This Too a Philosophy of History for the Formation of Humanity
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"Prejudice is good in its time and place" -- This Too a Philosophy of History for the Formation of Humanity (1774) by Johann Gottfried Herder |
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This Too a Philosophy of History for the Formation of Humanity (1774) is a work by Johann Gottfried von Herder.
German
Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit ist eine geschichtsphilosophische Abhandlung von Johann Gottfried Herder. Sie erschien 1774.
Herder distanziert sich in diesem Werk sowohl von einer pessimistischen und skeptischen Geschichtsbetrachtung als auch von einer Auffassung von Geschichte als stetem, in der Gegenwart gipfelnden, Fortschritt zum Besseren. Er deutet Geschichte als organologische Abfolge von individuellen Epochen, die prinzipiell gleichwertig sind und nicht mit ihnen äußeren Maßstäben gemessen werden dürfen. Hiermit nimmt er bestimmte Elemente des späteren Historismus vorweg. Sein Entwicklungsmodell erlaubt es, Kontinuität und Veränderung im Geschichtsablauf als Momente desselben Prozesses zu verstehen. Mit seinem naturalisierenden Geschichtskonzept unterläuft es das im 18. Jahrhundert häufig anzutreffende unvermittelte Gegenüber von Naturoptimismus und Geschichtspessimismus.
See also
Full text
Ταρασσει τȣς ανϑρωπȣς ȣ τα πραγματα, αλλα τα περι των πραγματων δογματα —
1774.
�
[[2]/0006]
�
[[3]/0007]
Philoſophie der Geſchichte
zur
Bildung der Menſchheit.
Erſter Abſchnitt.
Je weiter hin es ſich in Unterſuchung der
aͤltſten Weltgeſchichte, ihrer Voͤlker-
wandrungen, Sprachen, Sitten, Er-
findungen, und Traditionen aufklaͤrt: a)
deſto wahrſcheinlicher wird mit jeder neuen
Entdeckung auch der Urprung des ganzen
Geſchlechts von Einem. Man naͤhert ſich
immer mehr dem gluͤcklichen Klima, wo
Ein Menſchenpaar unter den mildeſten Ein-
fluͤſſen der ſchaffenden Vorſehung, unter
Beyſtande der erleichterndſten Fuͤgungen
rings um ſich her, den Faden anſpann, der ſich
nach-
a) Neueſte hiſtoriſche Unterſuchungen und Rei-
ſen in Aſten.
A 2� [4/0008]
nachher mit ſolchen Wirrungen weit und lang
fortgezogen: wo alſo auch alle erſten Zufaͤlle
fuͤr Anſtalten einer muͤtterlichen Vorſehung
gelten koͤnnen, einen zarten Doppelkeim des
ganzen Geſchlechts mit alle der Wahl und Vor-
ſicht zu entwickeln, die wir immer dem Schoͤ-
pfer einer ſo edeln Gattung und ſeinem Blick
auf Jahrtauſend und Ewigkeit hinaus zu-
trauen muͤſſen.
Natuͤrlich, daß dieſe erſten Entwickelungen ſo ſimpel, zart und wunderbar waren, wie wir ſie in allen Hervorbringungen der Na- tur ſehen. Der Keim faͤllt in die Erde und erſtirbt: der Embryon wird im Verborgnen gebildet, wie’s kaum die Brille des Philoſophen a priori gutheißen wuͤrde, und tritt ganz ge- bildet hervor: die Geſchichte der fruͤheſten Entwicklungen des menſchlichen Geſchlechts, wie ſie uns das aͤltſte Buch beſchreibt, mag alſo ſo kurz und apokryphiſch klingen, daß wir vor dem philoſophiſchen Geiſt unſers Jahr- hunderts, der nichts mehr als Wunderbares und Verborgnes haſſet, damit zu erſcheinen erbloͤden: eben deswegen iſt ſie wahr. Nur Eins alſo angemerkt. Scheint nicht ſelbſt fuͤr das Maulwurfsauge dieſes lichteſten Jahr-
hun-
� [5/0009]
hunderts doch ein laͤngeres Leben, eine ſtiller
und zuſammenhangender wuͤrkende Natur,
kurz eine Heldenzeit des Patriarchenalters
dazu zu gehoͤren, die erſte Formen des Men-
ſchengeſchlechts, welche es auch ſeyn? den
Stammvaͤtern aller Nachkommenſchaft ein- und
fuͤr die Ewigkeit anzubilden? Wir laufen jetzt
nur voruͤber, und durch die Welt her; Schat-
ten auf Erden! Alles Gute und Boͤſe, was
wir mitbringen (und wir bringen wenig mit,
weil wir alles hier erſt empfangen) haben
wir meiſt auch das Schickſal wieder mit zu neh-
men: unſre Jahre, Lebenslaͤufe, Vorbilder,
Unternehmungen, Eindruͤcke, die Summe unſrer
Hinwuͤrkung auf Erde, iſt kraftloſer Traum
Einer Nachtwache — Geſchwaͤtz! du laͤſſeſt
ſie dahin fahren u. ſ. w. So wie das nun
bey dem großen Vorrath von Kraͤften und
Faͤhigkeiten, den wir entwickelt vor uns fin-
den, bey dem ſchnellern Lauf unſrer Saͤfte und
Regungen, Lebensalter und Gedankenplane,
wo Eins das Andre, wie eine Waſſerblaſe die
andre zu verfolgen und zu zerſtoͤhren eilt, bey
dem ſo oft mishelligen Verhaͤltniß zwiſchen
Kraft und Beſonnenheit, Faͤhigkeit und Klug-
heit, Anlage und gutem Herzen, die ein Jahr-
hundert des Verfalls immer bezeichnen —
wies
A 3�
[6/0010]
wies bey dem allen Abſicht und abwaͤgende
Weisheit ſcheint, eine große Maſſe kindiſcher
Kraͤfte durch kurze, kraftloſe Dauer des Le-
bensſpiels zu maͤßigen und zu ſichern: ge-
hoͤrte nicht auch allein jenes erſte, ſtille, ewi-
ge Baum- und Patriarchenleben dazu, um
die Menſchheit in erſten Neigungen, Sitten
und Einrichtungen zu wurzeln und zu gruͤnden?
Was waren dieſe Neigungen? Was ſollten ſie ſeyn? Die natuͤrlichſten, ſtaͤrkſten, einfach- ſten! fuͤr alle Jahrhunderte der Menſchenbil- dung die ewige Grundlage: Weisheit ſtatt Wiſſenſchaft, Gottesfurcht ſtatt Weisheit, El- tern-Gattten- Kindesliebe ſtatt Artigkeit und Ausſchweifung, Ordnung des Lebens, Herr- ſchaft und Gottregentſchaft eines Hauſes das Urbild aller buͤrgerlichen Ordnung und Einrichtung — in dieſem allen der einfach- ſte Genuß der Menſchheit aber zugleich der tiefſte — wie das alles, ich will nicht fra- gen, erbildet, nur angebildet, fortgebildet wer- den, als — durch jene ſtille ewige Macht des Vorbilds, und einer Reihe Vorbilde mit ihrer Herrſchaft um ſich her? Nach unſerm Lebensmaaße waͤre jede Erfindung hundertfach verlohren gangen; wie Wahn entſprungen
und
� [7/0011]
und wie Wahn entflohen — welcher Unmuͤn-
dige ſollte ſie annehmen? welcher zu bald wie-
der Unmuͤndige ſie anzunehmen zwingen? Es
zerfielen alſo die erſten Bande der Menſchheit
im Urſprung oder vielmehr damals ſo duͤnne
kurze Faͤden, wie haͤtten ſie je die ſtarke Bande
werden koͤnnen, ohne die ſelbſt nach Jahrtau-
ſenden der Bildung das menſchliche Geſchlecht
durch bloße Schwaͤchung noch immer zer-
faͤllt? — Nein! mit frohem Schauer ſtehe
ich dort vor der heiligen Ceder eines Stamm-
vaters der Welt! Ringsum ſchon hundert
jungo bluͤhende Baͤume, ein ſchoͤner Wald der
Nachwelt und Verewigung! aber ſiehe! die
alte Ceder bluͤht noch fort, hat ihre Wurzeln
weit umher und traͤgt den ganzen jungen Wald
mit Saft und Kraft aus der Wurzel. Wo
der Altvater auch ſeine Kenntniſſe, Neigun-
gen, und Sitten her habe? was und wie we-
nig dieſe auch ſeyn moͤgen? ringsum hat ſich
ſchon eine Welt und Nachwelt zu dieſen Nei-
gungen und Sitten, blos durch die ſtille, kraͤf-
tige, ewige Anſchauung ſeines Gottesbey-
ſpiels gebildet und veſtgebildet! zwey Jahrtau-
ſende waren nur zwo Generationen.
