein? Gibt es keinen harmloſen Genuß des Sinnlichſchönen? Es ſcheint, als ob Viele ſich das Reizende nur ſo zu denken ver¬ möchten, wie Delacroir eine nackte Schöne gemalt hat,

� [282/0304] die vor einem Toilettenſpiegel das herabwallende Haar ſtrählt, während hinter demſelben in der Maske eines reichen Ren¬ tiers, zum Ueberfluß mit eleganten Hörnern ausgeſtattet, der Teufel lauſcht und eine Rolle Goldes aufthürmt. Wie ab¬ ſcheulich hat der Maler hiedurch das ganze Bild vergiftet! Hätte er die Schöne im Reiz ihrer Glieder unbefangen hin¬ geſtellt, ſo würde man an den reinen, edlen Formen ſich entzückt haben. Durch jene im Dunkeln kauernde Fratze, recht im Ungeſchmack der Franzöſiſchen wohl gar tugendhaft ſich dünkenden Allegoriſterei, zwingt er uns, an die Lüſtern¬ heit der Begier, an die Käuflichkeit der Unſchuld zu denken. Die großen Maler und Bildhauer haben den Reiz nackter Schönheit sans phrase dargeſtellt und ſind eben damit keuſch geweſen; ſie haben aber das Sinnliche zugleich in eine Si¬ tuation zu bringen gewußt, worin es doch die Superiorität des Geiſtes eingeſteht. Z. B. Tiziano Vecelli hat Philipp den Zweiten mit ſeiner Geliebten gemalt, wie dieſe ganz nackt auf einem Lotterbette ruhet; er ſitzt nach hinten am Rande deſſelben; die Scene geht in eine freie, ſchöne Land¬ ſchaft hinaus. Aber wie hat er nun die Liebenden gezeichnet? Sie machen Muſik; er ſpielt die Guitarre und blickt ſich eben zärtlich nach ihr um, ihr das Zeichen zum Einfallen zu geben, während ſie das Notenblatt neben ſich auf dem Kiſſen liegen hat und die Flöte erhebt. Dies Gemälde iſt unendlich reizend, aber der freie offene Reiz regt keine Begierde auf, denn die ſinnliche Seite der Schönheit, ſo ſtark ſie hier her¬ vortritt, bleibt doch dem Geiſt und Gemüth der Liebenden untergeordnet. Wird das Sinnliche, uns als Sinnliches zu feſſeln, zur Tendenz, ſo wird damit der Reiz in ſeiner Ein¬ fachheit geſtört und manche Producte ſchwanken hierin ſchon bedenklich, namentlich aus der neueren Pariſer Malerſchule.

� [283/0305] Ingres' berühmte Odaliske iſt ein ſolches Bild. Die Geſtalt iſt eben ſo unvergleichlich, als die Ausführung, aber die ganze Situation athmet nur Sinnlichkeit. Ein ge¬ ſchloſſenes, enges Gemach; ſchwerſeidene Polſter und Vor¬ hänge, kein Blick hinaus in die freie Natur; auf einem Teppich neben dem Lager, auf welchem die ſchlanküppige, ſammthäutige Schöne ſich ohne alle Beſchäftigung hingeſtreckt hat, Confituren, Früchte, Gläſer; vor ihr an der Wand lehnend eine Opiumpfeife. Die Venus des Harems hat ge¬ raucht! Ingres kann ſagen, daß er Alles ganz treu nach der Sitte des Orients gemalt habe; gewiß, allein dadurch wird von dem Bilde nicht der beengende Druck hinwegge¬ nommen, daß es uns nur eine Sclavin zeigt, nicht eine freie Schönheit. Dieſe Odaliske iſt nur wie ein ſchönes ein¬ gefangenes, eingeſperrtes Menſchenwild; wenn ſie etwas thut, denn im Durchſchnitt thut ſie gar nichts, ſo ißt ſie, ſo trinkt ſie, ſo raucht ſie. O wie geiſtreich, wie ſchön iſt gegen die Opiumpfeife jene Flöte in der Hand von Philipps Geliebten! — Das Reizende, als eine der nothwendigen Formen des Schönen, verbindet ſich natürlich mit allen übrigen und entfaltet ſich in ſehr verſchiedenen Graden, weshalb wir den Gebrauch des Wortes Reiz ſehr weit aus¬ dehnen und auch das Niedliche und Spielende unbedenklich reizend nennen. Bei größerer Genauigkeit werden wir jedoch den Reiz nur da zugeſtehen, wo der ſinnliche Factor des Schönen vorherrſcht, gerade wie umgekehrt die Erhabenheit der Majeſtät wächſt, je mehr ſie in die Tiefen des Geiſtes, in die abſolute Freiheit, zurückgeht, aus welchem Grunde wir den Frühling, die Jugend, das Weib reizender finden, als den Herbſt, das Alter und den Mann. Der Reiz liebt, die ſinnliche Energie zu ſteigern, das Bunte, vornämlich den

� [284/0306] Contraſt, wie z. B. eine weiße Marmorſtatue von dem Grün eines Gartengrundes ſich um ſo reizender abhebt. Auch eine Verhüllung ſteigert daher den Reiz, ſofern ſie mit einer gewiſſen Agaçerie ihn uns zeigt, indem ſie ihn verbirgt, wie ähnlich die alten Römiſchen Dichter ſchon geſungen haben, daß die Schöne als fliehende um ſo reizender wäre.

Der negative Gegenſatz des Gefälligſchönen iſt das Widrige, nämlich 1. als Negation des Niedlichen das Plumpe; 2. als Negation des Spielenden das Leere und Todte; 3. als Negation des Reizenden das Scheußliche. Das Plumpe iſt der Mangel an Ausgliederung, an Entwicklung der Theil¬ ſchönheit; das Todte iſt der Mangel an Bewegung, die Un¬ terſchiedloſigkeit des Daſeins; das Scheußliche die thätige Vernichtung des Lebens durch das auch in häßlicher Geſtalt erſcheinende Negative. In Anſehung des Erhabenen ſteht das Plumpe dem Großen; das Todte dem Mächtigen; das Scheußliche dem Majeſtätiſchen gegenüber. Die Vornehmheit des Erhabenen ſchließt alle Gemeinheit von ſich aus, während das Widrige dieſelbe in ſich aufnimmt; das Erhabene ver¬ klärt das Endliche in die Idealität ſeiner Unendlichkeit, während das Widrige ſich in den Schmuz des Endlichen vertieft; das Erhabene ſpannt uns mit göttlichen Kräften bis zum Heroismus an, während das Widrige mit ſeiner Un¬ geſtaltheit und Ohnmacht uns bis zur Hypochondrie abſpannt.


I. Das Plumpe. Das Niedliche iſt das Kleine, das uns durch ſeine Zierlichkeit gefällt; das Plumpe iſt das, was uns durch die Ungeſtalt ſeiner Maſſe oder durch die Schwerfälligkeit ſeiner

� [285/0307] Bewegung mißfällt. Das Niedliche, weil es in ſeinen Theilen ſorgfältig ausgearbeitet iſt, nennen wir auch wohl das Feine, ſo wie das Plumpe wegen des Mangels an Ent¬ wicklung der Unterſchiede das Grobe. Das Plumpe iſt alſo nicht formlos; es hat Geſtalt, aber eine ungeſchickte, in welcher die Maſſe vorwaltet. Auch kann es ſich bewegen, aber ſeine Bewegungen ſind täppiſch, rückſichtslos, klotzig. Ein dicker Weidenſtamm, deſſen Zweige gekröpft ſind und dem es hiedurch an Geſtalt fehlt, ſieht plump aus. Das Krokodil, Nilpferd, Faulthier, der Seelöwe u. ſ. w. ſind Thiere, deren Bewegung plump iſt, weil es ihrer Maſſe an Gliederung und Elaſticität fehlt. Weder die Größe der Maſſe noch die Einfachheit der Form ſind Urſache der Plump¬ heit, ſondern die Proportion und die Unform. Eine Aegyp¬ tiſche Pyramide iſt eine große, höchſt einfache Maſſe ohne alle Plumpheit; die Aſiatiſchen Dhagopen (oder Stupa's) dagegen, in deren Gewölbbau man die Weltblaſe nachahmen wollte, erſcheinen durch ihre maſſigen und ſtumpfen Ver¬ hältniſſe plump. Die Kabiriſchen Götter mit ihren Dick¬ bäuchen, ihren kurzen, breiten Füßen, ihrem Mangel an Hals und ihren hockenden Sellungen ſind plump. Die Kraft wird in Gefahr ſtehen, mit dem Ausdruck ihrer Energie in das Plumpe zu gerathen, wie es der bildenden Kunſt mit dem Herakles und dem Silenos begegnet iſt. Das Derbe ſtreift auch an ſeine Grenze, wie ſie zuweilen bei Rubens erſcheint. Seinen kräftigen Heldengeſtalten gegenüber mußten allerdings auch ſeine weiblichen Figuren etwas vom Fland¬ riſchen Typus annehmen, breite Rücken, volle Brüſte, ſchwellende Hüften, wohlgerundete Lenden und Arme, aber in der ſtrotzenden Fülle doch eine Innigkeit des Lebens, eine Gliederung, Gelenkheit, nervöſe Spannung, die das ent¬

� [286/0308] ſchieden Plumpe noch nicht aufkommen läßt. Dies inne zu werden, dürfen wir nur Martin de Vos mit ihm ver¬ gleichen, in deſſen Geſtalten die wampigte Ueberwucherung des Fleiſches die Gliederung verdeckt, ſo daß die Verhält¬ niſſe gedrückt und ſchwerfällig erſcheinen.

Das Plumpe als Bewegung wird natürlich zunächſt an die ſelbſt plumpe Geſtalt gebunden ſein. Von einem Nilpferd, Krokodil, Pinguin, Eisbären, von einem ungeſchlachten Tölpel ſind auch nur plumpe Bewegungen zu erwarten. Allein es kann auch von einer an ſich ſchönen, ja zierlichen Geſtalt eine plumpe Bewegung hervorgebracht werden, die als Widerſpruch mit ihr um ſo häßlicher erſcheinen muß; gerade wie umgekehrt die zierliche Bewegung einer an ſich plumpen Maſſe, z. B. eines Elephanten, der auf dem Seil tanzt, wozu die Römer ihn abrichteten, nothwendig den Eindruck des Plumpen an der Geſtalt vermindern muß. Je mehr ein Element ſchon dazu berechtigt, Feinheit der Form, Leichtigkeit, ja Eleganz der Bewegung in ihm ent¬ faltet zu ſehen, um ſo widriger empfinden wir es, wenn ſtatt ihrer Rohheit und Grobheit ſich breit machen. Dies iſt vorzüglich im Element des Scherzhaften und Witzigen der Fall. Der plumpe Scherz, der plumpe Witz, ſind häßlich, weil ſchon im Begriff des Scherzes und Witzes als eines Spiels die Leichtigkeit als ein ihnen weſentliches Prädicat liegt. Die Gemeinheit eines Morolf z. B. äußert ſich in ſolcher Plumpheit.

Oft wird das Plumpe auch das Bäuriſche genannt. Man würde aber ſehr irren, wollte man mit ihm das Bäuerliche vermengen. Das Bäuerliche kann derb, kraft¬ voll, allein es braucht nicht ungeſchlacht zu ſein. In der Scala einer ſtändiſchen Gliederung wird die Ariſtokratie jeder

� [287/0309] Art die Manieren der ihr untergeordneten Stände für plump und ungeſchickt halten. Der Bauer aber iſt urſprünglich mit dem Landadel identiſch; wo er als der freie Grundbe¬ ſitzer auftritt, iſt er zwar als der Gewältiger der Natur kräftig, in ſeiner Sitte und ſeinem Anſtand jedoch nichts weniger als plump, vielmehr im Selbſtgefühl ſeiner Kraft, ſeines Vermögens, von natürlicher Würde durchdrungen, wie dies der freie Bauer in Norwegen, in den Norddeutſchen Marſchländern, in Weſtphalen, in der Schweiz zeigt; wie Voß in ſeinen Idyllen den Holſteiner Bauern, wie Im¬ mermann in ſeinem Münchhauſen den Weſtphäliſchen gezeichnet hat. Immermanns Dorfſchulze zeigt uns die volle Manneshoheit, die ſogar mit dem Schwert Karls des Großen zu Gericht ſitzt, und ſeine Tochter Lisbeth zeigt uns die ganze Anmuth und ſittige Feinheit eines Bauermädchens, das ſehr gut zu harken, zu melken, zu nähen, zu ſpinnen, zu kochen verſteht, ohne mit ſolcher Werkthätigkeit weder das Adlige ihrer Geſinnung, noch das Liebliche ihres Benehmens zu beeinträchtigen. Mit Recht hebt der Dichter an dem Schulzen hervor, daß er Alles „mit Manier“ gethan haben wolle, d. h. mit dem Maaß der Sitte, mit dem Rhythmus des durch die Natur der Sache geforderten Anſtandes. Auch die George Sand hat ſehr richtig an ihren Bauern des Berry im Meunier d'Angibault, in der Jeanne, im péché de Mr. Antoine u. ſ. w. das Conventionelle ihres Weſens als charakteriſtiſch herausgefühlt. Ungeſchlacht iſt die Vernach¬ läſſigung der Manier. Der Bauer kann ἀγροιχος, rusticus, rustre, bäuriſch genannt werden im Gegenſatz zur Urbanitas, zur gewandten Schmiegſamkeit, Redefertigkeit der ſtädtiſchen Artigkeit. Aeſthetiſch widrig iſt ſeine Geſtalt und Erſcheinung aber erſt geworden, als der feudale Adel ihn durch Ueber¬

� [288/0310] bürdung verkümmerte, ihm durch übertriebene Frohndienſte das Mark ausſaugte, als er ihn durch eigene Härte und Rohheit der Behandlung hart und roh machte, als er ihn durch ſeinen Stolz von ſich entfremdete. Nun verſtockte ſich der Bauer; nun wurde er, der als bornirt und linkiſch ver¬ höhnte, bäuriſch und der hohe Name: Bauer, der Gottes Erde mit ſeiner Hand bauet und mit dieſem wahrhaft adligen Geſchäft der ganzen bürgerlichen Geſellſchaft den Grund er¬ bauet, wurde nunmehr zum Schimpfwort, vorzüglich bei der Frivolität des Brief- und Geldadels. Inſofern nun der Begriff der Bäuriſchen mit dem des Niedrigen zuſammen¬ hängt, müſſen wir auf die frühere Abhandlung dieſes Be¬ griffs zurückweiſen.

In dieſem Zuſammenhang iſt auch ſchon erörtert worden, inwiefern die Unmanier im Grotesken und Burlesken lächer¬ lich wird. Das Plumpe iſt für die niedere Komik ein Haupt¬ hebel; doch muß das Ungefüge der maſſigen Geſtalt und das Unbeholfene der Bewegung, komiſch zu ſein, in ge¬ wiſſen Grenzen bleiben; es darf nicht brutal werden. Dem Kinde zeigt ſich bei uns der komiſche Gegenſatz des Plumpen und Gewandten am Früheſten auf der Straße im Bären und Affen. Wie lächerlich erſcheint es dem Kinde, wenn das wilde Raubthier zweibeinig, wie das Kind ſelber thut, auf einem Stocke reitet, wenn es, wie die Magd, Waſſer zu holen, ein Queerholz über den Nacken legt! Und wie klug und zierlich kommt ihm dagegen das rothbejackte Aeffchen vor, das auf dem Rücken des Bären Becken ſchlägt, Nüſſe knabbert, ein Flintchen abſchießt! Die Komiker haben immer großen Vortheil aus der Contraſtirung des Plumpen mit dem Graziöſen gezogen. Sie haben, namentlich in Uebergangsphaſen, immer den Provinzialen und Kleinſtädter

� [289/0311] mit dem Reſidenzler und Großſtädter, den Kleinbürger mit dem Großbürger, den Recruten mit dem geſchulten Soldaten, den verlegenen Subalternbeamten mit dem Hochgeſtellten u. ſ. w. contraſtirt. L'homme de province iſt zumal bei den Franzoſen wegen der Centraliſation all ihrer Bildung in Paris in allen möglichen Variationen eine ſtereotype komiſche Figur. Ariſtophanes hat in ſeinen Komödien die Plump¬ heit der Lakonen, Triballer u. dgl. noch dadurch verſtärkt, daß er ſie, der Feinheit der Attiſchen Sprache gegenüber, in ihrem Dialekt reden läßt. Alle mimiſchen Künſte haben am Plumpen ein unfehlbares Effectmittel. In Glucks Iphigenie auf Tauris iſt der Skythentanz, den Griechen gegenüber, von unvergleichlicher Wirkung. Gluck hat in der Muſik zu demſelben das Dumpfe, Unaufgeſchloſſene einer großen naturwüchſigen Kraft des Barbarenvolks ſowohl in der Melodie als in der Inſtrumentirung auf das Ge¬ nialſte geſchildert. Akrobaten und Kunſtreiter wenden oft das Plumpe als eine groteske Hülle an, durch den Contraſt einer ſich aus ihm entpuppenden ätheriſchen Bewegung deſto mehr zu überraſchen. So ſtellen ſich gerade die Parforcereiter gewöhlich erſt als dumme, plumpe Teufel an, die das Reiten gar nicht faſſen können. Sitzen ſie jedoch erſt ein¬ mal auf dem Rücken des Pferdes, ſo überbieten ſie Alles mit ihrer Keckheit und halsbrechenden Verwegenheit.


ll. Das Todte und Leere. Dem Leben ſteht der Tod und im Leben ſteht die Hei¬ terkeit des Spiels dem Ernſt der Arbeit gegenüber. Aeſthe¬ tiſch iſt zur zweckloſen Unruhe des Spielenden das Todte


Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 19 � [290/0312] und Leere der Gegenſatz als Ausdruck für den Mangel an Leben und freier Bewegung.

Das Todte als ſolches iſt noch keineswegs ohne Wei¬ teres häßlich; ja der Tod kann bei dem Menſchen ſogar eine Verſchönung der Züge zur Folge haben. Aus den Furchen des Leidens, aus den Narben des Kampfes lächeln uns die kindlichen Züge des Urgeſichts des Geſtorbenen noch einmal an. Auch das Sterben iſt, obzwar der Uebergang zum Tode, an ſich nicht nothwendig häßlich. Leſſing in der Abhandlung: wie die Alten den Tod gebildet; ſagt ganz richtig: „Todt ſein hat nichts Schreckliches; und inſofern Sterben nichts als der Schritt zum Todtſein iſt, kann auch das Sterben nichts Schreckliches haben. Nur ſo und ſo ſterben, eben jetzt, in dieſer Verfaſſung, nach dieſes oder jenes Willen, mit Schimpf und Marter ſterben, kann ſchrecklich werden und wird ſchrecklich. Aber iſt es ſodann das Sterben, iſt es der Tod, welcher das Schrecken ver¬ urſachte? Nichts weniger; der Tod iſt von allen dieſen Schrecken das erwünſchte Ende, und es iſt nur der Armuth der Sprache zuzurechnen, wenn ſie beide dieſe Zuſtände, den Zuſtand, welcher unvermeidlich in den Tod führt, und den Zuſtand des Todes ſelbſt, mit einem und eben demſelben Wort benennt.“ Die Griechen, wie Leſſing weiter aus¬ einanderſetzt, unterſchieden die traurige Nothwendigkeit, ſterben zu müſſen, als Kere, vom Tode ſelber. Jene bildeten ſie als ein grauenvolles Weib mit gefräßigen Zähnen und krallenbewehrten Händen, dieſen als einen anmuthigen Ge¬ nius, der die geſenkte Fackel verlöſcht, als den Bruder des Schlafes. Sie haben aber auch in dem abgehauenen Haupt der Meduſa, der ſinnenden, den entſeelenden Blick des Todes dargeſtellt. Aus dem Haupt der ſterbenden entſprang noch

� [291/0313] der Pegaſos und Athene fügte das ſchlangenumlockte der Aegis ein, denn ſie, die kriegeriſche Göttin des Gedankens, war es ja eigentlich geweſen, welche die einzig ſterbliche der Gorgotöchter getödtet hatte. Wir haben oben, in anderm Betracht, die Meduſe zu den Formen gerechnet, mit welchen die Griechen das Furchtbare ſelbſt zur edelſten Schönheit fortzubilden ſo glücklich waren. Dies gewaltige Haupt mit den kraftvollen, krampfdurchbebten Lippen, mit dem impe¬ ratoriſchen Kinn, mit der an des Zeus Stirn erinnernden, nur etwas niedrigeren Stirn, mit den großen, gebrochen rollenden Augen, mit dem dunkeln Nattergelock, ſtrahlt auch getödtet noch Tod und Verderben. Das ſpätere Meduſen¬ ideal hat mit der Kraft der Züge eine eigenthümliche Wehmuth wunderbar verſchmolzen. In einem Meduſenbilde, welches Ternite in ſeinen Wandgemälden, Heft II., getreu in Farben wiedergegeben hat, ſind die grauen, grünen, gelb¬ fahlen Töne des ſterbenden Antlitzes von der ergreifendſten Wirkung; bei der vollkommenſten pſychologiſchen Wahrheit, bei der erhabenen Größe der ganzen Conception, iſt doch das Gräßliche bis zum Entzücken gemildert. — Die chriſt¬ liche Kunſt ging noch weiter, da ihre ganze Weltanſchauung das wahre Leben als durch das rechte Sterben vermittelt auffaßt. Der geſtorbene aber zum ewigen Leben wieder auf¬ erſtehende Gottmenſch wurde ihr Mittelpunct. Der Leichnam Chriſti muß daher bei aller Wahrheit des Todes doch noch den unſterblichen Geiſt, der ihn beſeelte und ihn wieder be¬ ſeelen wird, durchſchimmern laſſen. Dieſe geſchloſſenen Augen werden ſich wieder öffnen, dieſe bleichen, ſchlaffen Lippen werden ſich wieder regen, dieſe ſtarren Hände werden wieder ſegnen und das Brod des Lebens brechen. Dieſe Möglichkeit muß nun vom Bildhauer oder Maler nicht als


19 * � [292/0314] ein im Leichnam zurückgehaltenes Leben dargeſtellt werden, denn das wäre nur ein Scheintod, ſondern ſie muß als das Wunder erſcheinen, das in dieſem Leichnam einzig exiſtirt; unbedingt die ſchwerſte Aufgabe der geſammten bildenden Kunſt, der nur die genialſten Kräfte gewachſen ſind. Der Glaube freilich hat mit dieſen äſthetiſchen Poſtulaten unmit¬ telbar nichts zu ſchaffen und auf ſeinen niedrigeren Bildungs¬ ſtufen kann ihm ſogar ein recht craſſer Ausdruck des Todes Chriſti ſehr angemeſſen ſein; ein recht entfleiſchter, wunden¬ zerriſſener, ſchmerzzertrümmerter Leichnam wird für die Maſſe eben durch ſeine Gräßlichkeit und durch den Widerſpruch, in ſolcher Geſtalt doch den Welterlöſer gegenwärtig zu ſchauen, viel ergreifender ſein. Die äſthetiſch vollendeten Kunſtwerke ſind bekanntlich nicht die wunderthätigen, ſondern jene ganz abſonderlichen, oft entſchieden häßlichen Figuren, die mit ihren grellen Formen für den Aberglauben eine magiſch feſſelnde Anziehungskraft beſitzen. Der Typus des ſterben¬ den und todten Chriſtus wurde natürlich auch auf die Maria, weiter auf die Heiligen übertragen. Leben aus dem Tode iſt hier überall der Grundgedanke, die gerade Umkehr des todblickenden Meduſenhauptes, das Perſeus, wie mehre Wandgemälde von Pompeji darſtellen, der Andromeda des¬ halb nur im Waſſerſpiegel zu zeigen wagte. — Der Tod als Perſonification, als Skelet mit der erbarmungsloſen Sichel, die chriſtliche Metamorphoſe des alten Kronos, iſt eigentlich auch nicht häßlich. Das menſchliche Skelet iſt ſchön; es ſind nur die Nebenvorſtellungen von Sterbenmüſſen, von Grabesdunkel, Verweſung, Gericht, welche es mit herkömm¬ lichem Grauſen umgeben haben. Nur relativ in Verhältniß zum blühenden Leben iſt das Gerippe, wie man ſich mit verabſcheuender Bezeichnung ausſpricht, häßlich. In den

� [293/0315] Todtentänzen hat daher die Malerei auch den Tod als die lebenvertilgende Macht zur höchſten Lebendigkeit zu indi¬ vidualiſiren verſtanden. Das Pathos der Vernichtung ſpannt in dem fleiſchloſen Skelet die Knochen mit unüberwindlicher Kraft, die das Leben in allen Ständen, Altersſtufen und Situationen überraſcht und es in das Grab niederzwingt (63). Dieſe Idee läßt den Tod nicht allein erſcheinen, ſondern im Contraſt mit der Mannigfaltigkeit des Lebens, im Kampf mit welchem er grauenhaft ſchön wird.

In allen dieſen Beziehungen kann nicht von dem Todten und Leeren die Rede ſein, welches wir hier vor Augen haben, ſofern es die abſtracte Negation des Lebens ausmacht, das über die Nothdurft hinaus in ſeinem Uebermuth ſpielt. In allem Werden, in aller Veränderung, in allem Kampf liegt ſchon ein Reiz. Regt ſich aber das Leben in der Froh¬ heit ſeines luſterquickten Selbſtgefühls mit ſpielender Zweck¬ loſigkeit, ſo genießt es ſich darin erſt recht als Leben. Wenn das Waſſer geſchwätzig über die Kieſel hinmurmelt, wenn die Blumen ſtill ihren Opferduft verhauchen und die Schmetter¬ linge ihre ſchaukelnden Kelche umflattern, wenn die Schwalbe auf des Daches Giebel ihren Gruß zwitſchert, wenn die Tauben durch das Blau des Himmels unermüdlich ihre leuch¬ tenden Kreiſe ziehen, wenn die Hunde muthwillig im grünen Raſen ſich tummeln, wenn die Mädchen den Ball werfen, die Jünglinge die Kraft der markigen Glieder im Ringkampf verſuchen, wenn Mädchen und Jünglinge den Ueberſchwang der Luſt im Geſang austönen oder im Tanz ausraſen, — dann, dann genießt ſich das Leben im heitern Spiel. Wie traurig, wie häßlich erſcheint dagegen ein ſeichthinſchleichender Bach, ein ſtagnirender Sumpf, ein verbrannter, verſtaubter Raſen, ein grauer Himmel, eine lautloſe Oede, der mecha¬

� [294/0316] niſche Dienſt in einer Maſchinenfabrik, die nur von Seufzern durchbrochene Stille eines Lazarethſaals!

Das häßlich Todte beſteht in dem Mangel an Selbſt¬ beſtimmung, die in einer Mannigfaltigkeit von Unterſchieden ſich enfaltet. Es ſchließt daher mehr oder weniger die Vor¬ ausſetzung des Lebens in ſich, der es durch ſeine Unterſchied¬ loſigkeit widerſpricht. Und zwar kann dies in verſchiedener Weiſe geſchehen. Einmal kann die Anlage an ſich vortrefflich, die Ausführung aber matt und leer ſein; — wie dies der Fall zu ſein pflegt, wenn ein größerer Genius ein Wert be¬ gonnen hat, es nicht durchführt und ein geringeres Talent die Vollendung übernimmt. Hier hat der Plan des Ganzen keine Schuld, aber die Darſtellung erreicht nicht die Höhe ſeiner Intention und läßt uns kalt, wie Schillers Deme¬ trius und ſeine Durchführung von Maltitz u. ſ. w. — Oder die Anlage iſt froſtig und es ſoll nun der äußerliche Reichthum der Ausführung die innere Armuth verſtecken. Der Zwieſpalt zwiſchen der urſprünglichen Todtheit und dem Luxus der eroteriſchen Ausſtattung hilft nur, den Eindruck des Leeren zu ſteigern, wie in der Berniniſchen Verbildung des von Palladio ausgegangenen Bauſtyls eine üppig aufge¬ bauſchte Ornamentik doch den Mangel an Seele in der eigentlichen architektoniſchen Erfindung nicht zu verbergen vermochte. Oder man erinnere ſich jenes Heeres endloſer Epen, welche in Hexametern, Stanzen oder Nibelungen¬ ſtrophen die ideenloſeſten Begebenheiten in unausſtehlicher Breite hervorlallen, wie Kunze's Heinrich der Löwe (64), wie Bodmers Noachide, in welcher ein Komet auf gött¬ lichen Befehl der Erde ſich ſo weit nähert, das Steigen der Gewäſſer auf ihr hervorzubringen. Welche Fülle von Waſſer, welche Fülle von Unglück aller Art, welche Fülle ſchlechter

� [295/0317] Hexameter — und welcher Ueberfluß an poetiſcher Leerheit! Man erinnere ſich jener gedankenloſen Oden, die in der muſiviſchen Anhäufung traditioneller Großwörter Begeiſterung affectiren; jener nüchternen Lieder, die uns immer das Commando wiederholen, daß wir trinken und ſingen und ſingen und trinken ſollen; jener trivialen Trauerſpiele, deren unſeligen Dummheiten und Bettlerpathos man ſogleich ein Ende machen würde, falls es erlaubt wäre, vom Parterre aus dem Elenden auf der Bühne zehn Thaler vorzuſchießen; jener ungeſalzenen Luſtſpiele, in denen ein an ſich ſehr un¬ ſchuldiger Einfall bis zur Verzweiflung der Zuhörer ausge¬ beutet wird. Wie todt, wie leer ſind ſie nicht. — Endlich kann die Todtheit aber zugleich ſowohl in dem Mangel an Form wie in dem Mangel an Inhalt liegen. Richtiger ge¬ ſagt, die Todtheit der Conception kann mit der Todtheit der Ausführung zu einer fürchterlichen Harmonie zuſammenfallen. Es iſt dies bei vielen allegoriſchen Producten der Fall, welche den Mangel wahrhaft poetiſcher Anſchauung durch Perſonification von Laſtern und Tugenden, von Künſten und Wiſſenſchaften, und durch eine mühſelig zuſammengeklügelte Symbolik zu erſetzen ſtreben, von welcher Art, einzelne Partieen abgerechnet, der im Franzöſiſchen Mittelalter ſo be¬ liebt geweſene Roman von der Roſe iſt (65). — Es iſt dies ferner der Fall bei vielen Werken, welche die Kunſt nur zum Mittel einer Tendenz machen. Keineswegs gehören wir zu denen, welche die Tendenz überhaupt verſchmähen, denn der Künſtler kann ſich den Strömungen der Zeit, in welcher er lebt, nicht entziehen; die Tendenzen ſchließen auch Ideen in ſich; aber ſie müſſen nicht mit dem abgeſchloſſenen Dogma einer Partei verwechſelt werden. Die Tendenz unſerer Zeit z. B. durch wahrhafte Bildung von Innen

� [296/0318] heraus den Gegenſatz der Ariſtokratie und Demokratie in allen ihren Formen zu vermitteln, hat zwei unſerer vorzüg¬ lichſten Romane befruchtet, das Engelchen von Prutz und die Ritter vom Geiſt von Gutzkow. Dieſe Dichter haben ihre großen Erfolge aber nur dadurch erreicht, daß ſie von der Tendenz aus ſich zum Ideal erhoben haben. Sinkt die Tendenz dagegen zur excluſiven Parteipointe herab, ſo er¬ tödtet ſie durch ſolche proſaiſche Abſicht unfehlbar die Poeſie. Die Tendenz in dieſem beſchränkten Sinne hat ähnliche Folgen, wie die Allegoriſterei. Die Geſtalten werden gleich bei der Conception Opfer des Begriffs, um deſſen Sieg oder Niederlage es zu thun iſt. Ferner tritt das Todtgeborene von Inhalt und Form bei vielen Werken der Sculptur und Malerei durch die akademiſche Geſchultheit, durch das unfreie Anheften an die Poſen der Modelle und die Falten der Phantome ein. Statt Kunſtwerke zu werden, werden ſie blos Machwerke. Der Ausdruck ſolcher akademiſchen Geſtalten gibt das Gefühl, als verſtellten ſie ſich nur zu ihm. Doch auch von der Muſik und Poeſie läßt ſich Aehnliches bemerken, wenn blos nachahmende, an ſich unproductive Mittelmäßig¬ keiten ihre Ohnmacht in unfruchtbaren, innerlich hohlen, äußerlich hölzernen Wiederholungen der Ideen großer Vor¬ bilder proſtituiren. Was bei dem Original ein Spiel des friſchen Lebens iſt, wird in der Copie des Nachahmers zu einer todten Machwerkerei, zum öden Aggregat eines ſterilen Eklekticimus. Die lebendige Erfindung entſpringt aus ge¬ heimnißvollen Quellen und ſtürzt wie ein Bergſtrom mit Jubelgetön hervor; die Nachahmung ſchleicht als ein abgeleitetes Gewäſſer in abgezirkelten Canälen lautlos dahin. Der Er¬ finder wird durch die Offenbarung der Idee ſelber begeiſtert; der Nachahmer begeiſtert ſich erſt an dieſer Begeiſterung.

� [297/0319] Iſt der Nachahmer zugleich der Dilettant, ſo tritt noch alles das ein, was wir oben bei dem Begriff des Correcten darüber erinnert haben. Den ſchöpfriſchen Genius erfüllt die Macht der Idee mit jener Freiheit, die ſich mit der Nothwendigkeit der Sache Eines fühlt und aus welcher heraus er in der Neuheit, Größe und Kühnheit ſeiner Compoſition auch wohl gegen die empiriſche Normalität und die Regeln der Technik verſtößt. Der Nachahmer, in welchem das Wohlgefallen an dem ſchon geſchaffenen Werke thätig iſt, das für ihn zu einem empiriſchen Ideal, zu einem Surrogat der Idee wird, kann kein wahrhaft productives Pathos haben, ſollte er ſelbſt auch ein ſolches ſich anlügen. Die Nachahmung übertreibt in ihrer Unſelbſtſtändigkeit nicht blos die Fehler, ſondern ge¬ wöhnlich auch die Tugenden ihres Originals und verkehrt durch ſolches Unmaaß die Tugenden ſelbſt wieder zu Fehlern. Eben hierdurch wird der Reſt urſprünglichen Lebens, der aus dem Urbilde noch herübergenommen, vollends getödtet.

Wie wir nun das Lebendige nach ſeinen verſchiedenen Seiten hin verſchiedentlich benennen, ſo auch das Todte, indem wir es als das Leere, Hohle, Kahle, Trockne, Oede, Wüſte, Froſtige, Kalte, Hölzerne, Lederne, Stumpfe, Gleich¬ gültige u. ſ. w. bezeichnen und dieſe Synonyma für die qualitative Charakteriſtik des Widrigen mannigfach unter einander verbinden, wie Heine im Atta Troll ſingt:

Tönt der Schall der großen Trommel, Und der Klang des Kupferbeckens, Wo das Hohle mit dem Leeren Sich ſo angenehm verbindet.

Den Uebergang ins Komiſche macht das Todte durch das Langweilige. Das Todte, Hohle, Kalte wird durch ſeinen Mangel an freier Unterſcheidung, an ſpontaner Ent¬

� [298/0320] wicklung intereſſelos, langweilig. Das Langweilige iſt häßlich oder vielmehr die Häßlichkeit des Todten, Leeren, Tauto¬ logiſchen erzeugt in uns das Gefühl der Langenweile. Das Schöne läßt uns die Zeit vergeſſen, weil es als ein Ewiges, ſich ſelbſt Genügendes, uns auch in die Ewigkeit verſetzt und uns mit Seligkeit erfüllt. Wird nun die Leerheit einer Anſchauung ſo groß, daß wir auf die Zeit als Zeit merken, ſo empfinden wir die Inhaltloſigkeit der reinen Zeit und dies Gefühl iſt die Langeweile. Dieſe an ſich iſt daher keines¬ wegs komiſch, aber der Wendepunct ins Komiſche, wenn nämlich das Tautologiſche und Langweilige als Selbſtpa¬ rodie oder als Ironie producirt wird und eine ganze ſchreck¬ liche Ballade nur in dieſen Verſen beſteht:

Eduard und Kunigunde, Kunigunde, Eduard; Eduard und Kunigunde, Kunigunde, Eduard!


III. Das Scheußliche. Vereint das Schöne die Lieblichkeit der zierlichen Ge¬ ſtalt mit dem graziöſen Spiel der Bewegung, ſo wird es reizend. Es iſt nicht nothwendig, daß dies Spiel ein agi¬ tirtes ſei; es kann die größte Ruhe darin herrſchen; es muß aber den ſeelenvollen Ausdruck der Freiheit des Lebens dar¬ ſtellen. Erinnern wir uns einer jener ſchlafenden Nymphen, wie die Alten, wie Tizian, wie Netſcher, Rubens, ſie ge¬ malt haben, ſo iſt der Schlaf kein Tod; auch in der ſchlafen¬ den ſpannt die Fülle des Lebens die weiche Haut, hebt und ſenkt den Buſen, ebbt und fluthet durch den leiſe geöffneten

� [299/0321] Mund und durchzuckt die Augenlieder. In dieſem Spiel des Lebens wird die zierliche Geſtalt reizend. Nehmen wir daſſelbe fort, ſo würde die todte Geſtalt auch noch zierlich ſein, denn es hätte ſich ja zunächſt an den Proportionen derſelben nichts geändert, allein reizend würden wir ſie nicht mehr zu nennen vermögen. D é camps hat ein junges ſchönes Mädchen gemalt, das als Leiche, von einem dünnen Schleier überdeckt, durch welche ihre edlen Züge durch¬ ſchimmern, auf einem Geſtell in einer leeren Dachkammer liegt. Niemand wird hier von Reiz ſprechen, denn der Reiz wohnt nur im Lebendigen. Oder nehmen wir an, daß die Geſtalt unſchön wäre, ſo würden wir ſie auch nicht reizend finden. Ein altes Weib, eine anus libidinosa, wie Horaz ſagt, athmet auch im Schlaf, läßt auch den welken Buſen auf und abſinken u. ſ. w., aber wird uns nur um ſo häßlicher erſcheinen. Das Reizende fordert aber auch die Zierlichkeit der Geſtalt, denn ſtellen wir uns eine erhabene Schöne vor, ſo wird die Kraft ihrer Glieder und die Strenge ihrer Formen eher etwas Ablehnendes, als zum Genuß Ein¬ ladendes haben, was die Alten in dem Mythus ausdrückten, daß Here, dem Zeus Liebreiz zu erwecken, ſich erſt von der Aphrodite den Anmuthſtrahlenden Gürtel leihen mußte.

Dem Reizenden entgegengeſetzt iſt das Scheußliche als die Ungeſtalt, die in ihrer häßlichen Bewegung nur immer neue Mißformen, Mißtöne und Mißworte hervorbringt. Das Scheußliche hält uns nicht, wie das Erhabene, in ehr¬ fürchtiger Ferne, ſondern ſtößt uns von ſich ab; es zieht uns nicht, wie das Gefällige, lockend zu ſich heran, ſondern macht uns vor ſich ſchaudern. Es befriedigt uns nicht, wie das vollkommen Schöne, durch abſolute Verſöhnung in dem Innerſten unſeres Weſens, ſondern wühlt vielmehr aus den

� [300/0322] Tiefen deſſelben die äußerſte Entzweiung hervor. Daß Scheu߬ liche vornämlich iſt dasjenige Häßliche, deſſen die Kunſt gar nicht entbehren kann, will ſie nicht auf die Darſtellung des Böſen verzichten und in einer oberflächlichen und beſchränkten Weltauffaſſung ſich bewegen, deren Ziel nur die angenehme Unterhaltung wäre. Das Scheußliche iſt nun: 1. ideeller Weiſe das Abgeſchmackte, die Negation der Idee im ſchlecht¬ hin Sinnloſen; 2. reeller Weiſe das Ekelhafte, die Negation aller Schönheit der ſinnlichen Erſcheinung der Idee: 3. ideel¬ reeller Weiſe das Böſe, die Negation ſowohl des Begriffs der Idee des Wahren und Guten, als auch der Realität dieſes Begriffs in der Schönheit der Erſcheinung. Das Böſe iſt der Gipfel des Scheußlichen als die poſitive, abſolute Unidee. Die Kunſt darf nicht nur aller dieſer Formen des Häßlichen ſich bedienen, ſondern ſie muß es unter gewiſſen Bedingungen. Die allgemeinen Bedingungen ſind von uns in der Einleitung erörtert; es ſind diejenigen, ohne welche die Darſtellung des Häßlichen überhaupt nicht zuläſſig iſt. Das Scheußliche darf alſo niemals Selbſtzweck ſein; es darf nicht iſolirt werden; es muß durch die Nothwendigkeit her¬ ausgefordert ſein, die Freiheit in ihrer Totalität zu ſchildern, und endlich muß es eben ſo idealiſirt werden, wie alle Er¬ ſcheinung überhaupt. Sehen wir nun aber zu, worin die beſondern Bedingungen ſeiner äſthetiſchen Möglichkeit beſtehen.

a) Das Abgeſchmackte. Das Scheußliche im Allgemeinen widerſtreitet der Vernunft und Freiheit. Als Abgeſchmacktes ſtellt es dieſen Widerſtreit in einer Form dar, die vorzüglich den Verſtand durch die grundloſe Negation des Geſetzes der Cauſalität und die Phantaſie durch die daraus ſich ergebende Zuſam¬

� [301/0323] menhangloſigkeit beleidigt. Das Abgeſchmackte, Abſurde, Ungereimte, Widerſinnige, Alberne, Inſipide, Verrückte, Tolle, oder wie wir es ſonſt noch benamſen mögen, iſt die ideelle Seite des Scheußlichen, die theoretiſche, abſtracte Grundlage der in ihm vorhandenen äſthetiſchen Entzweiung. Nicht der Widerſpruch überhaupt iſt abſurd, denn er kann ein vernünftig berechtigter ſein, wie wir ſchon bei der Be¬ leuchtung des Begriffs des Contraſtes geſehen haben. Das Gute widerſpricht dem Böſen, das Wahre der Lüge, das Schöne dem Häßlichen mit Recht. Wohl aber iſt die ſoge¬ nannte Contradictio in adjecto ein ſich ſelbſt vernichtender Widerſpruch und ein ſolcher macht den Inhalt des Abge¬ ſchmackten aus. Die Logik unterſcheidet zwiſchen Widerſpruch und Widerſtreit ſo, daß Widerſpruch nur die einfache, un¬ beſtimmte Negation eines Prädicates von Seiten des Urthei¬ lenden (ἀντιφατιϰως ἀντιϰειμενον), Widerſtreit dagegen die poſitive Negation eines Prädicates durch das ihm imma¬ nenter Weiſe entgegengeſetzte (ἐναντιως ἀντιϰειμενον) ſein ſoll. Weder jener Widerſpruch, noch dieſer Widerſtreit ſind abſurd, wohl aber derjenige Widerſpruch, der durch das Prädicat das Subject ſelbſt negirt, wie z. B. wenn ich ſagen wollte: das Weiße iſt ſchwarz, oder das Gute iſt böſe u. ſ. w. Allerdings iſt nun dieſe an ſich ganz richtige Beſtimmung des Verſtandes kein Letztes, denn die Extreme können in einander übergehen, wie jede Hausfrau unbefangen von der weißen Wäſche ſagt, daß ſie ſchwarz geworden ſei; wie das Recht, an ſich ein Gutes, durch abſtracte Hart¬ näckigkeit grauſam, damit böſe wird; wie das Häßliche durch richtige Behandlung innerhalb einer äſthetiſchen Totalität die Bedeutung des Schönen, nicht eines häßlichen Schönen, wohl aber eines ſchönen Häßlichen gewinnen kann u. ſ. w.

� [302/0324] Der bloße Verſtand hält Vieles für abſurd, was es ſo wenig iſt, daß es vielmehr das Vernünftige ſelber iſt. Wir müſſen dieſe Dialektik, die im Endlichen liegt, wohl im Auge behalten, die Grenzen des Abgeſchmackten genau zu erkennen und ſeine Verwandtſchaft mit dem Lächerlichen zu begreifen.

Es erhellt aus dem Geſagten ſchon, daß das völlig Sinnloſe ohne tiefere Motivirung, ein pures Chaos zufäl¬ liger Widerſprüche, für die Kunſt ſchlechthin verwerflich iſt. Wer ſoll an ihm ein Intereſſe nehmen, es wäre denn der Pſychiatriker, wie z. B. Hohenbaum in ſeiner trefflichen Abhandlung über: Pſychiſche Geſundheit und Irreſein in ihren Uebergängen, 1845 S. 54. ff. von einem an Zer¬ ſtreuung leidenden Lehrer ſolche Unſinnigkeiten aufführt. Dieſer Mann verſprach ſich häufig und ſagte z. B.: „Jeru¬ ſalem war damals in den Feinden der Türken. — Sehen Sie, dieſer Satz iſt klar verwickelt, indeſſen es iſt gar nichts Verwickeltes darin. — Hannibal band den Fluß ans linke Ufer und ließ Sand darauf ſtreuen, daß die Elephanten beſſer überſchreiten könnten. — Die Kaiſerin ſtarb und hin¬ terließ einen ungeborenen Knaben. — Die Lacedämonier trugen damals einen Pileus auf dem Hute. — Ajax nahm einen Stein und warf damit dem Ajax ſo auf den Kopf, daß er ſtarb u. ſ. w.“ An dergleichen, wie geſagt, kann nicht die Aeſthetik, nur die Pſychiatrie, ein Intereſſe nehmen. Es läßt ſich nicht leugnen, daß ein nicht geringer Theil der poetiſchen Literatur unſers Jahrhunderts eigentlich nur unter dieſe Kategorie gehört. Von Seiten der ſuperſtitiös und bornirt gewordenen Reaction ſowohl, als von Seiten der atheiſtiſch und libertin gewordenen Revolution, ſind in Eng¬ land, Frankreich und Deutſchland genug Producte, namentlich

� [303/0325] Romane erſchienen, die nur als Symptome der Zeitſtimmun¬ gen von der Politik und Pſychologie aus, nicht aber als Kunſtwerke Beachtung verdienen. Die Zerriſſenheit der em¬ pörten Geiſter iſt darin bei der Confuſion der Gedankenflucht angelangt und Mager hat keinen Anſtand genommen, in ſeiner Geſchichte der Franzöſiſchen Nationalliteratur neuerer und neueſter Zeit, 1839, Bd. II., S. 374, geradezu die Kategorie: Verrückte Romane, aufzuſtellen.

Man muß daher mit der abſoluten Unfaßlichkeit dieſes faſelnden Abſurden nicht denjenigen Widerſpruch verwechſeln, der in der phantaſtiſchen Weltanſchauung allerdings dem Verſtande widerſpricht, allein nur, weil er, im Spiel mit den Schranken des Endlichen, doch das Weſen der Idee zur Vorſtellung bringen will. Hieher gehört das Wunderbare, welches das Geſetz der objectiven Cauſalität negirt, um eine höhere Idee, die Freiheit des Geiſtes von der Natur, in ſolch phantaſtiſcher Form darzuſtellen. Das ächte Wunder unter¬ ſcheidet ſich von dem ſchlechten Mirakel durch die Unend¬ lichkeit ſeines ethiſch-religiöſen Gehaltes, während das Mi¬ rakel den Widerſinn als ſolchen, die Abſurdität ſelber, ver¬ abſolutirt. Wir haben dieſen Unterſchied in zwei Mytholo¬ gien vor uns, in der Griechiſchen und Indiſchen. Die thaumatiſchen Momente in den Mythen der erſteren hängen immer mit den tiefſten Ideen zuſammen, ſo daß ſie für die gebildete Menſchheit die ſchönſten und univerſellſten Symbole derſelben geworden ſind, während die Mythen der letztern zu ſehr von abſurden Schlingpflanzen umrankt ſind, als daß das Sinnige, was in der Anlage auch wohl vorhanden iſt, ſichtbar werden könnte. Aehnlich unterſcheiden ſich die Wunder, welche die kanoniſchen Evangelien erzählen, von denen der apokryphiſchen, die mehr oder weniger abſurd ſind. Auch in

� [304/0326] den Legenden finden wir dieſe Doppelrichtung wieder. Das Wunderbare der Mährchenpoeſie verliert ſich zwar ganz in das Seltſame und Abenteuerliche und ſtreift mit ſeinen Einzelheiten oft ganz ins Abſurde, allein ſo lange ſie noch einen wirklich dichteriſchen Gehalt beſitzt, wird ſie auch in ihrem thaumatiſchen Element jene ſymboliſche Wahrheit haben, die wir ihr oben in der Abhandlung über das Incorrecte vindiciren mußten. Dieſe Symbolik, der Widerſchein der Idee in der weichen Kinderphantaſie, wird das ächte Mährchen inſtinctiv mit den großen Mächten des natürlichen und ſittlichen Lebens in Einheit belaſſen, während das Mährchen, wie es von unſern pädagogiſchen Unterhaltungsſchriftſtellern oder Goldſchnittduodezſalontheetiſchdichtern jetzt ſo oft fabri¬ cirt wird, von dieſen Mächten abfällt und ſeine Stärke im Kindiſchen ſucht. Je abſurder, ſcheinen dieſe Jugendver¬ derber zu meinen, deſto poetiſcher. Weil in dieſer zuchtloſen Phantaſterei, die eine Callot-Hoffmannſche Richtung ins Extrem trieb, endlich alle Spur der wahren Cauſalität un¬ tergegangen war und ſelbſt die ordinärſten Meubel endlich zu denken und zu ſprechen anhoben, ſo wirkte die Manier des Struwelpeterhoffmann ſo außerordentlich, weil ſie den haarſträubendſten Unſinn mit einer Art Lapidarpoeſie und Frescomalerei doch wieder naiv vorzutragen und damit die Quängelei der eleganten, gedankenloſen Mährchenpoeten zu ironiſiren verſtand. Hieraus erklärt ſich, weshalb die Erwachſenen merkwürdiger Weiſe die Struwelpetriaden eben ſo gern, als die Kinder laſen, bis der Schwarm der Nach¬ ahmer ihre Manier natürlich auch wieder ins Kindiſche de¬ gradirt hat. — Doch zurück von dieſer Abſchweifung zum Begriff des Abſurden, ſo iſt das, was innerhalb des Mähr¬ chens, ja auch der Mythe, recht eigentlich die Wurzel der

� [305/0327] Ungereimtheit enthält, die Zauberei als die an ſich be¬ griffloſe Realiſirung der abſoluten Phantaſiewillkür. Die Zauberei iſt ein abgeſchmacktes Handeln, denn ſie bringt Wirkungen durch Urſachen hervor, die zu ihnen in keinem Verhältniß ſtehen. Der Zaubernde dreht einen Ring — und es erſcheint ein gehorſamſter Geiſt; er berührt einen wüthenden Tiger mit einem Stäbchen — und ſofort iſt derſelbe zur Bildſäule erſtarrt; er ſpricht ein ganz ſinnloſes, ihm ſelber durchaus unverſtändliches Wort aus — und ein Palaſt ſteigt aus der Erde. Weil alſo in der Magie die pragmatiſche, Cauſalität aufgehoben iſt, ſo iſt es conſequent, wenn auch ihr Verfahren, ihre Sprüche, Beſchwörungen, Begehungen, ohne allen Verſtand ſind. Nichtsdeſtoweniger wird man auch hier noch jene ſelbe Doppelrichtung finden, die wir zuvor als den Unterſchied des ächten Wunders vom Mirakel, des ächten Mährchens von dem krankhaften Pſeudoproduct einer nervenſchwachen, verrückten Phantaſterei angegeben haben. Nimmt die Zauberei nämlich die Richtung darauf, dem Menſchen eine höhere Geiſterwelt aufzuſchließen; will ſie die Pforte eines unbekannten Jenſeits eröffnen, ſo wird an der Schwelle derſelben ein gewiſſer ſchrecklicher Ernſt unerläßlich ſein, denn es liegt in ſolchem Unterfangen eine Art erhabener Verwegenheit. Wird aber der Zweck der Zauberei ein futiler, läppiſcher, kleinlich egoiſtiſcher, wohl gar unſittlicher, ſo iſt es in der Ordnung, daß auch ihre Mittel albern, tollhäusleriſch und frazzenhaft werden. Wenn der Götheſche Fauſt den Erdgeiſt beſchwört, ſo iſt dies ein erhabener Moment, dem auch die Erhabenheit der citirten Erſcheinung entſpricht. Wenn dieſer ſelbe Fauſt aber von einer Hexe ſich einen Trunk brauen läßt, mit dem im Leibe er Helenen ſieht in jedem Weibe, ſo vernehmen wir in der


Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 20 � [306/0328] Hexenküche ſofort das Abſurde, das dem Philoſophen bald widerſteht.