Jn-
A 4� [8/0012]
Jndeß auch von dieſem heroiſchen Anfaͤn-
ger der Bildung menſchlichen Geſchlechts weg-
geſehen: nach den bloßen Truͤmmern der
weltlichen Geſchichte und nach dem fluͤchtig-
ſten Raiſonnement uͤber dieſelbe à la Vol-
taire — welche Zuſtaͤnde koͤnnen erdacht
werden, erſte Neigungen des menſchlichen
Herzens hervorzulocken, zu bilden, und veſt-
zubilden, als die wir ſchon in den Traditionen
unſrer aͤlteſten Geſchichte wuͤrklich angewandt
finden? Das Hirtenleben im ſchoͤnſten Kli-
ma der Welt, wo die freywillige Natur den
einfachſten Beduͤrfuiſſen ſo zuvor oder zu
Huͤlfe kommt, die ruhige und zugleich wan-
dernde Lebensart der vaͤterlichen Patriar-
chenhuͤtte, mit allem, was ſie giebt, und dem
Auge entziehet, der damalige Kreis menſchli-
cher Beduͤrfniſſe, Beſchaͤftigungen und Ver-
gnuͤgen, nebſt allem, was nach Fabel oder
Geſchichte dazu kam, dieſe Beſchaͤftigungen
und Vergnuͤgen zu lenken — man denke
ſich alles in ſein natuͤrliches, lebendiges Licht —
welch ein erwaͤhlter Garten Gottes zur Er-
ziehung der erſten, zarteſten Menſchenge-
waͤchſe! Siehe dieſen Mann voll Kraft und
Gefuͤhl Gottes, aber ſo innig und ruhig fuͤh-
lend, als hier der Saft im Baum treibt, als
der
� [9/0013]
der Jnſtinkt der tauſendartig dort unter Ge-
ſchoͤpfe vertheilt, der in jedem Geſchoͤpfe ein-
zeln ſo gewaltig treibet, als dieſer in ihn ge-
ſammlete ſtille, geſunde, Naturtrieb nur wuͤr-
ken kann! Die ganze Welt ringsum, voll Se-
gen Gottes: eine große, muthige Familie des
Allvaters: dieſe Welt ſein taͤglicher Anblick:
an ſie mit Beduͤrfniß und Genuſſe geheftet:
gegen ſie mit Arbeit, Vorſicht und mildem
Schutze ſtrebend — unter dieſem Himmel,
in dieſem Elemente Lebenskraft welche Gedan-
kenform, welch ein Herz muſte ſich bilden!
Groß und heiter wie die Natur! wie ſie, im
ganzen Gange ſtill und muthig! langes Le-
ben, Genuß ſein ſelbſt auf die unzerglieder-
lichſte Weiſe, Eintheilung der Tage durch
Ruhe und Ermattung, Lernen und Behal-
ten — ſiehe das war der Patriarch fuͤr ſich
allein. — — Aber was fuͤr ſich allein?
der Segen Gottes durch die ganze Natur wo
war er, inniger als im Bilde der Menſch-
heit, wie es ſich fortfuͤhlt und fortbildet: im
Weibe fuͤr ihn geſchaffen, im Sohn ſeinem
Bilde aͤhnlich, im Gottesgeſchlecht das rings-
um und nach ihm die Erde fuͤlle. Da war
Segen Gottes ſein Segen: ſein die er re-
giert, ſein den er erzieht; ſein die Kinder und
Kin-
A 5�
[10/0014]
Kindeskinder um ihn ins dritte und vierte
Glied, die er alle mit Religion und Recht,
Ordnung und Gluͤckſeligkeit leitet. — Dies
das unausgezwungene Jdeal einer Patriar-
chenwelt, auf welches alles in der Natur
trieb: außer ihm kein Zweck des Lebens, kein
Moment, Behaglichkeit oder Kraftanwendung
zu denken, — Gott! welch ein Zuſtand zu
Bildung der Natur in den einfachſten, noth-
wendigſten, angenehmſten Neigungen! —
Menſch, Mann, Weib, Vater, Mutter,
Sohn, Erbe, Prieſter Gottes, Regent und
Hausvater, fuͤr alle Jahrtauſende ſollt er da
gebildet werden! und ewig wird, außer dem
tauſendjaͤhrigen Reiche und dem Hirngeſpinſte
der Dichter, ewig wird Patriarchengegend
und Patriarchenzelt das goldne Zeitalter der
kindlichen Menſchheit bleiben.
Daß nun zu dieſer Welt von Neigungen
ſelbſt Zuſtaͤnde gehoͤren, die wir uns aus ei-
nem Betruge unſrer Zeit oft viel zu fremde
und ſchrecklich dichten, duͤrfte eine Jnduktion
nach der andern zeigen. — Wir haben uns
einen Deſpotismus des Drients aus den
uͤbertriebenſten, gewaltſamſten Erſcheinungen
meiſt
� [11/0015]
meiſt verfallender Reiche abgeſondert, die ſich
mit ihm nur in ihrer letzten Todesangſt ſtraͤu-
ben, (eben dadurch aber auch Todesangſt zei-
gen!) — und da man nun nach unſern eu-
ropaͤiſchen Begriffen (und vielleicht Gefuͤhlen)
von nichts ſchrecklicherm als Deſpotismus
ſprechen kann: ſo troͤſtet man ſich, ihn von
ſich ſelbſt ab, in Umſtaͤnde zu bringen, wo er
gewiß nicht das ſchreckliche Ding war, das
wir uns aus unſerm Zuſtande an ihm traͤu-
men. b) Mags ſeyn, daß im Zelte des Pa-
triarchen allein Anſehen, Vorbild, Autoritaͤt
herrſchte, und daß alſo, nach der aufgefaͤdelten
Sprache unſrer Politik, Furcht, die Triebfe-
der dieſes Regiments war — laß dich doch,
o Menſch, vom Worte des Fachphiloſophen c)
nicht irren, ſondern ſiehe erſt, was es denn
fuͤr ein Anſehen, was fuͤr eine Furcht ſey?
Giebts nicht in jedem Menſchenleben ein Al-
ter, wo wir durch trockne und kalte Vernunft
nichts, aber durch Neigung, Bildung, nach
Auto-
b) Boulenger du deſpotisme oriental: Voltaire
phil. de l’hiſtoir. — de la Tolerance etc.
Helvet. de l’Eſprit Diſc. III etc. etc.
c) Montesquieu’s Schaaren Nachfolger und imitatorum ſervum p. — � [12/0016]
Autoritaͤt Alles lernen? wo wir fuͤr Gruͤbe-
ley und Raiſonnement des Guten, Wahren
und Schoͤnen kein Ohr, keinen Sinn, keine
Seele; aber fuͤr die ſogenannten Vorurtheile
und Eindruͤcke der Erziehung Alles haben —
ſiehe! dieſe ſogenannte Vorurtheile, ohne Bar-
bara celarent aufgefaßt, und von keiner De-
monſtration des Naturrechts begleitet, wie
ſtark, wie tief, wie nuͤtzlich und ewig! —
Grundſaͤulen alles deſſen, was ſpaͤter uͤber ſie
gebaut werden ſoll, oder vielmehr ſchon ganz
und gar Keime, aus dem ſich alles Spaͤtere
und Schwaͤchere, es heiße ſo glorwuͤrdig als
es wolle (jeder vernuͤnftelt doch nur nach ſei-
ner Empfindung) entwickelt — alſo die ſtaͤrk-
ſten, ewigen faſt goͤttlichen Zuͤge, die unſer
ganzes Leben beſeligen oder verderben; mit
denen, wenn ſie uns verlaſſen, uns alles ver-
laͤßt — — Und ſiehe, was jedem einzelnen
Menſchen in ſeiner Kindheit unumgaͤnglich
noth iſt: dem ganzen Menſchengeſchlecht in
ſeiner Kindheit gewiß nicht weniger. Was
du Deſpotismus in ſeinem zarteſten Keime
nenneſt, und eigentlich nur Vaterautoritaͤt
war, Haus und Huͤtte zu regieren — ſiehe
wies Dinge ausrichtete, die du jetzt mit alle
deiner kalten Philoſophie des Jahrhunderts
wohl
� [13/0017]
wohl unterlaſſen muͤſſeſt! wies das, was Recht
und Gut war, oder wenigſtens ſo duͤnkte,
zwar nicht demonſtrirte, aber dafuͤr in ewige
Formen veſtſchlug, mit einem Glanze von
Gottheit und Vaterliebe, mit einer ſuͤßen
Schlaube fruͤher Gewohnheit, und allem
Lebendigen der Kindesideen aus ſeiner Welt,
mit allem erſten Genuß der Menſchheit in
Ein Andenken zauberte, dem Nichts, nichts
auf der Welt zu gleichen. Wie nothwendig!
wie gut! fuͤrs ganze Geſchlecht wie nuͤtzlich!
da wurden Grundſteine gelegt, die auf andre
Art nicht gelegt werden konnten, nicht ſo leicht
und tief gelegt werden konnten — ſie liegen!
Jahrhunderte haben druͤber gebaut, Stuͤrme
von Weltalter haben ſie, wie den Fuß der Py-
ramiden mit Sandwuͤſten uͤberſchwemmet
aber nicht zu erſchuͤttern vermocht — ſie
liegen noch! und gluͤcklich, da alles auf ih-
nen ruht.
Morgenland, du hiezu recht auserwaͤhlter Boden Gottes! die zarte Empfindlichkeit die- ſer Gegenden, mit der raſchen, fliegenden Ein- bildung, die ſo gern alles in goͤttlichen Glanz kleidet: Ehrfurcht vor allem, was Macht, Anſehn, Weisheit, Kraft, Fußſtapfe Gottes iſt,
und
� [41[14]/0018]
und ſo dann gleich kindliche Ergebung, die
ſich ihnen natuͤrlich, uns Europaͤern unbe-
greiflich, mit dem Gefuͤhl von Ehrfurcht mi-
ſchet: der wehrloſe, zerſtreute, ruheliebende,
Heerdenaͤhnliche Zuſtand des Hirtenlebens,
das ſich auf einer Ebne Gottes milde und ohn
Anſtrengung ausleben will — alle das, mehr
und weniger von Umſtaͤnden unterſtuͤtzt, frey-
lich hats in der ſpaͤtern Folge auch dem Deſ-
potismus der Eroberer volle Materialien ge-
liefert, ſo volle Materialien, daß Deſpotismus
vielleicht ewig in Orient ſeyn wird, und noch
kein Deſpotismus in Orient durch fremde
aͤußere Kraͤfte geſtuͤrzt worden: er muſte nur
immer, weil ihm nichts entgegenſtand, und
er ſich unermaͤßlich ausbreitete, allein durch
eigne Laſt zerfallen. Allerdings hat dieſer
Deſpotismus auch oft die ſchrecklichſten Wuͤr-
kungen hervorgebracht, und wie der Philo-
ſoph ſagen wird, die ſchrecklichſte von allen,
daß kein Morgenlaͤnder, als ſolcher, noch
kaum von einer menſchlichen, beſſern Ver-
faſſung, innigen Begrif haben kann. —
Aber alle das ſpaͤter dahingeſtellt, und zuge-
geben: Anfangs unter der milden Vaterre-
gierung war nicht eben der Morgenlaͤnder mit
ſeinem zarten Kindesſinne der gluͤcklichſte
und
� [15/0019]
und folgſamſte Lehrling? Alles ward als
Muttermilch und vaͤterlicher Wein gekoſtet!
Alles in Kindesherzen aufbewahrt und da mit
dem Siegel goͤttlicher Autoritaͤt verſiegelt!
der menſchliche Geiſt bekam die erſten Formen
von Weisheit und Tugend mit einer Einfalt,
Staͤrke und Hoheit, die nun — gerade her-
ausgeſagt — in unſrer philoſophiſchen, kal-
ten europaͤiſchen Welt wohl nichts, gar nichts
ihres gleichen hat. Und eben weil wir ſo
unfaͤhig ſind, ſie mehr zu verſtehen! zu fuͤh-
len! geſchweige denn zu genießen — ſo ſpot-
ten wir, laͤugnen und mißdeuten! der beſte
Beweiſ!
Ohne Zweifel gehoͤrt hiezu auch Religion, oder vielmehr war Religion „das Element, „in dem das alles lebt’ und webte.“ Auch von allem goͤttlichen Eindruck bey Schoͤ- pfung und fruͤheſter Pflege des Menſchenge- ſchlechts, (dem Ganzen ſo noͤthig als jedem einzelnen Kinde nach ſeiner Geburt, Pflege der Eltern) von alle dem auch den Blick ent- fernt, wenn Greis, Vater, Koͤnig ſo natuͤrlich Gottes Stelle vertrat, und ſich eben ſo na- tuͤrlich der Gehorſam unter vaͤterlichen Wil- len, das Ankleben an alte Gewohnheit, und
die
� [16/0020]
die ehrfurchtvolle Ergebung in den Wink
des Obern, der das Andenken alter Zeiten
hatte, d) mit einer Art von kindlichem Reli-
gionsgefuͤhl miſchet — muftens denn, wie
wir aus dem Geiſt und Herzen unſrer Zeit ſo
ſicher waͤhnen, e) nichts anders als Betruͤ-
ger und Boͤſewichter ſeyn, die dergleichen
Jdeen aufdrangen, argliſtig erdichtet hatten,
und argwuͤteriſch mißbrauchten? Mags ſeyn,
daß dergleichen Religionsgefuͤhl, als Element
unſrer Handlungen, fuͤr unſern philoſophi-
ſchen Welttheil, fuͤr unſere gebildete Zeit,
fuͤr unſre freydenkende Verfaſſung von in-
nen und außen aͤußerſt ſchaͤndlich und ſchaͤd-
lich waͤren (ich glaube, ſie iſt, was noch
mehr iſt, leider! fuͤr ihn gar unmoͤglich) laß
es ſeyn, daß die Boten Gottes, wenn ſie jetzt
erſchienen, Betruͤger und Boͤſewichter waͤren:
ſiehſt du nicht, daß es mit dem dortigen Geiſt
der Zeit, des Landes, der Stufe des Men-
ſchengeſchlechts ganz anders iſt? Blos ſchon
die aͤlteſte Philoſophie und Regierungsform
hat ſo natuͤrlich in allen Laͤndern urſpruͤnglich
Theologie ſeyn muͤſſen! — — Der Menſch
ſtaunt alles an, ehe er ſieht: kommt nur durch
Ver
d) Montesq. eſpr. l. 24. 25.
e) Voltaire phil. de l’hiſt. Helvet Boulanger etc. � [17/0021]
Verwunderung zur hellen Jdee des Wahren
und Schoͤnen; nur durch Ergebung und Ge-
horſam zum erſten Beſitz des Guten — ſo
gewiß auch das menſchliche Geſchlecht. Haſt
du je einem Kinde aus der philoſophiſchen
Grammatik Sprache beygebracht? aus der
abgezogenſten Theorie der Bewegung es gehn
gelernt? hat ihm die leichteſte oder ſchwereſte
Pflicht aus einer Demonſtration der Sitten-
lehre begreiflich gemacht werden muͤſſen? und
duͤrfen? und koͤnnen? Gottlob eben! daß ſies
nicht duͤrfen und koͤnnen! Dieſe zarte Natur,
unwiſſend und dadurch auf alles begierig,
leichtglaͤubig und damit alles Eindrucks faͤ-
hig, zutrauendfolgſam, und damit geneigt,
auf alles Gute gefuͤhrt zu werden, alles mit
Einbildung, Staunen, Bewundrung erfaſſend,
aber eben damit auch alles um ſo veſter und
wunderbarer ſich zueignend — „Glaube,
„Liebe und Hofnung in ſeinem zarten Herzen,
„die einzigen Saamenkoͤrner aller Kennt-
„niſſe, Neigungen und Gluͤckſeligkeit„ —
tadelſt du die Schoͤpfung Gottes? oder ſiehſt
du nicht in jedem deiner ſo genannten Fehler
Vehikulum, einziges Vehikulum alles Gu-
ten? Wie thoͤricht wenn du dieſe Unwiſſen-
heit und Bewundrung, dieſe Einbildung und
Ehr-
B�
[18/0022]
Ehrfurcht, dieſen Enthuſiasmus und Kindes-
ſinn mit den ſchwaͤrzeſten Teufelsgeſtalten
deines Jahrhunderts, Betruͤgerey und
Dummheit, Aberglaub’ und Sklaverey,
brandmarken, dir ein Heer von Prieſterteu-
feln und Tyrannengeſpenſtern erdichten willt,
die nur in deiner Seele exiſtiren! wie tauſend-
mal mehr thoͤrigt, wenn du einem Kinde dei-
nen philoſophiſchen Deismus, deine aͤſthe-
tiſche Tugend und Ehre, deine allgemeine
Voͤlkerliebe voll toleranter Unterjochung,
Ausſaugung und Aufklaͤrung nach hohem
Geſchmack deiner Zeit großmuͤthig goͤnnen
wollteſt! Einem Kinde? O du das aͤrgſte,
thoͤrichtſte Kind! und raubteſt ihm damit ſeine
beßre Neigungen, die Seligkeit und Grund-
veſte ſeiner Natur; machteſt es, wenn dir der
unſinnige Plan gelaͤnge, zum unertraͤglichſten
Dinge in der Welt — einem Greiſe von
drey Jahren.
Unſer Jahrhundert hat ſich den Namen: Philoſophie! mit Scheidewaſſer vor die Stirn gezeichnet, das tief in den Kopf ſeine Kraft zu aͤußern ſcheint — ich habe alſo den Seiten- blick dieſer philoſophiſchen Kritik der aͤlteſten Zeiten, vor der jetzt bekanntlich alle Philoſo-
phien
� [19/0023]
phien der Geſchichte, und Geſchichten der
Philoſophie voll ſind, mit einem Seitenblicke
obwohl Unwillens und Eckels erwiedern muͤſ-
ſen, ohne daß ich mich um die Folgen des
Einen und des Andern zu bekuͤmmern noͤthig
finde. Gehe hin, mein Leſer, und fuͤhle noch
jetzt hinter Jahrtauſenden die ſo lang erhaltne
reine morgenlaͤndiſche Natur, belebe ſie dir
aus der Geſchichte der aͤlteſten Zeiten, und
du wirſt „Neigungen antreffen, wie ſie nur
in dem Lande, auf die Art, zu den großen
Zwecken der Vorſehung aufs Menſchenge-
ſchlecht hinab gebildet werden konnten„ —
Welch ein Gemaͤhlde, wenn ichs dir liefern koͤnn-
te, wie es war!
Die Vorſehung leitete den Faden der Entwick-
lung weiter — vom Euphrat, Oxus und
Ganges herab, zum Nil und an die phoͤni-
ciſchen Kuͤſten — große Schritte!
Es iſt ſelten ohne Ehrfurcht, daß ich mich vom alten Aegypten und von der Betrachtung entferne, was es in der Geſchichte des menſchli- chen Geſchlechts geworden! Land, wo ein
Theil
B 2�
[20/0024]
Theil des Knabenalters der Menſchheit an
Neigungen und Kaͤnntniſſen gebildet werden
ſollte, wie in Orient die Kindheit! Eben ſo
leicht und unvermerkt als dort die Geneſe, war
hier die Metamorphoſe.