In der Verrücktheit iſt die Incohärenz der Gedanken, die Abgeſchmacktheit der Vorſtellungen, die Sinnloſigkeit der Handlungen, zur traurigen Wirklichkeit geworden. Malerei und Muſik können dieſen Zuſtand nur relativ darſtellen, Donizetti in ſeiner Oper Anna Boleyn hat den aus¬ brechenden Wahnſinn derſelben beſonders durch wimmernd tremulirende, plötzlich hochaufkreiſchende, dann in tiefen Noten exſpirirende Töne auszudrücken verſucht. Nur die Poeſie kann hier ſich an die Vollendung wagen. Sie wird aber das Abſurde nur zu einem Mittel machen dürfen, die Ge¬ brochenheit des Geiſtes gleichſam ſymboliſch darzuſtellen. Die quodlibetariſchen Combinationen, die Abſprünge, die un¬ möglichen Syntheſen in der Zerfloſſenheit der verrückten Intelligenz ſind an ſich ſchauderhaft. Mit ſcheuem Beben wenden wir uns von einem Abgrunde weg, aus welchem die Abſurdität uns angähnt. Die Poeſie muß uns den Wahnſinn als Folge eines ungeheuren Geſchicks zeigen, ſo daß wir in dem zuſammenhangloſen Gefaſel des Irrſinnigen die Wuth der gewaltigen Widerſprüche anſchauen, denen der Menſch erlegen iſt. Wir erſchrecken nicht blos vor der Zerriſſenheit, die aus ſolchem Aberſinn uns entgegenſprudelt, ſondern auch vor den Mächten, die ſolch' grauſame Entzweiung haben erzeugen kön¬ nen. Leſſing hat bekanntlich geſagt, daß wer über gewiſſe Dinge den Verſtand nicht verliere, überhaupt keinen zu ver¬ lieren habe. Er hat aber nicht von der Vernunft geſprochen, ſondern angedeutet, daß es vielmehr ſehr vernünftig ſei, über gewiſſe Dinge den Verſtand zu verlieren, den Verſtand, der nämlich das Ungeheure, alle ſeine Grenzen Ueberſteigende, die Nichtexiſtenz der Vernunft in einem concreten Fall, nicht

� [307/0329] faſſen kann, ſo daß die Vernunft es iſt, die als Unvernunft den Verſtand irre macht. Die gewiſſen Dinge — was kann denn Leſſing anders mit ihnen gemeint haben, als die Exiſtenz von Widerſprüchen, die ſcheinbar die Realität der Idee ſelber vernichten? Nur ſcheinbar, denn die Kunſt muß an der Wahrheit der Idee feſthalten und im Geſchwätz des Wahn¬ ſinnigen noch immer ihren poſitiven Hintergrund manifeſtiren, was Shakeſpeare die Methode im Wahnſinn nennt. Sie muß denſelben in jener Verwandtſchaft mit dem Weſen des Genies ergreifen, welche Schopenhauer ſo treffend ge¬ zeichnet hat (66). Aeſthetiſch werden wir alſo fordern müſſen, daß in den abenteuerlichen Aeußerungen des Irren noch ein Schimmer der Idee aufleuchte, daß in den zerſtückten Sätzen, in dem widerſinnigen Durcheinander, in den elliptiſche Inter¬ jectionen und im abſonderlichen Gebaren deſſelben doch noch die Vernunft als in ihrem Zerrbilde ſich ſelbſt beleuchte und daher in dem Unglückſeligen möglich bleibe. Das Abſurde einer Verrücktheit, welche durch eine nur ſomatiſche Urſache, Schlagfluß, Gehirnerweichung u. dgl. entſtanden iſt, kann daher kein äſthetiſcher Gegenſtand werden, weil ihr das In¬ grediens der Vernunft fehlt. Eben ſo wenig kann der tolle Raptus, der aus kleinlicher Veranlaſſung, aus gemeiner Leidenſchaft entſteht, äſthetiſches Object werden. Beide Zu¬ ſtände ſind einfach häßlich. Stürzt aber der Widerſpruch eines gewaltigen Schickſals, oder die Nemeſis als die Folge ſchwerer Thaten, einen Menſchen in Wahnſinn, ſo wird durch ſeine verkehrten Handlungen und wirren Reden noch immer wieder die Vernunft durchblitzen. Iſt Vernunft in der Welt, lebt ein Gott, ſollte dann das Entſetzliche, das Unnatürliche, das Teufliſche möglich ſein, ſollte die Unſchuld als Schuld, das Recht als Unrecht verhöhnt und die Nieder¬


20 * � [308/0330] trächtigkeit vergöttert werden dürfen? Der wahre Dichter läßt den Unglücklichen den die Erfahrung der Wirklichkeit ſo fürchterlicher Dinge zermalmt, die ungeheuerſten Frevel gegen Menſchen und Götter ausſprechen. Was der Menſch ſich ſonſt wohl verbirgt, was er, durch Pietät, Sitte, Ge¬ ſetz, Glaube beſtimmt, als einen gottloſen Frevel in ſich nieder¬ drückt, was, einer beſtehenden und anerkannten Weltordnung gegenüber, Thorheit und Albernheit iſt, das wird von der Anarchie der in ſich zerriſſenen Intelligenz mit Mark und Bein erſchütternder Frechheit herausgeſagt. Der tragiſche Wahnſinn kehrt ſich die Weltordnung um, denn nach dem, was ihm begegnet, muß dem Abſurden der Thron gebühren. Der Freund verräth den Freund, verführt ihm ſeine Frau; der Geliebte bricht die Treue; die Gattin vergiftet den Gatten; der Gaſtfreund, der zugleich der Herr und König iſt, wird von dem erſchlagen, der ihn mit ſeinem Blute ſchützen ſollte; der Vater wird von den Kindern, denen er Alles geopfert, verleugnet u. ſ. w. Solche Thaten, ſchwarz wie die Nacht, rütteln ſie nicht an den ewigen Geſetzen des Univerſums? Und doch ſtehen ſie da in ſcharfer, blanker, trotziger Wirk¬ lichkeit und ſcheinen den als einen Narren zu verhöhnen, der dennoch an die Heiligkeit des Guten, an die Macht der Vernunft zu glauben ſchwach genug iſt. Die Kunſt darf dem Wahnſinn nicht das letzte Wort laſſen. Sie muß in ihm den Fluch der im Dunkeln ſchreitenden Nemeſis darſtellen oder ſie muß ihn in einer höhern Totalität auflöſen. Es war der gefährliche Abweg der neueren Romantik, ihre Op¬ poſition gegen die Aufklärung und Verſtändigkeit, ihre Ironie, wie ſie es nannte, ſo weit zu treiben, daß die Verrücktheit, der Traum, die Narrheit, als die eigentliche Wahrheit der Welt angeſehen werden ſollten; eine in ſich ſelbſt verrückte

� [309/0331] Auffaſſung, die nichts als häßliche Producte zur Folge haben konnte. Der Wahnſinnige hat das Vorrecht, Gedanken, die ſonſt nur im philoſophiſchen Skepticismus nicht ruchlos ſein würden, oder die als revolutionaire Manifeſte der ge¬ ängſteten Seele nur den Traum durchzucken dürfen, mit ungezügelter Parrheſie zu äußern. Um aber ſchön zu ſein, muß die Alles durch einander wühlende Raſerei einen äſthetiſch individualiſirenden Mittelpunct haben, der den Drang der excentriſchen Gedanken doch nicht ins abſolut Leere ver¬ ſchweben, vielmehr in ihn wieder gravitiren läßt. Der Dichter muß dem Irren ein allgemein intereſſirendes Thema zu ſeinen ins Abſurde ausſchweifenden Variationen geben. So hat Gretchens Wahnſinn im Kerker ein ſolches Centrum an dem Gedanken, wegen der Liebe zum Manne die zur Mutter und zum Kinde verletzt zu haben; ſo Auguſtino im Meiſter an der Vorſtellung des Fatalismus; Lear an der verletzten Auctorität des Königs und Vaters u. ſ. w. Die Darſtellung des Wahnſinns iſt daher unendlich ſchwer und kann nur den größten Meiſtern gelingen, wie Shakeſpeare, Göthe, G. Sand, unter den Malern Kaulbach in ſeinem Narren¬ hauſe u. ſ. w. Von der neueren Franzöſiſchen Bühne, die mit Disharmonieen ſonſt nicht ſparſam iſt, verdient ein Stück von Scribe und Melesville: elle est folle! nicht nur deshalb ausgezeichnet zu werden, weil es pſychologiſch höchſt exact iſt, ſondern auch, weil es den Wahnſinn wieder auflöſt. Ein Mann hat den Wahnſinn, ſeine Frau für wahnſinnig zu halten; er ſelbſt iſt aber wahnſinnig, weil er Jemand ins Meer geſtoßen und getödtet zu haben wähnt. Unter¬ fängt ein Stümper ſich der ſchweren Aufgabe, den Wahn¬ ſinn zu ſchildern, ſo kommt das Scheußlichſte des Albernen zu Tage, das gewöhnlich mit ſeinen vielen Ausrufungs¬

� [310/0332] zeichen und Gedankenſtrichen ſo armſelig iſt, daß man nicht einmal darüber lachen kann, ſondern die beklemmende Nähe des Blödſinns wittert.

Wir könnten ſagen, daß die Tragik es mit der Ent¬ zweiung der Vernunft, die Komik es mit den Widerſprüchen des Verſtandes zu thun habe. Dieſe kann daher vom Ab¬ geſchmackten einen poſitiven, ſehr glücklichen Gebrauch machen. Ihr kann das Alberne, Tolle, Verrückte, Widerſinnige nicht abſurd genug ſein, wie Calderon in ſolch luſtiger Ueber¬ ſchwänglichkeit des Närriſchen ſein Drama: Zelos aun del ayre matan in ſeiner Burleske: Cefalo y Procris, ſelbſt tra¬ veſtirt hat. Das blos Abſurde iſt aber wahrlich noch nicht lächerlich; dies wird es erſt dadurch, daß es ſich in beſtimmten Beziehungen als ein in ſich unmögliches, das doch ſcheinbar wirklich iſt, ſelbſt aufhebt. Der Wahnſinn kann an ſich oft erhaben ſein, wie der eines Don Quixote, jedoch in ſeiner Ausgeſtaltung komiſch werden; die Narrheit aber kann auch an ſich als Faſelei, Zerſtreutheit, aberwitzige Einbildung höchſt komiſch ſein. Die Narren ſind privilegirte Lieblinge der Komik; der Uebermuth der Intelligenz kann auch mit dem Abſurden ſpielen. Hieher gehören auch jene Verkettungen des Heterogenen, die im Altdeutſchen Lugenmaerchen, Wun¬ dermaerchen, heut zu Tage: blühender Unſinn, im Franzö¬ ſiſchen coq à l'âne genannt werden. Hierher gehören die Krähwinkliaden, die Judenwitze, die Albernheiten des Hans¬ wurſtes, namentlich die, welche er als Turlupin mit dem Wunderdoctor producirte. Auf den Pariſer Jahrmärkten ſpielte dieſer eine Hauptrolle (67). In einem alten coq â l'âne wird dieſe Art des Abgeſchmackten als der beſtändigen contra¬ dictio in adjecto ein quasi radotiren genannt (O. L. B. Wolf, Altfranzösische Volkslieder, Leipzig, 1831, p. 118):

� [311/0333] Je m'en allay à Bagnolet, Où ie trouvay un grand mulet, Qui plantoit des carottes. Ma Madelon, je t'aime tant, Que quasi je radotte. Je m'en allay un peu plus loing, Trouvay une botte de Foing, Qui dansoit la gavotte. Ma Madelon, je etc.

Die Gascognaden der Franzoſen ſind ebenfalls ſolche heitere Abſurditäten, wie ſie in der alten noch immer gern geſehenen, aus dem Franzöſiſchen auch zu uns verpflanzten Poſſe: der Lügner und ſein Sohn, zu einem lockern Ganzen verſammelt ſind. Vater und Sohn überbieten ſich einander in albernen Erfindungen. Herr von Crac hat einen Punſchbaum gepflanzt, indem er einer Reisſtaude einen Citronenſtengel eingeimpft und mit Rum begoſſen habe; der Sohn erzählt, eine Büchſe beſeſſen zu haben, mit welcher er kreuzweis um die Ecke habe ſchießen können u. ſ. w. Bei uns haben ſich ſolche Schnurren früher im Eulen¬ ſpiegel, ſpäter durch Bürger und Lichtenberg, im Münchhauſen concentrirt. Münchhauſen will auf einer Bohnenranke in den Mond klettern, an ſeinem Zopf ſich aus dem Sumpf ziehen. Seinem Pferde wird von einem zuſammenklaffenden Thorweg der halbe Leib weggeſchlagen; der Vorderleib bleibt ruhig ſtehen und ſäuft aus einem Röhr¬ brunnen ins Unendliche, da das Waſſer immer hinten aus¬ läuft. Sein Jagdhund läuft ſich die Beine kurz und meta¬ morphoſirt ſich ſo vom Windhund zu einer Art Teckel. Einem Hirſch ſchießt er einen Kirſchkern in den Kopf. Im nächſten Jahr begegnet er ihm und der Hirſch trägt zwiſchen

� [312/0334] den Geweihen einen Kirſchbaum u. ſ. w. Unſinn, rufen wir bei dieſen Jägerlügen aus, unterhalten uns aber vor¬ trefflich. Immermann hat in ſeinem Münchhauſen die Parodie der Jägeraufſchneiderei fallen gelaſſen, dafür aber dem Baron einen köſtlichen Zuſchnitt univerſeller Lügenhaf¬ tigkeit im Geiſt oder vielmehr Ungeiſt unſerer Zeit gegeben, die mit ihren Puffs und Hombugs ins Große ſpeculirt, wie wenn Münchhauſen den alten Baron von Poſemuckel über¬ redet, eine Luftſteinfabrik anzulegen, denn ſchließt er, alles Materielle beſteht aus den vier chemiſchen Grundſtoffen; da nun in der Luft dieſelben enthalten ſind, ſo hat man an der Luft das trefflichſte, wohlfeilſte, überall gegenwärtige Mate¬ rial zu Steinen! — Die niedere Komik bedient ſich natür¬ lich des Abſurden in einem außerordentlichen Umfange, im Stottern, im Verſprechen, im Verhören, im Radebrechen einer fremden Sprache, beſonders auch im luſtigen Verſpotten der Abſurditäten der Zauberei. Caspar im Puppenſpiel vom Fauſt iſt in dieſer Hinſicht eine der ergötzlichſten Geſtalten. Er perſiflirt das ganze Studium der Nekromantie und Magie; er läßt ſich von den Teufeln nicht imponiren, ſon¬ dern hänſelt ſie vielmehr mit ſeinem Perlippe, Perlappe auf grauſam luſtige Weiſe.

b) Das Ekelhafte. Das Abgeſchmackte iſt die ideelle Seite des Scheußlichen, die Negation des Verſtandes. Das Ekelhafte iſt die reelle Seite, die Negation der ſchönen Form der Erſcheinung durch eine Unform, die aus der phyſiſchen oder moraliſchen Ver¬ weſung entſpringt. Nach der alten Regel, a potiori fit denominatio, nennen wir auch niedrigere Stufen des Widrigen

� [313/0335] und Gemeinen ekelhaft, weil alles das uns Ekel einflößt, was durch die Auflöſung der Form unſer äſthetiſches Gefühl verletzt. Für den Begriff des Ekelhaften im engern Sinn aber müſſen wir die Beſtimmung des Verweſens hinzufügen, weil daſſelbe dasjenige Werden des Todes enthält, das nicht ſowohl ein Welken und Sterben, als vielmehr das Entwerden des ſchon Todten iſt. Der Schein des Lebens im an ſich Todten iſt das unendlich Widrige im Ekelhaften. Das Ab¬ ſurde in ſeiner alogiſchen Verworrenheit erregt auch Abſcheu, ſofern es nicht in's Komiſche gewendet wird, allein wegen ſeines intellectuellen Elementes iſt ſeine Wirkung nicht ſo heftig, als die des Ekelhaften, das unſern Sinnen den Genuß eines für ſie feindlichen Daſeins zumuthet und das man auch das ſinnlich Abſurde nennen könnte. Am Abſurden, auch wenn es ein Scherbenhaufen der Intelligenz, kann man noch ein Intereſſe der Kritik nehmen, während das Ekelhafte unſere Sinne empört und uns ſchlechthin von ſich abſtößt. Das Ekelhafte als ein Product der Natur, Schweiß, Schleim, Koth, Geſchwüre u. dlg., iſt ein Todtes, was der Orga¬ nismus von ſich ausſcheidet und damit der Verweſung über¬ gibt. Auch die unorganiſche Natur kann relativ ekelhaft werden, aber nur relativ, nämlich in Analogie oder in Verbindung mit der organiſchen. An ſich ſelbſt aber läßt ſich der Begriff der Verweſung auf ſie nicht anwenden und aus dieſem Grunde kann man Steine, Metalle, Erden, Salze, Waſſer, Wolken, Gaſe, Farben durchaus nicht ekelhaft nennen. Nur relativ, in Beziehung auf unſere Geruchs- und Ge¬ ſchmacksorgane, kann man ſie ſo nennen. Ein Schlamm¬ vulcan, das gerade Gegentheil des majeſtätiſchen Schauſpiels eines feuerſpeienden Berges, wird für uns widrig, weil das Ausſtrömen trüber Effluvien analogiſch uns an das Waſſer

� [314/0336] erinnert und hier ſtatt ſeiner eine flüſſige, undurchſichtige, etwa noch mit todten, verweſenden Fiſchen untermiſchte Erdauf¬ löſung, eine gleichſam verweſende Erde ſich darbietet. Man ſehe die Darſtellung eines ſolchen Schlammausbruches in A. v. Humboldts Vues des Cordillères. So iſt auch das Sumpfwaſſer in Stadtgräben, worin ſich die Immunditien aus den Rinnſteinen ſammeln, worin Pflanzen- und Thier¬ reſte aller Art mit Lumpen und ſonſtigen Culturverweſungs¬ abſchnitzeln zu einem ſcheußlichen Amalgam ſich zuſammenfinden, höchſt ekelhaft. Könnte man eine große Stadt, wie Paris, einmal umkehren, ſo daß das Unterſte zu oberſt käme und nun nicht blos die Jauche der Cloaken, ſondern auch die lichtſcheuen Thiere zum Vorſchein gebracht würden, die Mäuſe, Ratten, Kröten, Würmer, die von der Verweſung leben, ſo würde dies ein entſetzlich ekelhaftes Bild ſein. Daß der Geruch in dieſer Hinſicht eine vorzügliche Empfindlichkeit beſitzt, iſt gewiß. Der üble Geruch der Excremente läßt ſie in ihrer puren Natürlichkeit noch widriger, als in ihrer bloßen Geſtalt erſcheinen. Ein Koprolith z. B., der verſteinerte Koth vorſündfluthlicher Thiere, hat nichts Ekelhaftes mehr an ſich und wir haben ihn in unſern mineralogiſchen Sammlungen ruhig neben andern Petrefacten liegen. Unter den herrlichen Bildern des Campo Santo Piſano ſehen wir auch eine ſtolze Jagdgeſellſchaft, die bei einem offenen, den Leichnam zeigenden Grabe vorüberreitet und ſich die Naſe mit der Hand zuhält; wir ſehen dies wohl, aber wir riechen es nicht. Der Schweiß der Arbeit, der von der Stirne rinnt, von der Bruſt perlet, iſt zwar ſehr ehrenwerth, allein äſthetiſch iſt er nicht. Wird nun der Schweiß gar in das Vergnügen hineingemiſcht, ſo iſt das ſchlechthin ekelhaft, wie wenn Heine z. B. einem jungen Ehepaar zur Vermählung zuſingt:

� [315/0337] Schütz' Euch Gott vor Ueberhitzung, Allzuſtarke Herzensklopfung, Allzuriechbarliche Schwitzung, Und vor Magenüberſtopfung.

Dreck und Koth ſind äſthetiſch ekelhaft. Wenn der Kaiſer Claudius ſterbend ausrief: Vae! puto concacavi me! ſo iſt hiermit all ſeine kaiſerliche Majeſtät vernichtet. Wenn Jordan in ſeinem Demiurgos, 1852, S. 237 die Trennung Heinrichs von Helenen dadurch motivirt, daß er ſeine Frau einmal auf dem Abtritt angetroffen, ſo iſt das ſo grenzenlos ekelhaft, gemein, ſchamlos, daß man kaum begreift, wie ein unſtreitig höchſt vielſeitig gebildeter Dichter ſo geſchmacklos werden kann, wenn er auch den Lucifer über dieſe überfeine Delicateſſe hell auflachen läßt. Dies Myſte¬ rium iſt überhaupt mit cyniſchen Manifeſtationen der grellſten Art bedacht; wir wollen jedoch der Verſuchung, weitere Beiſpiele des Ekelhaften aus ihm zu entnehmen, Wider¬ ſtand leiſten. Die Derbheit der Sprache des Volkes liebt den Koth freilich als ultima ratio im Schimpfen, die abſo¬ lute Nullität von etwas auszudrücken und das Maximum ſeines Abſcheues zu bezeichnen, in der Weiſe etwa, wie auch Göthe das Ignoriren ſeiner Gegner in den Xenien ent¬ ſchuldigt:

Sage mir von deinen Gegnern, warum willſt du gar nichts wiſſen? —

Sage mir, ob du dahin trittſt, wo man in den Weg g — — — ?

Die Poeſie aber kann nur für die grotteske Komik einen Gebrauch davon machen, wie wir ſchon früher den Blepyros in den Ekkleſiazuſen des Ariſtophanes als ein ſolches Bei¬ ſpiel citirt haben oder wie Hr. Hoffmann in einer Ariſto¬ phaniſirenden Komödie: die Mondzügler, 1843, der Dia¬

� [316/0338] lektik der modernen Philoſophie damit ſpottet, daß den ſtrei¬ tenden Philoſophen die Aufgabe geſtellt wird, den Urbe¬ griff des Drecks zu definiren. Der eine will nun z. B. beweiſen, daß man den Sinn des Drecks nie verſtanden habe, weil man nicht einmal ſein Genus richtig gefaßt:

Subject und Object, abſolut identiſch ſind ſie Beiden, Es iſt das A egal dem B und nicht zu unterſcheiden. Das B, das Object, iſt der Dreck. Das iſt doch reine Wahrheit?

Daß ich das A, das Subject bin, iſt evidente Klarheit; Und mithin bin ich ſelbſt der Dreck, ich ſelbſt, identiſch bin ich. Es iſt bewiesne Wahrheit dieß und wenn auch widerſinnig! Wenn einer nun geſetzten Falls den Dreck euch producirt hat, So folgt daraus, daß dieſer Mann ſich eben ſelbſt creirt hat. Nun nenn ich ſolche Zeugung doch wahrhaftig ungeſchlechtlich, Und ſag' ich: der, und ſag' ich: die, ſo iſt es widerrechtlich. Vielmehr um dieſen ganzen Schluß in einem Wort zu faſſen, So kann fortan als richtig nur: das Dreck ich gelten laſſen.

Man könnte von der Verweſung ſagen, daß ſie durch die chriſtliche Religion doch zu einem poſitiven Gegenſtande der Kunſt geworden, indem die Malerei ſich an die Auf¬ erſtehung des Lazarus gewagt habe, von welchem ja die Schrift ſelber ſage, daß er ſchon rieche. Vor allen Dingen vergeſſe man nur nicht, daß die Malerei dieſen Geruch nicht darſtellt und ſodann, daß man doch eben nur an einen oberflächlichen Beginn der Verweſung zu denken hat. Das eigentlich Poſitive in dieſem Vorwurf bleibt doch immer die Anſchauung, wie der Tod durch das von Chriſtus aus¬ gehende göttliche Leben überwunden wird. Der ins Leichen¬ tuch gehüllte, aus dem geöffneten Grab kommende Lazarus contraſtirt höchſt maleriſch mit der Gruppe der Lebendigen,

� [317/0339] die das Grab umſtehen. Lazarus muß an ſeiner etwas ſchemenhaften Geſtalt und in ſeinen bleichen Zügen allerdings verrathen, daß er ſchon eine Beute des Todes geweſen, zugleich aber muß er zeigen, wie die Macht des Lebens den Tod in ihm auch ſchon wieder aufgehoben hat.

Von der Krankheit iſt ſchon in der Einleitung gehan¬ delt worden. Sie an ſich iſt nicht nothwendig widrig oder gar ekelhaft. Dies wird ſie erſt, wenn ſie den Organismus in der Form der Verweſung zerſtört und wenn wohl gar das Laſter die Urſache der Krankheit iſt. In einem Atlas der Anatomie und Pathologie zu wiſſenſchaftlichen Zwecken iſt natürlich auch das Scheußlichſte gerechtfertigt, für die Kunſt hingegen wird die ekelhafte Krankheit nur unter der Bedingung darſtellbar, daß ein Gegengewicht ethiſcher oder religiöſer Ideen mitgeſetzt wird. Ein mit Schwären bedeckter Hiob tritt unter die Reverbère der göttlichen Theodicee. Der arme Heinrich von Hartmann von der Aue iſt freilich ein faſt brutaler Gegenſtand, der es ſchwer begreifen läßt, weshalb die Deutſchen ihn am häufigſten abgedruckt und der Jugend tauſendfach, im Original wie in den verſchiedenſten Formen der Bearbeitung, dargeboten haben, indeſſen iſt doch bei ihm, wenngleich in ſehr widrigen Nebenumſtänden, die Idee des freien Opfers noch feſtgehalten. Le lépreux de la ville d'Aosta von Xavier de Maiſtre, ein höchſt ergreifendes Gemälde menſchlicher Vereinſamung, baſirt ſich auf der Idee der abſoluten Reſignation. Der antike Philoktetes leidet am Fuß, weil die Schlange ihn an dem von Jaſon auf Chryſe bei Lemnos errichteten Altar darum gebiſſen hatte, daß er ihn den Griechen zeigte u. ſ. w. Ekelhafte Krank¬ heiten, die auf einem unſittlichen Grunde beruhen, muß die Kunſt von ſich ausſchließen. Die Poeſie proſtituirt ſich ſelbſt,

� [318/0340] wenn ſie dergleichen ſchildert, wie Sue in ſeine Pariſer Myſterien eine ärztliche genaue Beſchreibung von St. Lazare, eine Deutſche Schriftſtellerin, Julie Burow, in einen Roman: Frauenloos, die exacte Beſchreibung der ſyphi¬ litiſchen Station eines Lazareths aufgenommen hat. Das ſind Verirrungen einer Zeit, welche aus ihrem krankhaft pathologiſchen Intereſſe an der Corruption das Elend der Demoraliſation für poetiſch hält. Krankheiten, die zwar nicht infam ſind, ſondern mehr nur den Charakter der Cu¬ rioſität haben, der ſich in ſeltſamen Deformitäten und Aus¬ wüchſen kund gibt, ſind auch nicht äſthetiſche Objecte, wie z. B. die Elephantiaſis, die einen Fuß oder Arm ſchlauch¬ artig anſchwellen läßt, ſo daß ſeine eigentliche Form ganz verloren geht.

Wohl aber darf die Kunſt Krankheiten darſtellen, die als eine elementariſche Macht Tauſende dahinraffen, indem dieſelben theils als das Schickſal einer bloßen Naturgewalt, theils als ein göttliches Strafgericht erſcheinen können. In dieſem Fall nimmt die Krankheit, ſelbſt wenn ſie ekelhafte Formen in ſich ſchließt, ſogar einen ſchauerlich erhabenen Charakter an. Die Maſſen der Kranken geben ſofort die Anſchauung des Außerordentlichen und es entſtehen maleriſche Contraſte der Geſchlechter, Altersſtufen und Stände. Aeſthe¬ tiſch genommen wird aber für alle ſolche Scenen die Aufer¬ weckung des Lazarus den kanoniſchen Typus abgeben und das Leben als die ewige Macht des Todes dem Sterben ſiegreich gegenübertreten müſſen. Der Anblick des maſſenhaften Sterbens allein, wie es Raffet in ſeinem Bilde vom Typhus der Franzöſiſchrepublicaniſchen Armee in Mainz geſchehen iſt, würde uns niederdrücken, aber der Strahl des Lebens, der von der göttlichen Freiheit des Geiſtes ausgeht, läßt Siech¬

� [319/0341] thum und Todesqual überwinden. So haben die Maler die Juden in der Wüſte gemalt, wie ſie, von Krankheit ergriffen, zur ehernen Schlange aufſchauen, die Moſes auf Jehovah's Geheiß zu ihrer Geneſung aufgeſtellt hat. Hier iſt die Krank¬ heit Strafe ihres Murrens wider Gott und Moſes, ſo wie die Heilung vom Biß der feurigen Schlangen der Lohn für ihre Reue. In dem Bilde von Rubens, wie der heilige Rochus die Peſtkranken heilt, iſt der Uebergang vom Tode zum Leben die Poeſie, welche die Schrecken der ſcheußlichen Krankheit äſthetiſch vom Ekel befreiet. Ein treffliches Bild aus dieſer Sphäre iſt auch das von Gros, Napoleon unter den Peſtkranken zu Jaffa. Wie gräßlich ſind dieſe Kranken mit ihren Beulen, mit ihrer lividen Farbe, mit den graubläu¬ lichen und violetten Tinten der Haut, mit dem trocken¬ brennenden Blicke, mit den verzerrten Zügen der Verzweiflung! Aber es ſind Männer, Krieger, Franzoſen, es ſind Soldaten Bonoparte's. Er, ihre Seele, erſcheint unter ihnen, ſcheuet nicht die Gefahr des tückiſchen, ſcheußlichſten Todes; er theilt ſie, wie er mit ihnen in der Schlacht den Kugelregen getheilt hat. Dieſer Gedanke entzückt die Braven. Die matten, dumpfen Köpfe richten ſich empor; die halberlöſchenden oder fieberhaft funkelnden Blicke wenden ſich zu ihm, die ſchlaffen Arme ſtrecken ſich begeiſtert nach ihm aus, ein ſeliges Lächeln um¬ ſpielt nach dieſem Genuß die Lippen der Sterbenden — und mitten unter dieſen Grauengeſtalten ſteht der Rieſenmenſch Bonoparte voll Mitgefühl aufrecht und legt ſeine Hand auf die Beule eines Kranken, der halbnackt ſich vor ihm erhoben hat. Und wie ſchön hat Gros gemalt, daß man aus den Gewölbbogen des Lazareths in das Freie blickt, daß man auf Stadt und Berg und Himmel die von der Schwüle des Krankenlagers entlaſtende Ausſicht hat. Aehnlich, wie

� [320/0342] Shakeſpeare am Schluß des Hamlet, als die vergifteten Leichen eines in Fäulniß gerathenen Geſchlechts gekrümmt umher liegen, den kräftigen Trompetenſchall erſchmettern und den jugendheitern, reinen Fortinbras als Beginn eines neuen Lebens auftreten läßt. Lazarethe, in denen nur Verwundete liegen, haben nicht das Ekelhafte ſolcher Scenen und ſind daher häufig ohne Anſtoß gemalt.

Auch das Erbrechen iſt früher ſchon erwähnt worden. Mag es eine unſchuldig krankhafte Affection, mag es Folge der Völlerei ſein, immer iſt es höchſt ekelhaft. Dennoch haben Poeſie wie Malerei es dargeſtellt. Die Malerei kann es durch die bloße Stellung andeuten, obwohl Holbein im Todtentanz ſich nicht genirt hat, den Schlemmer ganz im Vordergrunde den genoſſenen Fraß wider ausſpeien zu laſſen. In ihren Jahrmarkt- und Wirthshausſcenen ſind auch die Niederländer nicht blöde damit geweſen. Ueber die Zuläſſigkeit ſolcher widrigen Züge wird es ſehr auf die übrigen Seiten der Compoſition und auf den Styl ankommen, in welchem ſie gehalten iſt, denn ſelbſt eine komiſche Wendung iſt möglich, wie in Hogarth's Punſchgeſellſchaft oder in jenem Gemälde einer Griechiſchen Vaſe, wo Homer, auf ein Polſterbett hingeſtreckt, ſich in ein am Boden ſtehendes Gefäß erbricht. Eine weibliche Geſtalt, die Poeſie, hält ihm das göttliche Haupt. Um das Gefäß herum ſtehen eine Menge Zwergfiguren, die eifrig das Ausgebrochene wieder zum Munde führen. Es ſind die ſpätern Griechiſchen Dichter, die von dem cyniſch weggeworfenen Ueberfluß des großen Poeten ſich ernähren. Auch eine Apotheoſe Homers (68)! Geht die Poeſie aber ſo weit, daß ſie vom Erbrechen nicht blos erzählt, vielmehr es auf die Bühne bringt, ſo iſt das ein Ueberſchreiten des äſthetiſchen Maaßes, das auch komiſch

� [321/0343] nicht wirken kann. Hiermit hat es Hebbel in ſeinem Diamanten verſehen. Der Jude, der ihn verſchluckt hat, bricht ihn auf der Bühne wieder aus, und nicht nur bricht er ihn aus, ſondern er ſteckt ſogar deshalb den Finger in den Mund. Das iſt zu widrig! Die Geburt hat als ein nothwendiger Naturtact nicht dies Abſtoßende, ſelbſt wenn ſie nicht, wie in Hans Sachs Narrenſchneiden und in Prutz politiſcher Wochenſtube, komiſch gewendet wird.

Das Ekelhafte wird auch dadurch äſthetiſch unmöglich gemacht, wenn es mit dem Unnatürlichen ſich vermiſcht. Blaſirte Epochen der Völker wie der Individuen kitzeln die erſchlafften Nerven mit den heftigſten und daher nicht ſelten auch ekelhafteſten Reizmitteln auf. Wie ſcheußlich iſt nicht das neueſte fashionable Vergnügen der Londoner Müßig¬ gänger, der Rattenkampf! Kann man ſich etwas Ekelhafteres erſinnen, als einen Rattenhaufen, der ſich in Todesangſt gegen einen beſtialiſchen Hund wehrt? Doch, könnte man¬ cher ſagen, die Wettenden, die, mit der Uhr in der Hand, um die ausgemauerte Grube herumſtehen. Allein Pückler Muskau in ſeinen erſten, unſterblichen Briefen eines Ver¬ ſtorbenen erzählt doch noch von etwas Ekelhafterem, daß er nämlich zu Paris auf dem Boulevard Mont Parnaſſe geſehen, wie die Spießbürger nach einer Ratte ſchoſſen, die ſie auf einem ſchrägen Brett angebunden hatten, ſo daß ſie auf dem engen Raum in Verzweiflung hin und her lief. Zum Vergnügen nach einer Ratte ſchießen! Infernaliſch ekelhaft. Petronius hat eine gewiſſe grandioſe Nacktheit, eine gewiſſe, der Juvenaliſchen verwandte Herbheit, die ſeinen Darſtellungen der blaſirten Verworfenheit einen düſtern Reiz ertheilt. Eine Scene in ſeinem Gaſtmahl des Trimalchio ſchildert gewiſſermaaßen ſymboliſch den innerſten Ungeiſt einer


Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 21 � [322/0344] ſolchen Welt. Es wird ein Schwein, das den Gäſten erſt lebend vorgeführt worden, nach kurzer Zeit aufgetragen. Es iſt nicht ausgeweidet. Wüthend läßt der Herr den Koch kommen, ihm für ſolche Vergeſſenheit, für ſolche Beleidigung ſeiner Gäſte den Kopf vor die Füße legen zu laſſen. Auf einen Wink des Herrn macht ſich der Koch furchtſam an's Ausweiden und was ſind dieſe ekelhaften Gedärme? Man ent¬ deckt in ihnen die trefflichſten Würſte, denen aber die Form der natürlichen Eingeweide belaſſen worden. Alles iſt enthu¬ ſiasmirt. Man macht dem Herrn ſeine Complimente, einen ſolchen Koch zu beſitzen und der Koch behält nicht nur ſein Leben, ſondern wird ſogar mit einer Silberkrone gekrönt und mit einem Becken von Korinthiſchem Erz beſchenkt. Mache die Eingeweide des Schweins zu Leckerbiſſen und du wirſt ſolch ekelhaftelender Zeit ein großer Mann ſein. Einen Pätus wird ſie hinrichten, aber dich wird ſie mit Lorbeern kränzen (69)! — Der Cynismus der geſchlechtlichen Ver¬ hältniſſe geſtattet zwiſchen der Natur und der entſchiedenen Unnatur noch einen Spielraum ekler Lüſtelei, auf den wir hier nicht eingehen wollen (70). Die Komik ſelber, wenn ſie dergleichen durch die Zote auch ins Burleske treibt, kann doch das Häßliche nicht daraus eliminiren. Wir rechnen hieher z. B. aus des Ariſtophanes Lyſiſtrata die an ſich höchſt komiſche Scene, wo Myrrhine die Begierden des Kineſias aufs Außerſte ſteigert und ihn dann ſtehen läßt (71). Kommt zu ſolchen Situationen und Empfindungen noch das Alter hinzu, ſo wächſt die Widrigkeit. Horaz hat ſie in der achten Ode der Epoden geſchildert (72). Die Unnatur als die Verkehrung des Naturgeſetzes durch die Freiheit oder richtiger Frechheit des menſchlichen Willens iſt durchaus ekelhaft. Die Sodomiterei, die Päderaſtie, die lüſtern raffinir¬

� [323/0345] ten Arten des Beiſchlafs (bei den Alten z. B. ἁϱμα, φιλοτης) u. ſ. w. ſind ſcheußlich. Die Pornographen ſtellten auch ſolche erotiſche Scenen dar, die man libidines oder spinthria nannte und worüber man die gelehrteleganten Erläuterungen von Raoul Rochette zum Musée secret von Herculanum und Pompeji von Ainé und Barré, Paris 1840, nachleſen möge. Nach des Plinius Bericht kaufte z. B. Tiberius zu einem ungeheuren Preiſe ein Gemälde des Parrhaſius, es in ſeinem Schlafzimmer aufzuhängen. Dies Bild ſtellte die Ata¬ lanta dar, wie ſie dem Meleager auf ekelhaft obscöne Weiſe mit dem Munde zu Willen war. Mit Panofka (73) eine Parodie darin zu ſehen, ſcheint uns zu mißlich.

c) Das Böſe. Das Abgeſchmackte iſt das theoretiſch Scheußliche; das Ekelhafte iſt das ſinnlich Scheußliche, das aber, wie wir er¬ kannt haben, in ſeinen unnatürlichen Extremen ſchon mit dem praktiſch Scheußlichen, mit dem Böſen zuſammenhängt. Der böſe Wille iſt das ethiſch Häßliche. Als Wille für ſich fällt er in die reine Innerlichkeit. Um aber äſthetiſch möglich zu werden, muß er theils von Innen aus ſich in die Hä߬ lichkeit der Geſtalt ſymboliſch reflectiren, theils ſich als That äußern und zum Verbrechen werden. Schon Homer hat den Therſites ſo geſchildert, daß er ſein zänkiſches Weſen in einer conformen Geſtalt erſcheinen läßt, Ilias, II., 214: Immer verkehrt, nicht der Ordnung gemäß, mit den Fürſten zu hadern, Wo ihm nur etwas erſchien, das lächerlich vor den Argeiern Wäre. Der häßlichſte Mann vor Ilios war er gekommen: Schielend war er, und lahm am andern Fuß; um die Schultern


21 * � [324/0346] Höckerig, gegen die Bruſt ihm geengt, und oben erhub ſich Spitz ſein Haupt, auf der Scheitel mit dünnlicher Wolle beſäet. Widerlich war er vor allen des Peleus' Sohn und Odyſſeus.

Wir müſſen für unſere Unterſuchung den äſthetiſchen Geſichtspunct dem ethiſchen voranſtellen. Man erwarte hier alſo nicht eine Abhandlung über den Begriff des Böſen; dieſer gehört der Ethik; die Aeſthetik hat ihn vorauszuſetzen und ſich nur mit der Form der Erſcheinung zu beſchäftigen, inwiefern dieſelbe den moraliſch häßlichen Inhalt in einer adäquaten und mit den Geſetzen des Schönen verträglichen Manier auszudrücken vermag. Es kommt hier auf die Be¬ griffe des Verbrecheriſchen, Geſpenſtiſchen und Dia¬ boliſchen an. Das Verbrecheriſche nämlich iſt die empiriſch objective Wirklichkeit des böſen Willens. Aber dieſe Wirklich¬ keit iſt, verglichen mit der Idee des Willens als dem Guten, die Unrealität ihres Begriffs. Als Erſcheinung wirklich, iſt ihr Weſen das Nichts des Unweſens. Die Gewißheit dieſer Nichtigkeit in dem Handelnden iſt ſein böſes Gewiſſen. Von der Schuld des Böſen iſt das Bewußtſein, mit der poſitiven Verletzung der Idee des Guten zugleich etwas in ſich Nichtiges hervorgebracht zu haben, unzertrennlich und dies Scheinda¬ ſein des Böſen daher an ihm ſelbſt das Geſpenſtiſche. Die Vorſtellung des Verbrechers erzeugt aus ſeiner Schuld die Vorſtellung eines unheimlichen, jenſeitigen, dunkeln, rächen¬ den Weſens. Weiß der Wille endlich ſich als den principiell böſen, der ſich als den Schöpfer einer Welt des Nichts benimmt und daran ſeine widrige Freude hat, ſo wird er diaboliſch. Ein ſolcher Wille iſt in ſeiner Negativität zu¬ gleich dämoniſch und dies Dämoniſche iſt in ſeiner Erſcheinung das Geſpenſtiſche.

� [325/0347] α. Das Verbrecheriſche Daß im tiefſten Grunde das Schöne mit dem Guten Eines iſt, iſt nicht blos eine Idioſynkraſie des ſchönredenden Platon, vielmehr die volle Wahrheit. Eben ſo wahr iſt es daher, daß das Häßliche an und für ſich mit dem Böſen identiſch iſt, ſofern nämlich das Böſe das radicale, das ab¬ ſolute, das ethiſche und religiöſe Häßliche iſt. Dehnt man jedoch dieſe Identität ſo weit aus, daß die Urſache des Häßlichen überhaupt im Böſen liegen ſoll, ſo iſt das eine Ueberſpannung ſeines Begriffs, die unausbleiblich zu un¬ wahren und gewalthätigen Abſtractionen führen muß; denn, wie in der Einleitung gezeigt worden, kann das Häßliche auch auf vielfach andere Weiſe aus der Freiheit des Daſeins überhaupt entſtehen. Man verwechſelt das Häßliche als ſol¬ ches mit dem Maximum ſeiner Erſcheinung, die allerdings erſt durch das Böſe hervorgebracht werden kann, weil dies erſt der tiefſte Widerſpruch der Idee mit ſich ſelber iſt. Das Böſe als die Urlüge des Geiſtes kann für den Verſtand und die Phantaſie intereſſant ſein, wird aber nothwendig, ſelbſt in dieſer Form, den gründlichſten Abſcheu erregen. Der böſe Wille gibt ſich durch die böſe That eine objective Exiſtenz, deren grundloſe Willkür die abſolute Nothwendigkeit der Frei¬ heit durchbricht, um derenwillen allein das ganze Univerſum da iſt. Das Verbrechen kann ſeinen Zuſammenhang mit der nothwendigen Freiheit nicht von ſich abſtreifen, da es nur durch ſeinen ſelbſtbewußten Widerſpruch gegen dieſelbe Ver¬ brechen iſt. Durch dieſen Zuſammenhang wird es als ein äſthetiſcher Gegenſtand möglich, denn mit ihm muß auch ſein immanenter Gegenſatz, die wahre Freiheit, zum Vor¬ ſchein kommen und am Verbrechen ſeine Hohlheit und Lüge offenbar machen. In dieſem Zuſammenhang begründet ſich

� [326/0348] auch die ſeit Schiller ſo oft wiederholte Forderung, daß das Verbrechen, äſthetiſch möglich zu werden, groß ſein müſſe, weil es dann Muth, Liſt, Klugheit, Kraft, Aus¬ dauer, in nicht gewöhnlichem Grade erfordert und damit wenigſtens die formale Seite der Freiheit enthält.

Dieſe hier angedeuteten Begriffe ſind nunmehr ſeit der Ariſtoteliſchen Poetik ſo oft und, zuletzt von Viſcher, ſo genügend auseinandergeſetzt, daß wohl kein Punct unſeres Themas in gleichem Grade ausgearbeitet und in der allge¬ meinen Vorſtellung geläufig iſt. Wir werden uns deshalb hier nur auf wenige Bemerkungen beſchränken.

Dem Inhalt nach ſind alle diejenigen Verbrechen un¬ vermögend, äſthetiſche Objecte zu ſein, die wegen ihrer Alltäg¬ lichkeit und Geringfügigkeit und wegen des geringen Auf¬ wandes von Intelligenz und Wille, den ihr Begehen erfordert, in die Kategorie der Gemeinheit des Gewöhnlichen fallen. Der kleinliche Egoismus, der ihnen zu Grunde liegt und nur den Acten der Polizei und des correctionellen Gerichts Nahrung liefert, iſt zu untergeordnet, als daß er die Kunſt beſchäftigen dürfte. Seine Verbrechen ſind oft kaum Thaten zu nennen, ſo ſehr gehen ſie oft aus einem Kreiſe der Rohheit und Un¬ bildung, der Faulheit und Noth, der Beſchänktheit und habituell gewordenen Schuftigkeit hervor.

Acceſſoriſch, in Verbindung mit höhern Motiven, als Epiſode, als Nebenglied in einer größern Verkettung, wird das gemeine Verbrechen ſchon äſthetiſch möglich, weil es dann in dem weitern Zuſammenhange als ein ſittengeſchicht¬ liches Moment erſcheint. Haß, Rachſucht, Eiferſucht, Spiel¬ wuth, Ehrgeiz, ſind ſchon äſthetiſcher, als der Diebſtahl, als die Fälſchung, als der Betrug, als die grobe Unkeuſch¬ heit, als der Mord, nur des Habens und Genießens willen.

� [327/0349] Sie nehmen daher in der epiſchen und dramatiſchen Unter¬ haltungsliteratur einen ungeheuren Spielraum ein. Das Verbrechen an ſich iſt natürlich verabſcheuenswerth, allein durch die culturhiſtoriſche, pſychologiſche und ethiſche Verflech¬ tung, in der es erſcheint, gewinnt es ſchon ein höheres In¬ tereſſe. Die Engländer ſind in dieſer Gattung von jeher die Meiſter geweſen. Schon in ihren alten Balladen können wir dem criminaliſtiſchen Zuge begegnen. Das Theater vor und nach Shakeſpeare's Zeit wimmelte von ſolchen Dramen, unter denen ſich manche ſogar von unbekannten Autoren, wie das Trauerſpiel Arden von Feversham (74), lange erhalten haben. Später hat der Roman dieſe Miſſion bei ihnen übernommen und die erſten Autoren haben nicht ver¬ ſchmäht, in einer Gattung zu arbeiten, die von unſern Claſſikern kaum berührt worden iſt. Bulwer's Paul Clif¬ ford, Eugen Aram, von Nacht zu Morgen u. ſ. w., oder Boz' Oliver Twiſt ſind ſolche Materien. Im Pelham hat Bulwer die fashionabelſte Ariſtokratie, aber zugleich die extremſte Verworfenheit des ſyſtematiſchen Diebs- und Räuberhandwerks in der ausführlichſten Breite geſchildert. Nach den Engländern haben die Franzoſen erſt ſeit der Juli¬ revolution in ſolchen Motivirungen ſich gefallen. Die bril¬ lante Tyrannei und die Hofverſchwörung, die Liebe und die Liederlichkeit als feine Galanterie wie als Orgie, waren bis dahin ihre bevorzugten Themata geweſen. Erſt mit dem Bewußtſein über das welthiſtoriſche Auftreten des Proleta¬ riats hat ſich auch bei ihnen die Neigung zur poetiſirenden Behandlung des Criminalverbrechens in raſchem Zuge ent¬ wickelt und zwar, ihrer ſocialen Natur nach, auch erſt im Drama, dann im Roman. Caſimir Delavigne, Alfred de Bigny, Alexandre Dumas, Victor Hugo und Eugene Sue

� [328/0350] ſind die Claſſiker dieſer Tendenz geworden, der aber noch eine große Menge derjenigen Dramatiker zweiten und dritten Ranges ſich anſchließt, die für die Boulevardstheater, be¬ ſonders für das der Porte St. Martin und Ambigu comique arbeiten, wie Dumanoir, Pyat, Melesville u. A. D'Arlington, le docteur noir, le pacte de Famine, Marie Jeanne, le marché de Londres, le chiffonier, les deux forçats on le Moulin de St. Alderon, Marie Lafarge, la chambre ardente, l'homme en masque de fer u. ſ. w. ſind ſolche Schauerſtücke, in denen die grellſten Contraſte Stundenlang die Nerven des Publicums ſpannen. Noth bis zum Verhungern, Verbrechen aus Leichtſinn, aber auch aus kälteſter Berechnung, falſches Spiel, Wechſelfälſchung, Mord in allen Formen bis zum Giftmorde und Selbſtmorde, Schwelgerei, Grauſamkeit, Kinderdiebſtahl, Inceſt, Ehebruch, Verrath, alle Scheußlich¬ keiten der brutalen Geſinnung ſind in dieſen Dramen dar¬ geſtellt, die man zum großen Theil auch dem Deutſchen Re¬ pertoir angeeignet hat. Indem aber die Deutſchen doch die Horreurs der Forfaits nicht in ihrer ganzen Franzöſiſchen Nacktheit haben belaſſen mögen, ſind aus den Bearbeitungen noch viel fatalere Producte hervorgegangen, denn die infer¬ naliſche Motivirung der ſiniſtren Handlungen, die im Deut¬ ſchen gewöhnlich abgekürzt, wohl gar unterdrückt wird, gibt ihnen doch noch eine pſychologiſchere Berechtigung, und das Aeßerſte der Schändlichkeiten, die man erblickt, gewinnt nur durch die ganz und gar nichtswürdig originelle Weiſe, mit der es vollbracht wird, ein Intereſſe. Den ſogenannten ſocialen Roman der heutigen Franzoſen, der unter der Re¬ gierung der Julidynaſtie ſo viele Giftblüthen getrieben hat, haben wir ſchon nach einzelnen Seiten hin ſo oft berühren müſſen, daß wir ihn hier wohl nur zu nennen brauchen.

� [329/0351] Das furchtbarſte Product dieſer Sphäre, le nom de Famille von Auguſt Luchet, iſt glücklicherweiſe, ſo viel uns be¬ kannt, nicht ins Deutſche überſetzt. Die kindiſche, im letzten Decennium bis zu einem für eine große Nation ſcandalöſen Wetteifer ausgeartete Gier der Deutſchen, die Romane der Engländer und Franzoſen zu überſetzen, während ſie noch erſcheinen und bevor noch ein Urtheil über ihren ethiſchen und äſthetiſchen Werth möglich iſt, erklärt vielleicht die Schwäche, die wir ſelber auf dieſem Gebiet zeigen. Nur im Ritter- und Räuberroman begehen auch wir noch immer die empörendſten Verbrechen mit einer gewiſſen naiven Origi¬ nalität, die aber zu geſchmacklos iſt, das Intereſſe der Fran¬ zoſen und Engländer zu erregen und ihnen zur Ueberſetzung Luſt einzuflößen (75).