Aegypten war ohne Viehweide und Hir- tenleben: der Patriarchengeiſt der erſten Huͤtte gieng alſo verlohren. Aber aus Nilſchlamm gebildet und von ihm befruchtet, gabs, bey- nahe eben ſo leicht, den vortreflichſten Acker- bau: Alſo ward die Schaͤferwelt von Sit- ten, Neigungen, Kaͤnntniſſen ein Bezirk von Ackermenſchen. Das Wanderleben hoͤrte auf: es wurden veſte Sitze, Landeigenthum. Laͤnder muſten ausgemeſſen, jedem das Seine beſtimmt, jeder bey dem Seinen beſchuͤtzt wer- den: jeden konnte man alſo auch bey dem Seinen ſinden — es ward Landesſicherheit, Pflege der Gerechtigkeit, Ordnung, Policey, wie alles im Wanderleben des Orients nie moͤglich geweſen: es ward neue Welt. Nun kam eine Jnduſtrie auf, wie ſie der ſelige, muͤßige Huͤttenwohner, der Pilger und Fremd- ling auf Erden, nicht gekannt hatte: Kuͤnſte erfunden, die jener weder brauchte noch zu brauchen Luſt fuͤhlte. Bey dem Geiſt aͤgypti-
ſcher
� [21/0025]
ſcher Genauigkeit und Ackerfleißes konnten
dieſe Kuͤnſte nicht anders, als zu einem hohen
Grad mechaniſcher Vollkommenheit gelan-
gen: der Sinn des ſtrengen Fleißes, der Si-
cherheit und Ordnung gieng durch alles: je-
der war in der Kunde der Geſetzgebung, der-
ſelben mit Beduͤrfniß und Genuß verpflichtet:
alſo ward auch der Menſch unter ſie gefeſ-
ſelt: die Neigungen, die dort blos vaͤterlich,
kindlich, ſchaͤfermaͤßig, patriarchiſch gewe-
ſen waren, wurden hier buͤrgerlich, doͤrflich
ſtaͤdtiſch. Das Kind war dem Fluͤgelkleide
entwachſen: der Knabe ſaß auf der Schulbank
und lernte Ordnung, Fleiß, Buͤrgerſitten.
Eine genaue Vergleichung des morgenlaͤn- diſchen und aͤgyptiſchen Geiſtes muͤſte zeigen, daß meine Analogie von menſchlichen Lebens- altern hergenommen, nicht Spiel ſey. Of- fenbar war allem, was beyde Alter auch ge- meinſchaftlich hatten, der himmliſche Anſtrich genommen, und es mit Erdehaltung und Ackerleim verſetzt: Aegyptens Kaͤnntniſſe wa- ren nicht mehr vaͤterliche Orakelſpruͤche der Gottheit, ſondern ſchon Geſetze, Politiſche Regeln der Sicherheit, und der Reſt von je- nen ward blos als heiliges Bild an die Tafel
ge-
B 3�
[22/0026]
gemahlt, daß es nicht untergienge, daß der
Knabe davor ſtehen, entwickeln und Weisheit
lernen ſollte. Aegyptens Reigungen nicht
mehr ſo kindeszart als die in Orient: das
Familiengefuͤhl ſchwaͤchte ſich, und ward da-
fuͤr Sorge fuͤr dieſelbe, Stand, Kuͤnſtlerta-
lent, das ſich mit dem Stande, wie Haus
und Acker forterbte. Aus dem muͤßigen Zelte,
wo der Mann herrſchte, war eine Huͤtte der
Arbeit geworden, wo auch das Weib ſchon
Perſon war, wo der Patriarch jetzt als Kuͤnſt-
ler ſaß, und ſein Leben friſtete. Die freye
Aue Gottes voll Heerden, ein Acker voll Doͤr-
fer und Staͤdte: das Kind, was Milch und
Honig aß, ein Knabe, der uͤber ſeine Pflichten
mit Kuchen belohnt wurde — — es webte
neue Tugend durch alles, die wir aͤgyptiſchen
Fleiß, Buͤrgertreue nennen wollen, die aber
nicht orientaliſches Gefuͤhl war. Dem Mor-
genlaͤnder, wie eckelt ihm noch jetzt Ackerbau,
Staͤdteleben, Sklaverey in Kunſtwerkſtaͤten!
wie wenig Anfaͤnge hat er noch nach Jahrtau-
ſenden in alle dem gemacht: er lebt und webt
als ein freyes Thier des Feldes. Der Aegyp-
ter im Gegentheil, wie haßte und eckelte er
den Viehhirten, mit allem was ihm anklebte!
eben wie ſich nachher der feinere Grieche wie-
der
� [23/0027]
der uͤber den laſtbaren Aegypter erhob —
es hieß nichts, als dem Knaben eckelte das
Kind in ſeinen Windeln, der Juͤngling haßte
den Schulkerker des Knabens; im Ganzen aber
gehoͤren alle drey auf- und nacheinander.
Der Aegypter ohne morgenlaͤndiſchen Kindes-
unterricht waͤre nicht Aegypter, der Grieche
ohne aͤgyptiſchen Schulfleiß nicht Grieche —
eben ihr Haß zeigt Entwickelung, Fortgang,
Stufen der Leiter!
Zum Erſtaunen ſind ſie, die leichtern Wege der Vorſehung: ſie, die das Kind durch Re- ligion lockte und erzog, entwickelte den Kna- ben durch nichts als Beduͤrfniſſe und das liebe Muß der Schule. Aegypten hatte keine Weiden — der Einwohner mußte alſo Acker- bau wohl lernen, wie ſehr erleichterte ſie ihm dies ſchwere Lernen durch den fruchtbringen- den Nil. Aegypten hatte kein Holz: man muſte mit Stein bauen lernen: Steingruben gnug da: der Nil bequem da, ſie fortzubrin- gen — wie hoch iſt die Kunſt geſtiegen! wie viel entwickelte ſie andre Kuͤnſte! der Nil uͤberſchwemmte: man brauchte Ausmeſſun- gen, Ableitungen, Daͤmme, Kanaͤle, Staͤd- te, Doͤrfer — auf wie mancherley Weiſe
ward
B 4�
[24/0028]
ward man am Erdklos angeheftet! aber wie
viel Einrichtung entwickelte auch der Erd-
klos! Er iſt mir auf der Charte nichts als
Tafel voll Figuren, wo jeder Sinn entwickelt
hat: ſo original dies Land und ſeine Pro-
dukte, ſo eine eigne Menſchengattung! Der
menſchliche Verſtand hat viel in ihm gelernt,
und vielleicht iſt keine Gegend der Erde, wo
dies Lernen ſo offenbar Kultur des Bodens
geweſen als hier. Sina iſt noch ſein Nach-
bild: man urtheile und errathe.
Auch hier wieder Thorheit, eine einzige aͤgyptiſche Tugend aus dem Lande, der Zeit und dem Knabenalter des menſchlichen Geiſtes herauszureißen, und mit dem Maasſtabe ei- ner andern Zeit zu meſſen! Konnte, wie ge- zeigt, ſich ſchon der Grieche ſo ſehr am Aegyp- ter irren und der Morgenlaͤnder den Aegypter haſſen: ſo duͤnkt mich, ſollts doch erſter Ge- danke ſeyn, ihn blos auf ſeiner Stelle zu ſe- hen, oder man ſieht, zumal aus Europa her, die verzogenſte Fratze. Die Entwicklung ge- ſchah aus Orient und der Kindheit heruͤber — natuͤrlich muſte alſo noch immer Religion, Furcht, Autoritaͤt, Deſpotismus das Vehi- kulum der Bildung werden: denn auch mit
dem
� [25/0029]
dem Knaben von ſieben Jahren laͤßt ſich noch
nicht, wie mit Greis und Manne vernuͤnfteln.
Natuͤrlich muſte alſo auch, nach unſerm Ge-
ſchmack, dies Vehikulum der Bildung harte
Schlaube, oft ſolche Ungemaͤchlichkeiten, ſo
viel Krankheiten verurſachen, die man
Knabenſtreitigkeiten und Kantorskriege
nennt. Du kannſt ſo viel Galle du willt,
uͤber den aͤgyptiſchen Aberglauben und das
Pfaffenthum ausſchuͤtten, als z. B. jener lie-
benswuͤrdige Plato Europens, f) der nur al-
les zu ſehr nach griechiſchem Urbilde modeln
will, gethan hat — alles wahr! alles gut,
wenn das Aegyptenthum fuͤr dein Land und
deine Zeit ſeyn ſollte. Der Rock des Knabens
iſt allerdings fuͤr den Rieſen zu kurz! und dem
Juͤnglinge bey der Braut der Schulkerker an-
eckelnd: aber ſiehe! dein Talar iſt fuͤr jenen
wieder zu lang, und ſiehſt du nicht, wenn du
etwas aͤgyptiſchen Geiſt kenneſt, wie deine buͤr-
gerliche Klugheit, philoſophiſcher Deiſmus,
leichte Taͤndeley, Umlauf in alle Welt, To-
leranz, Artigkeit, Voͤlkerrecht und wie der
Kram weiter heiße, den Knaben wieder zum
elenden Greisknaben wuͤrde gemacht haben.
Er
f) Shaftosburi Caract. T. III. Miſcell.
B 5� [26/0030]
Er muſte eingeſchloſſen ſeyn; eine gewiſſe Pri-
vation von Kaͤnntniſſen, Neigungen und Tu-
genden, muſte da ſeyn, um das zu entwickeln,
was in ihm lag, und jetzt in der Reihe der
Weltbegebenheiten nur das Land, die Stelle
entwickeln konnte! Alſo waren ihm dieſe Nach-
theile, Vortheile, oder unvermeidliche Uebel,
wie die Pflege mit fremden Jdeen dem Kinde,
Streifereyen und Schulzucht dem Knaben —
warum willt du ihn von ſeiner Stelle, aus ſei-
nem Lebensalter ruͤcken — den armen Kna-
ben toͤdten? — — Welch eine große Biblio-
thek von ſolchen Buͤchern! bald die Aegypter
zu alt gemacht, und aus ihren Hieroglyphen,
Kunſtanfaͤngen, Polieeyverfaſſungen, welche
Weisheit geklaubt! g) bald ſie wieder gegen
die Griechen ſo tief verachtet h) — blos weil
ſie Aegypter und nicht Griechen waren, wie
meiſt die Liebhaber der Griechen, wenn ſie aus
ihrem Lieblingslande kamen. Offenbares
Unrecht!
Der
g) Kircher, D’origni, Blackwell u. ſ. w.
h) Wood, Webb, Winkelmann, Neuton, Voltaire bald eins, bald das andere, pro loco et Tempore. � [27/0031]
Der beſte Geſchichtſchreiber der Kunſt des
Alterthums Winkelmann, hat uͤber die Kunſt-
werke der Aegypter offenbar nur nach griechi-
ſchem Maasſtabe geurtheilt, ſie alſo verneinend
ſehr gut, aber nach eigner Natur und Art ſo
wenig geſchildert, daß faſt bey jedem ſeiner
Saͤtze in dieſem Hauptſtuͤck das offenbar Ein-
ſeitige und Schielende vorleuchtet. So Webb,
wenn er ihre Literatur der Griechiſchen ent-
gegenſetzt: ſo manche andre, die uͤber aͤgypti-
ſche Sitten und Regierungsform gar mit
europaͤiſchem Geiſt geſchrieben haben — Und
da es den Aegyptern meiſtens ſo geht, daß man
zu ihnen aus Griechenland und alſo mit blos
griechiſchem Auge kommt — Wie kanns ih-
nen ſchlechter gehen? Aber theurer Grieche!
dieſe Bildſaͤulen ſollten nun nichts weniger
(wie du aus allem wahrnehmen koͤnnteſt)
als Muſter der ſchoͤnen Kunſt nach deinem
Jdeal ſeyn! voll Reitz, Handlung, Bewegung,
wo von allem der Aegypter nichts wuſte, oder
was ſein Zweck ihm gerade wegſchnitt. Mu-
mien ſollten ſie ſeyn! Erinnerungen an ver-
ſtorbne Aeltern oder Vorfahren nach aller
Genauigkeit ihrer Geſichtszuͤge, Groͤße nach
hundert veſtgeſetzten Regeln, an die der Kna-
be gebunden war — Alſo natuͤrlich eben ohne
Reitz,
� [28/0032]
Reitz, ohne Handlung, ohne Bewegung, eben
in dieſer Grabesſtellung mit Haͤnd und Fuͤſ-
ſen voll Ruhe und Tod — ewige Marmor-
mumien! ſiehe, das ſollten ſie ſeyn, und ſinds
auch! Sinds im hoͤchſten Mechaniſchen der
Kunſt! im Jdeal ihrer Abſicht! — wie
geht nun dein ſchoͤner Tadeltraum verlohren!
Wenn du auf zehnfache Weiſe den Knaben
durch ein Vergroͤßerungsglas zum Rieſen er-
hoͤbeſt und ihn belichteteſt, du kannft nichts
mehr in ihm erklaͤren; alle Knabenhaltung
iſt weg, und iſt doch nichts minder, als Rieſe!
Die Phoͤnicier waren, oder wuͤrden, ſo
verwandt ſie den Aegyptern waren, gewiſſer-
maaße, ihre Gegenſeite von Bildung. Jene,
wenigſtens in den ſpaͤtern Zeiten, Haſſer des
Meers und der Fremden, um einheimiſch nur
„alle Anlagen und Kuͤnſte ihres Landes zu
entwickeln;„ dieſe zogen ſich hinter Berg und
Wuͤſte an eine Kuͤſte, um eine neue Welt auf
dem Meere zu ſtiften — Und auf welchem
Meere? auf einem Jnſelnſunde, einem Bu-
ſen zwiſchen Laͤndern, das recht dahin geleitet,
mit Kuͤſten, Jnſeln, und Landſpitzen gebildet
zu
� [29/0033]
zu ſeyn ſchien, um einer Nation die Muͤhe
des Schwimmens, und Landſuchens zu er-
leichtern — wie beruͤhmt biſt du Archipelag
und Mittelmeer in der Geſchichte des menſchli-
chen Geiſtes! Ein erſter handelnder Staat,
ganz auf Handel gegruͤndet, der die Welt
zuerſt uͤber Aſien hinaus recht ausbreitete,
Voͤlker pflanzte und Voͤlker band — welch
ein großer neuer Schritt zur Entwicklung!
Nun muſte freylich das morgenlaͤndiſche Hir-
tenleben mit dieſem werdenden Staat faſt
ſchon unvergleichbar werden: Familienge-
fuͤhl, Religion und ſtiller Landgenuß des Le-
bens ſchwand: die Regimentsform that einen
gewaltigen Schritt zur Freyheit der Republik,
von der weder Morgenlaͤnder noch Aegypter
eigentlich Begrif gehabt: Auf einer handeln-
den Kuͤſte muſten bald wider Wiſſen und Wil-
len gleichſam Ariſtokratien von Staͤdten, Haͤu-
ſern und Familien werden — mit allem welch
eine Veraͤnderung in Form menſchlicher Ge-
ſellſchaft. Als alſo Haß gegen die Fremden
und Verſchloſſenheit von andern Voͤlkern
ſchwand, ob der Phoͤnicier gleich nicht aus
Menſchenliebe Nationen beſuchte, es ward
eine Art von Voͤlkerliebe, Voͤlkerbekannt-
ſchaft, Voͤlkerrecht ſichtbar, von dem denn
nun
� [30/0034]
nun wohl ganz natuͤrlich ein eingeſchloßner
Stamm oder ein kolchiſches Voͤlkchen nichts
wiſſen konnte. Die Welt wurde weiter:
Menſchengeſchlechter verbundner und enger.
Mit dem Handel eine Menge Kuͤnſte entwi-
ckelt, ein ganz neuer Kunſttrieb inſonderheit,
fuͤr Vortheil, Bequemlichkeit, Ueppigkeit
und Pracht! Auf einmal ſtieg der Fleiß der
Menſchen von der ſchweren Pyramidenin-
duſtrie und dem Ackerfleiße in ein „niedliches
kleinerer Beſchaͤftigungen„ hinunter. Statt
jener unnuͤtzen, theilloſen Obelisken wandte
ſich die Baukunſt auf theilvolle, und in jedem
Theil nutzbare Schiffe. Aus der ſtummen,
ſtehenden Pyramide ward der wandelnde,
ſprechende Maſt. Hinter der Bildnerey und
Werkarbeit der Aegypter ins Große und Un-
geheuer, ſpielte man jetzt ſo vortheilhaft mit
Glas, mit zerſtuͤcktem, gezeichnetem Metall,
Purpur und Leinwand, Geraͤthſchaft vom Li-
banon, Schmuck, Gefaͤßen, Zierrath —
man ſpielts fremden Nationen in die Haͤnde —
welch andre Welt von Beſchaͤftigung! von
Zweck, Nutzen, Neigung, Seelenanwen-
dung! Nun muſte natuͤrlich aus der ſchweren,
geheimnißreichen Hieroglyphenſchrift „leich-
te, abgekuͤrzte, braͤuchliche Rechen- und
Buch-
� [31/0035]
Buchſtabenkunſt werden: nun muſte der Be-
wohner des Schiffs und der Kuͤſte, der expa-
triirte Seeſtreicher und Voͤlkerkaͤufer dem
Bewohner des Zelts und der Ackerhuͤtte ein
ganz anderes Geſchoͤpf duͤnken: der Morgen-
laͤnder muſte ihm vorwerfen koͤnnen, daß er
Menſchliches, der Aegypter, daß er Vater-
landsgefuͤhl geſchwaͤcht, jener, daß er Liebe
und Leben, dieſer, daß er Treue und Fleiß ver-
lohren: jener, daß er vom heiligen Gefuͤhl
der Religion nichts wiſſe, dieſer, daß er das
Geheime der Wiſſenſchaften, wenigſtens in
Reſten auf ſeine Handelsmaͤrkte zur Schau
getragen.„ Alles wahr. Nur entwickelte ſich
dagegen auch etwas ganz anderes, (was ich
zwar keinesweges mit jenem zu vergleichen
willens bin: denn ich mag gar nicht verglei-
chen!) phoͤniciſche Regſamkeit und Klugheit,
eine neue Art Bequemlichkeit und Wohlle-
ben, der Uebergang zum griechiſchen Ge-
ſchmack, und eine Art Voͤlkerkunde der Ueber-
gang zur griechiſchen Freyheit. Aegypter
und Phoͤnicier waren alſo bey allem Kon-
traſte der Denkart, Zwillinge einer Mutter des
Morgenlands, die nachher gemeinſchaftlich
Griechenland und ſo die Welt weiter hinaus
bildeten. Alſo beyde Werkzeuge der Fort-
leitung
� [32/0036]
leitung in den Haͤnden des Schickſals, und
wenn ich in der Allegorie bleiben darf, der
Phoͤnicier, der erwachſenere Knabe, der umher-
lief und die Reſte der uralten Weisheit und
Geſchicklichkeit mit leichterer Muͤnze auf
Maͤrkte und Gaſſen brachte. Was iſt die
Bildung Europens den betruͤgeriſchen, gewinn-
ſuͤchtigen Phoͤniciern ſchuldig! — Und nun
der ſchoͤne griechiſche Juͤngling.