Gehen wir aus der Sphäre der bürgerlichen Geſellſchaft heraus, ſo wird das Verbrechen wiederum äſthetiſcher durch Motive, welche den höhern Gebieten des Staates oder der Religion entnommen ſind, denn mit ſolcher Begründung wird der Einzelne aus dem beſchränkten Kreiſe kleinlich egoiſtiſcher Antriebe und untergeordneter Zufälligkeiten heraus geriſſen. Die Verbrechen, die begangen werden, ſind mate¬ riell dieſelben, wie in der bürgerlichen Sphäre, Verrath, Ehebruch, Gewaltthat, Mord. Allein indem ſie ihren Ur¬ ſprung aus allgemeineren Verhältniſſen entnehmen, erwerben ſie ſich das Recht einer gewiſſen Nothwendigkeit, und indem mit dem Leben hervorragender, insbeſondere fürſtlicher Per¬ ſönlichkeiten, unmittelbar große Veränderungen des Staats und der Geſellſchaft unmittelbar verknüpft ſind, ſteigert ſich unſere Theilnahme. Durch die Verwicklung der großen Mächte des Lebens werden Conflicte möglich, die den Ein¬ zelnen ſchuldig werden laſſen, indem er doch zugleich nicht

� [330/0352] im Sinn des gemeinen Verbrechers ſchuldig iſt. Es ſind hier drei Fälle möglich. Erſtlich kann das Verbrechen nicht als Verbrechen begangen werden; es iſt eine Schuld, aber eine, indem ſie begangen wurde, nicht als Verbrechen voll¬ brachte. Zweitens kann das Verbrechen mit dem vollkom¬ menſten Bewußtſein über ſeine Bosheit begangen werden. Drittens kann die Schuld in der Unſchuld beſtehen, die von der Brutalität aufgeopfert wird. Für den erſten Fall iſt der Sophokleiſche Oedipus, für den zweiten Shakeſpeare's Richard III., für den dritten Leſſings Emilie Galotti das bekannteſte Beiſpiel. Wir ſind hiermit bei dem Tra¬ giſchen angelangt, deſſen Weſen einer beſondern Ausein¬ anderſetzung nicht bedarf. Das Verbrechen im erſtern Fall wird äſthetiſch möglich, weil es, obwohl ein Werk der Frei¬ heit des Einzelnen, doch nicht eigentlich That iſt. Vollbracht wird es eigentlich von der Nothwendigkeit des pragmati¬ ſchen Cauſalnerus und eben hiermit wird dem Verbrechen die perſönliche Häßlichkeit genommen. Im zweiten Fall wird das Verbrechen durch das gerade Gegentheil äſthetiſch mög¬ lich, nämlich durch die vollkommenſte ſelbſtbewußte Freiheit. Der Böſe kann uns natürlich durch den Inhalt ſeines Thuns nur Abſcheu erwecken; durch die Form ſeines Handelns aber ſchauen wir die Freiheit von ihrer formalen Seite, nämlich der Selbſtbeſtimmung, auf dem Gipfel ihrer Virtuoſität an. Daß ein ſolcher Böſewicht in dem geſammten Complex der Umſtände auch durch ſein für ihn ungerechtes Handeln doch zugleich in anderer Beziehung ein Organ der göttlichen Ge¬ rechtigkeit werden kann, würde ihn äſthetiſch noch nicht er¬ träglicher machen. Aber ſeine außerordentliche Intelligenz und die rieſige Stärke ſeines Willens bringen einen dämo¬ niſchen Eindruck hervor, denn die Virtuoſität der ſubjectiven

� [331/0353] Freiheit im Widerſpruch mit ihrem negativen Inhalt läßt uns hier, wie Chriſtus vom ungerechten Haushalter, urtheilen, daß ſie an ſich nachahmenswerth ſein würde. Im dritten Fall wird die Aufhebung des Häßlichen im Verbrechen da¬ durch bewirkt, daß die Reinheit, die Tugend, die Unſchuld ihm zum Opfer fällt. Die Häßlichkeit des Verbrechens er¬ ſcheint hier um ſo ſcheußlicher, je vergeblicher es die Freiheit der Unſchuld beſtürmt. Die ſieghafte Selbſtgewißheit derſelben iſt es, die uns, dem Verbrechen gegenüber, auch in ihrem äußern Untergange frei aufathmen läßt. Die Tragödie ſchließt für dieſen Fall Manches von ſich aus, was der epiſchen Darſtellung noch erlaubt iſt, weil ſie die ganze Breite der Vermittelung in ſich aufnehmen kann, wo das Drama epitomatoriſch und epigrammatiſch zu Werke gehen muß. Wir wollen auch dies an einem Beiſpiel verdeutlichen. Shelley hat in ſeiner Cenci eine ſeltene Kunſt bewieſen, einen höchſt widerwärtigen Stoff mit poetiſchem Hauch dar¬ zuſtellen, allein für das Drama iſt derſelbe doch ungeeignet. Der alte Cenci, der Tyrann der Seinen, erfährt bei einem Gaſtmahl den Tod zweier Söhne und dankt dafür dem Himmel öffentlich. Alles entfernt ſich in Entſetzen. Er beſchließt, ſeine Tochter Beatrice zu ſchänden, um ſie an Leib und Seele zu verderben. Beatrice und ihr Bruder Giacomo, im Verein mit ihrer Stiefmutter Lucretia, laſſen ihn durch Banditen tödten. Der Mord wird entdeckt und die Schuldigen werden hingerichtet. Dies iſt in wenigen Worten der Hauptinhalt jener bekannten gräßlichen Geſchichte. Dieſer Stoff iſt nicht für das Drama paſſend, nicht nur wegen der Unnatur, weil der teufliſche Vater die Tochter ſchänden will, ſondern auch, weil nur die Erzählung alle die ſcheuſeligen Nebenumſtände darzulegen vermag, welche

� [332/0354] die ganze Lage dieſer Unglücklichen zu einer ſchlechthin ex¬ ceptionellen machten; welche die Qualen, mit denen der alte Francesco die Seinigen marterte, zu einer Hölle ohne Gleichen umſchufen; welche die Entdeckung herbeiführten und welche den Papſt vermochten, trotz der Verwendung ſo vieler angeſehener Römer, ja ſelbſt einiger Cardinäle, das Todesurtheil für Beatrice, Lucretia und Giacomo zu beſtätigen. Shelley hat ſich in dieſen Puncten mit Andeu¬ tungen begnügen müſſen, die namentlich den dritten Act, der den Entſchluß Beatrice's zum Morde ihres Vaters motivirt, zu einem höchſt peinlichen machen. Aus dieſem nämlichen Grunde darf auch die Malerei uns manche Verbrechen nicht zur Anſchauung bringen, die in dem epiſchen Vortrag noch möglich ſind. Die Alten haben den Maler Timomachos gelobt, daß er den Ajax gemalt hat nach der blutigen Ra¬ ſerei ſeines Wahnſinns und die Medea vor der Vollbrin¬ gung des Mordes ihrer Kinder, wie auch eines der Her¬ culaniſchen Gemälde ſie uns darſtellt. Die Kinder ſitzen unter der Aufſicht des Pädagogen Würfel ſpielend an einem Tiſch, während ſie finſterblickend, im Kampfe mit ſich, ſeit¬ wärts ſteht, das verhängnißvolle Schwert in den Händen zuckend. Iſt dem Maler vergönnt, eine Folge von Scenen darzuſtellen, die einander erklären helfen, ſo wird auch ihm eine gewiſſe Epik möglich, wie in den Schinkelſchen von Cornelius ausgeführten Fresken in der Vorhalle des alten Berliner Muſeums oder in Hogarths Bilderreihe vom Lebenslauf des idle und des industrious prentice. Dieſe iſt ein genrebildlicher Roman, in welchem wir die einzelnen Momente durch ihren Zuſammenhang verſtehen können. Hogarth nach ſeiner Manier, das Charakteriſtiſche auf die Spitze zu treiben, hat es auf der Seite des faulen Lehr¬

� [333/0355] lings nicht an Entſetzlichkeiten fehlen laſſen und das Elend des Verbrechers in den nackteſten Farben gemalt, wie z. B. in jener Scene, wo der Faule auf einer ſchmuzigen Dach¬ kammer mit einer Dirne im Bette liegt, ein Nachtgeſchirr mitten zwiſchen Reſten eines Mahles ſteht, eine Katze durch den Kamin einer Ratte nachſpringt, die an dem Lager vor¬ überhuſcht und der Faule vor Schrecken auffährt, indeſſen die Dirne die geſtohlenen Ohrringe mit ſtumpfſinniger Eitel¬ keit und Freude betrachtet.

Gewöhnlich iſt in den Aeſthetiken bei dem Begriff des Tragiſchen nur von der Tragödie die Rede, allein es ſollte billig ſeine epiſche Darſtellung, die in der Ballade, im Roman einen ſo großen Umfang gewonnen hat, mit herangezogen werden. Und eben ſo iſt bei dem Tragiſchen ſchon ein ge¬ wiſſer Kreis des Schrecklichen herkömmlich, während derſelbe ein ungleich größerer und vielſeitiger iſt. Wir haben in Be¬ treff des Verbrechens erſtlich das gemeine, ſchlechthin proſaiſche unterſchieden, dem ſich kaum durch die ſorgfältigſte Pſycho¬ logie ein Intereſſe abgewinnen läßt, wie Auerbach in einigen ſeiner neuen Dorfgeſchichten verſucht hat. Zweitens haben wir das Verbrechen unterſchieden, wie es aus den Verwicklungen der bürgerlichen Geſellſchaft, aus den Leiden¬ ſchaften des Egoismus hervorgeht. Drittens das tragiſche Verbrechen, dem nämlich in den öffentlichen Zuſtänden der Geſellſchaft, des Staats und der Kirche, eine Berechtigung zu Theil wird, die wir ſelbſt einem Richard III. oder Mac¬ beth nicht abſprechen können. Je tiefer das Verbrechen mit den großen Intereſſen der Geſellſchaft des Staats und der Kirche verſchmolzen iſt, um ſo fürchterlicher wird es zwar durch ſeine Folgen, die ſich auf Tauſende erſtrecken, allein um ſo idealer wird es auch und verliert durch dies Pathos

� [334/0356] an Häßlichkeit. Es erſcheint weniger als Abſicht eines be¬ ſchränkten Egoismus, mehr als Werk eines Irrthums, der aus den Umſtänden ſich dem Helden aufgedrängt hat, wie bei Fiesko, Wallenſtein, Macbeth, Pugatſchef u. ſ. w. Ma¬ teriell genommen ſind die Verbrechen der hohen Tragödie dieſelben, wie in der Sphäre des gemeinen bürgerlichen Trauerſpiels; es iſt auch Raub, Mord, Ehebruch, Verrath. Weshalb aber erſcheinen ſie edel? Oder, wenn dieſer Aus¬ druck zu viel ſagen ſollte, doch jedenfalls vornehm? Wa¬ rum iſt der Diebſtahl einer Krone doch etwas Anderes, als der Diebſtahl eines Paars ſilberner Löffel? Aus keinem andern Grunde offenbar, als weil die Natur des Objects ein ganz anderes Pathos nothwendig macht und, einen Kampf auf Leben und Tod involvirend, uns in Beziehungen hin¬ ausverſetzt, die wir bei kleinlich privaten Leidenſchaften nicht haben können.

Das, was im Verbrechen das Unſittliche iſt, kann nicht ins Komiſche gewendet werden, wenn nicht von ſeiner ethiſchen Bedeutung mehr oder weniger abſtrahirt und ſein Geſchehen unter andern Geſichtspuncten dargeſtellt wird. Es muß nur das intellectuelle Element hervorgehoben werden, wie z. B. wenn die Lüge als Uebertreibung der unbeherrſchten Phantaſie, als Nothlüge, als Schelmerei und Scherz auf¬ tritt, denn in dieſem Fall iſt ihr die Gravität des ethiſchen Elementes von vorn herein genommen und wir ergötzen uns an ihr lediglich von Seiten des Verſtandes. Der ſoldatiſche Großſprecher, wie er bei Plautus und Terentius vorkommt, begeht kein Verbrechen, wenn er uns als ein an ſich ſehr harmloſes Subject mit der plumpen Erfindung ſeiner Auf¬ ſchneidereien amüſirt, die durch ihre Widerſprüche ſofort ſich ſelbſt richten. Unmoraliſch iſt und bleibt die Lüge, aber als

� [335/0357] eine unſchädliche Poſſe, wie ſie auch bei einem Falſtaff, einem Münchhauſen und ähnlichen Figuren erſcheint, wird ſie lächerlich. Benedix hat ein Luſtſpiel: das Lügen, ſehr glücklich darauf baſirt, daß ein ſehr wahrheitsliebender Mann, der ſeine Braut auf einigen Lügen nach Weiberart ertappt, endlich aus bloßer Caprice, das Lügen doch auch einmal zu verſuchen, eine höchſt gleichgültig ſcheinende Un¬ wahrheit vorbringt. Aber dies Nichts, nämlich eines Abends auf einem Schimmel nach einem Wäldchen zugeritten zu ſein, zieht die herbſten Conſequenzen nach ſich, ſo daß man ihn ſogar gefänglich einziehen will. Nun verſichert er, jenen Ritt blos erfunden zu haben, um doch zu ſehen, ob denn das Lügen eine ſolche Kunſt ſei, allein da man ihn ſtets als den ſtrengſten Freund der Wahrheit gekannt hat, ſo will man ihm anfänglich ſchlechterdings nicht glauben, daß er diesmal wirklich gelogen. Wenn Jemand durch einen leicht¬ ſinnigen Hang, ohne Andern ſchaden zu wollen, lügt, wie in Schmidts Luſtſpiel, der leichtſinnige Lügner, ſo erſcheint die Lüge mehr als ein Naturproduct, denn als ein mora¬ liſches Vergehen. Sie wird zu dem, was wir Temperaments¬ fehler nennen. — Der Verrath, um komiſch zu ſein, muß wie die Lüge behandelt werden, nämlich nur als eine ſchel¬ miſche Verrätherei. Die Intrigue ſpielt einen Betrug, um die Schwäche und Eitelkeit, die falſche Selbſtgewißheit und Heuchelei, in ihren eigenen Netzen zu fangen. Wenn Madame Orgon ihren Gatten unter dem Tiſch verſteckt und nun die zudringlichen Erklärungen des gleißneriſchen Tar¬ tüffe mit ſcheinbarer Empfänglichkeit aufnimmt, ihren Ge¬ mahl von der Schändlichkeit des Scheinfrommen zu über¬ zeugen, ſo erfreuen wir uns ethiſch und äſthetiſch an dieſer Entlarvung. Alte Vormünder, die des Vermögens halber

� [336/0358] ihre jungen und ſchönen Nichten zur Heirath zwingen wollen, wie Doctor Bartolo im Barbier von Sevilla, verdienen, wie er, geprellt zu werden und wir ſympathiſiren ſofort, dem habſüchtigen Alten entgegen, mit allen Liſten, die ihn in ſei¬ nen ſchnöden Ränken zu Schanden machen, — Der Ehebruch, als wirklicher Ehebruch, läßt keine komiſche, nur eine tragiſche Behandlung zu (76). In einer Unzahl mittelaltriger Geſchicht¬ chen, Franzöſiſcher Contes, Italieniſcher Novellen (77), Deut¬ ſcher Schwänke, iſt der Ehebruch nur von Seiten des Verſtandes dargeſtellt worden, nämlich die Hinderniſſe zu überwinden, die ſich den Liebenden entgegenſtellen. Das ſittliche Moment iſt ganz ignorirt und durch ſolche Abſtraction allerdings eine Komik möglich gemacht. Kotzebue freilich hat in ſeinem Schauſpiel Menſchenhaß und Reue, den Ehebruch auch in einer Weiſe dargeſtellt, die nicht tragiſch und auch nicht komiſch iſt. Er wird nämlich, wie das empiriſch der Welt Lauf, verziehen — der Kinder wegen. Meinau und Eulalie ſehen ſich nach vier Jahren wieder. Ihre Zuſammenkunft ſchließt mit dem erſchütternden Entſchluß der Wiedertrennung. Da eilen die Kinder, dieſe wahren Helden Kotzebue's, her¬ bei — und halten Vater und Mutter zuſammen. Kotzebue hat damit nur eine höchſt traurige, aber ſehr gewöhnliche Thatſache ausgedrückt, daß nämlich viele Ehen, innerlich untergraben, auch äußerlich zuſammenbrechen würden, wenn nicht der Gedanke, den Kindern gegenüber mit dem öffent¬ lichen Eingeſtändniß der Schuld die Pietät in ihnen zu ver¬ giften, die Eltern in leidlicher Scheineinheit zuſammenhielte. Dieſe Motivirung, der tragiſchen Reſignation die Spitze ab¬ zubrechen, iſt es unſtreitig geweſen, welche dieſem Schauſpiel durch ganz Europa hin einen ſo beiſpielloſen Erfolg erwarb und unter den Damen ſelbſt die Eulalienhüte in Mode brachte.

� [337/0359] Der Mord endlich kann komiſch nur als Parodie er¬ ſcheinen. Er wird zum poſſenhaften Spiel übertrieben, wie wir in neuerer Zeit viel ſolcher ſchaudriger, maudriger Mo¬ rithaten in den Münchener fliegenden Blättern, in den Muſenklängen aus Deutſchlands Leierkaſten, in den Düſſel¬ dorfer Monatsheften u. ſ. w. haben beſingen hören. Wäre das Wort nicht doch noch zu gut dafür, ſo könnte man ſie tragikomiſch nennen.

β. Das Geſpenſtiſche. Das Leben ſcheuet ſeiner Natur nach den Tod. Vom Todten iſt ſchon oben gehandelt. Es wird zum Geſpenſtiſchen, wenn es, ſeiner Natur entgegen, doch wieder als das Le¬ bendige erſcheint. Der Widerſpruch, daß das Todte dennoch lebendig ſein ſolle, macht das Grauen der Geſpenſterfurcht aus. Das geſtorbene Leben als ſolches iſt nicht geſpenſtig. Wir können bei einem Leichnam unbefangen wachen. Würde aber ein Windhauch ſeine Decke bewegen oder würde das Flackern des Lichts uns ſeine Züge ungewiß machen, ſo würde der bloße Gedanke des Lebens in dem Todten, der uns außerdem vielleicht ſehr angenehm ſein kann, zunächſt etwas Geſpenſtiſches an ſich haben. Mit dem Tode ſchließt für uns das Dieſſeits ab; die Eröffnung des Jenſeits durch einen ſchon geſtorben Geweſenen hat den Charakter einer furchtbaren Anomalie. Der Geſtorbene, dem Jenſeits ange¬ hörig, ſcheint Geſetzen zu gehorchen, die wir nicht kennen. Mit dem Abſcheu vor dem Todten als einem der Verweſung verfallenen Daſein, mit der Ehrfurcht vor dem Todten als einem geweiheten Weſen, miſcht ſich das abſolute Myſterium der Zukunft. Wir haben für unſere äſthetiſchen Zwecke die Vorſtellung von Schatten und Geſpenſt auseinanderzu¬


Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 22 � [338/0360] halten, wie die Römer ähnlich zwiſchen Lemuren und Larven unterſchieden. Die Vorſtellung von Geiſtern, die urſprüng¬ lich einer andern Ordnung angehören, hat zwar etwas Außer¬ ordentliches, auch wohl Grauenhaftes, aber nichts Geſpenſti¬ ſches an ſich. Dämonen, Engel, Kobolde, ſind, was ſie ſind, von Hauſe aus, ſind es nicht erſt durch den Tod ge¬ worden. Sie ſtehen über den Schatten. Zwiſchen dem Geſpenſt und dem Lebenden ſteht die eigenthümliche Vor¬ ſtellung des Vampyrismus. Der Vampyr wird als ein Todter vorgeſtellt, der das Grab im Schein voller Leben¬ digkeit zeitweiſe verläßt, das junge, warme Leben zu ergreifen und ihm das Blut auszuſaugen. Der Vampyr iſt ſchon geſtorben und doch gelüſtet ihn noch, gegen das Weſen des Todten, nach Nahrung, und zwar nach dem blühenden Leben ſelber. Durch Göthe's Braut von Korinth, durch Byron's Erzählung und Marſchners Oper: der Vampyr, iſt dieſe Grabphantaſie auch bei uns bekannt genug geworden. Als Sage iſt ſie unter den Griechiſchen und Serbiſchen Völkern daſſelbe, was die Sage von den Wehrwölfen (loups garoux) unter den Romaniſchen. In den Mährchen von Tauſend und Einer Nacht kommt auch die Vorſtellung von Menſchen vor, die das Gelüſt haben, Leichen zu genießen, das Leben alſo mit der Verweſung des Todes zu erſättigen, die ſogenannten Gulen. Dieſe Orientaliſchen Lamien ſind noch widerwärtiger, als die Vampyre, weil ſie noch unna¬ türlicher ſind.

Der Todte als einfacher Schatten erſcheinend kann den Eindruck des Fremden machen, braucht aber durchaus nicht häßlich zu ſein. Er kann im Weſentlichen dieſelbe Ge¬ ſtalt, wie im Leben, haben, nur etwa ins Bleiche, Farbloſe verſchwimmend. In den Perſern hat Aeſchylos den

� [339/0361] Schatten des Dareios vom Chor aus der Unterwelt herauf¬ klagen laſſen, und als er nun ihm und der Atoſſa erſcheint, läßt der Dichter den Chor (V. 690.) nur ſagen: Mich ergreift Scheu vor dem Anſchaun, Mich ergreift Scheu vor der Anred', O Du alt ehrwürdiger König!

gibt aber durch kein Wort zu erkennen, daß in der Erſchei¬ nung als ſolcher irgend etwas Widriges liege. So iſt es der Fall auch mit den Schatten, die in der Odyſſee aus dem Hades ſich zur Opfergrube des Odyſſeus drängen. So mit dem Schatten des Samuel, den die Todtenbeſchwörerin von Endor für den Saul erſcheinen läßt. In einer für unſere Aufgabe ſehr wichtigen Betrachtung über: der Tänzerin Grab (Werke, 44, 194 ff.) hat Göthe das Weſen des Schattenhaften, Lemurenhaften, ſo vortrefflich auseinander¬ geſetzt, daß wir uns nicht enthalten können, Folgendes her¬ auszuheben. Es ſind drei Bilder, eine cykliſche Trilogie. „Das kunſtreiche Mädchen erſcheint in allen dreien, und zwar im erſten die Gäſte eines begüterten Mannes zum Hochgenuß des Lebens entzückend; das zweite ſtellt ſie vor, wie ſie im Tartarus, in der Region der Verweſung und Halbvernichtung, kümmerlich ihre Künſte fortſetzt; das dritte zeigt ſie uns, wie ſie, dem Schein nach wieder hergeſtellt, zu jener ewigen Schattenſeligkeit gelangt iſt.“ Die erſte Tafel ſtellt nun die Tänzerin bei einem Gaſtmahl in der Rolle eines Bakchiſchen Mädchens dar, die Bewunderung jeder Altersſtufe erregend. Das zweite Bild faßt ſie im Uebergang von der Ober- zur Unterwelt auf. „Wenn auf dem erſten die Künſtlerin uns reich und lebensvoll, üppig, beweglich, graciös, wellenhaft und fließend erſchien, ſo ſehen wir hier, in dem traurigen lemuriſchen Reiche, von Allem


22 * � [340/0362] das Gegentheil. Sie hält ſich zwar auf einem Fuße, allein ſie drückt den andern an den Schenkel des erſtern, als wenn er einen Halt ſuchte. Die linke Hand ſtützt ſich auf die Hüfte, als wenn ſie für ſich ſelbſt nicht Kraft genug hätte; man findet hier die unäſthetiſche Kreuzesform, die Glieder gehen im Zickzack, und zu dem wunderlichen Ausdruck muß ſelbſt der rechte aufgehobene Arm beitragen, der ſich zu einer ſonſt graciös geweſenen Stellung in Bewegung ſetzt. Der Standfuß, der aufgeſtützte Arm. das angeſchloſſene Knie, alles gibt dem Ausdruck des Stationairen, des Beweglich¬ unbeweglichen: ein wahres Bild der traurigen Lemuren, denen noch ſo viel Muskeln und Sehnen übrig bleiben, daß ſie ſich kümmerlich bewegen können, damit ſie nicht ganz als durchſichtige Gerippe erſcheinen und zuſammenſtürzen, Aber auch in dieſem widerwärtigen Zuſtande muß die Künſtle¬ rin auf ihr gegenwärtiges Publicum noch immer belebend, noch immer anziehend und kunſtreich wirken. Das Verlangen der herbeieilenden Menge, der Beifall, den die ruhig Zu¬ ſchauenden ihr widmen, ſind hier in zwei Halbgeſpenſtern ſehr köſtlich ſymboliſirt. Sowohl jede Figur für ſich, als alle drei zuſammen componiren vortrefflich und wirken in Einem Sinne zu Einem Ausdruck. — Was iſt aber dieſer Sinn, was iſt dieſer Ausdruck? Die göttliche Kunſt, welche Alles zu veredeln und zu erhöhen weiß, mag auch das Widerwärtige, das Abſcheuliche nicht ablehnen. Eben hier will ſie ihr Majeſtätsrecht gewaltig ausüben; aber ſie hat nur Einen Weg, dies zu leiſten: ſie wird nicht Herr vom Häßlichen, als wenn ſie es komiſch behandelt; wie denn ja Zeuxis ſich über ſeine eigene ins Häßlichſte gebildete Hekuba zu Tode gelacht haben ſoll. — Bekleide man dieſes gegenwärtige lemuriſche Scheuſal mit weiblich

� [341/0363] jugendlicher Muskelfülle — ſo wird man eine von den komiſchen Poſituren ſehen, mit denen uns Harlekin und Colombine unſer Leben lang zu ergötzen wußten. Verfahre man auf dieſelbe Weiſe mit den beiden Nebenfiguren, und man wird finden, daß hier der Pöbel gemeint ſei, der am meiſten von ſolcherlei Vorſtellungen angezogen wird.“

„Es ſei mir verziehen, daß ich hier weitläufiger als vielleicht nöthig wäre, geworden; aber nicht jeder würde mir, gleich auf den erſten Anblick, dieſen antiken humoriſti¬ ſchen Genieſtreich zugeben, durch deſſen Zauberkraft, zwiſchen ein menſchliches Schauſpiel und ein geiſtiges Trauerſpiel eine lemuriſche Poſſe, zwiſchen das Schöne und Erhabene ein Fratzenhaftes hineingebildet wird. Jedoch geſtehe ich gern, daß ich nicht leicht etwas Bewundernswürdigeres finde, als das äſthetiſche Zuſammenſtellen dieſer drei Zuſtände, welche Alles enthalten, was der Menſch über ſeine Gegenwart und Zukunft wiſſen, fühlen, wähnen und glauben kann.“

„Das letzte Bild wie das erſte ſpricht ſich von ſelbſt aus. Charon hat die Künſtlerin in das Land der Schatten hinübergeführt, und ſchon blickt er zurück, wer allenfalls wieder abzuholen drüben ſtehen möchte. Eine den Todten günſtige und daher auch ihr Verdienſt in jenem Reich des Vergeſſens bewahrende Gottheit blickt mit Gefallen auf ein entfaltetes Pergamen, worauf wohl die Rollen verzeichnet ſtehen mögen, in welchem die Künſtlerin ihr Leben über bewundert worden. — Cerberus ſchweigt in ihrer Gegen¬ wart, ſie findet ſchon wieder neue Bewunderer, vielleicht ſchon ehemalige, die ihr zu dieſen verborgenen Regionen vorausgegangen. Eben ſo wenig fehlt es ihr an einer Dienerin; auch hier folgt ihr eine nach, welche, die ehe¬ maligen Functionen fortſetzend, den Shwal für die Herrin

� [342/0364] bereit hält. Wunderſchön und bedeutend ſind dieſe Umge¬ bungen gruppirt und disponirt, und doch machen ſie, wie auf den vorigen Tafeln, blos den Rahmen zu dem eigentlichen Bilde, zu der Geſtalt, die hier wie überall entſcheidend hervortritt. Gewaltſam erſcheint ſie hier, in einer Mä¬ nadiſchen Bewegung, welche wohl die letzte ſein mochte, womit eine ſolche Bakchiſche Darſtellung beſchloſſen wurde, weil darüber hinaus Verzerrung liegt. Die Künſtlerin ſcheint mitten durch den Kunſtenthuſiasmus, welcher ſie auch hier begeiſtert, den Unterſchied zu fühlen des gegenwärtigen Zuſtandes gegen jenen, den ſie ſo eben verlaſſen hat. Stellung und Ausdruck ſind tragiſch, und ſie könnte hier eben ſo gut eine Verzweifelnde als eine vom Gott mächtig Begeiſterte vorſtellen. Wie ſie auf dem erſten Bilde die Zuſchauer durch ein abſichtliches Wegwenden zu necken ſchien, ſo iſt ſie hier wirklich abweſend; ihre Bewunderer ſtehen vor ihr, klatſchen ihr entgegen, aber ſie achtet ihrer nicht, aller Außenwelt entrückt, ganz in ſich ſelbſt hineingeworfen. Und ſo ſchließt ſie ihre Darſtellung mit den zwar ſtummen, aber pantomimiſch genugſam deutlichen, wahrhaft heidniſch tragiſchen Geſinnungen, welche ſie mit dem Achill der Odyſſee theilt, daß es beſſer ſei, unter den Lebendigen als Magd einer Künſtlerin den Shwal nachzutragen, als unter den Todten für die Vortrefflichſte zu gelten (77).“

Der Schatten iſt, wie ſein Name ſchon beſagt, ohne Greifiichkeit. Er iſt zwar ſichtbar und hörbar, allein un¬ faßlich und daher von den materiellen Schranken unbeirrt. Er kommt und geht — überall und iſt, der Zeit nach, kaum an das ihm günſtige Dunkel der Nacht gebunden. Die in's Düſtere malende Vorſtellung wird in ihm das Grabhafte abſpiegeln, wie die Balladen beſonders die Ge¬

� [343/0365] rippe und Todtenhemden lieben, zuweilen aber, wie gleich in Bürgers Lenore, den Schatten ſcheinbar auch in der Form der vollen Wirklichkeit auftreten laſſen. Die Unfarben, Schwarz, Weiß, Grau, ſind bei allen Völkern die Farben der Schattenwelt, denn alle wirklichen Farben gehören dem Leben, dem Tage und der Welt an. Zum Geſpenſt, larva, wird nun der Schatten, wenn denſelben noch ein ethiſcher Zuſam¬ menhang mit der dieſſeitigen Welt verknüpft und ihn alſo im Intereſſe der Geſchichte aus dem Jenſeits, worin er Ruhe finden ſollte, wieder in das Getriebe des Dieſſeits zurückruft. Abſolute, freie Ruhe, Seligkeit kann nur der Geiſt finden, der die Geſchichte überwunden hat. Wenn der Menſch ſeine Geſchichte noch nicht ausgelebt hat, ſo läßt ihn die Phantaſie aus dem Grabe wiederkehren, auf der Oberwelt die Vollendung ſeines Dramas zu betreiben. Sie verſpart die Abwickelung des Reſtes ſeiner Geſchichte nicht auf eine unbeſtimmte Zeit eines allgemeinen Gerichtes, ſondern löſ't ſie als poetiſche Gerechtigkeit hier ſchon auf. Der Todte hat hiernach etwas gethan oder ihm iſt etwas gethan, was als ein Angefangenes zum Schluß geführt, oder als eine Schuld geſühnt werden muß. Aeußerlich hat ihn der Tod aus dem geſchichtlichen Zuſammenhang herausgeriſſen, allein die Einheit der innern Nothwendigkeit läßt ihn noch nicht los und er erſcheint noch wieder, ſein Recht, ſeine Sühne zu ſuchen. Nachts, wenn der Schlaf die Lebenden umfängt, ſchleicht er hervor aus der Erde Schooß, der ihn als einen noch Ungerechtfertigten noch nicht für immer bergen kann, und nahet ſich dem Lager der Träumenden, Halbwachenden. Er zeigt der Gattin oder dem Sohne die blutende Wunde, die ihm, fern von ihnen, von tückiſcher Hand geſchlagen; er beunruhigt den Mörder ſelbſt durch die Qual ſeines Anblicks; er fordert

� [344/0366] die Seinigen auf zur Rache für ihm geſchehene Schmach; er winkt, ihm nach Orten zu folgen, wo er den Lebenden wichtige Zeugniſſe oder Schätze hinterlaſſen; oder er offenbart auch Verbrechen, die er heimlich begangen und fleht, ihn von ſeiner Schuld erlöſen, ihm ſeine Buße bewirken zu helfen. Denn der Todte iſt ſchon unleibhaft und machtlos, kann lichtſcheu nicht ſelbſt mehr in die taghelle Wirklichkeit eingreifen; er kann nur flehen, beſchwören, lenken, daß Recht und Liebe auch ihm, dem Todten, von den Lebendigen nicht verkümmert werden. Ganz ſtumm kann der Geiſt bei Todten dem Lebenden ſeine Schuld vorhalten, wie Banquo's Schatten, der ſich an Macbeths Tafel niederläßt; oder er kann mit dumpfem Klagenlaut reden, wie Hamlets Vater u. ſ. w. Was iſt alſo das Geſpenſt? Es iſt der Reflex des Schuldbewußtſeins, die Ruheloſigkeit der eigenen Ent¬ zweiung, die ſich in das Bild des drängenden Geiſtes projicirt, wie jener Maler geiſtreich den Steckbrief als das Doppelbild des Mörders ſelber, den er verfolgt, gemalt hat. Der Mörder flieht in trüber Nacht; rieſengroß eilt der Steckbrief ihm nach; dieſer Brief iſt aber, ſieht man ihn näher an, wieder der Mörder ſelber, er iſt der unendliche Widerſchein ſeiner Schuld; er flieht vor ſich ſelber und ſchreibt ſich ſelber den Steckbrief. Dies ethiſche Moment gibt dem Geſpenſtiſchen die ideale Weihe; in ſeiner Schattenhaftigkeit muß es doch daß Gewicht derjenigen Nothwendigkeit durch¬ fühlen laſſen, die auf dem ewigen Grunde der ſittlichen Mächte beruhet. In dem Geſpenſt muß ſich ein Intereſſe manifeſtiren, das über alle Meinung, über allen Hohn und Angriff der Lebenden hinaus iſt, wie der Geiſt des erſchla¬ genen Comthur dem leichtſinnig frevelnden Don Juan in ſolcher Hoheit gegenüber ſteht.

� [345/0367] Die Darſtellung des Geſpenſtiſchen iſt daher außer¬ ordentlich ſchwer. Leſſing hat in № X.–XII. der Dra¬ maturgie die äſthetiſche Theorie des Geſpenſtiſchen gegeben. „Der Same, Geſpenſter zu glauben, liegt in uns Allen, und in denen am häufigſten, für die er (der dramatiſche Dichter) dichtet. Es kommt nur auf ſeine Kunſt an, dieſen Samen zum Keimen zu bringen; nur auf gewiſſe Handgriffe, den Gründen für ihre Wirklichkeit in der Geſchwindigkeit den Schwung zu geben. Hat er dieſe in ſeiner Gewalt, ſo mögen wir im gemeinen Leben glauben, was wir wollen; im Theater müſſen wir glauben, was Er will.“ Leſſing ſtellt nun Voltaire und Shakeſpeare einander entgegen, den erſtern als den, welcher das Weſen des Geſpenſtes verfehlt, den zweiten als den, welcher es richtig verſtanden und mei¬ ſterhaft, nach Leſſing faſt einzig und allein, dargeſtellt habe. Voltaire hatte in ſeiner Semiramis den Schatten des Ninus, am hellen Tage, mitten in einer Verſammlung der Stände des Reichs, von einem Donnerſchlag begleitet, aus ſeiner Gruft hervortreten laſſen. „Wo hat Voltaire jemals gehört, daß Geſpenſter ſo dreiſt ſind? Welche alte Frau hätte ihm nicht ſagen können, daß die Geſpenſter das Son¬ nenlicht ſcheuen, und große Geſellſchafen gar nicht gern beſuchen? Doch Voltaire wußte das zuverläßig auch; aber er war zu furchtſam, zu ekel, dieſe gemeinen Umſtände zu nutzen: er wollte uns einen Geiſt zeigen, aber es ſollte ein Geiſt von einer edlern Art ſein, und durch dieſe edlere Art verdarb er Alles. Das Geſpenſt, das ſich Dinge heraus¬ nimmt, die wider alles Herkommen, wider alle guten Sitten unter den Geſpenſtern ſind, dünkt mich kein rechtes Geſpenſt zu ſein; und Alles, was die Illuſion nicht befördert, ſtört hier die Illuſion.“ Leſſing beſchränkt ſich auf die Verglei¬

� [346/0368] chung des Ninus mit dem Vater des Hamlet. Er macht die feine Bemerkung, daß der Geiſt des letztern nicht ſowohl durch ſich, als durch die Art und Weiſe wirke, wie Hamlet uns die Wirkung der Erſcheinung auf ſich ausdrückt. Der Geiſt des Ninus hat den Zweck, Blutſchande zu verhindern und Rache an ſeinem Mörder zu üben. Er iſt nur als eine poetiſche Maſchine des Knotens wegen da; Hamlets Vater dagegen eine wirklich handelnde Perſon, an deren Schickſal wir Antheil nehmen, die Schauder, aber auch Mitleid erweckt. Voltaire's Hauptfehler beſteht nun nach Leſſing darin, daß er in der Erſcheinung des Geiſtes eine Ausnahme von den Geſetzen der Weltordnung, ein Wunder, Shakeſpeare hin¬ gegen eine ganz natürliche Begebenheit erblickt, „denn es iſt unſtreitig dem weiſeſten Weſen weit anſtändiger, wenn es dieſer außerordentlichen Wege nicht bedarf, und wir uns die Belohnung des Guten und Beſtrafung des Böſen in die ordentliche Kette der Dinge von ihm mit eingeflochten denken.“ Dies iſt es, was wir oben mit den Worten haben bezeichnen wollen, daß erſt die Nothwendigkeit der ewigen ſittlichen Mächte dem Geſpenſtiſchen die ideale Weihe zu geben ver¬ möge. Der eigene Trieb des Geiſtes muß von Innen her¬ aus die ſonſtigen Schranken des Grabes durchbrechen. — Aber eine kleine Bemerkung dürfen wir uns wohl gegen Leſſing erlauben. Er hat den Unterſchied zwiſchen Schatten und Geſpenſt hier unbeachtet gelaſſen. Er hat nicht daran gedacht, daß der Geiſt Banquo's ſeinen Platz an der Tafel einnimmt, bei hellem Lichte einnimmt, bei demſelben Dichter, den er übrigens mit dem vollkommenſten Rechte als den Meiſter in der Schilderung des Grauenhaften im Geſpenſti¬ ſchen rühmt. Er tadelt es an Voltaire als eine Unſchick¬ lichkeit, ein Geſpenſt vor den Augen einer großen Menge

� [347/0369] erſcheinen zu laſſen. „Alle müſſen auf einmal, bei Er¬ blickung deſſelben, Furcht und Entſetzen auf verſchiedene Art äußern, wenn der Anblick nicht die froſtige Symmetrie eines Ballets haben ſoll. Nun richte man einmal eine Heerde dummer Statiſten dazu ab; und wenn man ſie auf das Glücklichſte abgerichtet hat, ſo bedenke man, wie ſehr dieſer vielfache Ausdruck des nämlichen Affects die Aufmerkſamkeit theilen und von den Hauptperſonen abziehen muß.“ Wenn nun Leſſing an den Geiſt des Dareios den Aeſchyleiſchen Perſern gedacht hätte? Erſcheint derſelbe nicht außer der Atoſſa auch dem ganzen Chor? Aber Dareios erſcheint eben nicht als Geſpenſt; es iſt von keiner Schuld zwiſchen ihm und Atoſſa die Rede, ſie will nur ihm, dem großen Könige, das unermeßliche Leid klagen. Das Geſpenſt, darin hat Leſſing Recht, bezieht ſich nur auf eine oder auf wenige Perſonen, denn es hat ein beſtimmtes Verhältniß zu ihnen. Shakeſpeare hat dieſe ausſchließende Beziehung ſtets mit tiefer Pſychologie beachtet. Hamlet ſieht des Vaters Geiſt, die Mutter nicht. Banquo wird von Macbeth, nicht von den Gäſten geſehen. Aus dem Zelte des Brutus entfernt ſich einer nach dem andern; nur ein Knabe bleibt, den aber der Schlaf auch überwältigt; Brutus iſt allein und nun er¬ ſcheint ihm, dem Mörder, am dämmernden Morgen der ent¬ ſcheidenden Schlacht, der Geiſt Cäſars.

Wird die ethiſche und ätheriſche Natur des Geſpen¬ ſtiſchen mit plumpen Händen angefaßt, ſo ſinkt ſie in eine niedrigere Stufe, in das Spukhafte herunter, wie es namentlich von den Deutſchen Ritter- und Räuberromanen geliebt wird: Pantolino oder das furchtbare Geſpenſt um Mitternacht; Don Aloyſo oder die unerwartete Erſcheinung am Kreuzwege u. ſ. w. Das Spukhafte iſt durchſchnittlich

� [348/0370] im Inhalt eben ſo abſurd, als in der Form. Es äfft den Lebenden durch unheimliche, verſtandloſe, mit dem Ernſt des Jenſeits mehr kokettirende als wirklich mit ihm zuſammen¬ hängende Dinge. Unſere romantiſche Schule hat das Ge¬ ſpenſtiſche vorzüglich nach dieſer Richtung hin ausarten laſſen. Die ſeltſamſte Albernheit, die fratzenhafteſte Verrücktheit galt für genial. Man konnte conſequeut das Ethiſche, ſofern man noch überhaupt an daſſelbe dachte, nur noch als das Fataliſtiſche und dann immer nur in einer ſcheußlichen Geſtalt feſthalten, wie z. B. in Hr. v. Kleiſt Familie Schroffen¬ ſtein der abgehauene Kindesfinger. Wenn in der Oreſtie die Klytämneſtra mit dem Dolch in der Wunde erſcheint, die des Sohnes Hand ihr geſchlagen, ſo iſt dies ein durch ſeine Wahrheit erſchütterndes Phantom; wenn aber mit einem Meſſer, wie in Werners Februar, wieder gemordet werden muß, weil ſchon einmal mit ihm gemordet iſt, ſo iſt das ein unvernünftiger, ſpukhafter Zuſammenhang. Dieſe Ten¬ denz hat daher auch eine große Vorliebe für Puppen, Nu߬ knacker, Automate, Wachsfiguren u. ſ. w. Hoffmann's Nußknacker zog eine ganze Menge ähnlicher Spukfiguren nach ſich, ſo daß Immermann noch im Münchhauſen eine Satire darauf in dem großen, bramabarſirenden Ruspoli einflechten konnte. Je hohler und gehaltloſer ſolche Einfälle wurden, für um ſo phantaſtiſcher wurden ſie oft gehalten. Es war ein Glück, daß man durch die Phantaſie des Volkes doch ſchon manche Elemente vorgearbeitet fand, in denen wenigſtens die ſchreckliche Seite des Spukhaften richtiger gefaßt und mit einem Anklang der Idee verſetzt war. So waren eine Zeitlang durch Arnim die Golems Mode ge¬ worden, Lehmfiguren, welche durch einen auf die Stirn geklebten, mit Sprüchen des Geiſterfürſten Salomo beſchrie¬

� [349/0371] benen Zettel ein Scheinleben erhalten. Das Höchſte in dieſer Region hat wohl Shelley's Frau in einem umfäng¬ lichen Roman geleiſtet, der Frankenſtein oder der mo¬ derne Prometheus heißt. Dieſer Roman verdient hier um ſo mehr erwähnt zu werden, als er auch die Idee des Häßlichen auf intereſſante Weiſe verarbeitet hat. Ein Natur¬ forſcher hat ein menſchliches Automat unter unzähligen Mühen vollendet. Der große Augenblick iſt gekommen, wo die Maſchine zur Autonomie übergehen, wo ſie ſehen, hören, ſprechen, ſich bewegen ſoll. Dies Schauſpiel kann ihr Schöpfer nicht ertragen; er ſtürzt in ſein Schlafgemach fort und ſchläft hier trotz ſeiner fieberhaften Spannung vor Er¬ müdung ein. Als er endlich wieder erwacht und in ſein Atelier zurückkehrt, findet er es leer. Das Automat iſt nämlich unterdeſſen wirklich lebendig geworden und hat, als ein vollkommen ausgebildeter Menſch, ſchnell die ganze Scala von Empfindungen durchlaufen, wie Condillac ſie in ſeiner bekannten ſenſitiv gewordenen Statue ſchildert. Im Mond¬ licht, mit einem Anzug Frankenſteins, dringt es aus dem Zimmer ins Freie und verliert ſich in die Einſamkeit der Berge, in das Dickicht der Wälder, von Menſchen, ſelbſt von Thieren, als ein ſchlechthin heterogenes Weſen gemieden. Obwohl nach der Intention ſeines Schöpfers nicht nur ſtark, ſondern auch ſchön gebildet, erſcheint es doch lebend als ein widriges Ungeheuer. Die Bewegung des Lebens macht alle ſeine Formen und Züge zu geſpenſtigen Verzerrungen. Endlich intereſſirt es ſich für eine einſam wohnende Prediger¬ familie, die es heimlich beobachtet. Es erzeugt ſich das Be¬ dürfniß, die Sympathie auszudrücken und es thut dies, indem es nächtlich Holz herzuträgt. Zu Winters Anfang nimmt man das wohlthätige Monſtrum, das blos durch

� [350/0372] verſtecktes Lauſchen hier nicht nur ſprechen, auch leſen gelernt hat, eines Morgens wahr, entſetzt ſich aber vor ihm, brennt die Wohnung nieder und reiſt über Nacht ab. Wir enthalten uns jeder pſychologiſchen Kritik, denn obwohl Miſtriß Shelley mit großer Ausführlichkeit es gerade auf die Pſycho¬ logie angelegt hat, ſo gehört doch ein ernſteres Nachdenken über den Cauſalnexus nicht in ein Werk, das von vorn herein auf einer Fiction beruhet und deſſen Geſchichte mehr einen ſymboliſchen Charakter hat. Wir ſchweigen daher auch von den ſonſtigen äſthetiſchen Mängeln und fahren in unſerm Bericht fort. Aus einem Brief in Frankenſteins Kleidern, in denen es entwichen, erfährt das Ungethüm — denn wozu hätte es leſen gelernt? — das Geheimniß ſeiner Geburt. Rache gegen ſeinen Schöpfer, der es ſo elend gemacht, treibt es zum Morde von Frankenſteins Sohn. Im Gebirge trifft es mit Frankenſtein ſelber einſam zuſammen, ſchleppt ihn in eine Höhle und erzwingt von ihm den Schwur, ihm ein weibliches, durch gleiche Häßlichkeit zur Verbindung mit ihm geeignetes Weſen zu ſchaffen, widrigenfalls es alles ihm Theure morden werde. Der moderne Prometheus macht ſich auch an die Ausführung und iſt ſchon wieder der Vollendung nahe, als der entſetzliche Gedanke in ihm auf¬ ſteigt, durch das Weib vielleicht einer ſcheußlichen Raçe die Exiſtenz zu geben. Da er ſich in ſeiner Arbeit von den heimlich ſchleichenden Späheraugen des Ungeheuers überwacht weiß, bricht eine unendliche Wuth in ihm aus, in welcher er ſeine Schöpfung wieder zerſtört, die Stücke des Au¬ tomats in einen Korb packt, dieſen in ein Boot ſetzt und damit allein auf den See hinausfährt. Hier verſenkt er ſein Werk, hat aber dabei, obwohl es nur ein Maſchinen¬ weib, faſt das Gefühl eines Verbrechens. Im weitern ſehr

� [351/0373] phantaſtiſchen Verlauf, der nicht hieher gehört, ermordet das Ungeheuer die Geliebte Frankenſteins und verliert ſich dann in die Nebel des Nordens. Dieſe verworrene, weiblich auf¬ gebauſchte Compoſition hat manches Kühne und Tiefe, das ſie anziehend macht. Das reifſte Product menſchlicher Tech¬ nik, wenn es mit der Wunderthat des Schöpfers rivaliſiren will, wird gerade durch das erreichte künſtliche Leben zum Monſtrum, das in ſeiner abſoluten Iſolirung, keinem Weſen naturverwandt, ſich höchſt elend fühlt. Gerade im Augen¬ blick, als Frankenſtein dem Triumph ſeiner mühſeligen Arbeit ſich nähert, erbebt er vor ſeiner Schöpfung, entfernt ſich das eine Mal, zerſtört ſie das andere Mal. Und bei dieſer Zerſtörung erſchrickt er nicht etwa nur vor den Folgen in Beziehung auf ſein Wohl, ſondern es durchſchauert ihn wie bei einem Morde. In dieſem Gefühl culminirt hier die Schilderung des Spukhaften, denn das Spukhafte beſteht nicht nur darin, daß Todte als Lebendige ſich regen, ſondern vorzüglich darin, daß todte Dinge, Beſenſtiele, Meſſer, Uhren, Bilder, Puppen, lebendig werden und noch eine Potenz höher nur noch darin, daß wunderliche Töne er¬ klingen, ſeltſame, ganz unerhörte, unausſprechliche Myſterien bergend; denn wenn noch ein gewiſſer ethiſcher Zuſammen¬ hang da iſt, wie in Kleiſt's Bettelweib von Locarno, wo aus dem Winkel eines Zimmers zu einer gewiſſen Zeit ein röchelnd durchdringender Ton erſchallt, weil man hier einmal ein armes Bettelweib hat verſchmachten laſſen, deſſen Todesſeufzer zur ſelben Stunde ſich ſeitdem als eine gräßlich feierliche Mahnung zum Mitleid vernehmen läßt, ſo iſt noch viel zu viel Vernunft da. Der ganz inhaltloſe, ganz in der Luft ſchwebende Ton, iſt dieſen Romantikern à la Hoffmann erſt recht romantiſch, wie ihre Blume nicht Roſe und Veil¬

� [352/0374] chen, ſondern „die blaue Blume“ überhaupt iſt. Je ab¬ ſtracter, deſto räthſelhafter. Shelley's Frau hat denn doch wirklich tiefere Phantaſieen. Wie groß tritt bei ihr die Vor¬ ſtellung in Frankenſtein auf, durch die neue von ihm ins Daſein gerufene Raçe in dem menſchlichen Geſchlecht auf immer eine unaustilgliche Entzweiung zu begründen, nämlich zwiſchen dem gottgeſchaffenen Naturmenſchen und dem vom Calcul gemachten Kunſtmenſchen. Wie tief iſt nicht die Nothwendigkeit motivirt, dem häßlichen Manne folgerichtig auch das häßliche Weib zuzueignen und mithin das Häßliche als Norm, als Ideal der Gattung zu ſetzen!

Wie leicht das Spukhafte in's Komiſche gewendet werden könne, iſt auszuführen überflüſſig, da die Satire auf die Geſpenſterſeherei ſich oft genug mit dieſer Perſiflage beſchäftigt hat (78). Aber auch außerhalb der Satire hat die Kunſt das Geſpenſtiſche und Spukige oft genug zur Be¬ reitung der lächerlichſten Verwicklungen benutzt, unter welchen der Schlußgeſang von Byron's Dun Juan wohl die ele¬ ganteſte, ſceniſch und pſychologiſch am Folgerechteſten durchge¬ führte Darſtellung enthällt. Don Juan iſt entſchloſſen, den Mönch zu ſehen, der im Schloſſe ſpuken ſoll. Ein alter¬ thümlich meublirtes, Gothiſches Zimmer, Mondſchein; zwei Piſtolen auf dem Tiſch; Mitternacht; ſonderbares Rauſchen auf dem Corridor; es nahet ſich; er iſt es, der Mönch! Zwei Feueraugen ſchauen aus einer verhüllten Kapuze. Don Juan ſpringt auf; der Mönch weicht auf den dunklern Cor¬ ridor zurück; der Ritter folgt, ergreift das Phantom, ringt mit ihm — und

Der Geiſt, — ſo's einer war, — ſchien ſüße Seele, Süß wie ſie je ſich barg im Muſchelhut, Mit Grübchenkinn und Schwanenhals, als ſtöhle

� [353/0375] Sich aus der Kutte Form von Fleiſch und Blut. Da ſank die graue Hüll' und ſonder Hehle Enthüllte ſich — wozu denn ach! war's gut? — Der Geiſt mit üppger Bruſt und vollen Waden Als Herzogin Fitzfulk höchſt muntre Gnaden.