Wie wir uns vor allem der Juͤnglingszeit
mit Luſt und Freude erinnern, Kraͤfte und Glie-
der bis zur Bluͤthe des Lebens ausgebildet:
unſre Faͤhigkeiten bis zur angenehmen Schwatz-
haftigkeit und Freundſchaft entwickelt: Alle
Neigungen auf Freyheit und Liebe, Luſt und
Freude geſtimmt, und alle nun im erſten ſuͤßen
Tone — wie wir die Jahre fuͤrs guͤldne Al-
ter und fuͤr ein Elyſium unſrer Erinnerung
halten (denn wer erinnert ſich ſeiner unent-
wickelten Kindheit?) da am glaͤnzendſten ins
Auge fallen, eben im Aufbrechen der Bluͤthe,
alle unſre kuͤnftige Wuͤrkſamkeit und Hofnun-
gen im Schooſe tragend — in der Geſchichte
der Menſchheit wird Griechenland ewig der
Platz
� [33/0037]
Platz bleiben, wo ſie ihre ſchoͤnſte Jugend
und Brautbluͤthe verlebt hat. Der Knabe iſt
Huͤtte und Schule entwachſen und ſteht da —
edler Juͤngling mit ſchoͤnen geſalbten Glie-
dern, Liebling aller Grazien, und Liebhaber
aller Muſen, Sieger in Olympia und All’
anderm Spiele, Geiſt und Koͤrper zuſammen
nur Eine bluͤhende Blume!
Die Orakelſpruͤche der Kindheit und Lehr- bilder der muͤhſamen Schule waren jetzt bey- nahe vergeſſen; der Juͤngling entwickelte ſich aber daraus alles, was er zu Jugendweisheit und Tugend, zu Geſang und Freude, Luſt und Leben brauchte. Die groben Arbeitkuͤn- ſte verachtete er, wie die blos barbariſche Pracht, und das zu einfache Hirtenleben; aber von allem brach er die Bluͤthe, einer neuen ſchoͤnen Natur. — Hand- werkerey ward durch ihn ſchoͤne Kunſt: der dienſtbare Landbau, freye Buͤrgerzunft, ſchwere Bedeutungsfuͤlle des ſtrengen Ae- gypten, leichte ſchoͤne griechiſche Liebha- berey in aller Art. Nun welche neue ſchoͤne Klaſſe von Neigungen und Faͤhigkeiten, von denen die fruͤhere Zeit nichts wußte, zu denen ſie aber Keim gab. Die Regimentsform,
mußte
C�
[34/0038]
mußte ſie ſich nicht vom orientaliſchen Vater-
deſpotismus durch die aͤgyptiſchen Landzuͤnfte,
und halbe phoͤniciſche Ariſtokratien herabge-
ſchwungen haben, ehe die ſchoͤne Jdee einer
Republik in griechiſchem Sinne, „Gehorſam
„mit Freyheit gepaart, und mit dem Namen
Vaterland umſchlungen„ ſtatt haben konnte?
Die Bluͤthe brach hervor: holdes Phoͤnomenen
der Natur! heißt „griechiſche Freyheit!„ Die
Sitten, mußten ſich vom orientaliſchen Va-
ter- und aͤgyptiſchen Tagloͤhnerſinn durch die
phoͤniciſche Neiſeklugheit gemildert haben:
und ſiehe! die neue ſchoͤne Bluͤthe brach her-
vor „griechiſche Leichtigkeit, Milde- und
Landesfreundſchaft.„ Die Liebe mußte den
Schleyer der Harems durch manche Stuffen
verduͤnnen, ehe ſie das ſchoͤne Spiel der grie-
chiſchen Venus, Amors und der Grazien
ward. So Mythologie, Poeſie, Philoſo-
phie, ſchoͤne Kuͤnſte: Entwickelungen ural-
ter Meime, die hier Jahrszeit und Ort fanden,
zu bluͤhen und in alle Welt zu duften. Grie-
chenland ward die Wiege der Menſchlichkeit,
der Voͤlkerliebe, der ſchoͤnen Geſetzgebung,
des Angenehmſten, in Religion, Sitten,
Schreibart, Dichtung, Gebraͤuchen und
Kuͤnſten. — Alles Jugendfreude, Grazie,
Spiel und Liebe!
Es � [35/0039]
Es iſt zum Theil genug entwickelt, was fuͤr
Umſtaͤnde zu dieſer einzigen Produktion des
Menſchengeſchlechts beygetragen, und ich ſetze
dieſe Umſtaͤnde nur ins Groͤßere der allgemei-
nen Berbindung von Zeitlaͤuften und Voͤl-
kern. Siehe dies ſchoͤne griechiſche Klima
und in ihm das wohlgebildete Menſchenge-
ſchlecht mit freyer Stirn und feinen Sinnen —
ein rechtes Zwiſchenland der Kultur, wo aus
zwey Enden alles zuſammen floß, was ſie ſo
leicht und edel verwandelten! die ſchoͤne Braut
wurde von zweyen Knaben bedient zur Rech-
ten und Linken, ſie that nur ſchoͤn idealiſi-
ren; eben die Miſchung phoͤniciſcher und
aͤgyptiſcher Denkart, deren einer der an-
dern ihr Nationelles und ihren eckichten Ei-
genſinn benahm, formte den griechiſchen Kopf
zum Jdeal, zur Freyheit. Jetzt die ſonder-
baren Anlaͤſſe ihrer Theilung und Vereinigun-
gen von den fruͤheſten Zeiten her: ihre Ab-
trennung in Voͤlker, Republiken, Kolonien,
und doch der gemeinſchaftliche Geiſt derſel-
ben; Gefuͤhl einer Nation, eines Vater-
lands, einer Sprache! — Die beſondern
Gelegenheiten zu Bildung dieſes Allgemein-
geiſts, vom Zuge der Argonauten, und dem
Feldzuge gegen Troja an, bis zu den Siegen
gegen
C 2�
[36/0040]
gegen die Perſer, und die Niederlage gegen den
Macedonier, da Griechenland ſtarb! — Jhre
Einrichtungen gemeinſchaftlicher Spiele und
Nacheiferungen, immer mit kleinen Unter-
ſchieden und Veraͤnderungen, bey jedem klein-
ſten Erdſtrich und Voͤlkchen — alles und zehn-
fach mehr gab Griechenland eine Einheit und
Mannichfaltigkeit, die auch hier das ſchoͤnſte
Ganze machte. Kampf und Beyhuͤlfe, Stre-
ben und Maͤßigen; die Kraͤfte des menſchli-
chen Geiſtes kamen ins ſchoͤnſte Eben- und Une-
benmaaß — Harmonie der griechiſchen Leyer!
Aber daß nun nicht eben damit unſaͤglich vieles von der alten fruͤhern Staͤrke und Nah- rung verlohren gehen mußte, wer wollte das laͤugnen? da den aͤgyptiſchen Hieroglyphen ihre ſchwere Huͤlle abgeſtreift ward, ſo kanns im- mer ſeyn, daß auch ein gewiſſes Tiefe, Be- deutungsvolle, Naturweiſe, was Charakter dieſer Nation war, damit uͤber See verduf- tete: der Grieche behielt nichts als ſchoͤnes Bild, Spielwerk, Augenweide — nennts gegen jenes Schwerere wie ihr wollt; gnug er wollte nur dies! Der Religion des Morgen- landes ward ihr heiliger Schleyer genommen; und natuͤrlich, da alles auf Theater und
Markt,
� [37/0041]
Markt, und Tanzplatz Schau getragen
wurde, wards in kurzem „Fabel, ſchoͤn aus-
„gedehnt, beſchwatzet, gedichtet und neuge-
„dichtet — Juͤnglingstraum und Maͤdchen-
ſage!„ Die morgenlaͤndiſche Weisheit, dem
Vorhange der Myſterien entnommen, ein ſchoͤn
Geſchwaͤtz, Lehrgebaͤude und Zaͤnkerey
der griechiſchen Schulen und Maͤrkte. Der
aͤgyptiſchen Kunſt ward ihr ſchweres Hand-
werksgewand entnommen und ſo verlohr ſich
auch das zu genaue Mechaniſche und Kuͤnſt-
lerſtrenge, wornach die Griechen nicht ſtreb-
ten: der Koloß erniederte ſich zur Bildſaͤule:
der Rieſentempel zum Schauplatz: aͤgyptiſche
Ordnung und Sicherheit ließ in dem Vielfa-
chen Griechenlands von ſelbſt nach. Jener
alte Prieſter konnte in mehr als einem Betracht
ſagen „o ihr ewigen Kinder, die ihr nichts
„wißt und ſo viel ſchwatzt, nichts habt, und
„alles ſo ſchoͤn vorzeiget„ und der alte Mor-
genlaͤnder aus ſeiner Patriarchenhuͤtte wuͤrde
noch heftiger ſprechen — ihnen ſtatt Religion,
Menſchheit und Tugend, nur Bulerey mit alle
dem Schuld geben koͤnnen u. ſ. w. Seys.
Das menſchliche Gefaͤß iſt einmal keiner Voll-
kommenheit faͤhig: muß immer verlaſſen, in-
dem es weiter ruͤckt. Griechenland ruͤckte
wei-
C 3�
[38/0042]
weiter: aegyptiſche Jnduſtrie und Policey
konnte ihnen nicht helfen, weil ſie kein Aegyp-
ten und keinen Nil — phoͤniciſche Handels-
klugheit nicht helfen, weil ſie keinen Libanus
und kein Jndien im Ruͤcken hatte: zur orien-
taliſchen Erziehung war die Zeit vorbey —
gnug! es ward, was es war — Griechen-
land! Urbild und Vorbild aller Schoͤne, Gra-
zie und Einfalt! Tugendbluͤthe des menſchli-
chen Geſchlechts — o haͤtte ſie ewig dauren
koͤnnen!
Jch glaube, der Stand, in den ich Grie- chenland ſtelle, traͤgt auch bey, „den ewigen „Streit uͤber die Originalitaͤt der Griechen „oder ihre Nachahmung fremder Nationen„ etwas zu entwirren: man haͤtte ſich wie uͤberall, alſo auch hier, lange vereinigt, haͤtte man ſich nur beſſer verſtanden. Daß Griechenland Sa- menkoͤrner der Kultur, Sprache, Kuͤnſte und Wiſſenſchaften anders woher erhalten, iſt, duͤnkt mich, unlaͤugbar, und es kann bey einigen, Bildhauerey, Baukunſt, Mytho- logie, Litteratur offenbar gezeigt werden. Aber daß die Griechen dies alles ſo gut als nicht erhalten, daß ſie ihm ganz neue Natur angeſchaffen, daß in jeder Art das „Schoͤne„
im
� [39/0043]
im eigentlichen Verſtande des Worts ganz ge-
wiß ihr Werk ſey — das, glaube ich, wird
aus einiger Fortleitung der Jdeen eben ſo ge-
wiß. Nichts Orientaliſches, Phoͤniciſches und
Aegyptiſches behielt ſeine Art mehr: es ward
Griechiſch und in manchem Betracht waren ſie,
faſt zu ſehr Originale, die alles nach ihrer Art
um- und einkleideten. Von der groͤßten Er-
ßndung und der wichtigſten Geſchichte an, bis
auf Wort und Zeichen — Alles iſt davon
voll: Von Schritt zu Schritt, bey allen Na-
tionen iſts ebenfalls ſo — wer weiter Sy-
ſtem bauen, oder uͤber Namen ſtreiten will,
ſtreite!
Es kam das Mannesalter menſchlicher
Kraͤfte und Beſtrebungen — die Roͤmer.
Gegen die Griechen hat Virgil auf einmal
ſie geſchildert, jenen ſchoͤne Kuͤnſte und Ju-
genduͤbungen uͤberlaſſen.
tu regere imperio populos, Romane, memento. Ungefaͤhr damit auch gegen die Nordlaͤnder ihren Zug geſchildert, die es ihnen viel- leicht an barbariſcher Haͤrte, Staͤrke im
An-
C 4�
[40/0044]
Anfalle, und roher Tapferkeit zuvor thaten;
aber —
tu regere imperio populos — Roͤmertapferkeit idealiſirt: Roͤmertugend, Roͤmerſinn! Roͤmerſtolz! Die großmuͤthi- ge Anlage der Seele, uͤber Wolluͤſte, Weich- lichkeit und ſelbſt das feinere Vergnuͤgen, hin- wegzuſehen, und fuͤrs Vaterland zu wuͤrken: der gefaßte Heldenmuth, nie tollkuͤhn zu ſeyn und ſich in Gefahr zu ſtuͤrzen, ſondern zu harren, zu uͤberlegen, zu bereiten und zu thun: es war der unerſchuͤtterte Gang, durch nichts was Hinderniß heißt, ſich abſchrecken zu laſſen, eben im Ungluͤck am groͤßten zu ſeyn, und nicht zu verzweifeln: es war endlich der große immer unterhaltene Plan, mit nichts wenigern ſich zu begnuͤgen, als bis ihr Adler den Weltkreis deckte — — Wer zu allen die- ſen Eigenſchaften ein vielwichtiges Wort praͤ- gen, darinn zugleich ihre maͤnnliche Gerechtig- keit, Klugheit, das Volle ihrer Entwuͤrfe, Entſchließungen, Ausfuͤhrungen und uͤber- haupt aller Geſchaͤfte ihres Weltbaus begrei- fen kann, der nenne es. — Gnug hier ſtand der Mann, der des Juͤnglings genoß und brauchte, fuͤr ſich aber nur Wunder der Tap-
fer-
� [41/0045]
ferkeit und Maͤnnlichkeit thun wollte; mit
Kopf, Herz und Armen!
Auf welcher Hoͤhe hat das roͤmiſche Volk geſtanden, welchen Rieſentempel auf dieſer Hoͤhe erbaut! Sein Staats- und Kriegsge- baͤude, deſſen Plan und Mittel zur Ausfuͤh- rung — Koloßus fuͤr alle Welt! Konnte in Rom ein Bubenſtuͤck begangen werden, ohne daß Blut in drey Erdtheilen floß? und die großen wuͤrdigen Leute dieſes Reichs wo? und wie wuͤrkten ſie hinaus! was fuͤr Glieder dieſer großen Maſchine faſt unwiſſend mit ſo leichten Kraͤften bewogen! wohin alle ihre Werkzeuge erhoͤht und befeſtigt: Senat und Kriegskunſt — Geſetze und Zucht — Roͤ- merzweck und Staͤrke, ihn auszufuͤhren — ich ſchaure! Was bey den Griechen Spiel, Jugendprobe geweſen war, ward bey ihnen ernſthafte veſte Einrichtung: die griechiſchen Muſter auf einem kleinen Schauplatze, einer Erdenge, einer kleinen Republik; auf der Hoͤhe und mit der Staͤrke aufgefuͤhrt, wur- den Schauthatend der Welt.
Wie man auch die Sache nehme: es war „Reife des Schickſals der alten Welt„ Der
Stamm
C 5�
[42/0046]
Stamm des Baums zu ſeiner groͤßern Hoͤhe
erwachſen, ſtrebte, Voͤlker und Nationen un-
ter ſeinen Schatten zu nehmen, in Zweige.
Mit Griechen, Phoͤniciern, Aegyptern, und
Morgenlaͤndern zu wetteifern, haben die Roͤ-
mer nie zu ihrer Hauptſache gemacht; aber
indem ſie alles was vor ihnen war, maͤnnlich
anwandten — was wurde fuͤr ein roͤmiſcher
Erdkreis! der Name knuͤpfte Voͤlker und
Weltſtriche zuſammen, die ſich voraus nicht
dem Laut nach gekannt hatten. Roͤmiſche
Provinzen! in allen wandelten Roͤmer, roͤ-
miſche Legionen, Geſetze, Vorbilder von Sit-
ten, Tugenden und Laſtern. Die Mauer
ward zerbrochen, die Nation von Nation
ſchied, der erſte Schritt gemacht, die Natio-
nalcharaktere aller zu zerſtoͤren, alle in eine
Form zu werfen, die „Roͤmervolk„ hieß.
Natuͤrlich war der erſte Schritt noch nicht das
Werk: jede Nation blieb bey ihren Rechten,
Freyheiten, Sitten und Religion; ja die
Roͤmer ſchmeichelten ihnen, eine Puppe der
letzten ſelbſt mit in ihre Stadt zu bringen.
Aber die Mauer lag. Jahrhunderte von Roͤ-
merherrſchaft — wie man in allen Weltthei-
len, wo ſie geweſen ſind, ſiehet — wuͤrkten
ſehr viel: Sturm, der die innerſten Kam-
mern
� [43/0047]
mern der Nationaldenkart jedes Volks durch-
drang: mit der Zeit wurden die Bande immer
feſter, endlich ſollte das ganze roͤmiſche Reich
gleichſam nur Stadt Rom werden — alle
Unterthanen Buͤrger — bis es ſelbſt ſank.
Auf keine Weiſe noch von Vortheil oder Nachtheil geredet, allein von Wuͤrkung. Wenn alle Voͤlker unter dem roͤmiſchen Joche gewiſſermaaße die Voͤlker zu ſeyn aufhoͤrten, die ſie waren, und alſo uͤber die ganze Erde eine Staatskunſt, Kriegskunſt und Voͤlker- recht eingefuͤhrt wurde, wovon voraus noch kein Beyſpiel geweſen war: da die Maſchiene ſtand, und da die Maſchiene fiel, und da die Truͤmmern alle Nationen der roͤmiſchen Erde bedeckten — giebts in aller Geſchichte der Jahrhunderte einen groͤßern Anblick! Alle Nationen von- oder auf dieſen Truͤmmern bau- end! Voͤllig neue Welt von Sprachen, Sit- ten, Neigungen und Voͤlkern — es beginnet eine andre Zeit — Anblick, wie aufs weite offenbare Meer neuer Nationen. — Laſſet uns indeſſen noch vom Ufer einen Blick auf die Voͤlker werfen, deren Geſchichte wir durch- laufen ſind.