γ. Das Diaboliſche. Wir haben das Böſe zuerſt als das Verbrecheriſche be¬ trachtet. Als pure negative Geſinnung, ohne ſich ſymboliſch in einer deformen Geſtalt oder objectiv in einer Handlung auszudrücken, würde es nämlich kein äſthetiſches Object ſein. Wir haben die Bezeichnung des Verbrecheriſchen aber auch deshalb gewählt, weil wir andeuten wollten, daß der Menſch ſich durch einen hybriden Affect, durch Leidenſchaft, durch den Conflict der Umſtände zu einer böſen That kann hinreißen laſſen, ohne in ſich durch und durch, ohne principiell böſe, ohne diaboliſch zu ſein. Oedipus, Oreſtes, Medea, Othello, Karl Moor u. ſ. w. begehen Verbrechen, ohne daß man ihnen Bosheit, Freude am Böſen, zuſchreiben könnte. Das Geſpenſtiſche haben wir dem Verbrecheriſchen nachfolgen laſſen, weil es weſentlich durch irgendwelchen ſchuldvollen Zuſammenhang vermittelt wird. Wir haben es unterſcheiden vom Reich der Dämonen; wir haben es auch unterſcheiden vom Reich der Schatten überhaupt. Die Erſcheinung eines Geiſtes, wie des Erdgeiſtes im Götheſchen Fauſt, eines Schattens, wie des Dareios in den Aeſchyleiſchen Perſern, kann Grauen erwecken, aber zugleich erhaben ſchön ſein. Zum Geſpenſt wird der Schatten erſt, wenn ein Todter ſeine Geſchichte noch nicht ausgelebt hat, alſo in den Prag¬ matismus der fortlaufenden noch verwickelt iſt. Wir be¬ dienten uns aus Vorſicht auch hier einer umfaſſenderen Be¬


Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 23 � [354/0376] ſtimmung, um nicht ſolche Erſcheinungen auszuſchließen, die nicht direct durch das Böſe hervorgerufen werden. Durch das Böſe nämlich als ein ihnen ſelbſt inhärirendes, denn Banquo ſelber z. B. iſt ja nicht böſe, nicht verbrecheriſch, und doch erſcheint er. Wir hoben die Ruheloſigkeit des Todten hervor, den noch irgend ein wichtiges Intereſſe in das Dieſſeits zurückbannt. Inſofern aber das Geſpenſtiſche zum Spuk wird, tritt es auch noch nicht geradezu in das Gebiet des Böſen ſchlechthin, vielmehr in die früher von uns betrachtete Region des Abſurden ein. Das Geſpenſtiſche als der Widerſchein der innern Zerriſſenheit kann äſthetiſch eben dadurch ſchön werden, daß es, wie Leſſing richtig ſagt, Schaudern und doch Mitleid erweckt. Als mit den Vor¬ ſtellungen des Todes, der Verweſung, der Schuld, des Böſen zuſammenhängend, erregt es unſern Abſcheu; es iſt widrig; aber als mit den ethiſchen Intereſſen verknüpft, als die Würde der ſelbſt über den Tod hinausgreifenden Gerechtig¬ keit darſtellend, wird es zugleich von der Häßlichkeit wieder befreiet, wie die Schattengeſtalt des Comthur in Mozarts Don Juan ſo unvergleichlich zeigt. Der Wahnſinn hat in ſeiner Selbſtverlorenheit unſtreitig etwas Geſpenſtiſches an ſich. Der Verrückte iſt aber umgekehrt als der Todte an eine Vorſtellung entfremdet; das Geſpenſt nämlich kehrt aus dem Jenſeits in das Dieſſeits zurück; es hat den ungeheuren Sprung von dem einen zum andern gethan; der Verrückte hingegen lebt noch, iſt aber der Wirklichkeit durch ſeinen Wahn entzogen, iſt für die lebendigen Intereſſen der poſi¬ tiven Realität krankhaft todt. Die unermeßliche Größe Sha¬ keſpeare's, der das menſchliche Herz in allen ſeinen Höhen und Tiefen gründlichſt gekannt hat, gibt uns auch hier die trefflichſten Beiſpiele. Seine Lady Macbeth, wie ſie des

� [355/0377] Nachts vom Lager ſich erhebt und im Traumwachen die Blutflecken von der kleinen Hand waſchen möchte, iſt eine dem Geſpenſtiſchen ganz nahe ſtehende Erſcheinung, welche uns das Blut in den Adern erſtarren macht. Schuldbewußt¬ ſein, Nachtwandeln, beginnende Zerrüttung des Geiſtes miſchen ſich hier zu einem ungeheuren Effect. Sein König Lear, wenn er, einen Kranz von Stroh tragend, mit einem Baumaſt ſich ſtützend, auf offener Haide wahnſinnige Reden ſprudelt, macht einen geſpenſtiſchen Eindruck. Aber in dieſen Scenen iſt durch den gewaltigen Zuſammenhang, in welchem ſie ſtehen, noch immer Vernunft. Der Spuk dagegen geht in's Alberne und Unheimliche über. Dennoch wäre es ſehr einſeitig, auch ihm ſein äſthetiſches Recht zu verſagen. Die Phantaſie hat auch ihm eine wunderbare Schönheit abzuge¬ winnen verſtanden, theils in den Mährchen der Völker, theils in den Kunſtdichtungen großer Meiſter, wie in Tiecks herrlichen Phantaſusſagen vom blonden Eckbert vom Runen¬ berge, vom Pokal u. a.

Aus dieſer Entwicklung wird nun wohl die falſche Ein¬ ſeitigkeit derjenigen Begriffsbeſtimmung erhellen, welche das Häßliche mit dem Geſpenſtiſchen und dies wieder mit dem Böſen identificirt. Weiße hat ſich bei ſeiner Theorie durch die Vorſtellung der Hölle in der religiöſen Phantaſie der Völker zu dem Irrthum fortreißen laſſen, in den Höllenbe¬ wohnern, vulgo Teufeln, die wahren Geſpenſter, zu ſehen, was ſich äſthetiſch nicht rechtfertigen läßt. Aeſthetik I. 188: „Die Geſtalten dieſes Abgrunds ſind die Geſpenſter, die ein ſelbſtſtändiges, oder objectives und von der Subjectivität der Phantaſie losgetrenntes Daſein lügen, und durch dieſe Lüge die endlichen Geiſter, denen ſie, jedem einzelnen zur un¬ endlichen Particularität entfaltet, erſcheinen, in denſelben Ab¬


23 * � [356/0378] grund der Verworfenheit herunterzureißen drohen.“ S. 196: „Daher als allgemeines Attribut alles Häßlichen, daß es ein Geſpenſtiſches und Unheimliches iſt; welche Ausdrücke man der myſteriöſen oder heimlichen Natur der Schön¬ heit gegenüberſtellen kann. Als dieſe geſpenſtiſche Natur drängt ſich die Häßlichkeit in alle Formbildungen der Schön¬ heit ein, und ſtört dieſe, indem ſie ihnen ſtatt ihrer wahren Bedeutung, die jeder einzelnen ihre beſondere dialektiſche Stellung anweiſt, das gehaltloſe Treiben der ſich an die Stelle des Höchſten ſetzenden Phantaſie unterſchiebt. Weil übrigens dies Hinaustreten der geſpenſtiſchen Phantaſie aus der Sphäre ihres Seins d. h. ihrer Nichtigkeit, in die höhern Sphären der äſthetiſchen Wirklichkeit, eine Zertrümmerung der Formen iſt, in denen die Idee der Schönheit weſentlich beſteht, ſo iſt der letzte und zureichende Grund dieſes Ge¬ ſchehens nicht innerhalb, ſondern außerhalb oder jenſeits dieſer Idee, nämlich in der Weſenheit und dem Begriff des Böſen zu ſuchen“. Wir haben nicht nur nichts dagegen, ſondern wir ſtimmen ganz damit überein, im Böſen die abſolute Lüge und inſofern in ihm auch ein geſpenſtiges Mo¬ ment zu erblicken, allein das Geſpenſtiſche nur als eine Lüge und das Häßliche nur als ein Geſpenſtiſches zu nehmen, ſcheint uns eine Verirrung des Aeſthetikers zu ſein, deren Falſchheit erſt recht bei ſeinem Nachfolger Ruge und wiede¬ rum bei deſſen Ausmaler K. Fiſcher ans Licht tritt (79).

Indem wir nun weiter vorwärts zum Diaboliſchen gehen könnten, müſſen wir noch mit einem andern Philoſo¬ phen, mit Hegel uns auseinanderſetzen, denn nach einer ausführlichen und ſehr nachdrücklichen Stelle deſſelben in der Aeſthetik I., 284. ff. iſt das Böſe überhaupt unfähig, ein äſthetiſches Intereſſe zu erregen. Bei der Wichtigkeit der

� [357/0379] Sache an ſich und bei dem Werth, den wir auf Hegels Anſichten legen, wird man uns wohl erlauben, ſeine eigenen Worte anzuführen und mit einigen Bemerkungen zu be¬ gleiten. Hegel ſagt: „Die Realität des Negativen kann zwar dem Negativen und deſſen Weſen und Natur ent¬ ſprechen, wenn aber der innere Begriff und Zweck bereits in ſich ſelber nichtig iſt, ſo läßt die ſchon innere Häßlichkeit noch weniger in ſeiner äußern Realität eine ächte Schönheit zu“. Daß das Negative nicht die Form des Poſitiven haben könne, iſt natürlich. Daß ſein Inneres als ein hä߬ liches ſich auch äußerlich in eine entſprechende Geſtalt reflec¬ tiren müſſe, ebenfalls. Nun tritt aber äſthetiſch ein Unter¬ ſchied ein. Wenn nämlich die Kunſt das Aeußere dem Innern gemäß bildet, ſo wird bei dem Schlechten dies Aeußere ſelbſt freilich nicht ſchön in dem Sinne ſein dürfen und ſein können, wie es bei dem Guten und Wahren der Fall iſt. Werden wir aber nicht urtheilen müſſen, daß der Künſtler, der das Negative ganz ſeinem Weſen gemäß zur Anſchauung bringt, daſſelbe ſchön darſtelle? Nicht ſchön durch erhabene oder gefällige, ſondern durch gemeine und widrige Formen, die er aber ſo zu treffen, ſo zu vereinen, ſo zu geſtalten gewußt hat, daß ſie eben das negative Innere unverkennbar als ein häßliches darſtellen. Iſt denn die Zeichnung des Böſen ſo leicht, daß ſie jedem Stümper gelingen kann? — „Die Sophiſtik, fährt Hegel fort, kann zwar durch Geſchick¬ lichkeit, Stärke und Energie des Charakters den Verſuch machen, poſitive Seiten in das Negative hineinzubringen, wir behalten aber dennoch nur die Anſchauung eines über¬ tünchten Grabes. Denn das nur Negative iſt überhaupt in ſich matt und platt und läßt uns deshalb entweder leer, oder ſtößt uns zurück, mag es nun als Beweggrund einer

� [358/0380] Handlung oder blos als Mittel gebraucht werden, um die Reaction eines andern herbeizuführen. Das Grauſame, Unglückliche, die Herbigkeit der Gewalt und Härte der Ueber¬ macht läßt ſich noch in der Vorſtellung zuſammenhalten und ertragen, wenn es ſelber durch die gehaltvolle Größe des Charakters und Zwecks gehoben und getragen wird; das Böſe als ſolches aber, Neid, Feigheit und Niederträchtigkeit ſind nur widrig, der Teufel für ſich iſt deshalb eine ſchlechte äſthetiſch unbrauchbare Figur, denn er iſt nichts als die Lüge in ſich ſelbſt, und deshalb eine höchſt proſaiſche Perſon“. Halten wir hier einen Augenblick an. Daß das Böſe ethiſch und religiös verwerflich iſt, verſteht ſich von ſelbſt. Haben doch die Neuplatoniker es ſogar nur als das, ſeiner empiriſchen Exiſtenz ungeachtet, Nichtſeiende genommen. Daß das Böſe äſthetiſch widrig iſt, bejahen auch wir in ſolchem Grade, daß unſere ganze Abhandlung des Widrigen im Begriff des Böſen und Diaboliſchen cul¬ minirt. Iſt deshalb aber das Böſe äſthetiſch unbrauchbar? Iſt in der Welt der Erſcheinungen nicht das Negative mit dem Poſitiven, das Böſe mit dem Guten in einem Comrer, der das Weſen des einen immer durch die Erſcheinung des andern illuſtrirt? Nun ſagt Hegel auch wohl nicht ohne Vorſicht: der Teufel für ſich ſei eine ſchlechte äſthetiſch un¬ brauchbare Figur. Der Teufel für ſich ſoll doch wohl ſo viel bedeuten, als allein, als losgeriſſen von dem geſammten Weltzuſammenhang, als iſolirtes Object der Kunſt. Da¬ gegen läßt ſich nichts einwenden. Wir haben in der Ein¬ leitung ſchon auseinandergeſetzt, daß das Böſe und Hä߬ liche nur als in Totalität der großen, göttlichen Weltord¬ nung verſchwindende Momente gedacht werden müſſen. Allein innerhalb dieſer Bedingung, iſt da das Teufliſche auch ſo

� [359/0381] durchaus unäſthetiſch? Wer dies behaupten wollte, müßte von der Kunſt nur moraliſche Exhibitionen verlangen, müßte von ihr gar nicht fordern, daß ſie das Bild der Welt in ihren Schöpfungen ſo abſpiegele, daß wir durch den Kampf der Erſcheinungen hindurch auf den ſich ewig gleichen Grund der ſchlechthin affirmativen Idee blicken. Es iſt richtig, daß das Böſe uns leer läßt, daß es uns von ſich zurückſtößt; es iſt richtig, daß die Sophiſtik der Leidenſchaft die innere Hohlheit des Schlechten nicht verdecken kann. Aber die Darſtellung des Schlechten, die jenes Urtheil als ein Re¬ ſultat in uns werden läßt, kann ſie nicht äſthetiſch intereſſant ſein? Iſt der formale Geiſt, den das Böſe heuchleriſch entwickelt, iſt die formale Energie, mit welcher es ſeine Zwecke verfolgt, iſt die tyranniſche Größe, mit der es rückſichtslos Verbrechen auf Verbrechen häuft, iſt das Alles äſthetiſch unbrauchbar? Wie kommt es, daß die ganze dramatiſche Kunſt des Mittelalters ſich an dieſem „proſai¬ ſchen“ Element hat groß ziehen können? Wie kommt es, daß auch Englands claſſiſche Bühne von den Myſterien zu den Moralplays und von dieſen zum eigentlichen Luſt- und Trauerſpiel nur an der Metamorphoſe des Teufels und ſeines Schalcksnarren (the Vice) hat übergehen können? Doch ermäßigen wir unſere Fragen, da vielleicht im Fol¬ genden Aufſchluß erfolgt. Hegel fährt fort: „Eben ſo ſind zwar die Furien des Haſſes und ſo viele ſpätere Allegorien ähnlicher Art wohl Mächte, aber ohne affirmative Selbſt¬ ſtändigkeit und Halt, und für die ideale Darſtellung un¬ günſtig, obſchon auch in dieſer Beziehung für die beſondern Künſte, und die Art und Weiſe, in welcher ſie ihren Gegen¬ ſtand vor die Anſchauung bringen oder nicht, ein großer Unterſchied des Erlaubten und Verbotenen feſtzuſtellen iſt“.

� [360/0382] Wenn die „Furien des Haſſes“ vielleicht gar die Eumeniden bedeuten ſollten, ſo würde Hegel entſchieden fehlgreifen, da dieſelben, als Wächterinnen über die Blutſchuld, weſentlich affirmative Mächte ſind, welche die Verletzung des Rechts und der heiligen Sitte rächen. In ihrer Furchtbarkeit ſind ſie erhaben ſchön gebildet worden, wenn auch der Lichtgott ſie als Nachtunholdinnen Scheuſale nennt. Indeſſen wird er hier weniger an die Griechen als an die Römer und Franzoſen gedacht haben, z. B. an Voltaire's Henriade, die mit ſolchen allegoriſchen Figuren als einer Art Mythologie reichlich ausgeſtattet iſt. Wenn aber ſolche Allegorien äſthe¬ tiſch matt und kahl ausfallen, iſt davon der Grund nicht eben in der Natur der Allegorie zu finden? Sind denn die Tugenden, in allegoriſcher Vereinzelung ausgedrückt, äſthe¬ tiſch beſſer daran, als die Laſter? Iſt nicht das fruchtbarſte, formenreichſte Genie, wie das eines Albrecht Dürer, eines Rubens, kaum vermögend, das Proſaiſche der Allegorie auf¬ zuheben? Hegel gibt etwas zu, nämlich daß die verſchiedenen Künſte ſich hier wohl verſchieden verhalten dürften. Gewiß, aber eben deshalb vermag die Poeſie das Böſe durchaus intereſſant zu geſtalten, weil ſie den eigenthümlichen Wahn¬ ſinn, der es erzeugt, in ſeiner letzten Geneſis zu zeigen im Stande iſt. Sie braucht ſich nicht, wie die bildende Kunſt, mit allegoriſchen und ſymboliſchen Mitteln zu behelfen, ſondern kann die eigene negative Tiefe des böſen Selbſtbe¬ wußtſeins ſich ausſprechen laſſen. Iſt nicht die Größe des Götheſchen Mephiſto eben in der ironiſchen Klarheit gelegen, mit welcher ſich der Schalck, der ſtets verneint, ausſpricht? „Das Böſe aber, fährt unſer Philoſoph fort, iſt im Allge¬ meinen in ſich kahl und gehaltlos, weil aus demſelben nichts als ſelber nur Negatives, Zerſtörung und Unglück heraus¬

� [361/0383] kommt, während uns die ächte Kunſt den Anblick einer Harmonie in ſich darbieten ſoll“. Die allgemeine Verſiche¬ rung von der Gehaltloſigkeit des Böſen nehmen wir wieder hin, aber die Begründung durch die Folgen lehnen wir ab. Kann denn aus dem Guten nicht auch Unglück und Zer¬ ſtörung in mannigfaltigſter Weiſe hervorgehen? Iſt die Harmonie eines Kunſtwerks durch Unglück und Zerſtörung gehemmt? Iſt nicht in jeder Tragödie unendlich viel Elend und hindert daſſelbe ihre äſthetiſche Harmonie? „Vornehm¬ lich, meint Hegel, iſt die Niederträchtigkeit verächtlich, indem ſie aus dem Neid und Haß gegen das Edle ent¬ ſpringt, und ſich nicht ſcheut, auch eine in ſich berechtigte Macht zum Mittel für die eigene ſchlechte oder ſchändliche Leidenſchaft zu verkehren. Die großen Dichter und Künſtler des Alterthums geben uns deshalb nicht den Anblick der Bosheit und Verworfenheit; Shakeſpeare dagen führt uns in Lear z. B. das Böſe in ſeiner ganzen Gräßlichkeit vor u. ſ. w.“ Nun ſchilt Hegel auf den alten Mann, daß er ſo thörigt geweſen, ſein Reich zu theilen, Cordelia zu ver¬ kennen, und findet es conſequent, daß ſo verrücktes Handeln endlich die Verrücktheit ſelber zur Folge haben müſſe. Wir wollen davon abſehen, ob nicht der große Homer ſchon im Therſites uns doch den Anblick jener Niederträchtigkeit ge¬ geben, die aus Neid und Haß gegen das Edle entſpringt. Wir wollen von einigen Charakteren des Euripides abſehen, weil Hegel dieſen Dichter vielleicht nicht mehr zu den großen des Alterthums zählt. Sollten wir aber im Ernſt glauben, daß Hegel Shakeſpeare den großen Dichtern des Alterthums in der Art habe entgegenſetzen wollen, als wenn derſelbe mit der Vorführung „des Böſen in ſeiner ganzen Grä߬ lichkeit“ ein äſthetiſches Vergehen ſich habe zu Schulden

� [362/0384] kommen laſſen? Dieſer Meinung würden die zahlloſen Stellen der Aeſthetik widerſprechen, in denen er ſich für die Bewunderung Shakeſpeares gar nicht genug thun kann und für den vorliegenden Fall die beſtimmte Aeußerung III., 571. ff. Was ſollen wir alſo denken? Unſtreitig müſſen wir zugeben, daß Hegel diejenige Handlung, in welcher die Colliſion von durchaus ſittlich berechtigten, affirmativen Mächten ausgeht, unbedingt poetiſch höher geſtanden hat, als eine ſolche, worin das Negative als ein Hebel ausge¬ nommen iſt. Seine grenzenloſe Verehrung der Antigone erklärte dieſelbe eben aus dieſem Grunde für das „vortreff¬ lichſte, befriedigendſte Kunſtwerk“ überhaupt, Aeſthetik III., 556. Wir müſſen ferner zugeben, daß er zwar der abge¬ ſagteſte Feind alles ſtrohernen Moraliſirens, namentlich des ſophiſtiſchen Geſchwätzes der ſchlaffen, verzeihungslüſternen Moral eines Iffland und Kotzebue, aber doch und eben deswegen ein Mann der äußerſten ethiſchen Gravität war, dem in einem dem Platoniſchen Genius verwandten Sinne das Unſittliche bis zur Unerträglichkeit empörend war und dem für die komiſche Behandlung des Böſen, die während des chriſtlichen Mittelalters ſich ausbildete, der Sinn fehlte. Auch die Ironie der romantiſchen Schule zerfiel ihm weſent¬ lich in „platte Späße“. Die Niederländiſche Genremalerei allein hatte bei ihm das Privilegium, von dem Hohen und Würdigen des Inhalts abzuſehen, worauf er ſonſt unabläſſig drang. Die Alten, die Hegel hier auch accentuirt, konnten wegen der Idee des Schickſals das Böſe noch nicht in freier ſubjectiver Form darſtellen; die Modernen, wie Hegel an andern Orten ſehr wohl auseinanderzuſetzen weiß, mußten das Böſe wegen der Idee der Freiheit, von welcher ihre Weltanſchauung durch die Vermittelung des Chriſtenthums

� [363/0385] ausgeht, nothwendig in den Kreis ihrer Darſtellung auf¬ nehmen, weil die ſubjective Seite der Freiheit gerade im Böſen ſich als ausſchließliche manifeſtirt und ſich mit ihrer Negativität das Schickſal des Unterganges durch die affir¬ mativen Mächte des Guten ſelber bereitet. Die Niederträch¬ tigkeit des Neides, die Hegel ſo abſcheulich findet, fiel bei den Alten in das φϑονεϱον der Götter ſelber, bei den Chriſten in den Teufel. Wie wären denn gerade die größten Künſtler, Orcagna, Dante, Raphael, Michel Angelo, Pierre Corneille, Racine, Marlowe, Shakeſpeare, Göthe, Schiller, Cornelius, Kaulbach, Mozart, ſo fleißig geweſen, das Böſe nicht nur als das Verbrecheriſche und Geſpenſtiſche, ſondern auch als das Teufliſche zu ſchildern (80)!

Von dem Böſen einer einzelnen Leidenſchaft, einer particulären Schlechtigkeit, eines vorübergehenden Affectes, unterſcheidet ſich das Böſe als diaboliſches dadurch, daß es das Gute principiell haßt, ſeine Negation ſich zum abſoluten Zweck macht und an dem Hervorbringen des Uebels und des Böſen ſeine Freude hat. In dieſer, von ſeinem Begriff un¬ abtrennlichen Bewußtheit ſeiner Oppoſition gegen das Gute, liegt der Grund, daß es den Uebergang zur Caricatur macht. Nur als ſelbſtbewußtes Zerrbild des an ſich in ihm daſein¬ ſollenden göttlichen Urbildes iſt es möglich. Es erinnert ſo¬ fort an das Gute, deſſen Vernichtung ſeine Luſt iſt; es grinſ't es als den Widerſinn an; es fletſcht ihm die Zähne entgegen — aber es kann nicht von ihm loskommen, denn wenn das Gute nicht wäre, wäre es ſelber gar nicht; das Böſe iſt inſofern wahnſinnig. Das Diaboliſche wiederholt nun das Verbrecheriſche in der Vorſtellung von Menſchen, die von teufliſchen Dämonen beſeſſen und von ihnen zu einem ſcheußlichen Thun gezwungen werden. Der Beſeſſene tobt

� [364/0386] in Leidenſchaften, ſpielt, ſäuft, flucht und ſinkt wohl gar bis zur unumwundenen Beſtialität des Thiermenſchen her¬ unter. Der eigentlich Handelnde in ihm ſoll, nach der Vor¬ ſtellung, der Dämon oder ſollen auch die vielen Dämonen ſein, die von ihm Beſitz genommen haben. Aber noch eigent¬ licher iſt es doch der Menſch ſelber, der dies Alles thut, denn die Vorſtellung führt die Unfreiheit ſeines Zuſtandes doch auf ſeine Freiheit dadurch zurück, daß er irgend ein Ver¬ ſehen begangen, daß er irgend einem Dämon, der Herrſch¬ gier, der Wolluſt u. ſ. w. den Zugang zu ſich geſtattet habe, dem ſich dann, da bekanntlich die Laſter unter ſich eben ſo geſellig ſind, als die Tugenden, bald andere angeſchloſſen haben. Das Beſeſſenwerden bleibt alſo die Schuld des Menſchen, der das Böſe nicht, wie er ſollte, kraft ſeiner Freiheit und um derſelben willen, von ſich ausſchließt. — Das Element des Geſpenſtiſchen wiederholt das Diaboliſche im Hexenweſen. Die ſogenannte ſchwarze Magie be¬ zweckt, durch Aufopferung der wahren Freiheit und Selig¬ keit die Macht von hölliſchen Dämonen in ihren Dienſt zu zwingen, alle frivolen Begierden eines ſcheußlichen Egoismus zu befriedigen. In der Magie verliert der Menſch nicht die ſubjective Freiheit, die im Zuſtande der Beſeſſenheit unter¬ geht. Er will das Böſe mit klarem Bewußtſein und ſchließt Verträge mit den Teufeln. — Das Diaboliſche an und für ſich, wie es ſich frank und frei als daſſelbe weiß und will und bekennt und wie es an der hämiſchen Zerrüttung der göttlichen Weltordnung ſein Wohlgefallen hat, können wir das ſataniſche nennen.

Vergeſſen wir nicht, daß wir dieſe Zuſtände hier nicht pſychologiſch und ethiſch oder gar religionsphiloſophiſch, ſon¬ dern äſthetiſch zu betrachten haben. In der Vorſtellung des

� [365/0387] Beſeſſenſeins liegt noch ein Dualismus des Menſchlichen und des Teufliſchen. Der Beſeſſene wird vorgeſtellt, als wenn Dämone von ihm Beſitz genommen hätten und über ihn eine willkürliche Herrſchaft ausübten. Eine ſolche Dualität ver¬ ſchiedener Perſönlichkeiten in demſelben Organismus kann natürlich nicht ſchön ſein; einerſeits iſt die gleichſam ruhende Geſtalt des Beſeſſenen, anderſeits die excentriſche Bewegtheit vorhanden, welche die Gewalt der den Menſchen beſitzenden Dämone erzeugt. Bringt uns alſo die Malerei oder Poeſie eine ſolche Zerriſſenheit zur Anſchauung, ſo müſſen ſie zwiſchen der Naturgeſtalt und zwiſchen der von den Dämonen ge¬ machten gleichſam künſtlichen unterſcheiden. Da jedoch die Dämone von dem Menſchen nicht würden Beſitz haben nehmen können, wenn er ihnen nicht ſelber den Zugang zu ſich eröffnet hätte, ſo fällt dieſer Unterſchied im Grunde doch wieder weg. Alle Religionen ſtimmen in dieſer Auf¬ faſſung überein. Selbſt die Indiſche ſetzt die Schuld, alſo die Freiheit des Menſchen für ſolchen Fall voraus. Nalas, der Fürſt von Niſchada, Damajanti's ſtrahlender Gemahl, hat den Neid der Götter durch das Glück erregt, daß die Schöne ihn den Göttern vorgezogen. Lange lauern ſie ihm auf, ihm etwas anzuhaben, denn neidiſch und rachſüchtig ſind die Indiſchen Götter nicht weniger, als die Griechiſchen. Umſonſt. Der Edle erfüllt ſtreng alle Pflichten ſeiner Kaſte. Endlich nach zwölf Jahren urinirt er einmal, vergißt die vorgeſchriebene Reinigung, tritt mit dem Fuß in das urin¬ feuchte Gras — und gibt hiermit dem böſen Dämon Ge¬ legenheit, in ihn einzufahren. Der ihn immer ſchon umlun¬ gernde tückiſche Kalis nimmt Beſitz von ihm und verführt ihn zunächſt zum Hazardſpiel. Man kann darüber ver¬ nünfteln, daß eine Religion ſo abſurde Vorſchriften mache.

� [366/0388] Die Deutſchen Ueberſetzer von Nal und Damajanti haben auch die ächt Indiſche Kataſtrophe ohne alles Recht fortge¬ laſſen. Bopp in der ſeinigen, 1838, bringt ſie ſchüchtern in die Anmerkungen, aber, weil auch da noch ein Damen¬ auge ſich hinverirren könnte, mit Lateiniſchen Worten: „Qui fecerat urinam et eam calcaverat, crepusculo, sedebat Naishadus, non facta pedum purificatione; hac occasione Calis eum ingressus est.“ Körperliche Reinigkeit iſt aber in der That nichts ſo Geringes, daß nicht Religionen, die noch den ganzen Menſchen erziehen, einen großen Werth darauf legen ſollten. Und Pflichterfüllung verlangt einmal Verwirklichung aller Pflichten. Indem der Indiſche Dichter nun von Nalas eine in der That äußerſt geringe Uebertretung des Geſetzes begehen läßt, will er damit doch eben die Heilig¬ keit deſſelben an das Herz legen, daß nämlich nichts, auch nicht das Kleinſte, in ihm gleichgültig ſei, und zugleich will er den Nalas damit hochſtellen, daß er nur in eine ſo leichte Sünde, in ein wahres pecatillum fiel. — Die Befreiung von den Dämonen wird die Kunſt am effectreichſten in dem Augenblick darſtellen können, wo durch die Einwirkung einer erlöſenden Macht die Gebrochenheit des Lebens, das Wahn¬ ſinnige des Blicks, das Krampfhafte der Glieder, die Ver¬ dunkelung des Bewußtſeins, der linden Morgenröthe einer geiſterfüllten, liebefähigen Beſinnung zu weichen beginnt; noch ſind die Augen halb verſchleiert, aber ſchon öffnet ſich der Mund, dem ausfahrenden Dämon Raum zu geben. Mit ihm verſchwindet die Häßlichkeit der Verzerrung. So haben Rubens, Raphael dieſen Vorwurf behandelt. In Raphaels Transfiguration Chriſti erblickt man auf der Höhe des Berges die aufſchwebende Lichtgeſtalt des Erlöſers; unten am Fuß des Berges eine Gruppe um einen Dämoniſchen,

� [367/0389] der von ſeinen Verwandten und von ſeiner im Vordergrund knieenden Mutter den Apoſteln zur Heilung dargeſtellt wird, die ihn nach Oben hin, nach demjenigen weiſen, der allein wahrhaft zu befreien vermag.

Im Diaboliſchen liegt auch ein geſpenſtiſcher Zug, weil es der affirmativen Weltordnung ſich principiell entgegenſetzt. Dieſer Zug nimmt eine beſondere Geſtalt im Hexenweſen an, das man vom Magiſchen überhaupt noch unterſcheiden muß. Das Zaubern ſchließt, wie wir früher geſehen haben, das Abſurde in ſich, allein es verträgt ſich übrigens noch mit der Schönheit der Zaubernden, ja mit nützlichen Abſichten, mit guten Zwecken und kann als weiße Magie vorgeſtellt werden, als eine hohe Wiſſenſchaft, deren Kunſt das Ueber¬ ſpringen von Mittelgliedern möglich macht, an welche das gewöhnliche Handeln ſich gebunden ſieht. So der Pater Baco von Robert Green, ſo Prospero im Sturm von Shakeſpeare, ſo Merlin in der Artusſage, Malagis in der Kerlingiſchen Sage, ſo Elberich im Otnit, ſo Vir¬ gilius in der Romaniſch-Italieniſchen Sage u. ſ. w. Das Zaubern als ſolches kann auch mit Heiterkeit als ein zier¬ liches Geſchäft betrieben werden, wie manche Frauen in Tauſend und Einer Nacht ſo geſchildert werden, wie die Wirthin des Lucius in Lukianos Geſchichte dieſes Namens ſich ſehr reizend in einen Vogel verwandelte, zu ihrem Ge¬ liebten zu fliegen, während er durch den Gebrauch einer unrechten Salbe zum Eſel wurde. Ganz anders die Hexerei. In weiterem Umfange müſſen wir die ſogenannte ſchwarze Magie darunter verſtehen, die nämlich darauf ausgeht, die Hülfe böſer, hölliſcher Geiſter zu ſelbſt böſen Werken zu er¬ langen. Dieſe Magie will das Böſe mit Bewußtſein und ruft den Damonen zur Cooperation ihrer ſchwarzen Thaten.

� [368/0390] Die Schwäche eröffnet unbewußt oder halbbewußt, immer ohne es zu wollen, den Dämonen den Zugang, der aber, welcher ſich der Hexerei ergeben, reißt ſich ſelbſtbewußt aus dem Kreiſe des Menſchlichen los und verbündet ſich mit den Mächten des Abgrunds. Dieſe Vorſtellung finden wir auch ſchon bei den Alten, allein durch den Dualismus des chriſt¬ lichen Mittelalters wurde ſie zu einem förmlichen Syſtem der ſcheußlichſten Phantaſieen ausgearbeitet. Im Orient und bei den Alten war das ſchadenfrohe alte Weib, als der vettelhafte Gegenſatz zur ehrwürdigen Matrone, ſchon zum Typus der Hexe geworden, die mit ihrem böſen Blick, ihren Zaubertränken, ihren Zauberformeln Unheil anrichtete. Hexe ſoll von Hekate herkommen, der alten Nachtgöttin. Das böſe alte Weib, wie Ariſtophanes es ſchon ſo oft in den Thesmophorien, Ekkleſiazuſen und in der Lyſiſtrate ſchildert, iſt grauenerregend häßlich, nicht ſowohl weil auch ſeine Wangen einfallen, ſeine Stirn Runzeln bedecken, ſeine Haare bleichen, ſondern weil es als niederträchtige Neiderin des Jugendglücks und der Jugendſchönheit auftritt, weil es als Kupplerin die holde Jungfräulichkeit mit ſataniſcher Freude verderbt, weil es, trotz ſeines Alters, noch von unreinen Begierden gequält wird und auf deren Befriedigung ausgeht. Die böſe Alte übt durch Kuppelei eine ſcheußliche Rache an der Naturfriſche, die ſie als ihre natürliche Feindin betrach¬ tet, und durch magiſchen Zwang ſucht ſie einen Genuß zu erreichen, den die Natur ihr freiwillig nicht mehr zu gewähren geneigt wäre. Dieſe, man darf wohl ſagen, infame Per¬ ſönlichkeit macht den fundamentalen Boden der Hexen aus. Nun kommt aber die Vorſtellung hinzu, daß ſie mit Teufeln, ja mit dem Teufel ſchlechthin ſich eingelaſſen haben. Die orthodoxe Phantaſie der katholiſchen wie der proteſtantiſchen

� [369/0391] Kirche geſtaltete das Hexenweſen zu einem diaboliſchen Cultus aus. Die Verſammlungen der Waldenſer auf einſa¬ men Bergkoppen gaben die erſte Veranlaſſung zur Vorſtellung des Hexenſabbaths, den man in Frankreich auch Vauderie nannte und den die Norddeutſche Sage auf den Brocken ver¬ legte. Hier, in der synagoge diabolica, ſollte der geſammte chriſtliche Gottesdienſt mit dem ekelhafteſten Cynismus parodirt werden. Der Satan in menſchlicher Geſtalt zwar, aber mit einem Bocksgeſicht, mit Krallen an den Händen, mit Gänſe¬ oder Pferdefüßen, läßt ſich förmlich adoriren. Man küßt ihm die Genitalien und den Hintern. Taufe und Abend¬ mahl werden perſiflirt, indem man Kröten, Igel, Mäuſe u. dgl. tauft; was der Teufel ſtatt der Hoſtie darreicht, gleicht einer Schuhſole, iſt ſchwarz, herb und zähe; was er zu trinken gibt, iſt gleichfalls ſchwarz, bitter, ekelerregend. Auch opfert ſich der Satan gewiſſermaaßen, um auch Chriſti Opfertod zu parodiren, indem er ſich als Bock mit großem Geſtank verbrennt. Die teufliſche Kirche feiert ihre Andacht in der Orgie, in wollüſtigen Tänzen und Umarmungen, die jedoch das Eigenthümliche haben, daß der Same der Teufel kalt iſt, da ſie als gottverfluchte Subjecte nicht productiv ſind, daher erſt in angenommener Weibsgeſtalt als Succubus von einem Zauberer ſich müſſen beſchlafen laſſen, um Samen zu empfangen, und dann erſt als Incubus in männlicher Geſtalt die viehiſche Wolluſt ihrer Buhlinnen befriedigen können, Wüſte Schlemmerei und Völlerei und Unzucht aller Art, ſyſtematiſche Verkehrung der göttlichen Ordnung, ſelbſt¬ bewußte Verleugnung Gottes, ſind daher von der Kunſt in den Geſtalten und Phyſiognomien der Hexen auszudrücken verſucht, wie Teniers, vorzüglich aber A. Dürer ſie ge¬ zeichnet hat. Zu Wien in der Sammlung von Handzeich¬


Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 24 � [370/0392] nungen des Erzherzogs Karl befinden ſich einige unſchätzbare Blätter Dürers, auf denen Hexen mit ihrem ſtrudelnden Haar, ihrem Triefauge, ihren enterartig verthierten Brüſten, ihrem geknautſchten, ſtummelzahnigen Munde und dem Aus¬ druck eben ſo großer Schadenfreude, als zügelloſer Geilheit, Schauder erregen. Die Poeſie hat das Hexenweſen beſonders im ältern Engliſchen Drama durchgearbeitet, in der Hexe, die Middleton verfaßt hat; in der Hexe von Edmon¬ ton, die Rowley, Decker und Ford zuſammen arbei¬ teten; in Shakeſpeare's Macbeth und in Heywoods Hexen von Lancashire (81). Im letztern Stück iſt ge¬ wiſſermaaßen eine Galerie aller Arten von Unfug gegeben, womit die Hexen die Geſellſchaft zerrütten. So bewirken ſie z. B. daß in einer Familie die ganze ſittliche Ordnung des Hauſes ſich umkehrt, Vater und Mutter fürchten den Sohn und die Tochter, der Sohn fürchtet den Knecht, die Tochter die Magd u. ſ. w. Heine hat das Weſentliche der Scenerie des Hexenſabbaths in ſein Tanzpoem Fauſt aufgenommen. Das Grundloſe für die Annahme wirklicher Hexen und namentlich das Entſetzliche des Hexenproceſſes iſt ſehr anſchaulich in einer trefflichen Deutſchen Erzählung: Veit Fraſer dargeſtellt, die ſich in den „Nachtſeiten der Geſellſchaft, eine Galerie merkwürdiger Verbrechen und Rechtsfälle“, 1844, Bd. 9–11., findet. Weitläufiger über das Hexenhafte zu ſein, können wir uns erſparen, da in den letzten Decennien die vielen Commentatoren des Götheſchen Fauſt es nicht an Fleiß haben fehlen laſſen, vielerlei Notizen und Bemerkungen über die Magie, die Hexenküche und die Walpurgisnacht auf dem Blocksberge zuſammenzutragen; am vollſtändigſten iſt dies in den Studien zu Göthe's Fauſt von Ed. Meyer 1847 geſchehen.

� [371/0393] Obwohl nun, äſthetiſch genommen, Scheußlicheres, als der Hexenſabbath, nicht erſonnen werden kann, ſo geht doch die Geſtaltung des Diaboliſchen als ſataniſche geiſtig noch tiefer. Das Hexenweſen mit ſeinem aberwitzigen Apparat ſpielt hauptſächlich in einem Kreiſe rohſinnlicher Begierden, in der Sphäre wollüſtiger, ſchadenfroher Weiber, in einer phantaſtiſchen Scheinwelt. Das Sataniſche iſt in ihm zwar der Mittelpunct des Cultus, allein mehr als Parodie des kirchlichen Gottesdienſtes; der geiſtige Gehalt iſt gering. Das eigentlich Sataniſche hingegen kehrt das Bewußtſein ſeines Unwillens hervor. Nicht aus Schwäche, wie der Be¬ ſeſſene, durch relativ fremde Mächte beſtimmt; nicht durch arge Lüſte, wie die Hexe, zur Hingabe an das Böſe ge¬ trieben; findet es ſeinen höchſten Genuß an der ſelbſtbe¬ wußten, freien Hervorbringung des Böſen. Seinem Be¬ griff nach iſt daß abſolut Böſe allerdings auch das abſolut unfreie, denn es beſteht ja nur im Negiren der wahren Frei¬ heit, im Wollen des Nichtwollen des Guten, weshalb wir ſeinen Willen vorhin den Unwillen genannt haben als den Willen, der das Nichts will. In dieſem Abgrund des ſub¬ ſtanzloſen Wollens allein fühlt es ſich, wenn man ſo ſagen darf, frei, weil es nur ſich, nur ſeinen ſchlechthin excluſſiven Egoismus fühlt. Das Gute als der heilige Grund aller Dinge erinnert es nur daran, alle gottgeſchaffenen Schranken zu zertrümmern, alle Ordnung der Natur zu unterwühlen, alle Zucht und Scham des Geiſtes höhniſch zu vernichten. Mit Recht kann man daher bei ihm das Maximum der Häßlichkeit erwarten, allein ſo paradox es klingt, ſo iſt es doch wahr, daß die metaphyſiſche Abſtraktion, die in dieſem Standpunct liegt, die Häßlichkeit wieder abmildert. Das ſa¬ taniſche Subject hat einen gewiſſen Enthuſiasmus der Ver¬


24 * � [372/0394] worfenheit, der ſeiner Erſcheinung, bei aller Scheußlichkeit, eine gewiſſe formale Freiheit verleihet, die es zu einem äſthe¬ tiſcheren Object werden läßt, als man zunächſt denken ſollte. Der Teufel, ſo ſehr er ſich forciren möge, ſich an Gottes Stelle zu ſetzen, kann doch nichts ſchaffen, als nur das monſtröſe Wunder ſeines Ja-Neins, ſeines abſoluten Widerſpruchs und iſt, wegen der aprioriſchen Vergeblichkeit ſeines Bemühens um Originalität, doch immer nur eine Frazze, deren angemaaßte Majeſtät ſofort ins Komiſche des „armen und dummen“ Teufels umſchlägt. Die Phantaſie hat den Teufel 1. über¬ menſchlich, 2. untermenſchlich, 3. menſchlich dargeſtellt.

Uebermenſchlich als Glied einer höhern, von dem wahren Gott aus Neid und Hochmuth abgefallenen Geiſter¬ welt. Solche ſataniſche Subjecte hat die religiöſe Phantaſie in coloſſalen Formen vorgeſtellt. In den niedrigeren Natur¬ religionen wird die Macht des Böſen den höchſten Göttern noch ſelber beigelegt und die Geſtalt der Götzen daher darauf berechnet, durch Ungeheuerlichkeit Furcht und Grauſen ein zuſtoßen. Wie greulich glotzt uns nicht der Mongoliſche Changor, der Mexikaniſche Huitzilopochtli an! Wie fürch¬ terlich ſtarren uns dieſe grellen Augen an, wie blutdürftig lechzt uns dieſe brutale Zunge aus dem Rachen entgegen, wie drohend grinſen uns dieſe ſcharfen Zähne an, wie beſtialiſch zeigen uns dieſe ungefügen Tatzen ihre blinde Unwiderſtehlichkeit, wie ſinnverwirrend ſchaut ſich der Leib als ein buntſcheckiges Conglomerat von menſchlichen und thieriſchen Formen an, wie ſchauerlich der Ausputz mit Men¬ ſchenſchädeln und zermalmten Leichnamen! In höher ſtehen¬ den Religionen verſchwindet dieſe Raubthierphyſiognomie. Lüge, Neid und Hochmuth treten als die conſtanten Züge der ſataniſchen Geiſter hervor, der Mord erſt als

� [373/0395] Folge. Die Vergeiſtigung der Vorſtellung macht die Geſtalt unbeſtimmter und arbeitet ſie mehr in den böſen Handlungen aus, wie bei dem Indiſchen Kalis, dem Parſiſchen Eſchem, dem Aegyptiſchen Set, der dickbauchig mit einem Nilpferd¬ kopf gebildet wurde und den die Griechen Typhon nannten. Bei den Griechen wurde das Böſe als die Negation des natürlichen und ſittlichen Maaßes gefaßt, aber nicht in eine beſondere Individualität concentrirt. Die Häßlichkeit des Negativen wurde an verſchiedene Subjecte nach verſchiedenen Momenten vertheilt (82). Die vielgliedrigen, an die Indi¬ ſchen Götter erinnernden Hekatoncheiren waren als Titaniſche Mächte mit den neuen Göttern im Kampf, aber nicht böſe. Die ungeſchlachten und einäugigen Kyklopen waren nicht ſowohl böſe, als roh. Die Grajen waren ſchönwangige Mädchen mit greiſem Haar, Phorkyas einzahnig, die Har¬ pyien ekelhaft, die Sirenen ſchönbuſigte Jungfrauen, unten in Fiſchſchwänze ausgehend, die Lamien und Empuſen nach dem Blut ſchöner Jünglinge lüſtern, die ſie verführten, die dem Trunk und der Wolluſt ergebenen Satyr bocks¬ füßig — aber alle dieſe Fabelweſen waren nicht in un¬ ſerm Sinn böſe. Die Kinder der Nacht, die Heſiodos in der Theogonie nach der Schilderung des Chaos auf¬ zählt, waren ſchrecklich, aber nicht böſe. Der Urſprung des Uebels, aber nicht eigentlich des Böſen, wird in dem Prometheiſchen Mythus dargeſtellt. Genug, bei aller ſittli¬ chen Tiefe, die wir bei den Griechen treffen, müſſen wir doch urtheilen, daß ihnen die Vorſtellung des ſataniſch Böſen fremd geblieben iſt. Ihre ἀσεβεια reicht nicht ent¬ fernt an dieſe Verruchtheit. In der Scandinaviſchen Mytho¬ logie hingegen iſt die Vorſtellung des Böſen in Loki ſchon viel concentrirter. Loki haßte, ächt ſataniſch, den guten,

� [374/0396] freundlichen Baldur. Im Uebermuth fröhlichen Spiels be¬ ſchloſſen die Götter, nach ihm zu ſchießen. Alle Dinge aber wurden vorher in Eid genommen, ihm nicht zu ſchaden, nur eine Miſtelgerte hatte Loki's Liſt auszunehmen gewußt. Sie ward der verhängnißvolle Todespfeil. Loki gab ſie dem blinden Gotte Hödur, auf Baldur zu ſchießen. Die Götter ſtraften nun zwar Loki, indem ſie ihn an einen Felſen ketteten und von Schlangen ſchmerzendes Gift auf ihn herabträufeln ließen. Allein mit dem Tode Baldurs des guten war die Kataſtrophe der Welt angebrochen, unaufhaltſam ihrem Un¬ tergange und dem großen Kampf der Aſen entgegenzueilen. Dieſer Gedanke, daß die Welt nach dem Tode des durch Bosheit geopferten guten Gottes nicht mehr beſtehen kann, iſt ungemein ſchön und tief. — Im Hebräiſchen Monotheis¬ mus iſt der Satan, der von Jehovah die Miſſion zur Ver¬ ſuchung des Hiob empfängt, nur ein Engel, keineswegs ein diaboliſches von Gott losgeriſſenes Weſen. Erſt ſpäter nahmen die Juden aus dem Parſismus die Vorſtellung des Eſchem auf, den Fliegengott u. ſ. w. Auch im Islam iſt Eblis mit Allah auf gutem Fuß. Er ſchwört ihm, alle Menſchen, die nicht zum Muhammedanismus ſich bekehren würden, zum Böſen zu verführen, damit er ſie zur Hölle verdammen könne. Der Karageuz (gargousse) der Türken und ganz Nordafrika's, die Hauptperſon im Chineſiſchen Schattenſpiel daſelbſt, iſt allerdings ein Teufel, aber nur als ein freches, poſſenreißeriſches Subject (83). — Erſt in der chriſtlichen Religion vollendet ſich mit der abſoluten Tiefe der Freiheit auch das Böſe in der Form eines ſich in ſich vereinſamenden, abſolut negativen Selbſtbewußtſeins. Dem menſchlich erſcheinenden Gotte gegenüber konnte das abſolut Böſe auch nur anthropologiſch auftreten, wenn auch

� [375/0397] zunächſt noch in der Form eines mächtigen, Flügel tragenden Engels, der von andern Engeln ſich faſt nur durch ſeine graue, ſchattenhafte Farbe unterſcheidet. So kommt der Satan auf Abraras und in alten Miniaturen vor. Auch als Trinität des Böſen wurde das Diaboliſche in drei gleichen, geharniſchten, gekrönten, bezepterten, die Zunge hervorſtreckenden, widrigen Perſonen gebildet, wovon Didron in ſeiner Inconographie chrétienne eine Abbildung gege¬ ben (84). Später geſtalteten die Maler die Flügel auch wohl zu Fledermausflügeln, wie im Campo Santo Pisano, bis das Streben nach energiſcher Contraſtirung die Kunſt zum Ergreifen auch anderer thieriſcher Formen führte. Dante im Inferno hat einer Menge phantaſtiſcher Geſtaltungen ſich bedient. Die anthropologiſche Formation als die auch im Uebelmenſchlichen hervorragende Tendenz gab im Mittelalter auch zu dem Mythus von Merlin Veranlaſſung, indem der Teufel, Gott nachahmend, auch ſich einen Sohn zeugen wollte. Er beſchlief daher eine ſehr fromme Nonne zu Cär¬ marthen ohne ihr Wiſſen, um ſo die Kräfte des Guten mit denen des Böſen zu vereinen. Merlin, die Frucht dieſer Verbindung, empfangen und geboren von einer heiligen Jungfrau, ſollte nun als des Teufels Sohn das Reich des Sohnes Gottes zerſtören. Natürlich erfolgte das Gegentheil. Die Altfranzöſiſche Geſchichte des Merlin hat Fr. Schlegel bekanntlich ins Deutſche überſetzt (85). Ein köſtliches Drama, die Geburt des Merlin von Shakeſpeare und Rowley (86), hat den Teufel vortrefflich gezeichnet, nicht ohne eine gewiſſe infernale Scheinmajeſtät, die aber den Sohn gar nicht abhält, dem Herrn Vater ſehr derbe zu begegnen, ein wahres Gegenſtück zu Scribe's ſchon ein paar Mal von uns getadelten ſentimentalen Behandlung des Sohnes durch den

� [376/0398] Vater in Robert le diable. Immermann's Merlin hat die Idee des Teufels nicht tief genug gefaßt; der Dichter iſt nicht genug in den chriſtlichen Sinn des Mythos einge¬ drungen und zu ſehr bei gnoſtiſch kosmogoniſchen Phantaſieen ſtehen geblieben.

Die untermenſchliche Geſtaltung des Sataniſchen iſt im Weſentlichen von der antiken Satyrmaske ausgegangen, von welcher der einfache Bock wohl nur eine Conſequenz war Die Nachweiſe dafür hat J. Piper in ſeiner Mytho¬ logie und Symbolik der christlichen Kunst von den ältesten Zei¬ ten bis in's sechzehnte Jahrhundert, I., 1847, S. 404 — 6. gegeben. Nicolo Piſano bildete den Beelzebub in ſeinem jüngſten Gericht an der Kanzel zu Piſa 1260 als Satyr. Bis dahin hatte dieſe Formation geruhet. Im vierzehnten Jahrhundert finden wir ſie dann im Campo Santo Pisano in der Geſchichte des heiligen Ranieri von Neuem und von hier ab im ſteigendem Wachsthum. Auch der Löwe und der Drache (le cocodrill, Wurm, Orm, Lindwurm) wur¬ den Symbole des Sataniſchen. Weiterhin vermiſchten die Künſtler Thierformen nicht nur, ſondern ſelbſt todte Dinge, wie Fäſſer, Bierkrüge, Töpfe, mit Menſchenköpfen und Menſchengeſtalten auf das Seltſamſte miteinander. In ſol¬ chen muſiviſchen Compoſitionen wollten ſie die unendliche Abſurdität und Entzweiung des Böſen verſinnbilden. Welche Fülle traumhaft wunderlicher, bizarr grotesker Frazzen haben nicht Jeronymus Boſch, die Breughel, Teniers und Callot auf dieſem Gebiet erſchaffen! Solche phantaſtiſche Unförmlichkeit wandte man auch auf die Darſtellung der Verſuchungen von Heiligen durch Dämone an, die von ihnen Beſitz nehmen wollen, nicht weniger auf die Darſtellung der Hölle, die Qualen der Verdammten zu veranſchaulichen.

� [377/0399] Man war unerſchöpflich in ſymboliſchen Abſchilderungen der Laſter und ihrer Strafen. Dante hat in ſeiner Hölle noch viel Antikes, was auf den Zeichnungen, die Flarmann zum Inferno gemacht hat, recht in die Augen ſpringt. Es herrſcht hier noch eine plaſtiſche Art zu ſehen und zu grup¬ piren. Umgekehrt hat Breughel Formen der chriſtlichen Hölle in ſeiner Ankunft der Proſerpina auf den antiken Tartarus übertragen. Bei der ſo beliebten Verſuchungsge¬ ſchichte des heiligen Antonius wird den umſchwärmenden Kobolden, Larven, Teufeln und Teufelinnen, die uns den Kampf im Innern des Heiligen vergegenſtändlichen ſollen, ein Mittelpunct in dem Teufel gegeben, der als ein ſchönes Weib den Einſiedler zur Wolluſt zu reizen ſucht. Dieſe ver¬ führeriſche Schönheit ſoll jedoch an kleinen Merkmalen die Heimath verrathen, aus der ſie ſtammt: daher das Horn, das aus der Fülle der Locken hervordringt, daher der Schweif, der unter dem Schlepp des Sammtkleides hervorguckt, da¬ her der Pferdehuf, der ſich durch das Gewand durchzeichnet. Doch noch mehr, als ſolche ſymboliſche Attribute, ſollen Stel¬ lung, Geberde, Züge, Blick des Weibes, welches dem Ere¬ miten einen Pocal dareicht, das Scheinweſen der hölliſchen Schönen erkennen laſſen, die Tod und Elend in ſich birgt. Callot (87) hat in ſeiner Behandlung dieſes Süjets eine Ueberſchwänglichkeit toller Erfindungen bewieſen. Er hat ein großes Felſengeklüft gemalt, das hinten einen Ausblick auf die von Feuersbrünſten und Waſſersnöthen moleſtirte Welt darbietet. Rechts vor unſern Augen, in einen Winkel zu¬ ſammengedrängt, ſehen wir den heiligen Antonius ſich gegen die Laſter wehren, die ihn mit Ketten feſſeln und fortreißen möchten. Eben ſcheint er den Sieg über den Teufel der Wolluſt davon getragen zu haben. In einer dunkeln Ecke

� [378/0400] des Felſens richtet ſich ein rattenartiges Thier mit einer Brille auf der Schnauze empor und legt ein Gewehr an, tückiſch aus dem Hinterhalt zu ſchießen. Auf einem Abſatz des Felſens über der Höhle des Eremiten hat ſich eine ſonder¬ bare Gemeinde verſammelt. Eine nackte vogelartige Geſtalt mit dickem Bauch, langem Hals und einem nicht menſchlichen und doch menſchlichen Geſicht lieſt aus einem Meßbuche vor. Man kann ſich nichts Heuchleriſches vorſtellen. Um dieſen Pfaffen herum ſind allerhand Teufel, keiner dem andern gleich und doch alle in einem widrigen Zuge der gemeinſten Sinnlich¬ keit und Heuchelei ſich ähnlich. Einer faltet die Hände. Einer, auf eines Reiſeeſels Rücken knieend, ſcheint Ablaß zu verkünden. Einige ſpielen auf ihren langgezogenen Naſen Clarinette; andere haben an Stelle des Geſichts einen After, auf welchem ſie trommeln. Ganz zur Linken des Bildes, von uns aus, erblicken wir einen Felſen, der ſich mit meh¬ ren Einſchnitten hoch hinaufwölbt. Auf einem Vorſprung ſteht hier ein ganz und gar verſchrobenes, kriegeriſch ange¬ thanes Weſen, das nach Oben blickt, von wo ihm ein Un¬ gethüm Koth in den ſchmunzelnd geöffneten Schlund fallen läßt. Es fühlt ſich durch ſolche Herablaſſung und Mitthei¬ lung beſeligt. Ganz im Vordergrunde ſteht ein vierfüßiges, ganz aus Panzerſtücken und Armaturen zuſammengeſetztes längliches Thier, aus deſſen aufgeſperrtem Rachen ſo eben Lanzen, Gewehre, Pfeile, Kugeln aller Art entſtürzen, weil ein leichtſinniger Burſche mit einer Lunte den Hintern an¬ gezündet hat. Voran rennt ein obscuranter Krebs mit einer qualmenden Laterne. Doch in der Mitte des Ganzen er¬ ſcheint ein ſcheußlicher Triumphzug. Auf dem Hals und Kopf eines Thiergerippes ſitzt eine nackte Geſtalt mit einem Spiegel. Soll es Venus ſein? Zwei höchſt ſonderbare

� [379/0401] Weſen ziehen den Gerippewagen, das eine ganz vermaſert, verhozzelt, ein rechtes Unthier, das andere mit einem ele¬ phantenartigen Fuß und einer Klaue, die eine Krücke hält. Und über all dieſen Ausgeburten der ausgelaſſenſten Phan¬ taſie ſchwebt oben der Höllendrache und ſpeit Teufelszeu¬ gungen aus, die ſich in der Luft ſofort wieder vermehren, wie ein böſer Gedanke eine Reihe anderer ins Unendliche hervorbringt.

Die übermenſchliche Geſtaltung des Sataniſchen iſt im Grunde eben ſo einfach, als die untermenſchliche mannigfaltig. Wie phantaſtiſch aber auch die letztere ausſchweife, ſo kann ſie doch einer Anknüpfung an die menſchliche nicht entbehren, weil es ſich immer um die Freiheit des Menſchen handelt, ſie zum Abfall von ihrer göttlichen Nothwendigkeit zu be¬ ſtimmen. Die Malerei hat daher ſelber der Schlange im Paradieſe, wie ſie vom Baum der Erkenntniß herunter den Protoplaſten ihre Sophismen vorträgt, ein menſchliches Haupt mit einer liſtig ſchmeichleriſchen, boshaft freundlichen Phyſiognomie gegeben. Da einmal für uns keine andere Form, als die menſchliche, exiſtirt, die Perſönlichkeit des Geiſtes anzuſchauen, ſo iſt es nur eine unvermeidliche Con¬ ſequenz der Kunſt, das Diaboliſche endlich auch in einfach menſchlicher Geſtalt darzuſtellen. Iſt doch im Grunde die des Teufels als eines böſen Engels auch keine andere. In der Phantaſie macht auch die Vorſtellung, daß der Teufel jede, alſo auch die menſchliche Geſtalt annehmen könne, den Uebergang zur Vermenſchlichung. Es ſcheint, als ob in der Kunſt hier zwei verſchiedene Ausgangspuncte geweſen wären; der eine, der das Sataniſche in der Geſtalt eines Mönches, der andere, der es in der Geſtalt eines Jägers darſtellte; jene war die kirchliche, dieſe die weltlich nationale. Jener

� [380/0402] Form begegnen wir z. B. unter den Bildern der Boiſſeráe¬ ſchen Sammlung bei einer Verſuchung Chriſti von Pate¬ nier, auf welcher dem Teufel in der Kutte nur die kleinen Krallen an der Hand als Symbol geblieben ſind, übrigens die ganze Energie des diaboliſchen Ausdrucks in die Indi¬ vidualiſirung der Geſtalt und Phyſiognomie verlegt iſt, eine natürlich viel ſchwierigere Leiſtung, als eine Darſtellung, die ſich auf die attributive Verdeutlichung ſtützt. So hat auch der Holländiſche Maler Chriſtoph van Sichem, Fauſt ge¬ genüber den Teufel als Franciscaner gemalt, eine gedrungene Geſtalt mit einem kraftvollen, rundlichen Geſichte voll Sinn¬ lichkeit und Tücke und mit einer kleinen aber durch die Kürze ihrer dicken fleiſchigen Finger unangenehmen Hand (88). Der Mephoſtophilis der alten Fauſtſage treibt mit dem Doctor viel ſpeculative Theologie über den Urſprung der Welt, über die Ordnungen der Geiſter, über das Weſen der Sünde, über alle Heimlichkeiten des Jenſeits, und zu dieſen Tiefſinnigkeiten paßt die Mönchsfigur ganz gut. Heine in ſeinem Tanzpoëm Fauſt bemerkt S. 87, daß Göthe dieſe Seite der alten Sage, die noch in der Tragödie Fauſt des Engländers Marlowe 1604 ſichtbar iſt, nicht gekannt haben müſſe, daß er die Elemente zu ſeinem Fauſt wohl nur aus dem Puppenſpiel nicht aus dem Volksbuche entlehnt habe: „Er hätte ſonſt in keiner ſo ſäuiſch ſpaßhaften, ſo cyniſch ſterilen Maske den Mephiſtopheles erſcheinen laſſen. Dieſer iſt kein gewöhnlicher Höllenlump, er iſt ein ſubtiler Geiſt, wie er ſich ſelbſt nennt, ſehr vornehm und nobel und hochgeſtellt in der unterweltlichen Hierarchie, im hölli¬ ſchen Gouvernemente, wo er einer jener Staatsmänner iſt, woraus man einen Reichskanzler machen kann“. Dieſer Tadel iſt wohl irrig, denn es fehlt dem Mephiſto zwar die

� [381/0403] doctrinäre Theologie, aber gar nicht ein metaphyſiſcher Zug. — Der andere weltliche Ausgangspunct ſcheint in der Vorſtel¬ lung des wilden Jägers zu liegen, der auf Bildern der Oberdeutſchen Schule in grüner knapper Tracht mit ſpitzem Hut und einer Auerhahnfeder daran vorkommt und jenes lederfahle, magere, kniffige, ſpitzige, ins Satyrhafte ſchla¬ gende Geſicht, ſo wie jene länglicht dürren Hände und ſchlanken, ſkeletartigen Glieder hat, die ihm durch die Bilder von Retzſch, Arys Scheffer und durch die ihnen folgenden theatraliſchen Darſtellungen zur ſtereotypen Maske bei uns geworden ſind und über welchen „Baron mit falſchen Waden“ auch Seybertz in ſeinen Illuſtrationen zum Götheſchen Fauſt nicht hinausgekommen iſt. Da der wilde Teufel im Volksglauben der Teufel ſelber, eigentlich Othin, iſt, ſo lag dieſe Form des Anthropomorphismus nahe. In Calderons magico prodigioso erſcheint der Dämon, der den heiligen Cyprianus zu verführen trachtet, in voll¬ kommen menſchlicher Geſtalt. Bei den geiſtlichen Epikern wurde der Satan natürlich wieder in übermenſchlicher Geſtalt vorgeführt, bei Milton als ein kriegeriſcher Höllenfürſt, bei Klopſtock in Abbadonnah als ein von einem wehmüthigen Gefühl überhauchter Demiurgos.

Von dieſer anthropomorphiſchen Incarnation des Teuf¬ liſchen iſt aber noch wiederum diejenige Form zu unter¬ ſcheiden, die es dadurch empfängt, daß der Menſch ſelber zum Teufel wird, was zwar nach einer ſeichten Moral und ſtupid gutmüthigen Theologie gar nicht möglich ſein ſoll, factiſch aber nur zu oft wirklich wird. Ja es iſt entſetzlich, aber es iſt wahr, daß wir Menſchen uns gegen unſern göttlichen Urſprung empören und in dem Hunger nach Ich¬ heit unerſättlich werden können. Nicht einzelne Momente

� [382/0404] des Böſen kommen hier in's Spiel, wie Wolluſt, Herrſch¬ ſucht u. dgl., ſondern der Abgrund der abſoluten, bewußten Selbſtſucht. Von dieſer Form geht die eine Richtung mehr auf das Handeln, die andere mehr auf eine ſataniſche Schön¬ ſeligkeit. Dort erzeugt die Kunſt Charaktere, wie Judas Richard III., Marinelli, Franz Moor, den Secretair Wurm, Francesco Cenci, Vautrin, Lugarto, u. a., hier zerriſſene Seelen, wie Roquairol, Manfred u. ſ. w. In jenen handelnden Böſewichtern iſt noch eine gewiſſe naive Geſundheit des negativen Princips, in dieſen contemplativen Teufeln aber geht das Böſe durch das ſophiſtiſche Spiel einer ſchlechten, hohlen Ironie in eine ſcheußliche Verweſung über. Aus den unruhig ermatteten, genußgierig impotenten, über¬ ſättigt gelangweilten, vornehm cyniſchen, zweckslos gebil¬ deten, jeder Schwäche willfahrenden, leichtſinnig laſterhaften, mit dem Schmerze kotettirenden Menſchen der heutigen Zeit hat ſich ein Ideal ſataniſcher Blaſirtheit entwickelt, das in den Romanen der Engländer, Franzoſen und Deut¬ ſchen mit dem Anſpruch auftritt, für edel gehalten zu wer¬ den, zumal dieſe Helden gewöhnlich viel reiſen, ſehr gut eſſen und trinken, die feinſte Toilette machen, nach Patſchouli duften und elegante weltmänniſche Manieren haben. Aber dieſe Nobleſſe iſt nichts als die jüngſte Form der anthropo¬ logiſchen Erſcheinung des ſataniſchen Princips. Der „ſchöne Ekel“ in dieſer Diabolik, die ſich abſichtlich in Sünde ſtürzt um nachher den ſüßen Schauder der Reue zu genießen, die Menſchenverachtung, die Hingabe an das Böſe, nur um in dem wüſten Gefühl der univerſellen Verworfenheit zu ſchwel¬ gen, die geniale Frechheit, welche die Moral den Philiſtern überläßt, die Angſt vor der Möglichkeit einer wirklichen Ge¬ ſchichte, der Unglaube an den lebendigen Gott, der in Natur

� [383/0405] und Geſchichte ſich offenbart, dieſe ganze Häßlichkeit der zer¬ riſſenen und verſchliſſenen Weltſchmerzler iſt von I. Schmidt in ſeiner Geſchichte der Romantik, 1848, II., 385 – 89. vortrefflich charakteriſirt worden. Den Anfang dieſer äſtheti¬ ſchen Satanerie findet er im Lovelace.

Die Auflöſung des Diaboliſchen in's Komiſche liegt ſchon in ſeinem urſprünglichen Widerſpruch. Sein Unter¬ fangen, im Univerſum einen Ausnahmezuſtand begründen zu wollen, erſcheint um ſo thörigter, je größer der formale Verſtand und Wille iſt, die ſich dabei bethätigen. Gegen die Erhabenheit der göttlichen Weisheit und Allmacht nimmt ſich die teufliſche Intelligenz und Kraft doch nur als eine Duodezallwiſſenheit und Miniaturallmacht aus. Die Mittel, deren ſie ſich für ihre Zwecke bedient, helfen endlich das Gegentheil realiſiren. Von dieſer Seite hat die chriſtliche Kunſt vorzüglich die Darſtellung des Teufels gefaßt. Das Mittelalter hat ſeine Komik weſentlich an ihr entwickelt. Dem Teufel wurde das Laſter als Narr zugeordnet und aus ihm ging der ſpätere clown und Rüpel hervor. Der Teufel kommt trotz ſeiner großen Anſtrengungen überall zu kurz und wird, nachdem er eine Zeitlang Verlegenheiten bereitet hat, zuletzt ausgelacht. Das Volk macht ihn in ſeinen Sagen zum armen und dummen aber auch luſtigen Teufel. In Ben Jonſons dummen Teufel (überſetzt von Baudiſſin in Ben Jonſon und ſeine Schule) wird der Teufel von allen Menſchen hinter's Licht geführt und endlich in's Gefängniß gebracht, aus welchem Satan ihn be¬ freien muß. Im Engliſchen Puppet-shaw erſchlägt Punch ſogar zuletzt den Teufel und ſingt:

Juchhe! Aus iſt die Noth, Denn ſelber der Teufel iſt todt!

� [384/0406] Im Mittelalter geſtattete die Figur des Teufels, deſſen Macht der chriſtliche Glaube überwunden wußte, eine Licenz der Kritik, die ſonſt verpönt war. Späterhin mußte auch dieſe Komik eben ſo wohl in concrete menſchliche Individuali¬ täten gelegt werden, als auch die finſtere Seite des Böſen in wirkliche Menſchen gelegt ward. Daher iſt der Teufel allmälig für die Kunſt überflüſſig geworden. Er iſt, auch in der Komik, zu einer allegoriſchen Perſon zuſammenge¬ ſchrumpft, die nur noch in barocken und burlesken Com¬ poſitionen eine gewiſſe Poeſie erlaubt, wie z. B. Grabbe in einem Luſtſpiel die Großmutter des Teufels auf den Ein¬ fall gerathen läßt, die Hölle ſchroppen zu laſſen. Der Herr Sohn wird ſo lang auf die Oberwelt geſchickt. Da es hier aber gerade kalt iſt, ſo erſtarrt der von der Höllenwärme verwöhnte Teufel und bleibt in dieſem Zuſtande am Wege liegen. Ein höchſt aufgeklärter Dorfſchulmeiſter, der ſich vom Glauben an den Teufel längſt emancipirt hat, findet ihn, hält ihn für ein Curiosum naturae und nimmt ihn nach Hauſe, ſehr erfreut über ſolche Rarität. Hier thauet nun aber der Teufel auf, was denn zu ſehr lächerlichen Situationen Anlaß gibt. Die Pariſer haben auch das teufliſche Element zu ganz allerliebſten Zeichnungen mit Anmuth zu geſtalten gewußt, zu den ſogenannten diableries, phantaſtiſchen Schattenbildern in der Art der Ombres chinoises. Sie machen auch einen Ausläufer jener Breughel-Callot-Hoff¬ mannſchen Zerrbildnerei aus, welche die Franzoſen einmal für ächte Romantik zu halten ſich capriçirt haben. Wir wollen zum Schluß dieſer kurzen äſthetiſchen Phänomenologie des Teufels eine ſolche diablerie von Nicolet beſchreiben, die auch für uns Deutſche durch Lewald's 1836, I., Beilage zum erſten Heft, zugänglich geworden iſt. Wir

� [385/0407] befinden uns auf einem glänzenden Ballfeſte, das uns über¬ all verliebte Päärchen in den mannigfachſten Attitüden vor¬ führt. Plötzlich erſcheinen im bunten Gemiſch der Tänzer drei furchtbare Teufel, die aufeinanderſitzen und mit Dreh¬ orgel, Waldhorn, Türkiſcher Trommel und Triangel ein ſcheußliches Concert anſtimmen. Ihnen nach ein luftiges Ding mit großen Glocken in der Hand. Ihr folgt ein Teufel, der mit einer Küchengabel und Ketten den Tact dazu ſchlägt; andere Teufel, die auf Keſſel pauken, Caſſe¬ rolen ſtatt der Becken gebrauchen, und auf Trichtern blaſen, verſtärken dies Orcheſter. Drei tolle wilde Hexen von eben nicht unangenehmem Aeußern ziehen nun einen garſtigen ſich heulend ſträubenden Teufel mit Gelächter in den Saal. Sie haben ihm einen Strick um den Leib gelegt und ſchnüren ihn tüchtig zuſammen. Kaum in der Mitte, ſo drängen ſich alle Weiber hinzu, ihn zu bitten, daß er die wohlthätige Manipulation der Verjüngung mit ihnen vornehmen möge. Der Teufel fängt die Weiber ein, ſperrt ſie in einen großen Korb und ſetzt in die Mitte des Saales einen coloſſalen Mörſer, aus dem eine Röhre in einen davor liegenden Re¬ cipienten geht. Ein Teufel wirft nun die Weiber in den Mörſer, in welchem der gräßliche Urteufel ſie mit wildem Hohngelächter zerſtampft. — Nun folgt ein Maskenzug, wie nur die zügelloſeſte Phantaſie ihn erſinnen kann. Zuerſt ein Teufel auf Stelzen; dann ein Chineſe Tabackrauchend auf einem Zwergſkelet einherreitend; eine Amazone auf einem auf Stelzen gehenden Strauß; ein zierlich Dirnchen, einen Teufel Huckepack tragend; ein alter ehrbarer Herr mit Paraplui und Degen gar elegant auf einem Wiedehopf einhertrottend und endlich eine lange Reihe von Vogel-, Affen- und Hunde¬ teufeln, Gerippen, Sprühteufeln, Luftgeſtalten. Mitten in


Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 25 � [386/0408] dieſem tollen Spuk erſcheint ein dicker Beelzebub, eine Schaale in der Hand; ein rieſiges Todtengerippe in Reiterſtiefeln poſtirt ſich ihm mit einer Champagnerflaſche gegenüber; der Kork ſpringt in die Luft und Fliegen, Skorpione, Schlangen, Teufelchen, Wanzen, Flöhe, entſprudeln der Flaſche und ſtürzen in die bereit gehaltene Schaale. Zuletzt aber kommt eine Sylphide und tanzt ein entzückendes Solo. Doch plötz¬ lich ſpringt ein Teufel mit der Hetzpeitſche hervor. Die Sylphide verliert ihre Flügel und bekommt Arme dafür. Die Hetzpeitſche knallt und die Tänzerin muß nun auf den Armen ſtehen, gehen und tanzen. Ueberall ſchweben ähnliche Sylphiden in der Luft, von hölliſchen Blasbälgen und Teufels¬ odem getrieben, die man bald auf Degenſpitzen ſchweben, bald durch Reifen ſpringen ſieht, bis endlich die Teufel ſich auf ſchuppige Drachengeſpenſter ſchwingen, welche die Tänze¬ rinnen mit ihren Krallen ergreifen und mit ihnen davon fahren:

„Das iſt das Loos der Schönen auf der Erde.“


C. Die Caricatur. Das Schöne erſcheint entweder als das erhabene oder gefällige, oder als das abſolute, welches den Gegenſatz des Erhabenen und Gefälligen in ſich zur vollkommenen Harmonie verſöhnt. Nicht ſo transcendent, wie das Erhabene, nicht ſo bequem zugänglich, wie das Gefällige, wird die Unendlichkeit des erſtern in ihm zur Würde, die Endlichkeit des zweiten zur Anmuth. Die Würde kann aber zugleich anmuthig, die An¬ muth zugleich würdevoll ſein. Das Häßliche als eine

� [387/0409] Secundogenitur iſt in ſeinem Begriff von dem des Schönen abhängig. Das Erhabene verkehrt es in das Gemeine, das Gefällige in das Widrige, das Abſolutſchöne in die Cari¬ catur, in welcher die Würde zum Schwulſt, der Reiz zur Koketterie wird. Die Caricatur iſt inſofern die Spitze in der Geſtaltung des Häßlichen, allein eben deshalb macht ſie, durch ihren beſtimmten Reflex in das von ihr verzerrte poſi¬ tive Gegenbild, den Uebergang in's Komiſche. Ueberall im Häßlichen hat ſich uns bisher ſchon der Punct aufgedeckt, wo es lächerlich werden kann. Das Formloſe und Incor¬ rette, das Gemeine und Widrige, können durch Selbſtver¬ nichtung eine ſcheinbar unmögliche Wirklichkeit und damit das Komiſche erzeugen. Alle dieſe Beſtimmungen gehen in die Caricatur über. Sie wird auch formlos und incorrect, gemein und widrig durch alle Abſtufungen dieſer Begriffe hin. Sie iſt unerſchöpflich in chamäleontiſchen Wendungen und Verbindungen derſelben. Kleinliche Größe, ſchwächliche Stärke, brutale Majeſtät, erhabene Nichtigkeit, plumpe Grazie, zierliche Rohheit, ſinniger Unſinn, leere Fülle und tauſend andere Widerſprüche ſind möglich.

Inſofern haben wir auch bisher ſchon den Begriff der Caricatur indirect auseinandergeſetzt. Genauer aber beſteht derſelbe in der Uebertreibung eines Momentes einer Ge¬ ſtalt zur Unförmlichkeit. Doch iſt dieſe Definition noch zu beſchränken, wenn ſie auch im Allgemeinen richtig iſt. Das Uebertreiben nämlich hat eine Grenze. An ſich iſt es die quantitative ſei es vermehrende oder vermindernde Verände¬ rung einer Qualität als eines beſtimmten Quantums, eine Veränderung, die an das Weſen der Qualität ſelber gebunden iſt. Die maaßloſe Veränderung gelangt, als unendliche Ver¬ mehrung oder Verminderung, zuletzt bei der Vernichtung der


25 * � [388/0410] Qualität des Quantums an, weil zwiſchen der Qualität und Quantität ein inneres Verhältniß beſteht. Die Qualität iſt ſelber die Grenze der Quantität. Wir finden es daher lächer¬ lich, wenn eine Qualität in ihrer Einfachheit einen Compa¬ ratio haben ſoll. Relativ kann ſie allerdings Grade in ſich ſchließen, allein abſolut kann ſie nur Eine ſein. Gold als ſolches kann nicht goldener, Marmor nicht marmorner, die Allwiſſenheit nicht allwiſſender, ein Dreieck nicht noch drei¬ eckiger ſein u. ſ. w. Jener Sonntagsjäger kommt zu einem Krämer, Schrot zu kaufen. Dieſer bietet ihm mehrere Sorten an; eine viel theurer, aber auch vorzüglicher. Dieſer graduelle Unterſchied iſt hier möglich. Empfiehlt der Krämer nun aber eine Sorte beſonders aus dem Grunde, weil ſie todter ſchieße, ſo iſt dieſer Comparativ lächerlich, denn todter als todt kann nichts Todtes ſein. Es kommt aber ſogleich auf die nähern Umſtände an, dieſen hier lächerlichen Comparativ auch in ganz anderm Lichte erſcheinen zu laſſen. Wenn bei den Ruſſen, weil bei ihnen die Todesſtrafe abge¬ ſchafft iſt, ein Menſch zu einigen tauſend Hieben verurtheilt wird und die Soldaten endlich nur noch auf einen Leichnam ſchlagen, der auf einem Armenſünderkarren durch ihre Reihen gezogen wird, ſo iſt dies zu Tode prügeln eines Todten, nur um die Strafe vollſtändig zu vollſtrecken, gewiß nicht lächerlich. Die Uebertreibung als Vergrößerung und Ver¬ ſtärkung, als Verkleinerung und Verſchwächung überhaupt, iſt daher noch keine Carikirung. Die athletiſche Steigerung der Körperkraft iſt ſo wenig eine Verzerrung, als die hin¬ ſchwindende Kraft eines Siechen. Ein Vermögen von Roth¬ ſchildeſchem Umfang iſt ſo wenig eine Caricatnr, als eine große Schuldenlaſt. Swifts Rieſenmenſchen von Brobdignac und ſeine Zwergmenſchen von Liliput ſind phantaſtiſche Ge¬

� [389/0411] ſchöpfe, aber keine Caricaturen. Der kranke Organismus übertreibt die Thätigkeit eines leidenden Organs, der Leiden¬ ſchaftliche übertreibt ſein Gefühl für den Gegenſtand ſeiner Affection, der Laſterhafte ſeine Abhängigkeit von einer ſchlechten, verwerflichen Gewohnheit. Niemand aber wird Schwindſucht eine Verzerrung der Magerkeit, patriotiſche Aufopferung eine Verzerrung der Vaterlandsliebe, Verſchwen¬ dung eine Verzerrung der Freigebigkeit nennen. Uebertrei¬ bung allein iſt ein zu unbeſtimmter, relativer Begriff. Bliebe man bei ihm ſtehen, ſo würden Ueberſchwemmungen, Orkane, Feuersbrünſte, Seuchen u. ſ. w. auch Caricaturen ſein müſſen. Zum Begriff der Uebertreibung muß alſo, den der Caricatur zu begründen, noch ein anderer hinzukommen, nämlich des Mißverhältniſſes zwiſchen einem Moment einer Geſtalt und ihrer Totalität, alſo die Aufhebung der Einheit, welche nach dem Begriff der Geſtalt daſein ſollte. Würde nämlich die geſammte Geſtalt gleichmäßig in allen ihren Theilen ver¬ größert oder verkleinert, ſo würden die Proportionen an ſich dieſelben bleiben, folglich auch, wie bei jenen Swiftſchen Figuren, nicht eigentliche Häßlichkeit entſtehen. Geht aber ein Theil aus der Einheit in einer Weiſe heraus, welche das normale Verhältniß aufhebt, ſo erzeugt ſich, da daſſelbe an ſich in den übrigen Theilen fortbeſtehen bleibt, eine Ver¬ ſchiebung und Verſchiefung des Ganzen, die häßlich iſt. Die Disproportion nöthigt uns, immerfort die proportionale Geſtalt zu ſubintelligiren. Eine kräftige Naſe z. B. kann eine große Schönheit ſein. Wird ſie aber zu groß, ſo ver¬ ſchwindet das übrige Geſicht zu ſehr gegen ſie. Es entſteht eine Disproportion. Wir vergleichen unwillkürlich ihre Größe mit derjenigen der übrigen Theile des Geſichts und urtheilen, daß ſie nicht ſo groß ſein ſollte. Ihre Uebergröße

� [390/0412] macht nun aber nicht ſie allein, ſondern auch das Geſicht, dem ſie angehört, zur Caricatur, wie Grandville in den petites misères de la vie humaine die ſocialen Verlegen¬ heiten einer ſolchen Großnaſe ſehr ergötzlich gezeichnet hat. — Die Uebertreibung wird alſo zur Disproportion führen müſſen. Allein auch hier iſt noch wieder eine Beſchränkung erforder¬ lich. Ein bloßes Mißverhältniß nämlich könnte auch nur eine einfache Häßlichkeit zur Folge haben, die aber noch keineswegs eine Caricatur zu nennen wäre. Alles Gemeine, alles Widrige würde dann ſchon auf dieſe Benennung An¬ ſpruch machen dürfen, weil es doch im Allgemeinen eine Verzerrung des Schönen. Daß im Leben ſo geſprochen und auch das einfach Häßliche ſchon Caricatur geſcholten wird, iſt kein Grund, innerhalb der Wiſſenſchaft den Begriff nicht ſtrenger zu faſſen. Hier kann nur diejenige Mißform Caricatur heißen, die ſich in einen beſtimmten poſitiven Ge¬ genſatz reflectirt und ſeine Formen ins Häßliche verbildet. Aber nicht eine vereinzelte Anomalie, Regelloſigkeit, Mi߬ beziehung reicht dazu hin, vielmehr muß die Uebertreibung, welche die Geſtalt verzerrt, als eine dynamiſch wirkende die Totalität derſelben in Mitleidenſchaft ziehen. Ihre Desor¬ ganiſation muß organiſch werden.

Dieſer Begriff iſt das Geheimniß der Erzeugung der Caricatur. In ihrer Disharmonie entſteht durch die falſche Sucht eines Momentes des Ganzen doch wieder eine ge¬ wiſſe Harmonie. Die ſo zu ſagen verrückte Tendenz des einen Punctes durchſchleicht auch die übrigen Theile. Es bildet ſich ein falſcher Schwerpunct, nach welchem hin Alles in der Geſtalt zu gravitiren beginnt und damit eine mehr oder weniger durchgreifende Verzerrung des Ganzen hervor¬ bringt. Dieſe nach Einer verkehrten Richtung hin thätige

� [391/0413] Seele der Deformität producirt nicht blos eine einzelne, be¬ ſonders auffällige Häßlichkeit, ſondern durchdringt das Ganze mit ihrer abnormen Entſtellung. Im Allgemeinen werden wir hier eine zwiefache Weiſe der Verbildung erkennen, die Uſurpation und die Degradation. Jene rückt eine Erſcheinung in eine höhere Form hinauf, als ihr vermöge ihres Weſens zukommen kann; dieſe ſetzt ſie in eine niedri¬ gere Form herunter, als ihr vermöge ihres Weſens zukom¬ men ſollte. Die Uſurpation ſchraubt eine Exiſtenz zu dem Widerſpruch hinauf, mehr ſcheinen zu wollen, als ihr eigent¬ liches Sein ihr erlaubt. Sie affectirt das ihr nicht urſprüng¬ lich zugehörige Weſen. Die Degradation wirft eine Exiſtenz in den Widerſpruch, ſich in eine Sphäre als die ihr weſent¬ liche einzulaſſen, welche ſie ihrem primitiven Standpunct nach ſchon hinter ſich hat. Uſurpation und Degradation ſind daher nicht mit Potenzirung und Depotenzirung identiſch. Potenzirung iſt normale Steigerung. Die mittelaltrige Sage z. B. von Gregorius auf dem Steine, die Hart¬ mann von der Aue Deutſch bearbeitet hat und die noch jetzt als Volksbuch curſirt, iſt eine chriſtliche Potenzirung der antiken Oedipusſage, aber keineswegs eine Carikirung der¬ ſelben. So iſt die Art und Weiſe, wie Euripides den Stoff der Oreſtie und Oedipodie behandelt hat, gegen die Aeſchyleiſche Darſtellung der erſteren, gegen die Sophokleiſche der zweiten gehalten, eine poetiſche Depotenzirung, allein noch keineswegs eine Carikirung derſelben. Es wird alſo noch eine Beſtimmung erforderlich ſein, die zu hoch oder zu niedrig greifende Richtung der Deformität zur carikirenden zu machen und dies wird die beſtimmte Vergleichung ſein, zu welcher die Verzerrung auffordern muß. Alle Be¬ ſtimmungen des Häßlichen als Reflexionsbegriffe ſchließen

� [392/0414] eine Vergleichung mit denjenigen poſitiven Begriffen des Schönen in ſich, die von ihnen negativ geſetzt werden. Das Kleinliche hat am Großen, das Schwächliche am Starken, das Niedrige am Majeſtätiſchen, das Plumpe am Niedlichen, das Todte und Leere am Spielenden, das Scheußliche am Reizenden das Maaß, worin es ſich reflectirt. Die Caricatur dagegen hat ihr Maaß nicht mehr nur an einem allgemeinen Begriff, ſondern verlangt die beſtimmte Beziehung auf einen ſchon individualiſirten Begriff, der eine ſehr allgemeine Bedeutung, einen großen Umfang haben kann, jedoch aus der Sphäre der bloßen Begrifflichkeit herausgehen muß. Den Begriff der Familie, des Staates, des Tanzes, der Malerei, des Geizes u. ſ. w. überhaupt kann man nicht carikiren. Um das Urbild im Zerrbilde verzerrt zu erblicken, muß zwiſchen ſeinem Begriff und der Verzerrung wenigſtens diejenige Individualiſirung in die Mitte treten, welche Kant in der Kritik der reinen Vernunft das Schema nennt. Das Urbild darf nicht der blos abſtracte Begriff bleiben, es muß eine ſchon irgendwie individuelle Geſtalt gewonnen haben. Was wir aber hier Urbild für das Zerrbild nennen, iſt auch nicht im ausſchließlich idealen Sinn, ſondern nur in dem eines poſitiven Hintergrundes überhaupt zu nehmen, denn es kann eine ſelbſt durchaus empiriſche Er¬ ſcheinung ſein. Ariſtophanes in ſeinen Wolken geißelt die Unphiloſophie, die Sophiſterei, den ungerechten Logos. Als Zerrbild des Philoſophen ſtellt er den Sokrates auf. Dieſer Sokrates, der auf der Paläſtra Mäntel ſtiehlt, der den Flohſprung berechnet, der das Ungerade gerade machen lehrt, der, dem Aether näher zu ſein, in ſeiner Denkſtube auf einem Käſekorbe ſchwebt, der ſeine Schüler nasführt, iſt freilich nicht derſelbe Sokrates, mit welchem er enthuſiaſtiſche

� [393/0415] Sympoſien feierte. Aber in einer Hinſicht iſt es doch der¬ ſelbe Sokrates, denn ſeine Geſtalt, ſeine nackten Füße, ſeinen Stab und Bart, ſeine Manier zu dialektiſiren, hat er doch wieder von ihm entlehnt und eben dadurch eine ächte Caricatur erſchaffen. Die Philoſophie überhaupt kann man nicht carikiren, wohl aber einen Philoſophen, die allgemeinſte, eminenteſte, dem Publicum geläufigſte Form der Erſcheinung der Philoſophie in einem Philoſophen, ſeinen Dogmen, ſeiner Methode, ſeiner Lebensart; wie auch Paliſſot in ſeinen Philoſophen Rouſſeaus Naturevangelium, Gruppe in ſeinen Winden Hegels Kathedermanier carikirten. Für Ariſtophanes war Sokrates das Schema, der Uebergang zur poetiſchen Individualiſirung. Sokrates beſaß Philoſophie und Urbanität genug, bei der Aufführung der Wolken gegen¬ wärtig zu ſein und ſogar im Theater aufzuſtehen, dem Pu¬ blicum die Vergleichung zu erleichtern. Hätte Ariſtophanes nur einen abſtracten Sophiſten hingeſtellt, ſo würde ſeiner Figur die individuelle Vertiefung gefehlt haben.

Allein nun werden wir ſofort einen Unterſchied aner¬ kennen müſſen zwiſchen den Caricaturen, welche der Welt der wirklichen Erſcheinung und denen, welche der Welt der Kunſt angehören. Die wirkliche Caricatur ſtellt uns auch den Widerſpruch der Erſcheinung mit ihrem Weſen dar, ſei es durch Uſurpation oder Degradation. Sie iſt aber eine ſehr unfreiwillige. Alle jene Induſtrieritter, jene altklugen Kinder, jene Pedanten der Gelehrſamkeit, jene Pſeudophi¬ loſophen, jene Pſeudoreformatoren des Staats und der Kirche, jene Pſeudogenies, jene forcirt liebenswürdigen Schö¬ nen, jene ewig achtzehn Jahr alten Weiber, jene Ueberbil¬ deten u. ſ. w., wie ſie aus der Corruption aller Culturen beſtändig hervorgehen, alle Werke, die nur Realiſationen des

� [394/0416] Widerſpruchs ihres Begriffs ausmachen, alle dieſe Exiſtenzen ſind unſtreitig Caricaturen. Allein als empiriſche Exiſtenzen ſind ſie nach allen Seiten hin mit der Wirklichkeit ſo ver¬ flochten, daß ſie auch noch eine Menge von anderweiten, oft höchſt reſpectabeln Beziehungen in ſich ſchließen. Von ihnen muß daher die äſthetiſche Caricatur als das Product der Kunſt unterſchieden werden, welches von den Zu¬ fälligkeiten des empiriſchen Daſeins gereinigt iſt und dieje¬ nige Einſeitigkeit, um die es zu thun iſt, prägnant hervor¬ hebt. Der Standpunct der Kunſt für ihre Schöpfung der Caricatur iſt mithin der ſatiriſche. Alle Begriffe, welche dem der Satire gehören, gehören folglich auch der Caricatur. Alle Modificationen des Tons, welche der Satire möglich ſind, ſind auch für die Caricatur möglich. Sie kann heiter und düſter, erhaben und niedrig, ſcharf und milde, grob und artig, plump und witzig ſein. Es iſt aber eine falſche Beſchränkung, die Caricatur nur in den Werken der Malerei zu ſuchen, wie es Paulin Paris in der Einleitung zum Musée de la Caricature en France geſchehen iſt, wenn er S. 1. ſagt: „La caricature est, dans son acception la plus étendue, l'art de donner à l'imitation de la nature et à l'expression des sentimes et des habitudes le caractère de la satire. Cet art ne doit pas être de beaucoup postérieur à l'invention de la peinture. Dès qu'on a compris l'idéal dansses rapports avec la beauté, on a dû sentir le besoin de l'idéal dans ses rapports avec la laideur physique et mo¬ rale. Cependant le mot caricature , d'origine italienne, est d'un Français assez nouveau. Admis, depuis le seizième siècle, dans la langue des arts, c'est de nos jours seulement qu'il est devenu académique et qu'à ce tître on l'a vu pren¬ dre rang parmi les expressions ordinaires de la conversation.“

� [395/0417] Dieſe Beſchränkung auf die Malerei wird von Paris ſelber ſogleich factiſch dadurch widerlegt, das er den Roman Fau¬ vel, le pélérinage de la vie humaine und la danse Macabre als ſatiriſche Werke beſpricht, aus denen die Miniaturmalerei den Stoff zu den Bildern genommen hat, mit welchem die Handſchriften geſchmückt ſind. Die Poeſie iſt eben ſowohl, als die Malerei, ja wegen der höhern Geiſtigkeit ihres Dar¬ ſtellungsmittels in noch viel größerem Umfang und viel ein¬ dringlicherer Tiefe, der Carikirung fähig. Die Geſchichte der komiſchen Literatur von C. F. Flögel, 1784, 4 Bde., ent¬ hält beſonders die Geſchichte der ſatiriſchen Dichtung und damit der poetiſchen Caricatur. Was aber das Wort Cari¬ catur anlangt, ſo haben wir Deutſche es wohl erſt auf dem Franzöſiſchen Umwege aus dem Italieniſchen aufgenommen. Im Italieniſchen leitet es ſich von caricare: überladen, ab; die Franzoſen haben für Caricatur das ähnliche Wort charge in Gebrauch. Wir Deutſche haben vordem den Ausdruck: Afterbildniß für Caricatur gehabt. Eine beſondere Richtung auf die Beachtung des Häßlichen als Mittel der Carikirung hat unter den Malern längſt vor Hogarth Leonardo da Vinci gehabt, deſſen hierhergehörige Zeichnungen, meiſt Stu¬ dienköpfe, ſeit Caylus öfter herausgegeben ſind.

Von der Natur wird man nur uneigentlich ſagen können, daß ſie Caricaturen hervorbringe. Wenn ihre Reali¬ tät ihren Begriff nicht erreicht, ſo kann daraus, wie wir uns früher überzeugten, das Häßliche, auch wohl, unter ge¬ wiſſen Bedingungen, das Komiſche entſtehen, eine wirkliche Caricatur aber würde die Möglichkeit vorausſetzen, daß die Geſtalt in ihrer Verbildung auf Freiheit zurückgeführt werden könnte. Wir nennen den Affen ein Zerrbild des Menſchen, allein wir wiſſen ſehr wohl, daß dies nur witziger Weiſe ge¬

� [396/0418] ſagt werden kann. Der Affe iſt kein häßlicher, entarteter Menſch und es iſt unmöglich, eine Satire auf den Affen zu ſchreiben, denn er kann einmal nicht anders ſein, als er iſt und wir können von ihm nicht fordern, weniger Affe und mehr Menſch zu ſein. Wohl aber kann die Satire einen de¬ pravirten Menſchen zum Affen degradiren, weil er, gegen ſeinen Begriff, ſich ſelber dazu herabſetzt. Vom Cretin läßt ſich ſchon mit mehr Recht ſagen, daß er eine Caricatur Menſchen ſei, weil er, ſeinem Weſen nach ſchon Menſch, doch ſeiner Erſcheinung nach in die Thierheit verſunken iſt, während der Affe, der Form nach dem Menſchen ſich an¬ nähernd, dem Weſen nach von ihm unterſchieden bleibt. Wenn manche Thiere als totale Verzerrungen ihres Typus erſcheinen, ſo miſcht ſich hierbei gewöhnlich der Zwang ein, welchen der Menſch ihnen anthut und dieſer Zwang hebt wieder alle äſthetiſche Freiheit auf. Wenn wir auf einer Thierſchau Schweine, auf dem Pariſer Mardi gras Ochſen erblicken, die in ihrem Fett erſticken, ſo werden wir ſolche Fleiſchmaſſen nur häßlich, vielleicht komiſch finden, aber eigentliche Caricaturen ſind ſie nicht. Ein Pferd zu ſehen, das ehemals den Fanfaren der Trompeter des Regiments kriegsluſtig entgegenwieherte, wie es nun, als abgetriebener Gaul, den Kehrichtkarren die Straßen entlang ſchleifen muß, iſt ein trauriger Anblick. Ein Mops, der durch ein ſybari¬ tiſches Stubenleben dick und unverſchämt, durch Damenhät¬ ſchelei in ſeiner Hundenatur verrückt geworden iſt, wird uns eine ſcheußliche Unnatur darſtellen, aber eine Caricatur werden wir ihn nur uneigentlich nennen.

Wohl aber wird die Kunſt ſich gerade der Thierwelt gern bedienen, die Satire auf die Menſchen durch traveſti¬ rende und parodirende Carikirung auszudrücken. Die Satire

� [397/0419] verſpottet das an ſich Nichtige durch ſeine eigene Uebertrei¬ bung, mit welcher es ſeine Ohnmacht enthüllt und damit in's Lächerliche übergeht. Das Thier eignet ſich, gewiſſe Einſei¬ tigkeiten und Laſter recht entſchieden darzuſtellen. Die höhern, edleren Eigenſchaften des Menſchen vermag die thie¬ riſche Analogie weniger adäquat auszudrücken, als die Re¬ gungen eines beſchränkten, ſelbſtſüchtigen Egoismus. Doch iſt das Thiereich groß und mannigfaltig genug, auch gute Eigenſchaften und Tugenden in's Spiel zu bringen, um ein ziemlich vollſtändiges Gegenbild des menſchlichen Treibens darbieten zu können. Der Orient, das Alterthum, das Mittelalter, die moderne Zeit, haben die Abſpiegelung deſ¬ ſelben in der Thiermaske gleich ſehr geliebt. Die Batra¬ chomyomachie der Homeriden iſt eine der älteſten und trefflichſten ſolcher Dichtungen. Die alte Komödie bediente ſich ſolcher Thiermasken in ihren Chören, wie uns noch die Wespen und Fröſche des Ariſtophanes erhalten ſind. Unter den kleinen Genrebildern der Pompejaniſchen Wand¬ malerei finden wir viele groteske, in's Satiriſche hinüber¬ ſpielende Thierſcenen. Ein Wiedehopf kutſchirt ſtolz auf einer Biga, die von Stieglitzen, von Schmetterlingen, von Greifen gezogen wird. Eine Ente geht auf ein Gefäß zu, zu trinken begierig; eine Glasglocke verhindert ſie daran, ſie ſteht da voll getäuſchter Erwartung u. ſ. w. Ein vorzügliches Bild iſt jenes treffliche, das den frommen Aeneas verſpottet, wie er mit ſeinem Vater Anchiſes auf den Schultern und den kleinen Ascanius an der Hand die Trümmer des brennenden Troja verläßt. Aeneas und Ascanius ſind als hundsköpfige Affen, Anchiſes als ein alter Bär dargeſtellt. Statt der vaterländiſchen Penaten hat dieſer ein Würfelſpiel aus den Flammen gerettet. Die Ausdeutung dieſes Bildes als einer

� [398/0420] ſatiriſchen Caricatur auf die kaiſerliche Familie und nebenbei auf Virgilius, wie Raoul Rochette im Musée secret de Pompéi, p. 223 — 26. ſie verſucht, ſcheint uns zu weit hergeholt. Warum ſoll nicht der pius Aeneas als ſolcher ſchon dem Spott erlegen ſein, da ja die Alten in ſolchen Bildern auch der Götter nicht ſchonten!“ Die Sculptur des Mittelalters hat in den Kirchen eine Menge ähnlicher Frazzen zur Verſpottung der Juden und der Pfaffen angebracht. In der Wolfs- und Fuchsfabel hat die Poeſie die Parodi¬ rung des Weltlaufs durch die Thierform zu einem univer¬ ſellen Bilde zuſammengefaßt, das in unſern Tagen durch Kaulbachs Genie von Seiten der Malerei nicht blos illuſtrirt ſondern intenſiv fortgedichtet iſt. Er hat die Thiere eben ſo naturtreu als menſchlich wahr gezeichnet und dabei einen be¬ wundernswürdigen Humor entwickelt, der in ſelbſtſtändigen Erfindungen hervortritt. Wie köſtlich iſt nicht das große Bankett, wo der Elephant eine Flaſche Champagner in ſeinen Rachen gießt! Wie köſtlich das Stillleben der königlichen Familie, wo die Löwenmutter im Bett liegt, der König Nobel mit der Brille auf der Naſe ſorglich umhergeht und der kleine Kronprinz eben auf dem Nachttopf ſitzt! Bei den Franzoſen hat Grandville in dieſer Gattung durch ſeine politiſchen Thiere und durch ſeine Illuſtrationen zu Lafontaine's Fabeln ganz Außerordentliches geleiſtet. Seine Kunſt, menſchliche Geſtalt und Kleidung mit der Thierform zu verſchmelzen, iſt unnachahmlich. Er malt z. B. zwei Hähne als Bauern, die auf einander losknuffen, aber doch bleiben die Bauern Hähne, indem er den Figuren Hahnenköpfe aufſetzt und Sporen anſchnallt.

Ein anderes, nicht weniger wirkſames Mittel der pa¬ rodiſchen Carikirung ſind ſeit jeher die Marionetten ge¬

� [399/0421] weſen, wie man ſich aus Charles Magnin's Histoire des Marionettes en Europe depuis l'antiquité jusqu'à nos jours, Paris 1852, überzeugen kann. Die Marionetten der Jahr¬ marktstheater von St. Germain und St. Laurent, deren Chronik Magnin S. 152—169 excerpirt hat, parodirten nicht nur die hohe Tragödie, wie die Oreſtie, Merope u. ſ. w., ſondern auch das höhere Luſtſpiel, z. B. Molières Médécin malgré lui.

Zwiſchen Parodie und Traveſtie iſt der Unterſchied, daß die Parodie nur das Allgemeine, die Traveſtie aber auch das Beſondere verkehrt. Die Traveſtie iſt daher jedes¬ mal auch Parodie, nicht aber die Parodie auch Traveſtie. Shakeſpeare's Troilus und Creſſida parodiren die Helden der Ilias, aber traveſtiren ſie nicht. Die edlen Fürſten erſcheinen als ſinnliche, brutale Klopffechter, Helena und Creſſida als lockere, zweideutige Dirnen. Der ſchädigte, keifende Therſites macht mit ſeinen ſatiriſchen Anmerkungen den witzigen Chor zu dem geiſtarmen Treiben der berühmten Helden. Shakeſpeare hat die Züge, die im Homer die charakteriſtiſchen, übertrieben und mit dieſer Charge das heroiſche Pathos derſelben lächerlich gemacht. Der Kraft¬ ſtolz des Ajas, das Herrſcheramt des Agamemnon, die Hahn¬ reiſchaft des Menelaos, die Freundſchaft des Achilleus für den Patroklos, die ritterliche Abenteurerei des Diomedes ſind in die prahlſüchtigſte Phraſe aufgelöſt und das Unſittliche in allen dieſen Verhältniſſen ſchonungslos blosgelegt. Dieſe Carikirung iſt Parodirung. Die traveſtirende Caricatur hin¬ gegen verfolgt den Inhalt auch ins Detail, ihn zu verkehren, wie Scarron und Blumauer dies mit Virgils Aeneis, Philippon und Huart mit Sue's Juif errant gethan haben. In neun kleine Bücher haben ſie den weitſchichtigen

� [400/0422] Roman zuſammengefaßt, indem ſie ihn in den Hauptſachen Schritt vor Schritt noch einmal erzählen, dabei aber alle Fehler ſeiner Compoſition aufdecken, alle Widerſprüche und Unwahrſcheinlichkeiten enthüllen und das Häßliche, das in den Perſonen liegt, durch Uebertreibung höchſt ergötzlich her¬ ausſtellen. Der Thierbändiger Morock, der alte Soldat Dagobert, die ätheriſche Adrienne von Cardoville, die buck¬ ligte Mayeur, der Indiſche Prinz Dſchalma, beſonders der brutalenergiſche, Alle überliſtende Jeſuit Rodin ſind in den Zeichnungen Philippons zu den ſcheußlichlächerlichſten Frazzen umgeſchaffen. Das iſt auch Parodie, aber traveſtirende (89).

Was den Begriff der Frazze betrifft, ſo ſcheint Kant denſelben in den: Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen zu weit ausgedehnt zu haben, wenn er ſagt: „Die Eigenſchaft des Schrecklicherhabenen, wenn ſie ganz unnatürlich wird, iſt abenteuerlich. Unnatürliche Dinge, in¬ ſoferne das Erhabene darin gemeint iſt, ob es gleich wenig oder gar nicht angetroffen wird, ſind Frazzen“. „Ich will dies — durch Beiſpiele etwas verſtändlicher machen, denn der, welchem Hogarths Grabſtichel fehlt, muß, was der Zeichnung am Ausdrucke mangelt, durch Beſchreibung er¬ ſetzen. Kühne Unternehmung der Gefahren für unſere, des Vaterlandes, oder unſerer Freunde Rechte iſt erhaben. Die Kreuzzüge, die alte Ritterſchaft waren abenteuerlich: die Duelle, ein elender Reſt der letztern aus einem verkehrten Begriff des Ehrenrufs, ſind Frazzen. Schwermüthige Ent¬ fernung von dem Geräuſch der Welt aus einem rechtmäßigen Ueberdruß iſt edel; der alten Eremiten einſiedleriſche Andacht war abenteuerlich: Klöſter und dergleichen Gräber, um leben¬ dige Heilige einzuſperren, ſind Frazzen. Bezwingung ſeiner Leidenſchaften durch Grundſätze iſt erhaben: Caſteiungen,

� [401/0423] Gelübde und andere Mönchstugenden mehr ſind Frazzen. Heilige Knochen, heiliges Holz und all dergleichen Plunder, den heiligen Stuhlgang des großen Lama von Tibet nicht ausgeſchloſſen, ſind Frazzen. Von den Werken des Witzes und des feinen Gefühls fallen die epiſchen Gedichte des Virgil und Klopſtock ins Edle, Homers und Miltons ins Abenteuerliche: die Verwandlungen des Ovid ſind Frazzen, die Feenmährchen des Franzöſiſchen Aberwitzes ſind die elen¬ deſten Frazzen, die jemals ausgeheckt worden. Anakreontiſche Gedichte ſind gemeiniglich nahe beim Läppiſchen“. Dieſe Auffaſſung des Frazzenhaften als eines Unnatürlichen, aber vermeintlich Erhabenen, beſonders vom moraliſchen Stand¬ punct aus, geht wohl über die Grenzen der äſthetiſchen Be¬ ſtimmung dieſes Begriffs zu weit hinaus. Nach Kant fehlt nicht viel, daß wir nicht alles Phantaſtiſche Frazze nennen müßten. Wir würden dieſen Namen nur theils denjenigen Verzerrungen geben, die ins Unduliſtiſche übergehen, theils denjenigen, die an ſich normale oder edle Geſtalten in eine widrige Häßlichkeit verunſtalten. In der erſteren Form kann die Frazze höchſt komiſch ſein, wie z. B. in Töpfers genialen Zeichnungen und in ſo manchen Jean Paulſchen Figuren; in der zweiten Form kann ſie, um anderweiter Beziehungen willen, auch unſer Lachen, wenigſtens Lächeln erregen, aber einen unangenehmen Beigeſchmack haben, der uns auf ſolchen Geſtalten nicht mit Wohlgefallen ruhen, ſondern uns von ihnen bald zu andern forteilen läßt. In einer kleinen Geſprächsnovelle, die guten Weiber, hat Göthe dieſen Punct abgehandelt. S. W. 15., S. 263 ff. Er läßt hier eine Geſellſchaft für und wider das Hä߬ liche ſtreiten. Phantaſie und Witz fänden mehr ihre Rech¬ nung, ſich mit dem Häßlichen zu beſchäftigen, als mit dem


Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 26 � [402/0424] Schönen. Aus dem Häßlichen laſſe ſich viel machen, aus dem Schönen nichts. Freilich mache dies uns zu etwas, jenes vernichte uns und Caricaturen hinterließen einen un¬ auslöſchlichen Eindruck, der durchaus zu verabſcheuen ſei. „Warum ſollen jedoch, meint einer der Unterredner, Bilder beſſer ſein, als wir ſelbſt? Unſer Geiſt ſcheint zwei Seiten zu haben, die ohne einander nicht beſtehen können. Licht und Finſterniß, Gutes und Böſes, Hohes und Tiefes, Edles und Niedriges und noch ſo viel andere Gegenſätze ſcheinen, nur in veränderten Portionen, die Ingredienzien der menſch¬ lichen Natur zu ſein, und wie kann man einem Maler ver¬ denken, wenn er einen Engel weiß, licht und ſchön gemalt hat, daß ihm einfällt, einen Teufel ſchwarz, finſter und häßlich zu malen.

Amalie. Dagegen wäre nichts zu ſagen, wenn nur nicht die Freunde der Verhäßlichungskunſt auch das in ihr Gebiet zögen, was beſſern Regionen angehört.

Seyton. Darin handeln ſie, dünkt mich, ganz recht. Ziehen doch die Freunde der Verſchönerungskunſt auch zu ſich hinüber, was ihnen kaum angehören kann.

Amalie. Und doch werde ich den Verzerrern niemals verzeihen, daß ſie mir die Bilder vorzüglicher Menſchen ſo ſchändlich entſtellen. Ich mag es machen, wie ich will, ſo muß ich mir den großen Pitt als einen ſtumpfnäſigen Beſen¬ ſtiel, und den in ſo manchem Betracht ſchätzenswerthen Fox als ein wohlgeſacktes Schwein denken.

Henriette. Das iſt, was ich ſagte. Alle ſolche Frazzenbilder drücken ſich unauslöſchlich ein und ich leugne nicht, daß ich mir manchmal in Gedanken damit einen Spaß mache, dieſe Geſpenſter aufrufe und ſie noch ſchlimmer ver¬ zerre.“

� [403/0425] Wenn die Caricatur durch Ueberladung entſteht, ſo möchten wir die Frazze als das Extrem der Caricatur be¬ trachten, wodurch die Uebertreibung übertrieben wird und damit in das Unduliſtiſche, Nebuloſe übergeht, wie dieſen Uebergang die letzten hier aus Göthe angeführten Aeußerungen richtig bezeichnen. Die Frazze als ſolche iſt allerdings hä߬ lich, aber durch ihre bizarre und groteske Geſtaltung kann ſie ein vorzügliches Mittel der Komik werden. Wie reich iſt nicht Shakeſpeare an ſolchen Frazzen! In Heinrich IV. und in den luſtigen Weibern von Windſor ſind der Cor¬ poral Nym, Bardolph, Dortchen Lakenreißer, Schaal, die Recruten, in den beiden Veroneſern der Diener Lanze, in Liebes Leid und Luſt Nathanael, Holofernes, Dumm und Schädel, in viel Lärmen um Nichts der Friedensrichter und Conſtabler u. ſ. w. nichts als Frazzen, die uns aber herzlich zu lachen machen. Gargantua und Pantagruel bei Rabelais wie bei Fiſchart ſind Frazzen. Tieck und Boz ſind überſchwänglich in Frazzen. Auch die Malerei hat zahlloſe Ausgeburten luſtiger Frazzen hervorgebracht. Wir erinnern nur an die Compoſitionen der Breughel und Teniers. Selbſt die bildende Kunſt, welcher doch die Frazze gänzlich zu widerſtreben ſcheint, hat ſie in verſchiedenen Formen cul¬ tivirt. Jene ſchon öfter von uns erwähnten monſtröſen Figuren, in denen die Satire der mittelaltrigen Steinmetzen ſich freien Lauf ließ, was ſind ſie anders als die ſeltſamſten, ungeheuerſten Frazzen! Dantans Statuetten von Niſard, Ponichard, Lißt, Brougham u. ſ. w. ſind Frazzen. Die Komik der Pantomine kann ihrer gar nicht entbehren. Die Figur des gefräßigen breitmäulig ſchlottrigen, tölpelhaften, ein¬ fältig pfiffigen, durchgeprügelten Pierrot, welche Dominico auf dem Italieniſchen Theater zu Paris aus der Kleidung des


26 * � [404/0426] Polichinello und dem Charakter des Arlechino zuſammen¬ ſetzte, iſt weſentlich eine Frazze.

Die Caricatur iſt von uns in die unfreiwillige und in diejenige unterſchieden worden, die von der Kunſt mit Ab¬ ſicht hervorgebracht wird. Es würde jedoch ein Mißverſtand ſein, dieſen Unterſchied ſo zu nehmen, als ob in den Pro¬ ducten der Kunſt nicht auch ſolche möglich wären, die, ohne Caricatur ſein zu wollen, alſo unfreiwillig, wirklich Carica¬ turen ſind. Dies iſt ſo wenig der Fall, daß im Gegentheil eine Menge von Kunſtwerken ganz gegen ihre Abſicht ſich in die Carikirung verlieren. Der Grund dieſer Erſcheinung liegt in dem Weſen des Abſolutſchönen, die Extreme des Er¬ habenen und Gefälligen in ſich auszugleichen. Das wahrhaft, Schöne hervorzubringen erfordert eine Tiefe der Conception, eine Kraft der Produktion, die höchſt ſelten ſind. Die Mittelmäßigkeit hat Empfindung genug für das Schöne, aber nicht Originalität genug, es ſelbſtſtändig hervorzubrin¬ gen. Sie iſt es daher vorzüglich, die ſich in einem Pſeudo¬ idealismus gefällt, der ſich durch einen hohlen Adel der Ten¬ denz und durch formelle Reinlichkeit der Ausführung in das Ideal zu vertiefen wähnt. Dieſer Idealismus erzeugt Ge¬ ſtalten, die im Grunde eine nur allegoriſche Allgemeinheit beſitzen, während ſie doch auf die Geltung lebenswirklicher Exiſtenzen Anſpruch machen. Es wäre beſſer, wenn ſie nur Allegorien wären, denn alsdann würden ſie ſich nicht wider¬ ſprechen. Sie wären dann nur Abſtraktionen. Statt deſſen verlangen ſie von uns als naturwahre Geſtalten voll eigenſter Lebendigkeit anerkannt zu werden und fallen damit in das Häßliche; denn ſie täuſchen uns mit dem Schein wirklicher Idealität. Die Abweſenheit aller poſitiven Incorrectheit, die Anwendung bekannter edler Formen im Einzelnen, die Fern¬

� [405/0427] haltung jedes Ueberſchwangs, die Zahmheit des gewählten Ausdrucks, die negative Sauberkeit, mit welcher das Detail ausgeglättet iſt, betrügt über die Gehaltloſigkeit des Innern und läßt den Künſtler nicht ahnen, daß er nur eine ideale Caricatur zu Tage gefördert habe. Wir haben vorhin ab¬ ſichtlich geſagt, daß die Mittelmäßigkeit es vorzüglich ſei, welche in dieſen Irrthum falle, das ächte Ideal in ſolchen blutloſen Schatten zu verwirklichen. Das Genie ſelber näm¬ lich iſt keineswegs geſichert, nicht auch in dieſen Abweg zu gerathen, weil das Abſolutſchöne wirklich alle Extreme von ſich ausſchließt und die Nothwendigkeit der abſoluten Har¬ monie einen Antrieb zu einem Nivelliren erzeugen kann, welches alle friſche Kraft und Eigenart in eine falſche Vor¬ nehmheit, in eine dünnliche Formenſpielerei, in einen krank¬ haften Adel der Geſtaltung auflöſen kann.

Dieſe feine Art der Verzerrung, die ſo viel unfrucht¬ bare Schönheit erzeugt, die ſo oft als das Eunuchenideal die productiven Kräfte mißleitet und gewöhnlich, wenn ſie eine Zeitlang Alles ausgemattet und ausgemergelt hat, die Reaction einer wilden, naturwüchſigen, roh empiriſchen Sturm- und Drangperiode nach ſich zieht, erfordert eine ganz beſondere Aufmerkſamkeit der Kritik, weil ſie ſcheinbar das Höchſte darbietet. Jede Kunſt ſpecificirt natürlich dieſe Idealität nach dem Medium ihrer Darſtellung. Hierauf ein¬ zugehen, muß daher der beſondern Kunſtlehre überlaſſen bleiben. Doch wollen wir einige Beiſpiele zur Verdeutlichung geben. Als die antike Kunſt in Verfall gerieth, verfiel ſie auf die Hermaphroditenbildung, die doch nichts als eine Caricatur iſt. Nur im Unterſchied der Geſchlechter kann ſich die Eigenthümlichkeit der Schönheit zum Ideal vollenden, wie W. v. Humboldt in ſeiner trefflichen Abhandlung:

� [406/0428] über die männliche und weibliche Form, in Schillers Horen 1795, jetzt in ſeinen Gesammelten Werken, I., S. 215. ff. ſo gründlich gezeigt hat. Nur im Mann kann die Würde, nur im Weibe die Anmuth zur abſoluten Reinheit ſich erheben. In der Jünglingsperiode kann die männliche Geſtalt als Ephebe eine gewiſſe weibliche Weichheit, in der Periode des greiſen Alters die weibliche als Matrone eine gewiſſe männ¬ liche Strenge annehmen, ohne die individuelle Wahrheit des geſchlechtlichen Typus zu beeinträchtigen. Allein aus den Schönheiten des männlichen und weiblichen Ideals ein drittes Ideal zuſammenzuſetzen, das weder männlich noch weiblich, vielmehr mannweiblich ſein ſoll, iſt eine Verſuchung der irreführenden Reflexion, die unausbleiblich zu Verzerrungen führen muß. Es bleibt ein unnatürliches Beginnen, das nur einem in Päderaſtie verſunkenen Geſchlechte ſchmeicheln konnte. Sculptur und Malerei haben einen großen Auf¬ wand gemacht, dieſem Pſeudoideal zu huldigen, aber auch in den Werken höchſter Virtuoſität bleibt es Caricatur. Die Schönheit dieſer Zwittergeſtalten hat gerade, weil ſie die Prätenſion der abſoluten, allerſchöpfenden Schönheit machen muß, eine faſt geſpenſtiſches Grauen, ja Ekel erweckende Hä߬ lichkeit an ſich. Schneidet ſich eine Amazone, den Bogen beſſer ſpannen zu können, die eine Bruſt weg, ſo bleibt ſie doch Weib, ja ſie bleibt, wie eine Pentheſilea, der Liebe fähig. Wird ein Mann gewaltſam zum Hämmling gemacht, ſo verweibt der Eunuch als ein Unglücklicher. Ein Herma¬ phrodit aber, der zugleich Mann und Weib ſein ſoll, iſt ein Monſtrum. Unter den Pompejaniſchen Bildern finden wir auch manche Hermaphroditen, aber doch auch eines, worin der Ekel der geſunden Natur vor ſolchem zweideutigen Ideal treffend dargeſtellt iſt, Musée secret, pl. 13., p. 68. Ein

� [407/0429] Hermaphrodit mit weiblichem Kopfputz, mit Ohrgehängen, mit buſenhafter Bruſtanſchwellung und breiten Hüftformen, liegt in einer Landſchaft auf ſchwellende Kiſſen hingeſtreckt. Ein Satyr, durch den Anſchein von Weiblichkeit getäuſcht, hat von ihm eine Decke weggezogen. Lüſtern blickt der Her¬ maphrodit nach ihm hin, aber der Satyr, der nicht, wie er erwartet, eine Nymphe gefunden, fliehet entſetzt, wagt nicht ſich umzuſchauen und ſtreckt abwehrend die Hände zurück. Die Kunſt darf nicht von der Individualiſirung laſſen, will ſie nicht die wahre Poeſie aufgeben. Sie ſoll das Weſen, aber ſie ſoll es als concrete Erſcheinung darſtellen. Das Allgemeine als Allgemeines iſt Sache der Wiſſenſchaft, nicht der Kunſt. Dieſe muß ſich daher vor ſolchen Verallgemei¬ nerungen hüten, welche die Individualität abſorbiren. In der Fortſetzung der Conſuelo, in der Gräfin von Rudol¬ ſtadt, namentlich aber im Epiloge, iſt die G. Sand z. B. dieſer an ſich edlen aber unkünſtleriſchen Verzerrung ver¬ fallen. Conſuelo als Zingara und ihr Mann als Trisme¬ giſtus werden endlich zu den reinen Menſchen, zu den Menſchen als ſolchen. Trismegiſtus rief: „Bin ich nicht der Menſch? Warum ſoll ich nicht ſagen, was die menſch¬ liche Natur verlangt und alſo auch verwirklicht? Ja, ich bin der Menſch, alſo kann ich ſagen, was der Menſch will und was er wirken wird. Wer die Wolke aufſteigen ſieht, kann den Blitz und den Orkan vorausſagen. Ich weiß, was ich in meinem Herzen trage und was daraus hrrvorgehen wird. Ich bin der Menſch und ſtehe in Be¬ zug mit der Menſchheit meiner Zeit. Ich habe Europa geſehen“ u. ſ. w. Pure, proſaiſche Abſtraction! Solche Werke können nobel, können ſchön ſein, allein ihr Adel wie ihre Schönheit ſind auf einem Abwege der Verzerrung ins

� [408/0430] Abſtracte. Wir erinnern uns hier des großen Aufſehens, das eine Statue des Bildhauers Cl é ſinger auf dem Pariſer Salon 1847 machte, weil ſie aus Mangel einer mythologi¬ ſchen oder anderweiten Situation kaum zur Ausſtellung zu¬ gelaſſen wäre und Furore machte. Es war ein üppiges Weib, das auf einem mit Roſen beſtreueten Bette ſich in wollüſtigen Träumen wand. Dies war die Realität, die man aber nicht geradezu geſtehen mochte. Was that nun die Kritik? Sie behauptete, Cléſinger habe eine ganz neue Bahn gebrochen. Freunde hatten dem Bildhauer gerathen, den einen untergeſchlagenen Fuß von einer Schlange um¬ ringeln zu laſſen, damit dadurch der Anſtand des Katalogs gewahrt würde, weil man ſich nun eine Cleopatra oder Eu¬ rydice denken könne und die Statue bekam den Titel: la femme piquée par un serpent. Die Kritik zählte auf, daß dies Meiſterſtück keine Göttin, Nymphe, Dryade, Oreade, Napee, Okeanide ſei, „mais tout bonnement une femme. Il a trouvé, cet audacieux, ce fou, cet enragé, que c'était là un sujet suffisant“. „Vous êtes étonné et ravi de ce type, qui n'est ni grec ni romain, et qui est charmant, de cette bouche entr' ouverte, de ces yeux mourans, de ces narines passionées, de cette physiognomie convulsive et douce, qu'agite un sentiment inconnu, de cet évanouissement vo¬ luptueux causé par l'ivresse du poison, philtre perfide, monté du talon au coeur, et qui glace les veines en les brûlant“. Wenn auch mit Hülfe der Fiction des Giftes, iſt doch offen genug ausgeſprochen, daß das Entzücken ein wollüſtiges ſei. „Un esprit méticuleux pourrait bien deman¬ der: qu'exprimait — elle avant l'addition du serpent? Nous ne saurions trop le dire. Eh bien! Elle avoit reçu en pleine poitrine une des flêches d'or du carquois d'Eros“. Zuletzt

� [409/0431] ſoll nun die Neuheit der Richtung, die hier eingeſchlagen, geſchildert werden, kommt aber nur auf eine Allgemeinheit hinaus, die uns deutlich die Gefahr verräth, welche damit verknüpft iſt, tout bonnement une femme, ein Weib ſchlechthin, darzuſtellen. „Clésinger a, par cette statue, fait preuve d'une incontestable originalité. L'antiquité d'Athè¬ nes ou de Rome n'a rien à voir dans son oeuvre: la Re¬ naissance non plus. Il ne procède pas plus de Phidias que de Jean Goujon; il ne ressemble pas le moins du monde à David, ni même à Pradier, ce païen attardé: peut être, avec de la bonne volonté, lui trouveroit-on quelques rapports avec Couston ou Clodion, mais il est bien plus mâle, bien plus fougeux, bien plus violent dans la grâce, bien autre¬ ment épris de la nature et de la vérité. Nul sculpteur n'a embrassé la réalité d'une étreinte plus étroite! Il a résolu ce probléme, de faire de la beauté sans mignardise, sans affection, sans maniérisme, avec une tête et un corps de notre temps, ou chacun peut reconnaître sa maîtresse, si elle est belle“!

Sehr nahe liegt es, daß die Verzerrung des abſtracten Idealismus das Genie und ſeinen Kampf mit der Welt ſich zum Gegenſtande macht. Das Genie iſt ſelbſt eine ideale Macht. Worin alſo könnte ſich das Ideal glänzender ent¬ falten, als in einer Darſtellung des Genies ſelber? Dieſer Schluß ſcheint ſo bündig, daß wir ihm eine Menge von Gedichten, Novellen, Romanen, Dramen verdanken, in denen die Geſchichte künſtleriſchen Schaffens den Inhalt ausmacht. Da nun aber dies Schaffen an ſich etwas Stilles, Geheim¬ nißvolles, Unſichtbares, ein Zuſtand iſt, ſo blieb nichts übrig, als die Künſtler in Umſtände zu verſetzen, die ihnen Gelegen¬ heit gaben, ihre Gefühle, ihre Beſtrebungen, ihr gewaltiges

� [410/0432] Wollen durch Worte kund zu thun. Und wie hätte man dies wieder beſſer gekonnt, als durch ungünſtige Umſtände, Verkennung, Noth, Armuth, ſociale Mißſtellung u. dgl. So kommt denn eine traurige Gelegenheit nach der andern, der undankbaren Welt, die ſolche Genies zu beſitzen eigentlich gar nicht werth iſt, gehörig die Wahrheit zu ſagen und dem Stolz des empörten Geiſtes genug zu thun, der denn doch nicht ſtolz genug iſt, auf den Beifall der ſo tief verachteten Welt zu reſigniren. Seit Göthe's Taſſo und Oelenſchlägers Correggio iſt wohl kaum noch ein einigermaaßen renommirter Künſtler übrig, der nicht in der einen oder andern Form zu einem weltſchmerzlichen Ideal umgedichtet wäre, das von der Caricatur immer nur um eine Linie entfernt iſt, wofern es nicht ganz hineinfällt. Eines der vielbeſprochenſten dieſer edlen Zerrbilder iſt der Chatterton von Alfred de Vigny, nach deſſen Aufführung im Theater Français Jules Janin in Lewalds Allgemeiner Theaterevue, II., 1836, S. 218. ſagte: „Dieſer Chatterton iſt eine Art von talentvollem Narren, den die Eitelkeit in's Verderben ſtürzt. Anſtatt mit Bewußtſein und Muth, wie ein Mann, der für ſich eine Zukunft ſieht, an's Werk zu gehen, beginnt Chatterton über Menſchen und Welt zu klagen. An einem ſchönen Tage tödtet er ſich, weil er nicht länger warten will. Aller¬ dings iſt dies beklagenswerth, allein zugleich iſt es ein trau¬ riges Beiſpiel, das nie den Stoff zu einer kläglichen Elegie hätte geben ſollen. Ueberhaupt ſagt man es nicht genug den jungen Leuten, daß die Geſellſchaft denen nichts ſchuldig iſt, die nichts für ſie gethan haben. Sie glauben ſogleich, wenn ſie einige Verſe oder Proſa im Kopfe ſpüren, daß die Welt ihnen mit offenen Armen und offenen Börſen ent¬ gegenkommen ſoll, während ſie der Welt entgegenkommen

� [411/0433] ſollten. Seiner Natur nach iſt das Genie geduldig, je un¬ ſterblicher es iſt, deſto beſſer verſteht es zu warten. Wo iſt das Genie auf der Welt, das nicht gewartet hätte ſtand¬ haft, gleich dem alten Horaz, bis die Reihe an ihn ge¬ kommen war? Treibt Ihr nicht dieſe jungen ungeduldigen Geiſter zur Empörung, die nicht einſehen, daß die Jugend ſelbſt ſchon ein ſehr großes Gut iſt und undankbar gegen den Himmel ſind, ſich nicht glücklich zu fühlen, daß ſie jung ſind? Befördert nicht durch Eure ungeſtümen Klagen, durch Eure betrüglichen Beſchwerden die Handlungen des Selbſt¬ mords. Der Tod Guilberts, Malfilatres, Chattertons hat ſchon viel Uebel angerichtet. — Unter dieſem Geſichtspunct iſt der Chatterton Alfred de Vigny's eine beklagenswerthe und mörderiſche Compoſition. Stellen Sie ſich einen Dichter vor, der während ganzer fünf Acte umhergeht und gegen die Geſellſchaft declamirt, weil er kein Kleid und kein Brod hat. Aber Arbeit hat er; warum arbeitet er nicht? Welches Privilegium hat er, daß man zu ihm gehen ſollte, ehe man ihn an ſeinen Werken erkennt? Ein unerbittlicher Gläubiger will Chatterton in das Gefängniß werfen laſſen. Er gehe doch in das Gefängniß; dort wird er genährt und beherbergt und kann ganz nach Willkür dichten; größere Dichter als Chatterton lebten in Feſſeln und weniger bequem. Sheridan ſelbſt, war er nicht ein Gefangener des Os alienum und war er um deshalb weniger Sheridan? Der Lordmayor bietet Chatterton den Platz ſeines erſten Kammerdieners an, und Chatterton verweigert es. J. J. Rouſſeau war weniger ſtolz; er hat die Livrée getragen und war doch Jean Jacques, und wenn er ſich getödtet hat, ſo geſchah es heimlich, ver¬ borgen, nachdem er Heloiſe, Emile und den contrat social geſchrieben hatte“.

� [412/0434] So viel über die Verzerrungen, welche von den Künſt¬ lern in der Meinung hervorgebracht werden, mit ihnen das Ideal der Schönheit ſelbſt zu realiſiren. So viel von der verſteckteren Form dieſer Caricaturen und den Täuſchungen, denen ſelbſt die Kritik bei ihnen unterworfen ſein kann. So viel von der faſt unausbleiblichen Carikirung, welche durch den Stoff herbeigeführt wird. Aus allen dieſen Gründen folgt aber, daß ganz das Nämliche für die Er¬ zeugung der abſichtlichen Caricatur möglich iſt. Da ſie als ein Kunſtwerk den allgemeinen Geſetzen des Schönen unter¬ liegt, wenn ihre Form ſich auch gegen dieſelben negativ verhält, ſo kann es natürlich auch ſchlechte Caricaturen geben. Es ſind diejenigen, die in der Bosheit der Tendenz und in der Häßlichkeit der Geſtalt ſtehen bleiben und ſich nicht zur Heiterkeit des ſcherzhaften Muthwillens erheben. Es ſind diejenigen, die um ſolcher proſaiſchen Biſſigkeit halber nicht von der Endlichkeit einer beſchränkten Abſicht, zu ärgern, zu verletzen, loskommen. Es ſind aber auch diejenigen, die ihre Züge nicht ſcharf genug in das voraus¬ geſetzte Gegenbild, reflectiren, alſo nicht witzig genug aus¬ fallen und in ihrer Stumpfheit eine Unſicherheit der Be¬ ziehung, eine Schwierigkeit der Deutung veranlaſſen. Es ſind ferner diejenigen, die um der Schwäche ihrer Zeichnung willen ſich mit den Aeußerlichkeiten eines ſymboliſchen Bei¬ werks umgeben müſſen und durch Ueberhäufung deſſelben abermals in Gefahr bringen, die rechte Beziehung doch zu verfehlen. Schlecht endlich ſind diejenigen, welche den Punct nicht feſtzuhalten oder wohl gar kaum zu finden wiſſen, von dem eigentlich die Verzerrung der Geſtalt ausgeht und ſich von Innen her als die reale Ironie des Begriffs entwickelt, der eigentlich da ſein ſollte. Man hört wohl von der Cari¬

� [413/0435] catur ſo ſprechen, als ob ſie eine höchſt untergeordnete Leiſtung der Kunſt ſei, als ob nur geringere Talente mit ihr ſich befaſſen könnten und als ob die Beſchäftigung mit ihr den Geſchmack verderben müſſe. Dieſe banale Meinung hat einen Sinn nur in Anſehung der ſchlechten Caricatur, denn die gute iſt wahrlich gerade eben ſo ſchwer, wie — alles Gute und Schöne. Wir müſſen bedenken, daß, wie Platon ſchon im Sympoſion ſagt, der beſte tragiſche Dichter auch der beſte komödiſche iſt, d. h. daß die Komik mit der Tragik aus derſelben Tiefe des Geiſtes entſpringt und die¬ ſelbe Kraft erheiſcht. Die antiken Tragiker dichteten zu ihren Trilogien ſelber das übliche Satyrdrama. Die Menge der¬ ſelben iſt verloren gegangen. Nur eines, den Euripideiſchen Kyklopen, haben wir übrig. Es reicht hin, uns zu zeigen, daß die Carikirung die Seele dieſer Gattung war. Wer alſo nicht von der ſchlechten, ſondern von der Caricatur überhaupt geringſchätzig denkt, der laſſe die Namen der alten Tragiker, der laſſe den Namen des Ariſtophanes und Menander, den Namen des Horaz und Lucian, des Calderon und Shakeſpeare, des Arioſto und Cervantes, des Rabelais und Fiſchart, des Swift und Boz, Tiecks und Jean Pauls, Molières und Bé¬ rangers, Voltaires und Gutzkows, der laſſe den Namen der Breughel und der Teniers, der Callot und Grandville, der Hogarth und Gavarni bei ſich vorübergehen und frage ſich dann, ob er die Schöpfung ächter Caricaturen noch für eine ſo unter¬ geordnete Leiſtung anzuſehen den Muth haben könne? Frei¬ lich ohne idealen Gehalt, ohne Witz, ohne Freiheit, ohne Kühnheit oder Zierlichkeit, ohne humoriſtiſche Elaſticität, nun freilich da iſt die Caricatur nur eine abſcheuliche, quälende Frazze und eben ſo langweilig und unausſtehlich, als jedes andere ſchlechte Kunſtwerk.

� [414/0436] Die Caricatur muß die Idee in der Form der Unidee, das Weſen in der Verkehrung ſeiner Erſcheinung darſtellen, aber dieſe Unidee und Verkehrung in ein concretes Medium reflectiren. Mit andern Worten, ſie muß die Kunſt der Individualiſirung verſtehen. Die Caricatur iſt das Wider¬ ſpiel der wahrhaften Schönheit, die ihre Genugthuung in ſich ſelbſt trägt und ſich am Wohllaut ihrer eigenen Formen erſättigt. Die Caricatur weiſt unruhig über ſich hinaus, weil ſie mit ſich zugleich etwas Anderes darſtellt. Sie iſt eine in ſich entzweiete, wenn auch in dieſer Entzweiung mit ſich relativ harmoniſche Geſtalt. Die empiriſche Vermit¬ telung, von welcher ſie ausgeht, kann eine unendlich verſchiedene ſein. Zuſtände, Handlungen, Bildungs¬ tendenzen jeglichen Inhalts können zu ihr die Veranlaſſung geben. Wir ſehen, daß Nachbarvölker ihre Eigenheiten in Zerrbildern zuſammenfaſſen. Der Franzoſe carikirt den Briten, der Brite den Franzoſen u. ſ. w. Hervorragendere Städte bringen aus ſich Zerrbilder hervor, in denen ſie ihre Eigenthümlichkeiten ironiſch verlachen. Die Typen der Römiſchen Attellanen z. B. vererbten ſich auf die neuern Italieniſchen Masken, zu welchen die verſchiedenen Haupt¬ ſtädte Italiens ihren Beitrag lieferten. Der Arlechino iſt der alte Römiſche Sannio; Pantalone der Venetianiſche Kaufmann; der Dottore iſt von Bologna; der Beltramo von Mailand; der Scapino iſt der ſpitzbübiſche Bediente von Bergamo; der Spaniſche Capitano und Scaramuccia iſt von Neapel; Pulicinella der Apuliſche Spaßvogel von Acerra, der Maccus der Alten; Tartaglia der Stotterer; Brighella der Betrüger und Kuppler von Ferrara; Pascariello, der ſchwatzhafte Geck von Neapel; Gelſomino das ſüße Herrchen von Rom und Florenz u. ſ. w. Der Mezzetino und Pierrot

� [415/0437] ſind Umbildungen der Italieniſchen Masken auf dem Ita¬ lieniſchen Theater zu Paris. Dieſe Masken ſind in vieler Hinſicht die vollendetſten Caricaturen. Sie enthalten alle Nüançen des Häßlichen, aufgelöſt ins Komiſche. Sie paro¬ diren Alles, aber ſie parodiren es in einer concreten Indi¬ vidualiſirung, die eine geſchichtliche Baſis hat. Große Städte, wie London, Paris, Berlin, perſifliren ſich ſelbſt in ihren cockneys, ihren badauds, ihren Buffey's. Die fort¬ währende Zerſetzung der Geſellſchaft in dieſen Culturcentren iſt unerſchöpflich an zerrbildneriſchen Stoffen. Mayhew in ſeinem unendlich wichtigen Werk über die Londoner Armen hat den Gedanken ausgeführt, die charakteriſtiſchen Figuren des Straßenelends und der Spelunken Londons daguerro¬ typiren zu laſſen, ſo daß man erſchreckend treue Abbilder des geſpenſtigen Hades der Londoner Civiliſation bei ihm ſehen kann; das Proletariat derſelben beſteht faſt nur aus Caricaturen, und dieſe Caricaturen beſtehen faſt nur aus Frazzen, die ganz den eigenthümlichen ſinnlichen Zug haben, der aus den Zerrbildern von Cruishank und Phiz uns anwidert. Namentlich machen die verwahrloſten Kinder einen entſetzlichen Eindruck, die in der Frühreife ihres von Mangel, Noth, Verbrechen, Trunk und zeitweiliger Schwelgerei ver¬ wüſteten Daſeins ein ganz vergreiſtes Ausſehen darbieten. Manche Geſtalten ſind edler aber nur um ſo ergreifender, wie z. B. jener Hindubettler, der an einer Straßenecke chriſtliche Tractätlein feil hält. Dieſe dunkle, ſchmächtige Geſtalt mit ihrem ſubtilen Knochengebäude, mit ihrer quie¬ tiſtiſchen Beſchränktheit, mit ihrem rührend melancholiſchen Geſicht, aus welchem doch noch ein höherer Geiſt als eine nicht ganz erloſchene Erinnerung blickt, in den Nebeln Londons! — Die Franzoſen haben ein Werk hervorgebracht,

� [416/0438] das uns die Wirklichkeit nur mit treuem Griffel abzuſchreiben ſcheint, dabei aber das carikirende Element nicht verbirgt, in welches ſo viele Typen der heutigen Geſellſchaft eingetaucht ſind. Wir meinen Les Français peints par eux mêmes; Encyclopédie morale du dix neuvième siècle. Dies mit den trefflichſten Zeichnungen von den erſten Künſtlern ausge¬ ſtattete, von den claſſiſchen Autoren Frankreichs geſchriebene Werk erſchien in acht Quartbänden von 1841 ab und ver¬ dient von Pſychologen, Moraliſten, Dichtern, Geiſtlichen und Staatsmännern weit mehr gekannt zu werden, als es den Anſchein hat. Drei Bände dieſes Werks enthalten die Typen der Provinzen. Die Artikel über die Armee, über die Forçats, über St. Lazare und ähnliche ſind mit der gründlichſten Wiſſenſchaftlichkeit geſchrieben. Der diable à Paris oder Paris et les Parisiens, der 1845 in zwei Quart¬ bänden erſchien, iſt als eine Fortſetzung zu betrachten, die jedoch ſchon mehr nur der Unterhaltung gewidmet iſt und ſich faſt ausſchließlich mit den Caricaturen beſchäftigt, welche das feinere und rohere Proletariat liefert bis herunter zu den Bettlern und den Proſtituirten.

Wie Völker und Städte, ſo ſehen wir auch die ver¬ ſchiedenen Stände der Geſellſchaft ſich gegenſeitig carikiren. Der Bauer, der Soldat, der Schulmeiſter, der Barbier, der Schuſter, der Schneider, der Krämer, der Literat und Winkelpoet, der Thürhüter, der Aufwärter, u. ſ. w. werden in Zerrbildern fixirt, die ſich von Epoche zu Epoche meta¬ morphoſiren, aber immer dieſelbe Richtung erneuen.

Endlich geben die Verſchiedenheit des Geſchlechts und der Altersſtufen das Material zu Carikirungen ab. Man könnte zu ihnen auch die Leidenſchaften hinzurech¬ nen, wie Theophraſtos in ſeinen Charakteren, nach

� [417/0439] ihm Labruy è re, dann Rabener ſie geſchildert haben und wie ſie den Inhalt des von Menandros und Diphilos begründeten Luſtſpiels ausmachen.

Von ſolchen Zuſtänden haben wir die Handlungen zu unterſcheiden. Sie machen den Inhalt der eigentlich hiſto¬ riſchen Caricatur aus, welche die Widerſprüche ſatiriſirt, die in dem öffentlichen Handeln der Völker und Regierungen zum Vorſchein kommen. Periodiſche Caricaturwerke, wie der Londoner Punch, der Pariſer Charivari, der Berliner Kladderadatſch, werden dadurch zu Chroniken der poli¬ tiſchen und kirchlichen Verkehrtheiten.

Die Bildungstendenzen geben den Stoff zu vielen und oft ſehr intereſſanten Caricaturen, und zwar in einer doppelten Weiſe, einmal durch Perſiflirung einer Tendenz überhaupt, ſodann aber durch Perſiflirung der Widerſprüche, die zwiſchen der Cultur und Uncultur, zwiſchen der Cultur und Hyper¬ cultur entſtehen. Eine Tendenz überhaupt kann carikirt werden, ſofern ihre Eigenthümlichkeit von der Satire zur Einſeitigkeit beſchränkt und in dieſer Fixirung übertrieben wird. Es liegt aber in der Natur der Sache, daß die Bil¬ dung in der Unvollkommenheit ihrer Anfänge oder in der Ueberreife ihrer Ausgänge der Verzerrung die glücklichſten Stoffe liefern wird. Die Caricaturen, die nach jener Seite hin liegen, erzeugen ſich im Großen überall, wo Cultur¬ völker mit Naturvölkern ſich berühren. Sie können von einem andern Geſichtspunct aus für uns oft einen ſehr ſchmerzlichen Anblick darbieten, indem wir ſehen, wie ein kräftiges, relativ ſchönes Daſein von der fremden Bildung ergriffen, zerſtört und zu einer ſcheußlich lächerlichen Frazze verbildet wird. Catlin in ſeinen Indianern Nordamerikas (Deutſche Ausgabe von Berghaus, 1848, S. 306. ff.) gibt


Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 27 � [418/0440] die Abbildung und die Geſchichte eines Aſſinneboinerhäupt¬ lings Wei-dſchun-dſchoe, der nach Washington im vollen Schmuck ſeines prächtigen Nationalcoſtums gekommen war. Wie aber kehrte er nach einem längern Aufenthalt in den Städten der Union zu den Seinen zürück? „Als er auf dem Verdecke des Dampfbootes erſchien, trug er einen Rock vom feinſten blauen Tuch mit Goldtreſſen beſetzt, auf den Schultern zwei gewaltige Epauletten, um den Hals eine glänzend ſchwarze Binde, und ſeine Füße waren in ein Paar waſſerdichter Stiefel mit hohen Abſätzen gezwängt, wodurch ſein Gang ſchwankend und unſicher wurde. — Auf dem Kopf trug er einen hohen Biberhut mit breiter Silbertreſſe und einem zwei Fuß langen rothen Federbuſch. Der ſteife, gerade Rockkragen reichte ihm bis über die Ohren hinauf und über den Rücken hing ſein langes, mit rother Farbe geſchmücktes Haar in Flechten herab. Um den Hals trug er eine große ſilberne Medaille an einem blauen Bande und an einem breiten über die rechte Schulter gehenden Riemen hing ein breiter Säbel. Die Hände waren mit ziegenledernen Handſchuhen bekleidet, in der Rechten trug er einen großen Fächer und in der Linken einen blauen Regenſchirm. So hatte man in Washington den armen Wei-dſchun-dſchoe ausſtaffirt!“ Catlin gibt ein Bild dieſer Caricatur. Der Säbel ſchleppt dem Helden zwiſchen den Beinen; er dampft eine Cigarre und aus jeder der beiden Rocktaſchen ſchauet der Hals einer Brantweinflaſche heraus. Doch die rechte Carikirung erfolgte erſt, als er zu Hauſe angelangt war, wo die Seinigen ihn wegen der Berichte, die er von den Yankee's machte, für einen Lügner hielten. Am Tage nach ſeiner Ankunft verfertigte ſeine Frau ſich aus den Schöößen als einem überflüſſigen Theil des Rocks ein Paar Bein¬

� [419/0441] kleider und aus der ſilbernen Huttreſſe ein Paar Strumpf¬ bänder. Den ſo verkürzten Rock trug nunmehr ſein Bruder, während er ſelbſt mit Köcher und Bogen, aber ohne Rock, erſchien und ſeine ſtaunenden Freunde ſein feines Hemd mit koſtbaren Hemdknöpfen bewunderten. Der Säbel behauptete noch immer ſeinen Platz, aber ſchon um Mittag vertauſchte er die Stiefeln mit Mokaſſins und in dieſem Aufzuge ſaß er, bei einem Fäßchen Brantwein, erzählend unter ſeinen Freun¬ den. Eine ſeiner Geliebten hatte ihre Blicke auf ſeine ſchönen ſeidenen Tragbänder gerichtet und am nächſten Tage ſah man ihn, Yankee Doodle und Washingtonmarſch pfeifend, mit dem Brantweinfäßchen unter dem Arm, nach der Hütte ſeiner alten Bekanntſchaft hinſchwanken. Sein weißes Hemd, oder derjenige Theil deſſelben, welcher im Winde geflattert hatte, war auf anſtößige Weiſe verkürzt worden; ſeine blauen mit Goldtreſſen beſetzten Pantalons waren in ein Paar comfor¬ table Beinkleider verwandelt; dabei hatte er Bogen und Köcher umgehängt, und der breite Säbel, welcher auf der Erde nachſchleppte, war ihm zwiſchen die Beine gekommen und diente ihm ſo gewiſſermaaßen als Steuer, um ihn ſicher über die „unruhige Oberfläche der Erde“ hinwegzuführen. — Auf dieſe Weiſe waren zwei Tage vergangen, das Fäßchen war leer und von ſeinem ganzen ſtattlichen Aufzuge war ihm nur noch der Regenſchirm übrig geblieben, an dem ſein ganzes Herz hing und den er in jedem Wetter bei ſich führte, während er übrigens eine Lederkleidung trug!

Behandelt die Kunſt ſolche Widerſprüche, ſo wird ſie die Ironie haben müſſen, in ihnen die Mängel der Cultur ſelber mit zu verſpotten. Die Franzoſen haben z. B. nach der Beſitznahme der Marqueſasinſeln eine Suite von Cari¬ caturen in dieſem Sinn gegeben. Sie haben die tättowirten


27 * � [420/0442] Wilden gemalt, wie ſie in den Europäiſchen Anzügen, gleich jenem Indianerhäuptling, ſich zu den tollſten Caricaturen verunſtalteten; wie ſie von der Fenſterſteuer zu ihrem höchſten Erſtaunen beglückt wurden; wie die Fortſchritte der Fran¬ zöſiſchen Civiliſation ſich den überraſchten Vätern in wei߬ farbigten Kindern offenbarten u. ſ. w. Auf einem Blatt ſehen wir einen edlen Marqueſaner in Stiefeln zwar, ſonſt aber nur im Hemde, mit einer Keule, wie er aus der Hütte hinaus will, durch deren Thür man draußen ſeine Frau in einem zärtlichen Tête à Tête mit einem Franzöſiſchen Elegant ſieht. Aber ein anderer Franzoſe hält ihn zurück und ſucht ihm die Keule zu entreißen. Malheureux! qu'allez-vous faire?

Parbleu! une volée à l'amant de ma femme.

Ce serait vous perdre de réputation. Suivez la mode européenne, envoyez un cartel à votre rival, demain matin vous tirez sur le terrain, ce monsieur vous brûlera la cer¬ velle — et au moins vous aurez eu complète satisfaction!

Auf einem andern Bilde erblickt man ein Opfer der Mode, in weiße Strippenbeinkleider, gelbes Gilet, ſteift Binde, knappen Frack eingezwängt. Mais, tailleur, il m'est absolument impossible, de remuer bras ou jambe dans les vêtements, que vous m'apportez là.

C'est ce qu'il faut. C'est justement ce qu'il faut. A Paris les gens riches ne s'habillent pas autrement; plus on est gêné dans ses habits, plus on passe, pour être à son aise!

Vielſeitiger natürlich fällt das Material aus, welches die Verbildung als Hypercultur in der falſchen Sentimen¬ talität, in der falſchen Convenienz, in der falſchen Gelehr¬ ſamkeit, in der Verrücktheit des politiſchen Raiſonnirens, in dem Wahnſinn ſectireriſcher Fanatismen, in den Abgeſchmackt¬

� [421/0443] heiten des Luxus, in der Rivalität der modiſchen Heilme¬ thoden, in den Verirrungen der Kunſt ſelber darbietet. Dieſe Caricaturen ſind gewöhnlich ſchon die Aeußerungen der Reaction, mit welcher der Geiſt ſolche Krankheiten zu über¬ winden ſucht. So der basbleu als Satire auf die ſchrift¬ ſtellernden Damen; ſo Mr. Prudhomme als Satire auf die Alles beſſer wiſſenden Kritiker; ſo Mr. Mayeux in der Uniform, die große Bärenmütze auf dem Kopf, die Conſervationsbrille auf der Naſe, als Satire auf die Nationalgardiſten; ſo Jean Patûrot à la recherche de la meilleure des républiques als Satire auf die Socialiſten und Communiſten u. ſ. w. Solche Caricaturen werden auch zuweilen ganz perſönlich, wie z. B. A. W. Schlegel Kotzebue's Poeſie verſpottete oder wie das Streben der Gräfin Hahn-Hahn, in ihren Romanen den Rechten zu finden, in der Diogena geiſtreich perſiflirt worden iſt. Nachdem ſie es mit einer ganzen Reihe von Männern, ſogar mit einem nordamerikaniſchen India¬ nerhäuptling, umſonſt verſucht hat, erkennt ſie endlich den Rechten in — einem Chineſen.

In der Behandlung muß die Caricatur den allgemeinen Geſetzen der Kunſt folgen. Sie kann portraitiren, ſymbo¬ liſiren, idealiſiren.

Die Portraitirung wird im Durchſchnitt der perſön¬ lichen Caricatur angehören, die aus der Satire gegen ein beſtimmtes Individuum entſpringt. Da jedoch dieſe Richtung gewöhnlich mit den Kämpfen der Parteien im Staat, in der Kirche, in der Kunſt zuſammenhängt, ſo wird der Haß einen großen Antheil daran haben. Hiervon iſt die Folge, daß die äſthetiſche Ausarbeitung des Zerrbildes dem materiellen Intereſſe, den vergifteten Pfeil auf den Gegner abzuſchnellen, untergeordnet wird. Man begnügt ſich deshalb mit einer

� [422/0444] gewiſſen Aehnlichkeit der Figur und der Phyſiognomie. Wenn ſie nur hinreicht, für den ſatiriſchen Angriff als Enveloppe zu dienen. Der Kunſtwerth faſt aller Caricaturen ſolcher Art iſt ein äußerſt geringer. Man ſehe ſolche Sammlungen durch, wie das Musée de la caricature en France, worin die Zerrbilder aus der Zeit der Fronde, der Huguenottenkriege, des Lawsſchen Geldſchwindels u. ſ. w. bis zur erſten Revo¬ lution nach den Originalen abgebildet ſind; man ſehe die ebenfalls nach dem Original wiedergegebenen Caricaturen aus der Revolutionsgeſchichte ſelber in der Histoire musée de la république Française dépuis l'assemblée des Notables jusqu'a l'empire par Augustin Challamel , Paris, 1842, 2 Tomes; man ſehe die Caricaturen in dem Journal: London und Paris, welches Böttiger zu Ende des vorigen und Anfang dieſes Jahrhunderts in Weimar herausgab; man vergleiche mit ſolchen Bildern die ähnlichen ſatiriſchen Schriften, Pasquille, Lieder — ob man nicht überall einem herben, ſcharfen, proſaiſchen Ton begegnen wird, dem es vor Allem nur darum zu thun iſt, dem Gegner in der öffentlichen Meinung einen Stoß beizubringen. Es wiederholen ſich daher in dieſem Kreiſe ſogar gewiſſe Handgriffe, den Feind dem Gelächter preiszugeben.

Dieſe Armſeligkeit der Mittel iſt eine Folge des egoiſti¬ ſchen Standpuncts der perſönlichen Satire, die ſich ſelten zur Heiterkeit und Harmloſigkeit erhebt. Die zweite Art der äſthetiſchen Behandlung unterſcheidet ſich von der Por¬ traitirung dadurch, daß ſie die Verzerrung ſchon als eine allgemeine, als einen Typus nimmt, der eine Gattung dar¬ ſtellt und inſofern für die Individuen, die zu derſelben ge¬ hören, einen ſymboliſchen Werth empfängt. Hier verſchwindet die Bitterkeit der directen Beziehung und die Poeſie ge¬

� [423/0445] winnt einen großen Spielraum. Dieſe ſymboliſche Darſtel¬ lung folgt den Wandlungen der Geſchichte, den Untergang ihrer bedeutendern Geſtalten in den Widerſprüchen zu ſchildern, die aus ihrer empiriſch unvermeidlichen Beſchränktheit ſich allmälig entwickeln. So iſt z. B. unſer Deutſches Volks¬ buch von den Schild- oder Lalenbürgern eine ſolche Caricatur, die ohne alle perſönliche Beziehung das Lächer¬ liche des in ſeine Bornirtheit vertieften Spießbürgerthums mit wahrem Humor geißelt. So iſt in Wernhers mittel¬ hochdeutſchem Gedicht: Helmbrecht, die Verliederlichung des Bauern- und Ritterthums in ein wüſtes, ſchlampiges Räuberleben trefflich geſchildert. So hat die Periode der Julimonarchie den Typus des Robert Macaire hervor¬ gebracht d. h. des allgemein organiſirten Betruges. Macaire, mit ſeinem Genoſſen Bertrand, iſt überall, auf der Tribune, auf der Börſe, im Salon, am Spieltiſch, bei der ärztlichen Conſultation, im Cabriolet u. ſ. w., Macaire wohlbeleibt, im Frack, im Glanzhut, mit dickem ſeidenem Halstuch, bril¬ lanter Bruſtnadel, möglichſt einnehmend; ſein Helfershelfer Bertrand mit einer knappen Mütze in abgetragenen Kleidern, langen beuteligen Taſchen zum Einfuppen von allem Mög¬ lichen, mit ſchlottrigem Gange, bloßem dürrem Halſe, confis¬ cirten Mienen voll ſpitzbübiſcher Unſchuld. Auch die Bilder gehören hieher, welche die Nationen ſich epochenweis von einander entwerfen, wie wenn wir von Bruder Jonathan in Amerika, von John Bull in England, von Michel in Deutſchland u. ſ. w. ſprechen. In China bedient ſich ſogar die Regierung der ſymboliſchen Caricatur, das Opiumrauchen zu verfolgen, indem ſie alle Stadien des Untergangs eines Unglücklichen auf Bildern darſtellen läßt, der durch den Genuß des Opiums endlich allem menſchlichen Gefühl, allem

� [424/0446] Pflichtbewußtſein, aller Wirklichkeit entfremdet und zum ſcheußlichen Skelet abgezehrt wird.

Die ideale Behandlung der Caricatur können wir auch die phantaſtiſche nennen. Die Maaßloſigkeit der Uebertrei¬ bung macht das Zerrbild ſich ſelbſt zum Zweck und ſtellt das Häßliche bald als harmloſen Zufall, bald als höchſte Noth¬ wendigkeit dar. Die Verzerrung vernichtet ſich ſelbſt, weil ſie aus den Schranken der gemeinen Wirklichkeit heraus¬ tritt und ſich in eine mährchenhafte Freiheit hinüberſpielt. Nur große Künſtler beſitzen Genie genug, dieſe wunderbare Metamorphoſe des Häßlichen hervorzubringen, die uns durch ihren Humor gerade ſolche Beſeligung bewirkt, wie außer¬ dem nur die abſolute Schönheit es vermag. Die Freiheit und Größe der Behandlung überwindet in ihrer Komik das Negative der Form wie des Inhalts. Die Phantaſie dieſes Standpuncts verhält ſich zur Verſtändigkeit des erſtern, wie der junge Debüreau zum ältern Bruder, als er dieſen zu Konſtantinopel in die äußerſte Gefahr brachte. Debüreau's Vater ſollte mit ſeiner Familie vor dem Großherrn ſeine athletiſchen und akrobatiſchen Künſte produciren. Er ward daher eines Tags in einen großen Saal geführt, der aber ganz leer war; hier machte er vor einem ſeidenen Vorhang mit den Seinen die halsbrechendſten Kunſtſtücke. Unter An¬ derm nimmt der ältere Bruder eine Leiter auf die Zähne und der jüngere klettert dieſelbe hinauf. Glücklich oben an¬ gelangt vergißt er zurückzukehren, weil er von der oberſten Sproſſe plötzlich den ganzen Harem des Sultans erblickt, der hinter dem Vorhang ſaß. Der Bruder gab Zeichen auf Zeichen und erlag faſt, bis der Junge oben aus ſeinem Erſtaunen erwachte und herunterkletterte. Dieſe Geſchichte, die Jules Janin in ſeinem Debureau , histoire du theâtre

� [425/0447] à quatre sous, im dritten Capitel, erzählt, iſt ſelber ein Symbol. Unten der berechnende, balançirende Verſtand, dann die kahle, unſchöne Leiter als Mittel, oben aber die entzückte, im Anſchauen des Schönen ſich ſelbſt vergeſſende Phantaſie.

Die Caricatur wird als Product der Malerei ſehr oft und gern die Hülfe des Wortes annehmen, ihre Abſicht deutlich ausſprechen. Aus dieſer Verbindung ſind allmälig nicht nur vereinzelte Bildwitze, ſondern ganze Suiten von Caricaturen, ja ganze zuſammenhängende Geſchichten von Bildworten und Weltbildern entſtanden. Gavarni iſt in dieſer Doppelkunſt ein außerordentliches Genie, aber Töpfer übertrifft ihn an Humor. Die Oeuvres choisies de Gavarni, études de moeurs contemporaines, vier Quart¬ bände, 1846, führen uns die terribles, die Loretten, die Studirenden, den Carneval, die débardeurs, die Schau¬ ſpielerinnen, Clichy, Paris am Abend u. ſ. w. vor, immer witzig, aber kauſtiſch. Töpfer dagegen in ſeinen köſtlichen histoires en estampes ſprudelt von jenem heitern Uebermuth, der einen Shakeſpeare ſeinen Falſtaff, einen Jean Paul ſeinen Dr. Katzenberger, einen Tieck ſeine Vogelſcheuche Ledebrinna ſchaffen ließ. Biſcher hat dieſe ganze Gattung in einem Aufſatz über Gavarni und Töpfer in Schweglers Jahr¬ büchern der Gegenwart, 1846, S. 554–66. ſo vorzüglich charakteriſirt, daß wir darauf verweiſen müſſen, da wir ihn nur wiederholen könnten (90).

Die phantaſtiſche Caricatur ſtreift von der Verzerrung alle ethiſche Gefährlichkeit ab. Sie geſtattet den Vortheil, die gemeine Verſtändigkeit von vorn herein zu überſpringen und parodirt ſich ſelber. Nun könnte es ſcheinen, als ob durch ſolche Ausgelaſſenheit die Uebertreibung des Charakte¬

� [426/0448] riſtiſchen entweder ganz aufgehoben oder ſo ſehr ins Extrem geſteigert würde, daß die äußerſte Häßlichkeit die Folge ſein müßte, weil das Häßliche alles Maaß negirt, wie ſchon Platon es im Sophiſtes, 228., a., το ἀμετϱιας παν¬ ταχου δυσειδες ο͗ν γενος, das allwärts mißgeſtaltete Ge¬ ſchlecht des Häßlichen nennt. Allein dies wäre doch ein Irrthum. Die Maaßloſigkeit der Phantaſtik erzeugt nämlich in ſich ſelbſt wieder ein Maaß, indem innerhalb ihrer Ueber¬ treibung die Geſtalten doch wieder in ein gewiſſes propor¬ tionales Verhältniß zu einander treten müſſen. Hiedurch wird eine außerordentliche Freiheit, Kühnheit, aber auch Anmuth der Behandlung möglich, ſo daß die Caricaturen ſich nicht nur in ein endliches Medium, vielmehr in die Unendlichkeit der Idee ſelber, in das Schöne und Wahre und Gute an und für ſich reflectiren. Wie die alte Komödie der Griechen in dieſer idealen Phantaſtik ſo Bewundernswürdiges leiſtete, ſo würden auch wir Deutſche unſerer Anlage zufolge gerade in dieſer Richtung Unſterbliches hervorzubringen vermögen, wenn nur einigermaaßen mehr nationale Kraft, mehr ein¬ heitliches Zuſammenwirken unter uns vorhanden wäre und nicht die beſten Kräfte oft in Winkelexiſtenzen, in völlig localen Ephemeriden, verkommen müßten. Wir ſtehen nicht an, außer den anerkannten Meiſtern auf dieſem Gebiet, Jean Paul, Tieck u. A., das von Stranitzky einſt gegrün¬ dete Leopold'sſtädter Theater in Wien für dasjenige zu halten, welches vorzüglichen Beruf zeigte, die Caricatur in den reinſten Himmel der Komik zu verſetzen und, befreiet von aller einſeitigen Verſtandesſchärfe, das „ganze mißgeſtaltete Geſchlecht des Maaßloſen“ zu einem Quell der reinſten Lach¬ freude zu machen. Bäuerle bezeichnete ſchon ſeinen an¬ nahenden Verfall; mit Raimund ſchwang es ſich noch ein¬

� [427/0449] mal zum höchſten Glanz empor; mit Neſtroy eilte es ſeinem Untergang zu. Dieſer Gegenſtand verdiente wohl eine eigene Abhandlung, die wir hier nicht geben können, wo wir von der Caricatur nur Abſchied zu nehmen, nur ihre Fortbildung zum Lächerlichen anzudeuten haben. Wir enthalten uns da¬ her weiterer Ausführung und geben nur ein Paar Züge zu beſſerem Verſtändniß. In der „Lindane“ ſoll ein furchtſamer Pantoffelmacher im Reiche der Feen eine Großthat vollbringen. Das Geſchick hat ihn einmal dazu erleſen, ſo unbequem und widrig es ihm fällt, einen Helden zu ſpielen. Er muß durch einen Wald gehen. Seine Furchtſamkeit wird carikirt, aber wie? Vollkommen phantaſtiſch. Er nimmt ſeinen Altgeſellen und eine Flinte mit. Als ſie in den Wald kom¬ men, wird er natürlich ſehr bange. Es iſt gar keine be¬ ſtimmte Gefahr vorhanden. Das thut nichts. Der Wald überhaupt, die Furcht überhaupt ſind Grund genug, etwas zum Schutz gegen mögliche Gefahren zu unternehmen. Der Geſelle muß alſo ſchießen. Aber wohin, da ſich nirgends etwas Verdächtiges zeigt. Er ſchießt auf das Gerathewohl in die Luft, während der Pantoffelmacher ſich grenzenlos ängſtet. Und ſiehe da — dies iſt nun das Phantaſtiſche der Ausführung — es fällt etwas aus der Luft herunter. Man wagt ſich näher, den Vogel anzuſehen. Der Vogel ſieht aber gar nicht recht wie ein Vogel aus; er hat vier Füße; er hat auch gar nicht rechte Federn, ſondern Borſten; genug, der Vogel iſt ein Schwein! Unmöglich, aber da liegt es wirklich. Wir lachen natürlich, aber der Pantoffelmacher fürchtet ſich nun um ſo mehr. Oder in Raimunds „Alpen¬ könig und Menſchenfeind“ ſieht Herr von Rappelkopf durch den Alpenkönig, der ſeine Geſtalt mit ihm ausgetauſcht hat, ſich ſelber ſprechen, handeln, grollen, toben. Aber nun

� [428/0450] findet er dieſen Doppelgänger übertrieben. Der Alpenkönig, meint er, carikire ihn doch zu ſehr! Wie wahr, wie tief, wie philoſophiſch, möchten wir ſagen, iſt dieſer Humor! Wenn wir alle uns einmal ſo recht objectiv anſchauen könnten, würden wir nicht auch meinen, daß wir uns zwar erſchienen, aber doch nicht ganz ſo, wie wir eigentlich ſeien, doch etwas übertrieben?


� [429/0451] Schluß. Die Olympiſchen Götter waren die ſchönſten Geſtalten, die jemals von der Phantaſie erzeugt wurden. Dennoch hatten ſie unter ſich den hinkenden Hephäſtos und dieſer hinkende Gott war nicht nur mit der ſchönſten Göttin, mit der ſchaumgeborenen Aphrodite, vermählt, ſondern er war auch der ſinnige Gott der bildenden Kunſt und wußte die ſchönſten Geſtalten zu erſchaffen. Und obwohl die Götter ſo ſchön und ſo unſterblich waren, ſo hielten ſie es doch nicht unter ihrer Würde, zuweilen in ein Gelächter auszubrechen, das Homer ein unauslöſchliches nennt, wie da, als Hephäſtos die eigene Gattin und den Ares mit einem Fangnetz umwo¬ ben hatte. So erkennt die Griechiſche Mythologie den Zu¬ ſammenhang des Schönen, Häßlichen und Komiſchen an. Aber ſie thut dies auch noch in einem beſondern Mythus, auf welchen Bohtz in ſeiner Schrift: über das Komiſche und die Komödie, 1844, 51., aufmerkſam macht und den wir in den Deipnoſophiſten des Athenäus, XIV., 2., finden. Parmeniskos war in die Höhle des Trophonios geſtiegen und hatte ihre grauenvollen Wunder geſehen. Seit¬ dem konnte er nicht mehr lachen und befragte deshalb das Orakel von Delphi, welches ihm antwortete, daß ihm die Mutter in ihrem Hauſe die Fähigkeit zum Lachen wieder verleihen werde. Als nun Parmeniskos nach Delos kam, ſuchte er das Bild der Mutter des Gottes, der Latona. Dies wurde ihm in einem unförmlichen Klotz gezeigt, worüber er, der eine ſchöne Bildſäule zu ſchauen erwartet hatte, zum

� [430/0452] heftigſten Lachen erregt ward. So hielt das Orakel ſein Wort. Die Mutter des ſchönen Apollon und ein Klotz ſcheinen zu heterogene Dinge zu ſein und doch war dieſes Unvereinbare hier wirklich und dieſe Wirklichkeit als eine, die nicht möglich ſein ſollte, lächerlich. Iſt dieſer Mythus nicht die Geſchichte des Zuſammenhangs des Häßlichen, das uns verſtummen macht, mit dem Komiſchen, das uns heiter erſchüttert?

Wir haben das Häßliche zuerſt im Begriff des Nega¬ tiven, des Unvollkommenen überhaupt aufgeſucht. Es zeigte ſich, daß es nichts Urſprüngliches, nur etwas Secundäres war, das am Schönen die Bedingung ſeiner Exiſtenz hat. Wir überzeugten uns nun, wie es in der Natur theils in unmittelbareren Formen derſelben, theils durch die Vermittelung von Krankheit oder Verſtümmelung ſich verwirklicht. Vom Naturhäßlichen unterſchied ſich das Geiſthäßliche, unter wel¬ chem nicht Irrthum, Unwiſſenheit, Ungewandtheit, nur der Wahnſinn und das Böſe verſtanden werden konnte. Es ſchien ein Widerſpruch zu ſein, daß die Kunſt, als die Erzeugerin des Schönen, das Häßliche ſollte zu ihrem Gegenſtande machen können. Aber nicht nur die Möglichkeit ſolcher Bildung ergab ſich, ſondern auch die Nothwendigkeit, einer¬ ſeits aus der Univerſalität des Inhalts der Kunſt, die das allgemeine Bild der Welt der Erſcheinungen in ſich reflectirt, anderſeits aus dem Weſen des Komiſchen, welches das Hä߬ liche als Mittel nicht entbehren kann. Da nun die Künſte ſich von einander qualitativ durch die Verſchiedenheit des Mediums der Darſtellung unterſcheiden, ſo reſultirte hieraus ein verſchiedenes Verhältniß zur Möglichkeit der Hervor¬ bringung des Häßlichen, worin der Architektur und Muſik das Minimum, der Sculptur das Mittlere, der Malerei

� [431/0453] und Poeſie das Maximum zufiel. In der Möglichkeit über¬ haupt, hinter dem Ideal zurückzubleiben oder es zu entſtellen, ſind die Künſte freilich coordinirt, Baukunſt, Sculptur und Muſik aber durch ihre Technik gegen die Verhäßlichung geſchützter.

Alles Schöne, da es der Geſtaltung bedürftig iſt, be¬ ruht auf allgemeinen Maaßverhältniſſen, auf Einheit, Sym¬ metrie, Harmonie. Die Häßlichkeit beginnt deshalb mit der Formloſigkeit, welche die Einheit ſich abzuſchließen hindert oder dieſelbe in's Geſtaltloſe auflöſt, ein Durcheinander der Ungeſtalt und disharmoniſchen Widerſpruch erzeugend.

Jedoch nicht nur im Allgemeinen iſt das Häßliche dem Maaße feindſelig, vielmehr auch im Beſondern verhält es ſich gegen die normale Geſtalt negativ, die entweder als ein conſtanter Typus durch die Geſetzlichkeit der Natur, oder als ein conventionelles Maaß der äſthetiſchen Behandlung, als ein beſtimmter Geſchmack, durch die Gewöhnung der Cultur hervorgebracht iſt und die wir Correctheit nennen. Die Negation dieſer Normalität iſt das Incorrecte, das in den einzelnen Künſten und Stylarten ſich beſonders ſpecificirt.

Jene Negation der Maaßverhältniſſe, dieſe Negation der phyſiſchen und conventionellen Normen haben ihren Grund erſt in der Verbildung, in dem negativen Proceß des Innern, der ſeine Auflöſung in der äußern Deformität nur zur Erſcheinung bringt. Die Freiheit des Daſeins, des Lebens, des Geiſtes kann das Erhabene in's Gemeine, das Gefällige in's Widrige, das Schöne in's Verzerrte verkehren. Nicht als ob das Erhabene, Gefällige, Schöne als ſolche nicht erhaben, nicht gefällig, nicht ſchön wären, wohl aber ſo, daß das Kleinliche am Großen, das Schwächliche am Mächtigen, das Niedrige am Majeſtätiſchen, das Plumpe

� [432/0454] am Niedlichen, das Todte am Spielenden, das Scheußliche am Reizenden ſein objectives Maaß hat. Als die Spitze der Scheußlichkeit ſtellte ſich uns das Böſe dar, die freie Selbſtvernichtung des Guten. Das Böſe als das diaboliſche zeigte ſich als die abſolute Scheinfreiheit, die mit Bewußt¬ ſein principiell das Gute negirt und in dem Abgrund ihrer Qual vergeblich wahre Befriedigung ſucht.

Das Böſe gab uns inſofern den Uebergang zur Cari¬ catur, als es die Reflexion von Inhalt und Form in ſein Gegentheil weſentlich in ſich ſchließt. Die Vorſtellung des Teufels iſt die Vorſtellung der abſoluten Caricatur, denn er iſt die Lüge als die fictive Zerſtörung der Wahrheit, der Unwille als der Wille des Nichts, die Häßlichkeit als die poſitive Vernichtung der Schönheit. Aber die Caricatur löſt die Widrigkeit in's Lächerliche auf, indem ſie alle Formen des Häßlichen, aber auch des Schönen in ſich aufzunehmen vermag. Daß ſie in ihrer Verzerrung ſchön werde, unſterb¬ licher Heiterkeit voll, iſt jedoch nur möglich durch den Hu¬ mor, der ſie in's Phantaſtiſche übertreibt. Die entfeſſelte Ausgelaſſenheit des Humors, deſſen mitleidiger Uebermuth ſich auch der Frazze annimmt, entbehrt nicht der reinſten Beſinnung und gleicht der Mänade, die, auf des Berges Scheitel den Fuß erhebend, das Haupt, getrieben von der Begeiſterung des Gottes, zu den Sternen des Himmels mit kühnem Schwung emporgeworfen hat, als wolle ſie ſchon der Erde entfliehen und in den göttlichen Aether, aus dem Alles hervorgegangen, zurückkehren.


� [[433]/0455] Anmerkungen.


Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 28 � [[434]/0456] � [[435]/0457] (1) S. 5. Wenn wir es recht bedenken, ſo wird auch hier, wie in ſo vielen andern Dingen, Leſſing den eigentlichen Anfang gemacht haben, nämlich im Laokoon, wo Capitel XXIII. bis XXV. vom Häßlichen und Ekelhaften handeln. Das Verdienſt, den Begriff des Häßlichen als ein organiſches Moment der Idee des Schönen mit Bewußtſein in die Wiſſenſchaft eingeführt zu haben, gebührt Chr. H. Weiße in ſeinem: Syſtem der Aeſthetik; im erſten Theil, Leipzig 1830, S. 163–207.

(2) S. 5. Weiße hatte jedoch die Unidee des Häßlichen im Weſentlichen zu ſpiritualiſtiſch gefaßt und dieſe Einſeitigkeit, das mo¬ raliſche Moment als die Lüge des Geſpenſtiſchen, Böſen, Teufliſchen vorzugsweiſe zu berückſichtigen, ging auch auf ſeine Nachfolger über. Unter dieſen ſtand Arnold Ruge voran in ſeiner: Neuen Vorſchule der Aeſthetik; Halle 1837, S. 88–107. Ruge, ein lebhafter Kopf, voll von mancherlei naiven Anſchauungen, die er abzulagern begierig war, aufgeregt durch die ihm neue Lectüre Hegelſcher Schriften, war in manchen Exemplificationen glücklich, ließ aber in Anſehung der Klarheit viel zu wünſchen über. Er ſagt S. 93: „Wenn ſich der endliche Geiſt in ſeiner Endlichkeit gegen ſeine Wahrheit, den abſoluten Geiſt, feſthält und geltend macht, ſo wird dieſer ſich ſelbſt genügen wollende Geiſt als Erkenntniß die Unwahrheit, als Wille, der ſich losſagt und in ſeiner Endlichkeit nur ſich beabſichtigt, das Böſe, und beides, wenn es zur Erſcheinung kommt, das Häßliche.“ Die Folge dieſer engen Umgrenzung iſt bei ihm, daß er, wenn er das Häßliche beſchreibt, faſt nur an die Hoffmann'ſche und Heine'ſche Poeſie denkt. — Bohtz: Ueber das Komiſche und die Komödie, Göt¬ tingen 1844, S. 28–51. hat den Begriff des Häßlichen etwas freier und allgemeiner, aber auch noch als den „verkehrten Geiſt“, als die auf „den Kopf geſtellte Schönheit“ genommen. — Kuno Fiſcher iſt gänzlich wieder Ruge und Weiße gefolgt in ſeiner: Diotima oder


28 * � [436/0458] die Idee des Schönen, Pforzheim 1849, S. 236–59. Das Häßliche iſt ihm als die Kehrſeite des Erhabenen der entſchiedene Widerſpruch des ſinnlichen Daſeins gegen das Ideale; das Vermögen des Häßlichen hat nach ihm nur der ſittliche Geiſt und nur in der Menſchenwelt iſt für ihn das Häßliche eine äſthetiſche Wahrheit. S. 259.: „Die frivolen Römer und die erſtarrten Juden ſind der letzte Ausdruck der entſeelten Vorwelt, wie die lüſternen Mönche und die verweichlichten Chalifen der Triumph des Häßlichen über die Ideale des gläubigen Katholicismus und des muthigen Islam ſind. So wird das Häßliche auf einen Augenblick das Schickſal des Erhabenen im Begriff des Schönen, wie in der Geſchichte der Menſchheit.“

(3) S. 9. Hauff: Moden und Trachten. Fragmente zur Geſchichte des Coſtüms. Tübingen und Stuttgart 1840, S. 17–23.

(4) S. 17. Durch die Howard'ſche Theorie iſt ſelbſt die flüchtige Geſtaltung der Wolken auf gewiſſe Grundformen zurückge¬ führt. Wir haben hier die von Reiſenden und von Dichtern ſo oft und mannigfach geſchilderten äſthetiſchen Eindrücke der Wolken im Auge, die unter Anderm in Novalis Heinrich von Ofterdingen, Schriften I., 3te 1815, S. 238. vorzüglich ſo gegeben iſt: „Sie — die Wolken — ziehen und wollen uns mit ihrem kühlen Schatten auf und davon nehmen, und wenn ihre Bildung lieblich und bunt, wie ein ausgehauchter Wunſch unſers Innern iſt, ſo iſt auch ihre Klarheit, das herrliche Licht, was dann auf Erden herrſcht, wie die Vorbedeutung einer unbekannten, unſäglichen Herrlichkeit. Aber es giebt auch düſtre und ernſte und entſetzliche Umwölkungen, in denen alle Schrecken der alten Nacht zu drohen ſcheinen: nie ſcheint ſich der Himmel wieder aufheitern zu wollen, das heitere Blau iſt vertilgt, und ein fahles Kupferroth auf ſchwarzgrauem Grunde weckt Grauen und Angſt in jeder Bruſt. u. ſ. w.“

(5) S. 18. Von den hier genannten Namen iſt der Oerſtedts in den letztern Jahren bei uns auch dem größern Publicum bekannt genug geworden, da die Manie der Deutſchen, für das Fremde ſich zu begeiſtern, eine Concurrenz von Ueberſetzungen ſeiner populären Schriften hervorrief. Bernardin St. Pierre iſt zwar dem Namen nach bei uns bekannt genug, da er durch ſeine Erzählung, Paul und Virginie, der Unterhaltungsliteratur ſeit lange angehört und Kupferſtiche, ja Ballette, dieſen Stoff und den Namen ſeines Autors weit genug verbreitet haben. Das Buch aber, was wir hier meinen, ſind ſeine Ètudes de la nature, 3 Tomes (in der Pariſer Ausgabe, die wir vor uns haben, 1838, chez Desleds), ein Buch, worin wegen der Polarzone unhaltbare Hypotheſen vorkommen, das aber

� [437/0459] außerdem einen Schatz der vielſeitigſten Beobachtung und einen Reich¬ thum der ſchönſten Naturgemälde enthält, der nur von Wenigen genoſſen und benutzt zu ſein ſcheint. I. Viſchers Abhandlung über das Naturſchöne findet ſich in ſeiner Aeſthetik, Bd. II, Erſte Ab¬ theilung, 1847, und iſt eine der ausgezeichnetſten Arbeiten, die wir auf dieſem Felde beſitzen. Hätten die Deutſchen ſich an dieſe Arbeit, oder auch nur an die Abtheilung von Kant's Kritik der Urtheilskraft erinnern wollen, die von der Teleologie handelt, ſo würden ſie nicht ſich eingebildet haben, durch Oerſtedt etwas ganz Neues zu erfahren.

(6) S. 18. F. A. Schmidt: Mineralienbuch, oder allge¬ meine und beſondere Beſchreibung der Mineralien. Mit 44 colorirten Tafeln. Stuttgart 1850, 4. Thiere und Pflanzen ſind oft genug abgebildet worden, Mineralien ſelten. Dies Buch iſt daher ein erfreulicher Fortſchritt. Der Herausgeber ſagt mit Recht: „Es iſt nichts Leichtes, ein Mineral abzubilden, und gar tüchtige Künſtler, die es unternahmen, haben das begonnene Werk verlaſſen. Die ſtarren, lebloſen Formen widerſtreben dem Künſtlerſinn, jede Veränderung der Stellung ruft andere Reflexe, ja völlig verſchiedene Farbentöne hervor, und den Grad des Glanzes darzuſtellen iſt durchaus unmöglich. Die Geduld tüchtiger Maler pflegt in Bezug auf derlei Arbeiten, zu denen kein inneres Motiv ſie treibt, nicht übergroß zu ſein, und manche Farben dieſer Gnomenwelt ſind auch, mit allem Fleiß, — völlig unerreichbar. Welche Schwierigkeit bei dieſen Umſtänden nur die Auswahl der Objecte hat, iſt leicht denkbar.“

(7) S. 18. Man ſehe die Abbildungen dieſer merkwürdigen Gegenden in dem zu Carlsruhe erſchienenen Stahlſtichwerk: China, hiſtoriſch, romantiſch, maleriſch. Da der Titel ſo wenig als die Einleitung eine Jahreszahl haben, ſo können wir auch keine angeben.

(8) S. 19. Die Abhandlung von Hausmann, die wir hier im Sinn haben, heißt: die Zweckmäßigkeit der lebloſen Natur, und ſteht in einem Bändchen, welches den beſcheidenen Titel führt: Kleinigkeiten in bunter Reihe, Göttingen 1839, l., S. 20 — 226. Auch die voranſtehende Abhandlung: über die Schönheit der belebten und unbelebten Natur, iſt vortrefflich. Beide ſind muſterhaft geſchrie¬ ben, wahre Zierden unſerer Nationalliteratur, obwohl unſere Literatoren, die jetzt Geſchichten unſerer „Nationalliteratur“ ganz fabrikmäßig zu Dutzenden herausgeben, nichts davon wiſſen. Trefflicher Hausmann, wärſt Du doch ein Ausländer, wärſt Du doch erſt durch ſchlechte Ueberſetzungen eingewandert — ja dann würde man von dieſen ſchönen Unterſuchungen wiſſen. — Die Aeſthetik der landſchaftlichen Geographie, die bei uns durch A. v. Humboldt in ſeinen Anſichten der Natur

� [438/0460] begründet wurde, iſt ſeitdem außerordentlich fortgeſchritten. Allein auch hier iſt der Mangel an Bewußtſein zu beklagen, der uns Deutſche um allen höhern Zuſammenhang bringt und uns Alles hundert Mal thun läßt. Es gibt eine ganz vorzügliche Abhandlung über: Aeſthe¬ tiſche Geographie, die den Aeſthetikern, nicht nur, ſondern auch den Geographen viel zu unbekannt geblieben iſt und die wir auch in Anſehung der darſtellenden Kunſt dem Beſten anreihen müſſen, was wir beſitzen. Sie ſteht aber in einem Sammelwerk und ſo iſt ſie nicht hinlänglich beachtet worden. Wir meinen: G. L. Kriegk: Schriften zur allgemeinen Erdkunde, Leipzig 1840, S. 220–370. Die zur Aeſthetik der Erdphyſiognomie gehörigen Schilderungen von Humboldt im Kosmos, von Schleiden (Die Pflanze und ihr Leben), von Maſius (Naturſtudien) u. A. ſind bekannter geworden. Ihnen reihet ſich ſo eben an: Bratraneck: Beiträge zur Aeſthetik der Pflanzenwelt, 1853.

(9) S. 19. Die Aeſthetik der Pflanzenform begründete eigentlich Jussieu durch ſein Aufſuchen des Familientypus; ſodann A. v. Humboldt: Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse. Tü¬ bingen 1806, 8. — Ein Kupferhandbuch der Giftpflanzen, worin man die vornehmſten ihrer zum Theil bezaubernden Formen und Farben überſehen kann, iſt das: Giftpflanzenbuch von Berge und Riecke, Stuttgart, zweite Aufl. 1850. 4. Daß die Giftpflanzen ſich durch den übeln Geruch verrathen ſollen, iſt auch nur ſehr beſchränkt wahr, Veilchen aber, Kirſche, Lorbeer, die ſo ſtarke Gifte enthalten, riechen vortrefflich. — In Anſehung der Urwelt iſt zwiſchen den Thieren und Pflanzen derſelben der Unterſchied, daß auch ihre Pflanzen ſchön, ja erhaben ſind. Man vergleiche Unger's Urwelt, mit den nach ſeiner Angabe von Kuwaſſeg ausgeführten, wovon ich in Prutz Deutſchem Muſeum, 1852, I., S. 62–69 eine Ueberſicht gegeben habe.

(10) S. 21. Grandville in ſeinen Fleurs animées hob bei der Runckelrübe und dem Zuckerrohr zuerſt den komiſchen Zug hervor, den Barin hinterher auf die Cucurbitaceen und Rüben, aber, wie uns ſcheint, mit ungleichem Erfolg, anwandte.

(11) S. 22. Die äſthetiſche Betrachtung der Thiere iſt noch ſehr im Rückſtand gegen die der Pflanzen. Außer der ſchon oben gerühmten Abhandlung Viſchers wüßte ich kaum eine Arbeit von Belang zu nennen, die ſich hier zu allgemeineren Geſichtspuncten erhoben hätte. Scheitlins Verſuch einer allgemeinen Thierſeelenkunde, 1840, 2 Bde. ſcheint mir noch das Beſte, was die Naturforſcher ſelber gegeben haben, ich müßte denn bis auf des Ariſtoteles Thier¬ geſchichte zurückgehn wollen.

� [439/0461] (12) S. 24. Daub: Judas Iſcharioth oder das Böſe in Verhältniß zum Guten, Zweites Heft, I. Abtheil. Heidelberg 1818, S. 350. ff. Eine Hauptſtelle S. 352.: „Der gewaltſame Tod z. B. einer ganzen, einſt in den Fluthen untergegangenen Thierwelt iſt darum nicht weniger gewaltſam, alſo nicht weniger widernatürlich, weil ſie etwa wie verſuchsweiſe entſtanden war, und er, nachdem die Fluthen ihre Canäle und Becken gefunden hatten, für eine andre und vielleicht für das Menſchengeſchlecht ſelber auf Erden, wie aus Abſicht und Vorbedacht, Platz gemacht — Euch aber Gelegenheit gegeben hat, an den Gerippen jener Urthiere (?) Eure Neugierde zu befriedigen, und an ihrem Gebiß Euren Witz zu ſchärfen. Daran, daß ſie, ſtatt ihr Leben zu verleben, erſäuft, erſtickt, oder in irgend anderer Art um¬ gebracht worden, mag ihnen Recht geſchehen ſein; ihre gewaltſame Vertilgung bleibt nichts deſto weniger eine Ermordung, die durch das in der Natur Unnatürliche, nicht aber durch die Natur ſelbſt, ge¬ ſchweige durch die Gottheit geſchah. Dieſelbe tückiſche Gewalt, die dort (ſ. Luc. 8, 33.) eine Heerde Säue ins Waſſer ſtürzt, daß ſie erſaufen, ſtürzte hier die Gewäſſer über Eure Mammuths und Höh¬ lenbären, über Eure Megatherien und andre ſolche Beſtien her; und eben ſie, die in jedem Element gleichſam wie im Hinterhalt, lauert, nicht aber das Element ſelber iſt es, wodurch, wie z. B. Erdbeben, örtliche Ueberſchwemmungen und ſonſtige Calamitäten lehren, das Leben der Thiere, die Werke des Menſchen, und ſelbſt das Leben dieſes, mit Freiheit und Vernunft ausgerüſteten, Königs der Erde immer noch und immerfort gefährdet wird, denn „was fragen, mit dem Dichter zu reden, die brüllenden Wogen im Sturm nach dem Namen eines Königs?“ Die Natur hat ihre Schrecken, aber das in ihr Schrecken Erregende iſt weder die Natur ſelbſt, ſie, ein Werk der ewigen Liebe, noch die Uebernatur, ſie, die ewige Liebe ſelber; und wenn Euch der Glaube an die göttliche Macht fehlt, die Wind und Meer bedräuet, ſo daß es ſtille wird (Matth. 8, 26.), wird ihn Eure Meinung von der phyſiſchen Nothwendigkeit des ſogenannten phyſiſchen Uebels erſetzen? Oder wiſſet Ihr Euch etwa ſo ſicher, daß obgedachte Schrecken für Euch keine ſind?“ Eine Widerlegung dieſer Theorie habe ich in meiner Abhandlung: über die Verklärung der Natur, in den Studien I., 1839, S. 155 ff., verſucht und den Punct der Häßlichkeit, ſo weit er hier einſchlägt, S. 185–92 berührt.

(13) S. 41. Göthe, Werke, 28., S. 111–119. Wir wollen aus den Thorheiten des Prinzen Pallagonia die Elemente ſeiner Tollheit, wie Göthe ſich ausdrückt, herausheben. S. 115: „Menſchen: Bettler, Bettlerinnen, Spanier, Spanierinnen, Mohren,

� [440/0462] Türken, Buckelige, alle Arten Verwachſene, Zwerge, Muſikanten, Pul¬ cinelle, antik coſtumirte Soldaten, Götter, Göttinnen, altfranzöſich Gekleidete, Soldaten mit Patrontaſchen und Gamaſchen, Mythologie mit frazzenhaften Zuthaten: Achill und Chiron mit Pulcinell. Thiere: nur Theile derſelben, Pferd mit Menſchenhänden, Pferdekopf auf Menſchen¬ körper, entſtellte Affen, viele Drachen und Schlangen, alle Arten von Pfoten an Figuren aller Art, Verdoppelungen, Verwechſelungen der Köpfe. Vaſen: alle Arten von Monſtren und Schnörkeln, die unter¬ wärts zu Vaſenbäuchen und Unterſätzen endigen. — Denke man ſich nun dergleichen Figuren ſchockweiſe verfertigt und ganz ohne Sinn und Verſtand entſprungen, auch ohne Wahl und Abſicht zuſammengeſtellt, denke man ſich dieſe Sockel, dieſe Piedeſtale und Unformen in einer unabſehbaren Reihe, ſo wird man das unangenehme Gefühl mit empfinden, das einen jeden überfallen muß, wenn er durch dieſe Spitz¬ ruthen des Wahnſinns durchgejagt wird.“

„Das Widerſinnige einer ſolchen geſchmackloſen Denkart zeigt ſich aber im höchſten Grade darin, daß die Geſimſe der kleinen Häuſer durchaus ſchief nach einer oder der andern Seite hinhängen, ſo daß das Gefühl der Waſſerwage und des Perpendikels, das uns eigentlich zu Menſchen macht und der Grund aller Eurythmie iſt, in uns zerriſſen und gequält wird. Und ſo ſind denn auch dieſe Dachreihen mit Hydern und kleinen Büſten, mit muſicirenden Affenchören und ähnlichem Wahn¬ ſinn verbrämt. Drachen mit Göttern abwechſelnd, ein Atlas, der ſtatt der Himmelskugel ein Weinfaß trägt. — Gedenkt man ſich aber aus allem dieſem in das Schloß zu retten, welches, vom Vater erbaut, ein relativ vernünftiges äußeres Anſehn hat, ſo findet man nicht weit von der Pforte den lorbeerbekränzten Kopf eines römiſchen Kaiſers auf einer Zwerggeſtalt, die auf einem Delphin ſitzt“.

(14) S. 43. Nach Levezow's Abhandlung über das Gor¬ gonenideal hatte die Entwicklung deſſelben drei Momente. Zuerſt war es ein Thiergeſicht; ſodann wurde es eine Maske mit blökender Zunge; endlich ein menſchliches Geſicht, deſſen Schönheit aber allmälig charak¬ terlos wurde und das Meduſenhafte nur noch attributiv durch die Haare und Flügel andeute. Die φοβερα χαρις, die wir an der Meduſe Rondanini bewundern, verſchwand zuletzt.

(15) S. 44. Anſelm Feuerbach: der Vaticaniſche Apollo. Eine Reihe archäologiſch-äſthetiſcher Betrachtungen. Nürnberg 1833. Feuerbach, der nun ſchon Dahingeſchiedene, nimmt einen äußern Haupt¬ beweis für ſeine Anſichten daher, daß die meiſten Werke in der gefügigen Bronze, welche die volle Freiheit des Meiſters geltend machen konnten, untergegangen ſind. F 75: „Wären die Bronzeſtatuen von Athleten

� [441/0463] und Ringern, welche die Altis von Olympien bevölkerte, noch erhalten, oder nur die Marmororiginale der Thyaden und Tänzerinnen, deren ſchwache Schatten auf Reliefs und mittelmäßigen Wandgemälden noch unſer Auge feſſeln, ſo würde ſich hier für uns eine ganz neue Quelle der Bewunderung eröffnen; wir würden ſtaunen über die Meiſterſchaft jener Künſtler, welche im vollen Gefühl ihrer Sicherheit, das Aeußerſte wagen durften, und wirklich wagten. Wir würden es ihnen Dank wiſſen, daß ſie ſich nicht ſtill bedachtſam, jede freiere Bewegung ſcheuend, innerhalb der vier Pfähle reinſter Plaſtik gehalten; wir würden dem Künſtler freudig folgen, wenn er die ſchwindelnde Bahn bis zum äußerſten Gipfel ſeiner Kunſt wagt, und erſt dann den Meißel niederlegt, wenn ihn das Zerrbild lebloſer Unnatur zurückſchreckt, oder ihm als Bildner ſeiner Götter, — die Grazie, dieſe Nemeſis der Kunſt, innezuhalten gebietet. Nichts lag außerhalb dem Bereich des Griechiſchen Künſtlers, als der Tod der Aegyptiſchen Ruhe“.

(16a) S. 44. Angeregt durch die Zeichnungen der Gebrüder Riepenhauſen, hat ſich Göthe viel Mühe gegeben, die Polygno¬ tiſchen Bilder in der Atheniſchen Poikile und Delphiſchen Leſche zu ordnen. Sie ſtellten eine Art von epiſchem Panorama vor. Aus den uns erhaltenen Beſchreibungen, wie unvollkommen ſie ſeien, erkennt man doch immer die Stoffe der Malerei und aus dieſen, daß dieſelben nichts Furchtbares von ſich ausſchloßen. Die gewöhnlichen aus Win¬ kelmann und Leſſing geſchöpften Vorſtellungen von der Delicateſſe, mit welcher die bildende Kunſt das Häßliche gemieden habe, reichen hier nicht zu. Ich will von zerſtückten Leibern ſchweigen, die man in den Krippen den Pferden unter den Häckſel geſtreuet ſah u. dgl.; ich will aus des Pauſanias Bericht von dem Bilde in der Delphiſchen Leſche, welches den Beſuch des Odyſſeus in der Unterwelt darſtellte, nur Einiges, minder Schreckliche anführen: „Unter Charons Rachen wird ein vatermörderiſcher Sohn von ſeinem eigenen Vater erdroſſelt. Zunächſt wird ein Tempelräuber geſtraft. Das Weib, dem er über¬ liefert iſt, ſcheint ſowohl jede Arzneimittel, als alle Gifte, mit denen man die Menſchen tödtet, ſehr wohl zu kennen. Ueber dieſen Be¬ nannten ſieht man den Eurynomos, welcher unter die Götter der Unter¬ welt gezählt wird. Man ſagt, er verzehre das Fleiſch der Todten und laſſe nur die Knochen übrig. Hier iſt er ſchwarzblau vorgeſtellt. Er zeigt die Zähne und ſitzt auf dem Fell eines Raubthiers u. ſ. w.“

(16b) S. 53. Es ſollte dies eigentlich ſchon No. 17. ſein. Aus Verſehen iſt 16 wiederholt. Die im Text erwähnten Stellen ſind zwar oft genug gedruckt, indeſſen können wir uns wohl nicht entſchlagen, ſie auch hier noch einmal als eine wichtige Auctorität her¬

� [442/0464] zuſetzen. Ariſtoteles, de Poetica, V.: „ἡδε, ϰωμωδια ἐοτιν, ὡδπερ ἐιπομεν, μιμησις φαυλοτερων μεν, ὀυ μεντοι ϰατα πασαν ϰαϰιαν, ἀλλα του ἀισχρου, ὁυ εστι το γελοιον μοριον. το γαρ γεοιον ἐστιν ἁμαρτημα τι ϰαι ἀισχρος ἀνωδυνον, ϰαι ὀυ φϑαρτιϰον ὁιον ευϑυς το γελοιον προσωπον ἀισχρον τι ϰαι διεσταμμαενον ἀνευ ὀδυνης.“ Und Cicero de Oratore, ll. 58.: „Locus et regio quasi ridiculi turpitu¬ dine et deformitate quadam continetur: haec enim ridentur vel sole, vel maxime, quae notant et designant turpitudinem aliquam non turpiter“.

(17.) S. 69. Die Hauptſchrift Platons für dieſen Unter¬ ſchied wird immer der Philebos bleiben. Anderwärts zeigt er, daß das Schöne mehr iſt, als nur eine nützliche Luſt; mehr als das, was Liebe erregt, mehr als das Zweckmäßige; aber in dieſem Dialog kommt er zu poſitiven Beſtimmungen. Das Maaß iſt ihm hier der Grundbegriff. Der Natur des Zeus müſſe eine königliche Seele und königliche Vernunft einwohnen wegen der Kraft der Urſache. Vom Geiſt und zuleßt aus Zeus königlicher Seele alſo entſpringt jeg¬ liche Ordnung und nimmt jegliches Ordnende ſeinen Urſprung, ſo daß wir nicht in Verlegenheit ſein können, die Heimath, des Maaßes, der Zahl, der Beſtimmung (περας), des Begriffs oder der Idee der Dinge zu beſtimmen, das Maaß, μετρον, iſt dem Platon hier das Erſte; das auf dieſem ewigen Grunde beruhende Zweite iſt ihm το συμμετον ϰαι ϰαλον ϰαι το τελεον ϰαι ἱϰανον ϰαι πανϑ᾽ ὁποσα της γενεας ἀν ταυτης ἐστιν. Das Häßliche (δυσειδες) nennt er daher anderwärts alles das, was in allewege, πανταχου, zum Geſchlecht der ἀμετρια gehört. Man vergleiche A. Ruge: die Platonische Aesthetik, Halle 1832, S. 22 — 60. und Eduard Müller, Geſchichte der Theorie der Kunſt bei den Alten, Bd. I. Breslau, 1834, S. 58—72. Der letztere macht wegen des Begriffs der Harmonie und Anharmonie noch beſon¬ ders darauf aufmerkſam, daß man nach Philebos 25, d. e., 26, a., die γενεα του περατος, das ἰδον und διπλασιον, die Vereinigung des Entgegeſetzten, ἠ ὀρϑη του περαιος ϰαι ἀπειρου ϰοινωνια, von dem einfachen Begriff des Maaßes noch unterſcheiden müſſe.

(18) S. 72. In dieſem Aufſatz, der Sammler und die Seinigen, W. 38., hat Göthe im Grunde genommen den Gegen¬ ſatz der Idealiſten und der Charakteriſtiker, wie man ſich damals ausdrückte, abgehandelt und als Reſultat der hin und her wogenden Debatte folgendes Schema aufgeſtellt:

1. Ernſt allein; individuelle Neigung: Manier. a) Nach¬ ahmer. b) Charakteriſtiker. c) Kleinkünſtler. (Oder auch a) Copiſten, b) Rigoriſten, c) Mignaturiſten).

� [443/0465] 2. Spiel allein; individuelle Neigung: Manier. a) Phan¬ tomiſten. b) Unduliſten. c) Skizziſten. (Oder auch a) Ima¬ ginanten, b) Schlängler, c) Entwerfer).

3. Ernſt und Spiel verbunden; Ausbildung ins Allge¬ meine; Styl. a) Kunſtwahrheit. b) Schönheit c) Vollendung.

(19) S. 82. Im Text iſt ein Druckfehler. Es muß nicht Meilhart, ſondern Meilhant heißen. Dies merkwürdige Schloß iſt auf fünf Blättern abgebildet in J. Gailhabauds Denkmälern der Baukunst. Unter Mitwirkung von Franz Kugler und Jacob Burck¬ hardt herausgeben von Lud. Lohde . Bd. III. Denkmäler des Mittelalters, Sechste Abtheilung. Dieſe an ſich recht inſtructive und elegant ausgeführte Sammlung iſt leider von dem engſten Franzöſiſchen Geſichtspunct aus unternommen. Der Celtiſche, Römiſche, Romaniſch mittelaltrige und Italieniſche Bauſtyl ſind übermäßig darin bevorzugt. Hingegen ſind außerordentlich wichtige Entwicklungsglieder der Kunſt, z. B. die Architektur des Deutſchen Ordens, ganz übergangen. Das Schloß Meilhant iſt recht intereſſant, kann ſich aber doch nicht entfernt mit dem Schloß Marienburg meſſen, das man vergebens ſucht.

(20) S. 95. Aus dem Felde der Oper hätten wir eine höchſt fruchtbare Aehrenleſe der abſcheulichſten Albernheiten der poetiſchen Compoſition oder vielmehr Decompoſition der Poeſie entnehmen können, denn „des Lebens Unverſtand mit Wehmuth zu genießen“ iſt wohl nirgends ſo ſehr, als in unſerer dermaligen Opera ſeria und mezza, der Fall. Da jedoch Richard Wagner in ſeinem dreibändigen Werk über die Oper und das Drama die antipoetiſche Häßlichkeit der moder¬ nen Operntexte und inſonderheit auch die Schlechtigkeit, ja den Unſinn ihrer Ueberſetzungen, hinreichend gewürdigt hat, ſo haben wir uns auf dies einzige Beiſpiel beſchränkt.

(21) S 99. Das Marienburger Schloß iſt nicht all¬ mälig zuſammengebaut, ſo daß man ſolches Uebergreifen über blos ſymmetriſche Formen durch die Verſchiedenheit der Zeit und Anſetzen anderer Stylarten erklären könnte. Vielmehr wurde es urſprünglich in wenigen Jahren aus Einem Plan heraus erbauet, was alſo beweiſt, daß der hohe Kunſtſinn der Architekten aus der Fülle der Harmonie heraus ſich dergleichen Freiheiten gegen untergeordnetere äſthetiſche Forderungen, architektoniſche Fugen, erlaubte.

(22) S. 102. H. Hettner: Vorſchule der bildenden Kunſt der Alten, Oldenburg 1848, l., S. 307. ff.

(23) S. 107. Die Goualeuſe erzählt ſelbſt: „Je ne savais plus comment vivre. Elles m'ont emmenée. Elles m'ont fait boire de l'eau de vie! — Eh voilà!“

� [444/0466] „Je comprends, dit le Chourineur“.

Weiter ſagt E. Sue: „Par une anomalie étrange (ja wohl!) les, traits de la Goualeuse offrent un de ces types angéliques et can¬ dides, conservent leur idealité même au milieu de la dèpravation, comme si la créature était impuissante à effacer par ses vices la noble empreinte, que Dieu a mise au front de quelques êtres pri- vilégiés“.

Dieſe Art der Sophiſtik in den Mystères de Paris verdiente die ſchonungloſe Kritik, welche Paulin Limeyrac ihnen in der Revue des deux Mondes 1844, I., p. 74. ff. angedeihen ließ. Die äſthetiſche Kritik dieſes für den Begriff des Häßlichen in ſeiner carikirenden Manier ſo wichtigen Romans iſt noch ſchärfer gegeben in Schweglers Jahr¬ büchern der Gegenwart 1844, S. 655. ff. In demſelben Jahrgang iſt aber auch von W. Zimmermann S. 199 — 219, die culturhiſto¬ riſche Bedeutſamkeit dieſes Romans vertheidigt.

(24) S. 109. A. Hennenberger: das Deutſche Drama der Gegenwart, 1853, S. 64. ff. Dieſe kleine Schrift iſt eine der vernünftigſten, unparteiſchſten, gehaltreichſten, die wir über den frag¬ lichen Gegenſtand beſitzen.

(25) S. 121. Man vergleiche die Sammlung von Seroux d’ Agincourt, Malerei I., Taf. 40 ff.

(26) S. 122. Dieſe Statue befindet ſich jetzt im Muſeum von Nimes. Die Geſtalt hat viel Einſchmeichelndes. Von ihr konnte und durfte die Franzöſiſche Kritik ſagen: C'est la grâce elle même, et la vie, et la jeunesse, et le rhythme-dansant. Wir tadeln aber den Kopf oder vielmehr Kinn und Augen.

(27) S. 128, Gervinus Shakeſpeare, IV., 1850, S. 36.: „Auch heute noch müſſen wir die Wahrheit dieſer Auffaſſung anerkennen, die ſelbſt durch die oft wiederholte Ausſtellung nicht angefochten wird, es habe Shakeſpeare aus dem Römiſchen Volke Engliſche Bürger und Handwerker gemacht; da die Maſſen in Bewegung ſich überall, vollends in zwei ſo ſtaatsverwandten Völkern, gleich ſind, ſo iſt dieſer Tadel vielmehr nur ein Lob. Wir mögen es nicht im wörtlichſten Sinn ge¬ rade nachſprechen, was man auf der andern Seite rühmend geſagt hat, daß in dieſen Stücken der Charakter, die Schickſale, die Vater¬ landsliebe, der Kriegsruhm, die ächte Geſinnung, das öffentliche Leben der ewigen Stadt wieder aufgelebt ſei; aber wahr iſt es, daß die treue Herübernahme und lebendige Verarbeitung des Wenigen, was Shakeſpeare zur Charakteriſirung des Römiſchen Lebens im Plutarch erbeuten konnte, mehr werth iſt, als die genaueſte Zeitſchilderung aus den angeſtreng¬ teſten antiquariſchen Studien“.

� [445/0467] (28) S. 135. Brentano's Godwi iſt zu Bremen, 1802, in 2 Bden. erſchienen. Brentano nannte ſich Maria auf dem Titel und ſchrieb charakteriſtiſch genug auf denſelben: ein verwilderter Roman. In die Geſammtausgabe von Brentano's Schriften iſt dies merkwür¬ dige Buch, eine hyperromantiſche Nebenſonne der W. Meiſterſchen Lehrjahre, nicht aufgenommen, ſondern Bd. V. nur ein Fragmentchen daraus abgedruckt.

(29) S. 135. In Bratraneks Beiträgen zu einer Aeſthetik der Pflanzenwelt iſt mit Recht den Fleurs animées ein Capitel gewidmet worden und Bratranek ſagt S. 396. treffend: „Schon in ſeinen Scenen aus dem Privat- und öffentlichen Leben der Thiere hatte Grandville gezeigt, wie man die urſprüngliche Sinnigkeit des Sym¬ boliſirens von der höchſten Reflexion aus wieder hervorrufen könne, in¬ dem er, ſei es am Menſchen die thieriſche Seite, ſeien es am Thier Anklänge an menſchliche Verhältniſſe und Beziehungen, hervorhob und in der Thiermenſchenwelt ein getreues Abbild aller aus der Geſellſchaft hervorgehenden Mißrealitäten zuſammenſtellte. So geht er auch in ſeinen Fleurs animées, wie dort von den typiſch gewordenen Vorſtel¬ lungen, hier von der urſprünglich oder traditionell oder conventionell feſt geſtellten Bedeutſamkeit der Pflanze aus, und überträgt ſie nun in die Mienen, Haltung und Bekleidung der Frauen. Die Beſeelung, welche eine Pflanze durch's Symboliſiren von der menſchlichen Innigkeit erhielt, verleiht nun der Künſtler der im Vegetationstypus erſcheinenden menſchlichen Geſtalt, — es ſind menſchgewordene Blumen, welche wir vor uns haben, während die Symbolik das Menſchliche verblümt aus¬ ſprach. Immer, überall und in allen Formen weiß uns Grandville an ſolchen Menſchenpflanzen den Genius ſelbſt der Landſchaft aufleuchten zu machen.“

(30) S. 137. Lucian, in der Ueberſetzung von Pauly, ſagt am Schluß ſeiner Vorrede zu den wahren Geſchichten: „Ich ge¬ ſtehe, daß ich allen dieſen Leuten, ſo viele mir deren vorgekommen ſind, das Lügen an und für ſich um ſo weniger zum Vorwurf machen konnte, als ich ſah, wie geläufig daſſelbe ſogar Männern iſt, welche ſich den Titel Philoſophen beilegen: nur darüber mußte ich mich wun¬ dern, wie Jene ſich einbilden konnten, die Leſer würden nicht merken, daß an ihren Erzählungen (Homer, Jambolos, Kteſias) kein wahres Wort ſei. Zugleich war ich eitel genug, der Nachwelt auch ein Werk¬ chen von meiner Feder hinterlaſſen zu wollen, um nicht allein auf das Recht und die Freiheit, Mythen zu ſchaffen, verzichten zu müſſen. Denn Wahres zu erzählen hatte ich nichts (was ich in meinem Leben erfahren, iſt der Rede nicht werth); und ſo mußte ich mich zur Lüge

� [446/0468] entſchließen, doch ſo, daß ich dabei ein wenig aufrichtiger, als die Ue¬ brigen, zu Werke ginge. Denn ich ſage doch wenigſtens die Eine Wahrheit; ich lüge. Durch dieſes freie Geſtändniß hoffe ich allen Vorwürfen wegen des Inhalts meiner Geſchichte zu entgehen. So er¬ kläre ich denn feierlich: Ich ſchreibe von Dingen, die ich weder ſelbſt geſehen, noch erfahren, noch von Andern gehört habe, und die eben ſo wenig wirklich, als je möglich ſind. Nun glaube ſie, wer Luſt hat!“

(31) S. 149. Kant in der Kritik der Urtheilskraft, Analytik des Schönen, §. 17., vom Ideal, unterſcheidet zwiſchen dieſen und der Normalidee. „Dieſe iſt nicht aus von der Erfahrung herge¬ nommenen Proportionen als beſtimmten Regeln abgeleitet, ſondern nach ihr werden allererſt Regeln der Beurtheilung möglich. Sie iſt das zwiſchen allen einzelnen, auf mancherlei Weiſe verſchiedenen, An¬ ſchauungen der Individuen ſchwebende Bild für die ganze Gattung, welches die Natur zum Urbilde ihren Erzeugungen in derſelben Species unterlegte, aber in keinem Einzelnen völlig erreicht zu haben ſcheint. Sie iſt keineswegs das Urbild der Schönheit in dieſer Gattung, ſondern nur die Form, welche die unnachlaßliche Bedingung aller Schönheit ausmacht, mithin blos die Richtigkeit in Darſtellung der Gattung.“

(32) S. 156. Dr. Franz Kugler: Ueber die Polychromie der Griechischen Architektur und Sculptur und ihre Grenzen Berlin 1835. 4.

(33) S. 161. S. H. Ulrici: Ueber Shakeſpeare's dra¬ matiſche Kunſt. Halle 1839, S. 146 und 174.

(34) S. 163. S. die Einleitung zu Genthe's Geschichte der Macaronischen Poesie und Sammlung ihrer vorzüglichsten Denkmale. Halle 1829.

(35a) S. 168. Weiße: Syſtem der Aeſthetik, l, S. 177. S. 178. ſagt er: „Dafern die abſtracten Beſtimmungen, wie Schön¬ heit, Häßlichkeit u. ſ. w. überhaupt nicht ganz leer bleiben, ſondern etwas bedeuten ſollen, ſo müſſen ſie auch in dieſe Stellung des Wider¬ ſpruchs unter einander gebracht weiden, damit durch jene Abſtraction nicht ihre dialektiſche Wahrheit und Lebendigkeit verloren gehe.“

(35b) S. 172. Ich werde aus dem artiger, als Voß, überſetzenden Droyſen die Stelle beibringen:

— — — es pocht ja ſchon Gevatter Stuhlgang brummend an die Hinterthür — Dies Unterröckchen muß ich nehmen von meiner Frau, Einfahren ſchnell in ihre Perſerpantöffelchen!

(Steht auf, zieht ſich die Weiberkleidung an).

� [447/0469] Wo aber gleich ein Plätzchen, wo man ungeſehn Hofirte? Ach, bei Nacht ſind alle Katzen grau. (Geht vorn auf das Proscenium hin). Hier wird mich jetzt mein Häufchen Niemand legen ſehn!

(36) S. 177. Schiller war mit Fichte in Streit gerathen. Fichte hatte ihm für ſein Journal eine Abhandlung über Geiſt und Buchſtab zugeſchickt. Schiller wollte dieſelbe nicht ſo, wie ſie war, abdrucken, weil er am Vortrag auszuſetzen fand, Fichte vertheidigte ſich mit großem Stolz und Schiller beſtand auf der Forderung, daß für eine äſthetiſchbefriedigende Darſtellung Begriff und Bild in Wechſelwirkung mit einander treten müßten. Dieſer Streit in einem uns nun gedruckt vorliegenden Briefwechſel hat Schiller wohl zu der Abhandlung: über die nothwendigen Grenzen beim Gebrauch ſchöner Formen, 1795, angeregt, in welcher wir, freilich nur in eine Anmerkung geworfen, die von mir im Text citirten Worte finden.

(37) S. 178. Ruge: Neue Vorſchule der Aeſthetik, S. 75 –77. Nach ihm Fiſcher in der Diotima, S. 198 ff. „Was wir in der Natur gewöhnlich erhaben nennen, iſt weit mehr der Ausdruck des Affects, als eine äſthetiſche Ueberzeugung. Die Natur erhebt uns nicht, ſie imponirt uns nur.“

(38) S. 186. Voltaire im Prolog zur Pucelle gibt in einem einzigen Zuge die ganze Richtung an, die er in dem Gedicht verfolgt. Er rühmt die Wunder der Tapferkeit und des Glaubens, welche Jeanne vollbrachte. —

Jeanne d'Arc eut un coeur de lion : Vous le verrez, si lisez cet ouvrage. Vous tremblerez de ses exploits nouveaux; Et le plus grand de ses rares travaux Fut, de garder un an son pucelage.

(39) S. 197. Es erben ſich, nach Göthe's bekannten Worten im Fauſt, Geſetz und Rechte, wie eine ewige Krankheit fort. Aber es erben ſich auch Urtheile über Menſchen und Bücher als eine ewige Krankheit fort. Diderot und ſeine Schriften gehören zu den Gegen¬ ſtänden, an welchen unwiſſende und befangene Menſchen ihr Müthchen zu kühlen pflegen, indem ſie die Abſcheulichkeit dieſes Atheiſten, dieſes Herausgebers der Encyklopädie, dieſes Verfaſſers unſittlicher Romane, mit recht derben Worten brandmarken, ohne Diderot und ſeine Werke zu kennen. Es gilt einmal für ausgemacht, daß man ſeiner und ihrer nur im Ton ſittlicher Entrüſtung erwähnen dürfe. Ich habe ſchon früher anderwärts eine größere Billigkeit der Beurtheilung Diderots auch bei uns einzuleiten verſucht. Ich habe aufmerkſam gemacht, wie

� [448/0470] Leſſing, Göthe, Schiller, Varnhagen, Moritz Arndt, über ihn denken. Wegen des Jacques will ich hier nur bemerken, daß Diderot ſelbſt über den Vorwurf des Cyniſchen ſich darin verheidigt, Oeuvres, éd. Naigeon, XI., p. 333 ff. Man irrt ſich, wenn man meint, daß in dem Fataliſten nur cyniſche Geſchichten vorgetragen würden. Die tragiſche Geſchichte der Marquiſe de la Pommeraye, welche die Wirthin erzählt, nimmt ein Drittel des Ganzen ein. Sie iſt von Schiller unter dem Titel: Merkwürdiges Beiſpiel einer weiblichen Rache, in der Rheiniſchen Thalia, I., S. 27. ff. 1785, überſetzt. Das Thema, nämlich die Idee des Schickſals, des objectiven Zuſammenhangs der Begebenheiten, wird gleich in den erſten Worten der Schrift, die man nur ſehr uneigentlich einen Roman nennen kann, feſtgeſtellt. „Jacques disoit, que son capitaine disoit, que tout ce qui nous arrive de bien et de mal ici bas étoit écrit là haut.

Le Maitre. C'est un grand mot que cela. Jacques. Mon capitaine ajoutoit, que chaque balle, qui partoit d'un fusil, avoit son billet.

(40) S. 206. Hauſer's Bethlehemitiſcher Kindermord zeigt uns nur eine Verſammlung unglücklicher Mütter, welche die Leichname ihrer Kinder, aus deren Wunden das Blut rieſelt, anſtarren. Dieſe Monotonie gibt dem ſchön gemalten Bilde etwas höchſt Triſtes, ja Langweiliges. Wie anders hat der alte Le Brun dies Sujet behandelt! Bei ihm ſieht man auch getödtete Kinder, traurende Mütter, aber man ſieht auch Mütter, welche ihre Kinder zu retten verſuchen, welche den Kriegern ſich entgegenwerfen, welche mit den Kriegern kämpfen. Man ſieht, daß die Mutterliebe es den Soldaten, die ſogar zu Pferde einherſprengen, mit Speeren nach den Kindern ſtoßen, nicht leicht macht, den entſetzlichen Befehl auszuführen. Ueberdem blickt man über einen weiten Raum hinweg. Ein großer offener Platz, im Hintergrund eine Brücke, auf welcher ſich Soldaten und fliehende Weiber drängen, mannigfaltige Gruppen. Bei Hauſer eine gefängni߬ artige Abſchließung.

(41) S. 211. Hegel Aeſthetik, III., 1838, S. 123. „Wir ſehen deshalb keine gemeinen Empfindungen und Leidenſchaften vor uns, ſondern das Bäuriſche und Naturnahe in den untern Ständen, das froh, ſchalkhaft, komiſch iſt. In dieſer unbekümmerten Ausge¬ laſſenheit ſelber liegt hier das ideale Moment: es iſt der Sonntag des Lebens, der Alles gleichmacht und alle Schlechtigkeit entfernt; Menſchen die ſo von ganzem Herzen wohlgemuth ſind, können nicht

� [449/0471] durch und durch ſchlecht und niederträchtig ſein. Es iſt in dieſer Rückſicht nicht daſſelbe, ob das Böſe nur als momentan oder als Grundzug in einem Charakter heraustritt. Bei den Niederländern hebt das Komiſche das Schlimme in der Situation auf, und uns wird ſogleich klar, die Charaktere können auch noch etwas Anderes ſein, als das, worin ſie in dieſem Augenblick vor uns ſtehen. Solch eine Heiterkeit und Komik gehört zum unſchätzbaren Werth dieſer Gemälde. Will man dagegen in heutigen Bildern der ähnlichen Art pikant ſein, ſo ſtellt man gewöhnlich etwas innerlich Gemeines, Schlechtes und Böſes ohne verſöhnende Komik dar. Ein böſes Weib z. B. zankt ihren betrunkenen Mann in der Schenke aus, und zwar recht biſſig; da zeigt ſich denn, wie ich ſchon früher einmal anführte, nichts, als daß Er ein liederlicher Kerl und Sie ein giftiges altes Weib iſt.“ — Hotho, Geſchichte der Deutſchen und Niederländiſchen Malerei, Berlin 1842, I., S. 137. ff. „Der Künſtler, der ſich auf dieſen Kreis gemeiner Täglichkeit und intereſſeloſen Scheines concentriren, aus ihm ſeine alleinige Norm entlehnen und gewaltſam den Muth ſeiner erniedrigenden Begeiſterung ſchöpfen wollte, würde ſelbſt bei dem höchſten Grade formeller Geſchicklichkeit dadurch nichts Andres gethan haben, als aus der Sphäre der Kunſt überhaupt heraus¬ getreten zu ſein“

(42) S. 214. W. Gringmuth : de Rhyparographia. Dipu¬ tatio philosophica. Vratislaviae, 1883, 8. Dieſe fleißige und intereſſante Abhandlung hat das Schickſal der meiſten akademiſchen Diſſertationen, ungekannt und ungenannt zu verkommen. Gringmuth hat in der Einleitung verſchiedene Definitionen des Häßlichen geſammelt, ſtellt ſich ſelbſt ziemlich auf den Weißeſchen Standpunct, kann ſich aber gar nicht in die Komik finden und ſchließt ſeine Anſicht in Göthe's Verſen ab:

Dann zuletzt iſt unerläßlich Daß der Dichter Manches haſſe; Was unleidlich iſt und häßlich, Nicht wie Schönes leben laſſe.

(43) S. 218. Ueber Peire Vidal ſ. Fr. Diez Leben und Werke der Troubadours, Zwickau 1829, S. 149. ff. Lichtenſteins Verrücktheiten ſind durch ſeinen Frauendienſt bekannt genug.

(44) S. 222. Wegen des Grotesken wäre noch anzuführen, daß Leſſing in einem kleinen Aufſatz ſeinen Urſprung aus dem Aegyp¬ tiſchen ableitet. Aber ſein Urſprung an und für ſich liegt in der Natur der Sache. Eben ſo gut könnte man es aus dem Chineſiſchen oder


Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 29 � [450/0472] Indiſchen ableiten. Das im Text citirte Buch heißt: la Passion de Notre Seigneur J. O. en vers burlesques, und erſchien 1649. Dies Buch war poetiſch ſchlecht, aber ganz ernſt gemeint, nicht etwa parodiſch. Die burlesken Verſe waren nur ein Buchhändlerkniff für größern Abſatz.

(45) S. 224. Von dieſen Mitteln hat die Poſſe zu allen Zeiten, bei allen Völkern, einen reichlichen Gebrauch gemacht. Eine gewiſſe äſthetiſche Uebervornehmheit blickt zwar auf das Poſſenhafte mit verächtlichem Mitleid hinunter, aber daſſelbe hat ſo gut ſein Recht, als die ſogenannte feine oder hohe Komik, die neuerdings bei uns ſo fein geworden iſt, daß man ſie richtiger wohl langweilig nennt.

(46) S. 234. Carl Vogt: Bilder aus dem Thierleben. Frankfurt a. M. 1852, S. 433: „Kennt man etwa die wirklich wahre Geſchichte von dem Freunde des Förſters nicht, welcher ſich in dem Zimmer allein glaubte, eine tönende Unſchicklichkeit ſich zu Schulden kommen ließ und zu ſeinem Erſtaunen ſah, wie plötzlich die unter Tiſchen und Stühlen liegenden Hunde in lautes Wehgeheul ausbrachen und unter allen Zeichen der Angſt ſich endlich aus den Fenſtern der Parterrewohnung in den Garten ſtürzten? Der Förſter, als er wieder herein kam, errieth ſogleich die Urſache des plötzlichen Tollgewordenſeins ſeiner Hunde. Er prügelte jedesmal, ſobald eine der Beſtien das Zimmer verpeſtete, die ganze thieriſche Geſellſchaft zur Strafe ab, da er den Schuldigen weder ſuchen wollte, noch konnte.“

(47) S. 236. Man ſehe ihre Abbildungen bei Raoul - Rochette, Musée secret, Tafel 37, 40 und 42.

(48) S. 237. O. L. B. Wolff: Allgemeine Geſchichte des Romans von deſſen Urſprung bis zur neueſten Zeit. Jena 1841, S. 324. ff.

(49) S. 238. T. Delord führt den Chicard auf die Weinleſen von Burgund zurück. Geſang und Tanz des Chicard faßt er als Parodie der Liebe auf. S. 371.: n'est point une c'est encore une parodie; parodie de l'amour, de la grâce, de l'ancienne politesse fran¬ çaise, et, admirez jusqu'où peut aller chez nous l'ardeur de la dérision! parodie de la volupté; tout est réuni dans cette comédie licencieuse qu'on nomme le chahut . Ici les figures sont remplacées par des scènes; on ne danse pas, on agit, le drame de l'amour est représenté dans toutes ses péripéties, tout ce qui peut contribuer à en faire deviner le dénoûment. est mis en oeuvre; pour aider à la vérité de sa pantomime, le danseur, ou plutôt l'acteur, appelle ses muscles à son secours; il s'agite, il se disloque, il tous ses mouvemens ont un sens, toutes ses contorsions sont des emblèmes; ce que les

� [451/0473] bras ont indiqué, les yeux achèvent de le dire; les hanches et les reins ont aussi leurs figures de rhétorique, leur éloquence. Ef¬ frayant assemblage de cris stridents, de rires conoulsifs, de dissonances gutturales, d'inimaginables conforsions. Danse bruyante, effrénée, satanique , avec ses battemens de mains, ses évolutions de bras, ses frémissements de hanches, ses tressaillements de reins, ses tré¬ pignements de pieds, ses attaques du geste et de la voix; elle saute, glisse, se plie, se courbe, se cabre; dévergondée, furieuse, la sueur au front, l'oeil en feu, le délire au visage. Telle est cette danse, que nous venons d'indiquer, mais dont nulle plume ne peut retracer l'insolence lascive, la brutalité poétique, le dévergondage spirituel; le vers de Pétrone ne serait pas assez large pour la contenir; elle effraierait même la verve de Piron,“ Aber damals ſchon, 1841, glaubte Delord, daß der Chicard den Moment des höchſten Glanzes erreicht habe. „Il se croit assez puissant, pour méconnaître son origine populaire; il tourne depuis quelque tems d'une façon déplorable à l'aristocratie; il fait l'homme célèbre, l'artiste, le lion. — Chicard s'en va!“ Stahr hat nur noch ſeine froſtige Ausartung geſehen.

(50) S. 240. Arthur Schopenhauer, die Welt als Wille und Vorſtellung, Leipzig, Bd. II., 1844, S. 531–564. Dieſe „Metaphyſik der Geſchlechtsliebe“ iſt zwar hin und wieder etwas cyniſch, aber voll von anziehenden, aus der Natur und dem Leben geſchöpfter Beobachtungen.

(51) S. 240. In der Galerie von Florenz ſind unterhalb der Kupferſtiche der Bilder aus dem Palaſt Pitti eine große Menge von Gemmen vergrößert dargeſtellt und vortrefflich geſtochen. Sehr viele dieſer herrlichen Werke enthalten Opfer von jungen Frauen und Mädchen, die an die Kraft der Natur appelliren, aber mit einer Züchtigkeit und Grazie, welche die Abweſenheit jedes andern Gedankens, als des religiöſen, ausdrückt.

(52) S. 245. Die Wiederholung von No. 51. auf S. 244. iſt abermals ein Erratum. Naigeon, im zwölften Bande ſeiner Ausgabe Diderots, hat S. 25–66. eine Rechtfertigung einrücken laſſen, weshalb er von den ſogenannten Romanen Diderots „den Skandal des Textes in ſeiner ganzen Reinheit“ beibehalten habe, ohne etwas zu unterdrücken, weil ſonſt das Publicum, wie die Literärgeſchichte allerdings zeigt, mit noch ärgern Dingen und in ſchlechterem Styl in Diderots Namen wäre myſtificirt worden. S. 263. erzählt er nun, daß er Diderot oft Vorſtellungen über die Gefahren gemacht habe, welche in jenen Büchern für die Phantaſie liegen könnten: „et je


29 * � [452/0474] dois dire ici, pour disculper à cet égard le philosophe, que frappé des raisons, dont j'appuyois mon opinion, il étoit bien déterminé, à faire à la décence, à la pudeur et aux convenances morales, ce sa¬ crifice de quelques pages froides, insignifiantes et fastidieuses pour l'homme, même le plus dissolu, et révoltantes ou inintelligibles pour une femme honnête. Il est certain, que l'ouvrage ainsi épuré, n'auroit rièn perdu de son effet.“ Schon Leſſing, der in der Dra¬ maturgie, No. 84. ff. 1768, ein Stück aus den bijoux indiscrets überſetzte und dadurch ſchon damals das Deutſche Publicum zuerſt wohl mit der Exiſtenz dieſes Buchs bekannt machte, ſagt überein¬ ſtimmend mit Naigeon: „Dieſes Buch heißt: Les Bijoux indiscrets, und Diderot will es jetzt durchaus nicht geſchrieben haben. Daran thut Diderot auch ſehr wohl; aber doch hat er es geſchrieben, und muß es geſchrieben haben, wenn er nicht ein Plagiarius ſein will. Auch iſt es gewiß, baß nur ein ſolcher junger Mann dieſes Buch ſchreiben konnte, der ſich einmal ſchämen würde, es geſchrieben zu haben.“

(53) S. 246. In dieſem Urtheil ſtimme ich mit I. Dunlop: Geſchichte der Proſadichtungen, (history of the fiction) aus dem Eng¬ liſchen von F. Liebrecht, Berlin 1851, S. 397., überein. Die Franzoſen ſchwärmen noch immer für das Buch. Wir glauben, daß St. Beuve auch bei uns als Kritiker ein ſehr geachteter Name iſt und St. Beuve ſagt in den critiques et portraits littéraires, ed. de Bruxelles, 1832, T. II., S. 176. ff. ſo viel Schmeichelhaftes, als nur möglich. Er nennt es ein kleines Meiſterwerk, dont la fraicheur sans Fard soit immortelle. „ Manon Lescaut subsiste à jamais, et, en dépit des révolutions du goût et des modes sans nombre, qui en éclip¬ sent le vrai règne, elle peut garder au fond sur son propre sort cette indifférence folâtre et languissante, qu'on lui connoît“.

(54) S. 251. I. Schmidts Arbeit enthält nicht weniger über Shakeſpeare, Racine, Voltaire und die Deutſche Romantik viel Intereſſantes, aus wirklichem Quellenſtudium Hervorgegangenes. Wenn dieſelbe, wie es ſcheint, wenig bekannt geworden iſt, ſo hat dies ſeine Urſache wohl in zwei Umſtänden: einmal darin, daß der Verfaſſer keinen eigentlich hiſtoriſchen Gang einhält, ſondern eine, wie uns ſcheint, künſtliche Gruppirung befolgend, dem Leſer, der mit einem Apperçü der Weltgeſchichte im Kopf an ihn herangeht, ſchwer zugänglich iſt; ſodann darin, daß der Verfaſſer an keiner der von ihm betrachteten Geſtalten Freude hat. Ein gewiſſer mißmuthiger, mit allen Erſchei¬ nungen der Geſchichte grollender Ton geht durch das ganze Buch. I. Schmidt hat das Talent, die negative Seite der Phänomene ſcharf

� [453/0475] zu faſſen, lebendig zu ſchildern, aber er neigt hierin noch zu ſehr nach der Ruge-Bauerſchen Manier hin, den Proceß des Werdens nur in den düſtern Farben der Auflöſung zu erblicken. Er iſt recht der Gegen¬ ſatz von Valentin Schmidt, der für die Romantik ſo katholiſch glü¬ hend begeiſtert war und dem wir bekanntlich in den Wiener Jahr¬ büchern die erſte vollſtändige Ueberſicht und Claſſeneintheilung der Calderon'ſchen Dramen verdanken. Schmidt war ein Heros in der Kenntniß der Literatur des Mittelalters. Ich kann die Gelegenheit nicht vorüberlaſſen, eine Frage wieder zu erneuen, die ich von Zeit zu Zeit ſchon gethan habe. Wir Deutſche verdrucken ſo unendlich viel Papier mit Wiederholungen. Man denke z. B. an die Unzahl unſerer Blumenleſen, die ſich zu einem förmlichen, anſtändigen Nachdruckgeſchäft organiſirt haben. Man denke an die Unzahl von Ueberſetzungen Aus¬ ländiſcher Romane. Warum drucken wir nicht von Schmidt ſeine Ar¬ beit über Calderon, ſeine noch auf lange wichtige, weil poſitiv ergänzende Kritik von Dunlops history of the fiction, ſeine Arbeit über das De¬ camerone, ſeine Beiträge zur Geſchichte der romantiſchen Literatur, einmal in Einem Band zuſammen? Wie dankbar würden dafür alle ſein, die Literatur ſtudiren. Ich weiß aus Erfahrung, wie ſchwer es hält, ſich aus den Wiener Jahrbüchern die betreffenden Hefte zu verſchaffen. Nur die Beiträge ſind als ein einzelnes Bändchen gedruckt. Die Kritik Dunlops läuft durch vier Hefte der Wiener Jahrbücher. Die Arbeit über Calderon ſteht ſogar nur im Intelligenzblatt derſelben.

(55) S. 254. Henneberger, das Deutſche Drama, S. 8.: „Der Dichter könnte vielleicht antworten, daß Griſeldis durch ihre Zu¬ rückweiſung Parzivals, als ſie erfährt, es ſei Alles nur zum Spiel geweſen, das Gegengewicht in die Wagſchaale werfe.“ Aber — „iſt denn das, was uns hier für Liebe verkauft wird, wirklich die wahre Liebe des Weibes? Können wir vergeſſen, daß eine ſolche das Recht der eigenen Perſönlichkeit, ja bis auf einen gewiſſen Grad die Würde des Menſchen aufgebende Hingebung eher an die inſtinctive Anhänglich¬ keit des Thiers, als an die freie Liebe anſtreift, die dem Liebenden das Gefühl der eigenen Würde noch erhöhen muß?“

(56) S. 255. Hotho in ſeiner Geſchichte der Deutſchen und Niederländiſchen Malerei S. 160. ff. unterſcheidet von Eyk zu I. Boſch, von Boſch zu Schongawer (Martin Schön) einen Fortgang. S. 212.: „In ſeinen heraufgeputzten Henkern, ſeinen muthwillig fletſchenden Knaben und geißelnden Knechten beweiſt Martin Schön ein volles naturgetreues Studium. Er ſteigert nur häufig die beobachteten

� [454/0476] Züge mit nachhelfender Energie. Die verſtärkte Mißbildung der rüffel¬ artigen Mäuler, der bocksartigen Köpfe und knöchernen Körper ſoll deutlicher noch die innere und äußere Verkehrtheit darthun.“ Vgl. Kugler : Handbuch der Geschichte der Malerei, ll., Berlin 1837, S. 84. ff.

(57) S. 262. S. J. B. Rouſſeau: Dramaturgiſche Paral¬ lelen, München 1834, I., S. 189 ff. Als Oloaritus zuletzt den Dolch auf Agrippina zückt, ruft ſie aus: Stoß, Mörder, durch das Glied, das es verſchuldet hat, Stoß durch der Brüſte Milch, die ſolch ein Kind geſäuget, Stoß durch den nackten Bauch, der einen Wurm gezeuget

u. ſ. w.

(58) S. 262. Ch. Magnin: Histoire de Marionettes en Europe. Paris 1852, p. 147. ff.

(59) S. 263. Frau Gieremund, nach Fiſchen lecker, war im Eiſe feſtgefroren.

(60) S. 267. Dieſe Infection des Ariſtophanes mit demſelben Element, welches er bekämpft, hat recht gut nachgewieſen Th. Röt¬ scher : Aristophanes und sein Zeitalter. Berlin 1827.

(61) S. 267. Heine kann durch die Leichtfertigkeit, mit welcher er ganz überflüſſig plötzlich eine Capriole ſchneidet, mitten im Strom der edelſten Gefühle eine Grimaſſe macht, förmlich Schmerz erregen und hat nun eine Schaar von knabenhaften Poetlein verführt, dieſe proſaiſchen Pointen für die eigentlichſte Poeſie bei ihm zu halten. S. Prutz Vorleſungen über die Deutſche Literatur der Gegenwart, Leipzig 1847, S. 238. ff.

(62) S. 269. S. Oeuvres complètes de P. J. de Béranger , édition illustrée par Grandville et Raffet. Paris 1837, T. III. p. 195 –380. Für die damalige Zeitgeſchichte unſchätzbare Actenſtücke.

(63) S. 293. Ueber die Todtentänze, danses Macabres iſt nunmehr eine ſehr reichhaltige Literatur vorhanden. Eben ſo wenig fehlt es jetzt an ſinnreichen Betrachtungen. Doch kann ich hier die Bemerkung nicht zurückhalten, daß der letzte der Todtentänze (ich meine nicht den Rethelſchen Holzſchnitt) in Deutſchland unbeachtet und mit den frühern nicht in Verbindung geſetzt zu ſein ſcheint. Er iſt in Oel gemalt, hauptſächlich von einem Maler Becher; eine lange Reihe ziemlich großer, oft gar nicht unebener Gemälde, im Geſchmack der Bürgerſchen Balladen componirt, auf dem Haupt¬

� [455/0477] corridor des Auguſtinerſtifts in Erfurt, in mitten Deutſch¬ lands, während des achtzehnten Jahrhunderts. Fängt man von Baſels Todtentanz an, ſo kann man über Erfurt bis Lübeck, wo ſich auch ein Todtentanz findet, gerade eine Diagonale ziehen. Der Erfurter verdiente doch wohl wenigſtens der Vollſtändigkeit halber eine Lithographie. Eine Analyſe des Holbeinſchen Todten¬ tanzes habe ich gegeben: Zur Geschichte der Deutschen Literatur. Königsberg 1836, S. 25.

(64) S. 294. Heinrich der Löwe, Heldengedicht in 21 Ge¬ ſängen, mit hiſtoriſchen und topographiſchen Anmerkungen von Stepha¬ nus Kunze. 3 Thle. Quedlinburg bei G. Baſſe. 1817. 8.

(65) S. 295. S. J. L. Jdeler: Geschichte der Altfranzösi¬ schen National-Literatur von den ersten Anfängen bis auf Franz I. Berlin 1842, S. 248. ff. Dieſe blaſſe Allegoriſterei iſt übrigens vom vierzehnten bis zum ſechszehnten Jahrhundert in Europa allgemein herrſchend geweſen.

(66) A. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorſtellung, 1819, S. 262, ff.

(67) S. 310. Turlupin hieß auch Tabarin, Gaultier Gar¬ guille, Gros Guillaume, jetzt Grosboyaux. Èmile de la Bédollière hat in einer Schilderung der heutigen Banquiſten, Les Français peints par eux mêmes, I. de Province, p. 150. ff., viele Proben des heutigen, oft aber von Alters her überlieferten Unſinns mitgetheilt. Nur eine Probe vom Geſang des Paillaſſe:

Trois p'tits cochons sur un fumier S'amusaient comm des portes cochères. J'lui dis: Sansonnet, mon petit, J'voudrois avoir un liv' de beurre.

J'te mettrai d'huil sur tes sabots Pour faire friser tes papillotes. Ma veste est percèe aux genoux Ah' rendez moi mon bout d'chandelle.


(68) Abgebildet bei Panofka: Parodieen und Karikaturen auf Werken der klassischen Kunst. Berlin, 4, 1851, Taf. I., fig. 3.

(69) S. 322. Wer die Scene nicht in Burmanns Ausgabe des Petronius nachleſen will oder kann, denn er gehört zu den ſelte¬ neren Büchern, kann ſie in den: Begebenheiten des Enkolp nachleſen,

� [456/0478] die Heinſe aus dem Satyrikon überſetzt hat, angeblich zu Rom ge¬ druckt, 1773, Bd. I., S. 132. ff.

(70) S. 322. Was wäre hier nicht Alles zu ſagen! Es ge¬ hören hier Stoffe her, deren vorzüglich die Malerei ſich bemächtigt hat und für deren Anſchauung wir durch Gewohnheit abgehärtet ſind, die aber im Grunde nur ekelhaft genannt werden können. Die Sunamitin, dem alten Könige David zugeführt, Lot in der Höhle des Gebirges, trunken gemacht von den Töchtern, damit er ſie beſchlafe u. ſ. w. Aber auch eine ganze Menge abſcheulicher klinopaler Symplegmen und infamer Gemälde von widrigſter Ueppigkeit gehört hieher, von denen man kaum ſprechen mag. Nur Ein Beiſpiel will ich anführen. 1823 habe ich auf den Sammlungen der Göttinger Univerſität ein durch einen Schieber, der etwas Anderes zeigte, verdecktes Bild geſehen, auf das vom Führer als etwas beſonders Merkwürdiges hingewieſen ward. Ludwig XV. hatte mit der Pompadour gewettet, daß ſie nicht durch einen Ring piſſen könne. Das Bild ſtellt nun die Pompadour dar, wie ſie dies Experiment verſucht und die Majeſtät liegt auf beiden Knieen und hält ſelber mit lüſterner Neugier den Ring!

(71) S. 322. Nach Droyſen, 1838, Ariſtophanes, III., 204, will ich nur den Anfang des Monologs des arg gefoppten Ki¬ neſias, der gewiß auch den Dithyrambographen Kineſias parodiren ſollte, herſetzen:

Zu Grunde gerichtet, ganz mich vernichtet hat das Weib! Zu allem Andern, ſo abgehülſ't läßt ſie ihn mir ſtehn! O wie wird mir! weh! wo ergieß' ich mich hin, Von dem ſüßeſten Weib ſo entſetzlich getäuſcht! u. ſ. w.

(72) S. 322. Horatii Epodon liber, VIII.: In anum libidi¬ nosam:

Rogare longo putidam te saeculo, Vires quid enervet meas! Cum sit tibi dens ater, et rugis vetus Frontem senectus exaret; Hietque turpis inter aridas nates Podex, velut crudae bovis. Sed incitat me pectus, et mammae putres, Equina qualis ubera; Venterque mollis, et femur tumentibus Exile suris additum.


� [457/0479] Esto beata; funus atque imagines Ducant Trumphales tuum; Nec sit marita, quae rotundioribus Onusta baccis ambulet. Quid? quod libelli Stoici inter Sericos Jacere pulvillos amant? Illiterati num minus nervi rigent? Minusve languet fascinum? Quod ut superbo provoces ab inguine, Ore allaborandum est tibi.


Ich geſtehe, in dieſer ſcheußlichen Schilderung auch nicht einen Funken Poeſie zu finden.

(73) S. 323. Panofka a. a. O. p. 4., ſieht darin eine Parodie der Jungfräulichkeit, weil der Atalanta der Charakter derſel¬ ben par excellence zugekommen ſei. Wegen ἁϱμα und φιλοτης iſt hier noch zu bemerken, daß ſie allerdings auch ganz einfach Begattung, Beiſchlaf überhaupt bedeuten. Sie haben aber nach Plutarch die hier gemeinte Nebenbedeutung, die von Lucretius Carus, de rerum natura, IV., V. 1259. ff. beſchrieben wird:

Et quibus ipsa modis tractetur blanda voluptas, Id quoque permagni refert: nam more ferarum , Quadrupedumque magis ritu , plerumque putantur. Concipere uxores, quia sic loca sumere possunt, Pectoribus positis, sublatis semina lumbis.

Worüber Lucretius ſich dann weiter in naturphiloſophiſche Er¬ klärungen von ſeinem Standpunct aus ergeht.

(74) S. 327. Arden v. Feversham, überſetzt in Tiecks Vorſchule Shakeſpeare's, 1823, Bd. I., S. 113. ff.

(75) S. 329. Die gedankenloſe Ueberſetzungsmanie der Deut¬ ſchen in Anſehung Engliſcher und Franzöſiſcher Romane und Novellen iſt ein tiefer Krebsſchaden unſerer Literatur, ja unſeres Lebens. Man vergleiche einmal ſtatiſtiſch, wie viel wir von den Engländern und Franzoſen in dieſem Fach überſetzen, mit dem, was ſie von uns über¬ ſetzen. Die elendeſten Schmierſale weniger als mittelmäßiger Autoren werden ſofort in's Deutſche überſetzt und, wenn man die Kataloge der Leihbibliotheken durchmuſtert, ſollte man faſt glauben, Paul de Kock, d'Arlincourt, A. Dumas, Féval, James u. ſ. w. wären unſere Claſſi¬ ker. Man frage ſich, ob nicht zehn Ueberſetzungen erſchienen ſein wür¬ den, wenn die ausländiſchen Literaturen Romane, wie Max Waldau nach der Natur, Auerbachs Neues Leben, Gutzkow's Ritter vom

� [458/0480] Geiſt, Prutz' Engelchen, Stifter's Studien u. a., gebracht hätten? Man frage ſich, ob eins dieſer Bücher in's Engliſche oder Franzöſiſche überſetzt iſt? Man erinnere ſich, daß ſelbſt von den anerkannteſten, ältern Claſſikern unſerer Nation immer nur Weniges, ſogar von Tieck, der mehr für die Unterhaltung erzählt hat, nur einzelne No¬ vellen, le livre bleu u. dgl., überſetzt iſt. Und dazu bedenke man, daß ein Drittel der Deutſchen Engliſch, wenigſtens Franzöſiſch genug verſteht, jene Romane auch im Original (der Brüſſeler, Berliner und Leipziger Nachdrücke) zu leſen, während nur wenige Engländer und Franzoſen Deutſch lernen, ſo wird man ſich eingeſtehen müſſen, daß das Verhältniß zu einem ſchreienden Mißverhältnis wird. Durch poli¬ zeiliche Einſchreitungen iſt hier nichts auszurichten, ſie ſind ihrer Natur nach zu oberflächlich und erzeugen nur das Gelüſt, auf Umwegen ſich den verbotenen Genuß zu ſchaffen. Nur von Innen heraus, durch wahrhafte Bildung, nur durch Stärkung unſeres Nationalgefühls, durch Achtung vor uns ſelbſt, durch wirkliche Liebe zu unſerm Vater¬ lande (ſtatt der ironiſchen Stellung, die wir gewöhnlich dazu einnehmen und die alle Kraft, auch die ſittliche, bei uns in der Wurzel ver¬ dirbt), iſt etwas Reelles dagegen zu wirken. Die im Text erwähnten Ritter- und Räuberromane ſind aber ein Beweis, wie wüſt und kin¬ diſch phantaſtiſch es noch in einem großen Theil der untern Schichten des Volks bei uns ausſieht. Nur eins vergeſſe man nicht, daß ſie eine gewiſſe wilde Poeſie, eine grelle Abenteuerlichkeit beſitzen, die den Ungebildeten und Halbgebildeten zu feſſeln vermag und daß ſo hölzerne, wenn auch noch ſo gut gemeinte, moraliſirende und ökonomiſch den Werth der Zeit und des Geldes nachdrücklich einprägende dicke Bücher, wie die Käſerei auf der Vehfreude von I. Gotthilf und ähnliche, nicht mit jenen an ſich erbärmlichen Producten des Paſtors Leibrock u. A. concurriren können.

(76) S. 336. Ueber den Ehebruch ſ. meine Abhandlung in den Studien I., Berlin 1839, S. 56–90.

(77a.) S. 336. Man ſ. darüber v. Bülows Novellenbuch, 4 Bde., oder in Anſehung der Italieniſchen die treffliche Auswahl und Ueberſetzung, die Adalbert Keller in ſeinem Italieniſchen Novellen¬ ſchatz, Leipzig 1851, 6 Bde., gegeben hat.

(77b.) S. 342. Dieſe köſtliche Schilderung Göthe's hätte ich eigentlich in die Anmerkungen bringen ſollen, da ſie einen ſo großen Raum wegnimmt. Allein ich bedachte, daß am Ende nur wenige ſich um die Anmerkungen kümmern und daß ich daher wohl daran thäte, den Leſer im Text heranzuzwingen. Man ſage nicht, daß ich ja noch beſſer nur auf Göthe's Werke hätte verweiſen können, denn wie träge ſind

� [459/0481] wir nicht, nachzuſchlagen — und wer hat auch die Werke immer zur Hand! Ohne meinen geehrten Leſern daraus einen Vorwurf zu machen, bin ich überdem gewiß, daß die Meiſten derſelben bis zu dem Augen¬ blick, der ſie hier darauf führt, von dieſem Grab der Tänzerin bei Göthe gar nichts gewußt haben, weil dieſe kleinen Arbeiten Göthe's überhaupt wenig geleſen werden.

(78) S. 352. Es gibt eine ganze Gruppe von Luſtſpielen und Operetten, die darauf baſirt ſind. Die Wiener Poſſe hat z. B. in dem: roſenfarbenen Geiſt, eine äußerſt komiſche und heitere Anwendung davon gemacht. Unter Anderm erſcheint der Leichenzug auf der Bühne. Der Verſtorbene geht, ganz in Roſa gekleidet, als Geiſt mit einem Geſangbuch und einem Sacktuch in der Hand ſelbſt unter den Leidtragenden mit, trauert über ſich ſelbſt u. ſ. w.

(79) S. 356. Ruge's Neue Vorſchule S. 106: „Alle Häßlichkeit der Poeſie und ſonſtiger Kunſt, der Geſinnung und That, gewinnt wirklich nur ein Scheindaſein, eine ſcheinbare Wirklichkeit des Geiſtes, das Scheindaſein des Geſpenſtes. Das Geſpenſt iſt Erſchei¬ nung, aber nicht die wahre und wirkliche Erſcheinung des Geiſtes, alſo vielmehr nicht Erſcheinung“ u. ſ. w.

(80) S. 363. Auch Göthe, im funfzehnten Buch ſeiner Autobiographie, ſagt, daß die Titanen die Folie des Polytheismus ſeien, wie der Teufel die Folie des Monotheismus und daß der Teufel keine poetiſche Figur ſei. Aber eben als Folie wird er, was er nicht in ſich ſelbſt iſt, ein Moment der Poeſie und der Kunſt. Alles Häßliche, als ſolches, iſt unſchön, unpoetiſch, unkünſtleriſch. Aber innerhalb eines gewiſſen Zuſammenhangs, unter gewiſſen Bedingungen, wird es äſthetiſch möglich und wirkſam. Cain z. B., der Bruder¬ mörder, iſt für ſich abſcheulich; Lucifer, der ihn ſophiſtiſch irrt, für ſich abſcheulich; aber in Byrons Myſterium Cain wird Cain durch Abel, Adah und Zillah und Lucifer durch Cain poetiſch. Uebrigens iſt die Satanologie des Chriſtenthums auch noch eine andere, als die des einfachen Monotheismus.

(81) S. 371. Ueberſetzt in Tieck, Vorſchule Shakeſpeare's, Bd. I. Ulrici, über Shakeſpeare's dramatiſche Kunſt, 1839, S. 221. ſagt von den Hexen im Macbeth ſehr richtig: „Seine Hexen ſind Zwit¬ tergeſchöpfe, halb naturmächtige, der Nachtſeite der irdiſchen Schöpfung angehörige Weſen, halb abgefallene, im Böſen verſunkene, gemeine Menſchengeiſter; ſie ſind das Echo des Böſen, das aus der Bruſt und dem Geiſterreiche dem Böſen in der Bruſt des Menſchen antwortet, es hervorlockt, zu Entſchluß und That entwickeln und ausbilden hilft.“

� [460/0482] (82) S. 373. S. I. A. Märker: das Princip des Böſen nach den Begriffen der Griechen, Berlin, 1842, S. 58 — 162. S. 151 — 56. hat Märker das Häßliche, το α͗ισχϱον, im Unterſchiede von und im Zuſammenhange mit ϰαϰον auseinandergeſetzt. Sehr wich¬ tig iſt die Stelle, die er über die σοφια aus Platons Hippias maj. 289, B. beibringt: „τηνϰ αλλιστην παϱϑενον πϱος ϑεων γενος α͗ισχϱαν ε͗ιναι“, ſofern nämlich die göttlichen Mächte, auch der Gerechtigkeit, als furcht¬ bar vorgeſtellt wurden.

(83) S. 374. Eine Abbildung des Schattenſpiels Kara-geuz f. in der Illustration universelle, Paris 1846, N. 150., p. 301. M. F. Mornand in ſeinen Souvenirs de voyage en Afrique ſagt von dieſem Teufel: „Grotesque rèsumé de tous les vices et de toutes les turpitudes, il réunit les types divers inventés chez nous, pour effrayer les enfants, amuser la populace, rendre muette l'attention des vielles femmes aux récits exagérées des veillées d'hiver, ou, dans les orages politiques, pour détourner la vigilance soupçonneuse des masses aux approches d'un coup d'État, ou bien encore pour alimenter cette source de folie originale, qui consitue bien souvent le mérite de nos hommes à la mode. Garagousse est l'Arlequin, le Paillasse, le Polichinelle, le Croquemitaine, le Barbe-Bleue, le Cartouche, le Mayeux, le Ro¬ bert-Macaire de l'Afrique septentrionale; mais avec ces qualités, il n'excite encore qu'une faible admiration chez les spectateurs; c'est comme modèle d'obscénité qu'il enleve tous les suffrages. Dans ce rôle, il produit en scène ce que le cynisme a de plus repoussant et de plus horrible; ses paroles, ses actions sont d'une crudité dégoûtante. Outra¬ geant la pudeur et la nature, il parodie jusqu'aux monstruosités attri¬ buées par la fable à Pasiphaë.“

(84) S. 375. Didron: iconographie chrétienne, Paris 1843, 4, p. 545. An der Stelle der Zeugungsglieder findet ſich auch ein Kopf, der die Zunge hervorblöckt. Uebrigens glaubten die Miniatur¬ maler des Mittelalters ein frommes Werk zu vollbringen, wenn ſie den Teufel recht ſcheußlich malten, weil ſie in ihrem frommen Wahn an¬ nahmen, daß er ſich darüber ärgere — und den Teufel zu ärgern, nun, es war doch immer einiges Verdienſt.

(85) S. 375. Auch in ſeinen ſämmtl. Werken VII.

(86) S. 375. Ueberſetzt im zweiten Theil von Tiecks Vor¬ ſchule Shakeſpeare's.

(87) S. 377. Ich beſitze von dieſer Tentation de St. Antoine Abbé einen großen Kupferſtich, den P. Picault geſtochen hat. Callot

� [461/0483] hat das wunderliche Bild dem Abbé Antoine de Sever, prédicateur ordinaire du Roy, gewidmet, mit dem Motto: Si consistant adversus me castra, non timebit cor meum. — Wegen des Namens der dia¬ blerie will ich noch bemerken, daß im Mittelalter diejenigen Myſterien grande diablerie hießen, in denen wenigſtens vier Teufel ſpielten.

(88) S. 380. Abgebildet in Scheible's Doctor Faustus, Stutt¬ gart, 1844, S. 23. (Auch als Thl. II. der Sammelſchrift: das Cloſter). — Ueber den Jägertypus ſ. auch F. Kugler in der Geschichte der Malerei, II., 79., der von Hans Holbein ſolche Figuren mit einem „Italieniſchen“ Geſicht anführt.

(89) Mit den Begriffen Parodie und Traveſtie ergeht es den Aeſthetikern ähnlich, wie den Logikern mit den Begriffen der Induction und der Analogie. Der eine nennt Parodie, was der andere Traveſtie, und umgekehrt. Bei der Traveſtie wird die Grundbeſtimmung bleiben, daß ſie auch Parodie iſt, aber nicht blos im Allgemeinen, ſondern daß ſie, wie der Name andeutet, denſelben Inhalt in eine andere Form verkleidet, eben damit aber auch den Inhalt anders qualificirt. Eine Parodie kann auch ernſt ſein, eine Traveſtie iſt immer lächerlich.

(90) Viſcher a. a. O. hat Gavarni mit Töpffer vergli¬ chen und den Humor des letztern vortrefflich dargeſtellt. Töpffers Zeichnungen ſind nur flüchtige Federzeichnungen; oft ſcheinen es nur Tüp¬ felchen und Strichelchen zu ſein, aber man muß die Geſchichten hinzu¬ nehmen, dieſe köſtlichen Geſchichten von Mr. Jabot, Jolibois, Mr. Pencil u. A. Töpffers Manier iſt durch ihre Anwendung in den Münchener Fliegenden Blättern von Schneider und Braun bei uns nunmehr faſt populär geworden. Wir erlauben uns, zu ihrer Charakteriſtik aus Viſchers Schilderung nur einige Worte herauszuheben. Viſcher hebt an ihm als Hauptmoment das Epiſche ſeines Verfahrens hervor, wel¬ ches ihn auch einladet, den Epiſoden nachzugehen: „Sind die Aſtro¬ nomen im Dr. Feſtus aus dem Waſſer gerettet, ſo müſſen wir auch noch erfahren, was aus ihren Perücken geworden, und das gibt noch eine lange höchſt intereſſante Geſchichte. Mad. Crépin legt ein Pech¬ pflaſter auf und verliert es; dann wandert es weiter durch verſchiedene Hände, bis es ſeinen Kreislauf auf der Haut des frühern Erziehers ihrer Kinder, nunmehrigen Zolljägers Bonichon beſchließt. So erſchöpft er aber auch die Hauptmotive mit epiſcher Ausführlichkeit. Wie er ſie aufgehaspelt, haspelt er ſie auch bis auf den letzten Faden ab. Endlich iſt die ganze Methode Töpffers durchaus im engſten Sinn als ſucceſſiv zu bezeichnen, man hat völlig den Eindruck des Fortmachens, Fortge¬ hens, der gedehnten Folge, wie bei einer Erzählung, welche aber eben

� [462/0484] deswegen, um nicht zu ermüden, von Strecke zu Strecke Ruhepuncte anſetzt; — wie in der histoire d'Albert, wo jede neue Phaſe dieſes mi߬ rathenen Sohns mit einem Tritt vor den Hintern ſchließt, den ihm ſein Vater ertheilt, wobei man nur den Fuß des Einen und die Poste¬ riora des Andern ſieht; eben ſo die wiederkehrenden Momente, wo Hr. Jabot ſich wieder in Poſitur ſetzt, Hr. Bieux Bois das Hemd wechſelt u. dgl. m. Das Succeſſive aber behandelt Töpffer in ſeiner phantaſtiſchen Weiſe gern ſo, daß er dieſelbe Handlung auf mehren, durch Striche getrennten Feldern in mehren unmittelbar auf einander folgenden Momenten darſtellt. Albert wird unter Andern Reiſender zuerſt für einen Weinhändler, dann für einen Buchhändler, welcher letztere eine Metaphysique pittoresque herausgibt. Man ſieht ihn bei einer Familie eintreten, die er mit ſeiner Zudringlichkeit mißhandelt (assassine). Nun trennt Töpffer das weitere Blatt durch Striche in eilf ſchmale Streifen; auf dem erſten ſieht man Herrn Albert noch in ganzer Figur, ein Compliment machend: il assassine au rez de chaus¬ sée; auf dem zweiten nur noch halbe Figur: à l'entresol; auf dem drit¬ ten nur noch Hintertheil und Beine, immer in tiefer Verbeugung: au premier — und ſo fort mit Grazie in infinitum, bis man am Ende nur noch einen verſchwindenden Punct ſieht. M. Pencil zeichnet die ſchöne Natur. Wie er fertig iſt, betrachtet er ſein Werk mit höchſter Zufriedenheit. Wieder ein Bild: er ſieht es von der andern Seite an und il est content aussi. Er ſieht es über die Schulter an und er iſt eben ſo zufrieden; er kehrt es gar um, ſieht die leere Rückſeite an und remarque avec plaisir, qu'il est encore content. Töpffer verſteht ſeine Sache gut genug, um im Text eben ſo jedesmal die Worte zu wieder¬ holen. So wird auch der wüthend eiferſüchtige Jolibois im M. Pencil immer mit dem Zuſatz in Parentheſe: car hélas la passion aveugle, eingeführt. — Nun müſſen wir noch das wahnſinnige Spiel des Zu¬ falls, die phantaſtiſche Aufhebung der Naturgeſetze hervorheben, welche beginnt, ſowie das Hauptſubject von der erſten Expoſition in die Ver¬ flechtung ſeines Schickſals, in die Verwicklung eintritt. Das ſauſende Rad einer verrückten Welt packt es am kleinen Finger, am Rockzipfel und reißt es unerbittlich im Schwunge mit fort. Das Unmögliche wird behandelt, als verſtehe es ſich von ſelbſt. In mehren dieſer Hefte geht faſt die ganze Geſchichte in der Luft vor ſich, in deren Höhen ein ſchalk¬ hafter Zephyr mehre Perſonen hinaufbläſt. Die Perſonen ſind ordent¬ lich auch dem Leibe nach unzerſtörbar; hundertmal müßten ſie zu Staub zermalmt, zu Brei gequetſcht ſein, ſich zu Tode geſchnauft, in Schweiß aufgelöſt haben, wären ſie nicht komiſche Götter, unſterbliche Weſen auf dem Olympe der Narrheit. Es gibt keine Schwere mehr; doch es

� [463/0485] gibt noch eine, man ſchwitzt und keucht unter ihrer Laſt, aber ein tüch¬ tiger Ruck und das Unmögliche iſt geleiſtet. Es gibt kein Bedürfniß mehr; doch es gibt noch eines, es kommt nur darauf an, durch große Anſtrengung es zu überwinden: einige Ausdauer und man kann Tage, Wochenlang hungern, durſten, in hohlen Baumſtämmen ſtecken, in Rie¬ ſenteleskopen durch die Luft ſchiffen, in einem verſchloſſenen Koffer, durch deſſen Löcher man die beiden Arme frei bekommen, Spaziergänge machen. Töpffer iſt nicht auf die Weiſe phantaſtiſch, wie Ariſtophanes, Callot und mehre neuere groteske Zeichner; er componirt keine abſolut unmöglichen Geſtalten, Froſchmenſchen, Vogelmenſchen u. ſ. w. Dies litte ſchon die moderne Sphäre ſeiner Stoffe nicht. Aber durch einen Uebergang, der ſich durch einige Motive, die ganz conſequent ſcheinen, einſchleicht, ſo daß das Unmögliche möglich wird, und wenn man nur den erſten Zoll über die Linie zugegeben, unmerklich Meilen daraus entſtehen, löſt er die Geſetze der Schwere, des Bedürfniſſes, der Gren¬ zen menſchlicher Kraft und menſchlicher Täuſchung auf und hat uns, ehe wir umſehen, in eine eigene Welt, eine Wolkenkukuksburg hinein¬ gezaubert, wo wir eben ſo ſehr in jedem Augenblick an das Allerge¬ wöhnlichſte, an alle Unentbehrlichkeiten des Lebens erinnert, als auch über ſie hinweggeſchnellt werden. Dadurch nun vollendet ſich die Frei¬ heit und Reinheit der Komik, die eigene, ganze und abſolute Welt des Humors. Auch darum verſchwindet das Bittere und Boshafte der Satire, weil wir ſo ganz in dieſe zweite, freie Welt der möglich ge¬ wordenen Unmöglichkeiten uns hineingetäuſcht finden.“


Königsberg, gedruckt bei G. D. Böhmer.

� [0486] In demſelben Verlage iſt unter vielem Andern erſchienen:

Roſenkranz, K., Meine Reform der Hegelſchen Philo¬ ſophie. gr. 8. 1853. broſch. 16 Sgr.

Roſenkranz, K., Syſtem der Wiſſenſchaft. gr. 8. 1850. broſch. Preis 2 Thlr. 20 Sgr.

Dieß Syſtem iſt nicht bloß eine Reproduction der Hegel'ſchen Encyklopädie der Philoſophie, wie man aus der Treue ſchließen könnte, welche ſein Verfaſſer Hegel ſtets gewidmet hat. Vielmehr iſt es eben aus dieſer Geſinnung heraus der Verſuch einer Re¬ form der Hegel'ſchen Philoſophie nach den aus ihr ſelbſt und aus dem Fortſchritt der Wiſſenſchaft ſeit Hegels Tod ent¬ ſpringenden Forderungen.

In der Logik iſt nicht nur die Teleologie, ſondern vor¬ züglich auch die Lehre von der Idee weſentlich verändert und die letztere zu einer neuen Doctrin erhoben. Die Naturphilo¬ ſophie iſt mit durchgängiger Rückſicht auf die großen Erweite¬ rungen der Empirie völlig umgearbeitet, und durch eine anſchau¬ liche, phantaſievolle Darſtellung von der Trübheit und Sprödig¬ keit befreit worden in welcher ſie noch bei Hegel erſcheint. In der Philoſophie des Geiſtes gibt der Verfaſſer einen eigen¬ thümlichen Abriß der Weltgeſchichte und eine von Hegel vielfach abweichende Aeſthetik und Religionsphiloſophie. Wie es ihm in der Logik vorzüglich darauf angekommen iſt, den Unter¬ ſchied des Begriffes der Vernunft vom Begriff des Geiſtes auseinanderzuſetzen, ſo hier den Begriff des Geiſtes vom Begriff des Bewußtſeins. Aus der Confuſion dieſer Be¬ griffe ſind vorzüglich die Ausartungen und Irrniſſe der Hegel'ſchen Schule wie des Publicums hervorgegangen.

Roſenkranz, K., Göthe und ſeine Werke gr. 8. 1848, broſch. 2 Thlr. 25 Sgr.

Dieſes Werk iſt nach allen darüber bekannt gewordenen Recenſionen wohl das bedeutendſte, welches am ſicherſten zum tiefern, richtigeren Verſtändniß des großen, unſterblichen deutſchen Dichters in ſeiner Univerſalität führt.

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See also




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