I. Nie- � [44/0048]
I. Niemand in der Welt fuͤhlt die Schwaͤ-
che des allgemeinen Charakteriſirens mehr als
ich. Man mahlet ein ganzes Volk, Zeitalter,
Erdſtrich — wen hat man gemahlt? Man
faſſet auf einander folgende Voͤlker und Zeit-
laͤufte, in einer ewigen Abwechslung, wie
Wogen des Meeres zuſammen — wen hat
man gemahlt? wen hat das ſchildernde Wort
getroffen? — Endlich man faßt ſie doch in
Nichts, als ein allgemeines Wort zuſammen,
wo jeder vielleicht denkt und fuͤhlt, was er
will — unvollkommenes Mittel der Schil-
derung! wie kann man mißverſtanden wer-
den! —
Wer bemerkt hat, was es fuͤr eine unaus- ſprechliche Sache mit der Eigenheit eines Menſchen ſey, das Unterſcheidende unterſchei- dend ſagen zu koͤnnen? wie Er fuͤhlt und lebet? wie anders und eigen Jhm alle Dinge wer- den, nachdem ſie ſein Auge ſiehet, ſeine Seele mißt, ſein Herz empfindet — welche Tiefe in dem Charakter nur Einer Nation liege, die, wenn man ſie auch oft genug wahrgenommen und angeſtaunet hat, doch ſo ſehr das Wort
fleucht,
� [45/0049]
fleucht, und im Worte wenigſtens ſo ſelten
einem jeden anerkennbar wird, daß er verſtehe
und mitfuͤhle — iſt das, wie? wenn man
das Weltmeer ganzer Voͤlker, Zeiten und Laͤn-
der uͤberſehen, in einen Blick, ein Gefuͤhl,
ein Wort faſſen ſoll! Mattes halbes Schat-
tenbild vom Worte! Das ganze lebendige Ge-
maͤhlde von Lebensart, Gewohnheiten, Be-
duͤrfniſſen, Landes- und Himmelseigenheiten
muͤßte dazu kommen, oder vorhergegangen
ſeyn; man muͤßte erſt der Nation ſympathiſi-
ren, um eine einzige ihrer Neigungen und
Handlungen, alle zuſammen zu fuͤhlen, Ein
Wort finden, in ſeiner Fuͤlle ſich alles den-
ken — oder man lieſet — ein Wort.
Wir glauben alle, noch jetzt vaͤterliche und haͤusliche und menſchliche Triebe zu haben, wie ſie der Morgenlaͤnder: Treue und Kuͤnſt- lerfleiß haben zu koͤnnen, wie ſie der Aegypter beſaß: phoͤniciſche Regſamkeit, griechiſche Freyheitliebe, roͤmiſche Seelenſtaͤrke — wer glaubt nicht zu dem allen, Anlage zu fuͤh- len, wenn nur Zeit Gelegenheit — — und ſiehe! mein Leſer, eben da ſind wir. Der feigſte Boͤſewicht hat ohne Zweifel zum groß- muͤthigſten Helden noch immer entfernte Anlage
und
� [46/0050]
und Moͤglichkeit; aber zwiſchen dieſer und
„dem ganzen Gefuͤhl des Seyns, der Exiſtenz
„in ſolchem Charakter„ — Kluft! fehlte
es dir alſo auch an nichts, als an Zeit, an
Gelegenheit, deine Anlagen zum Morgenlaͤn-
der, zum Griechen, zum Roͤmer in Fertig-
keiten und gediegne Triebe zu verwandeln —
Kluft! nur von Trieben und Fertigkeiten iſt
die Rede. Ganze Natur der Seele, die
durch alles herrſcht, die alle uͤbrige Neigun-
gen und Seelenkraͤfte nach ſich modelt, noch
auch die gleichguͤltigſten Handlungen faͤrbet —
um dieſe mitzufuͤhlen, antworte nicht aus dem
Worte, ſondern gehe in das Zeitalter, in die
Himmelsgegend die ganze Geſchichte, fuͤhle
dich in alles hinein — nun allein biſt du auf
dem Wege, das Wort zu verſtehen; nun allein
aber wird dir auch der Gedanke ſchwinden,
„als ob alles das einzeln oder zuſammen ge-
„nommen auch du ſeyſt!„ du alles zuſammen
genommen? Quinteſſenz aller Zeiten und
Voͤlker? das zeigt ſchon die Thorheit!
Charakter der Nationen! Allein Data ih- rer Verfaſſung und Geſchichte muͤſſen ent- ſcheiden. Hat nicht ein Patriarch, aber außer den Neigungen, die „du ihm beymiſſeſt auch
„andre
� [47/0051]
„andre gehabt? haben koͤnnen?„ ich ſage zu
beyden blos: Allerdings! Allerdings hatte er
andre, Nebenzuͤge, die ſich aus dem, was
ich geſagt oder nicht geſagt, von ſelbſt verſte-
hen, die ich, und vielleicht andre mit mir,
denen ſeine Geſchichte vorſchwebt in dem Worte
ſchon anerkennen, und noch lieber, daß er
weit andres haben koͤnnen — auf anderm
Ort, zu der Zeit, mit dem Fortſchritte der
Bildung unter den andern Umſtaͤnden —
warum da nicht Leonidas, Caͤſar und Abra-
ham ein artiger Mann unſers Jahrhun-
derts? Seyn koͤnnen: aber wars nicht: daruͤ-
ber frage die Geſchichte: davon iſt die Rede.
So mache ich mich ebenfalls auf kleinfuͤ- gige Widerſpruͤche gefaßt, aus dem großen Detail von Voͤlkern und Zeiten. Daß kein Volk lange geblieben und bleiben konnte was es war, daß Jedes, wie jede Kunſt und Wiſſen- ſchaft und was in der Welt nicht? ſeine Perio- de des Wachsthums, der Bluͤthe und der Abnahme gehabt; daß jedwede dieſer Veraͤn- derungen nur das Minimum von Zeit ge- dauert, was ihr auf dem Rade des menſchli- chen Schickſals gegeben werden konnte — daß endlich in der Welt keine zwey Augen-
blicke
� [48/0052]
blicke dieſelbe ſind — daß alſo Aegypter,
Roͤmer und Grieche auch nicht zu allen Zeiten
dieſelben geweſen — ich zittre, wenn ich
denke, was weiſe Leute, zumal Geſchichtken-
ner, fuͤr weiſe Einwendungen hieruͤber machen
koͤnnen! Griechenland beſtand aus vielen Laͤn-
dern: Athenienſer und Boͤotier, Sparta-
ner und Korinthier war ſich nichts minder, als
gleich — — Trieb man nicht auch in Aſien
den Ackerbau? haben nicht Aegypter einmal
eben ſo gut gehandelt, wie Phoͤnicier? Wa-
ren die Macedonier nicht eben ſo wohl Ero-
berer, als die Roͤmer? Ariſtoteles nicht eben
ſo ein ſpekulativer Kopf als Leibnitz? Ueber-
trafen unſre mordiſche Voͤlker nicht die Roͤmer
an Tapferkeit? Waren alle Aegypter, Grie-
chen, Roͤmer — ſind alle Ratten und Maͤuſe
einander gleich — nein! aber ſie ſind doch
Ratten und Maͤuſe!
Wie verdruͤßlich muß es werden, zum Publikum zu reden, wo man vom ſchreyenden Theile, (der edler denkende Theil ſchweigt!) ſich immer dergleichen und noch aͤrgere Ein- wendungen, und in welchem Tone vorgetra- gen, verſehen muß, und ſichs denn zugleich ver- ſehen muß, daß der große Haufe Schaafe,
der
� [49/0053]
der nicht weiß, was rechts und links iſt, dem
ſo gleich nachwaͤhne. Kanns ein allgemeines
Bild ohne Untereinander- und Zuſammen-
ordung? Kanns eine weite Ausſicht geben,
ohne Hoͤhe? Wenn du das Angeſicht dicht an
dem Bilde haͤltſt, an dieſem Spane ſchnitzelſt,
an jenem Farbenkluͤmpchen klaubeſt: nie ſie-
heſt du das ganze Bild — ſieheſt nichts we-
niger als Bild! Und wenn dein Kopf von
einer Gruppe, in die du dich vernarrt haſt,
voll iſt, kann dein Blick wohl ein Ganzes ſo
abwechſelnder Zeitlaͤufte umfaſſen? ordnen?
ſanft verfolgen? bey jeder Scene nur Haupt-
wuͤrkung abſondern? die Verfloͤſſungen ſtill
begleiten? und nun — — nennen! Kannſt
du aber nichts von alle dem! die Geſchichte
flimmert und fackelt dir vor den Augen! ein
Gewirre von Scenen, Voͤlkern, Zeitlaͤuften —
lies erſt und lerne ſehen! Uebrigens weiß ichs,
wie du, daß jedes allgemeine Bild, jeder
allgemeine Begrif nur Abſtraktion ſey —
Schoͤpfer allein iſts, der die ganze Einheit,
einer, aller Nationen, in alle ihrer Man-
nichfaltigkeit denkt, ohne daß ihm dadurch
die Einheit ſchwinde.
II. Alſo
D� [50/0054]
II. Alſo von dieſen kleinfuͤgigen Einwen-
dungen, Zweck und Geſichtspunkt verfehlend,
hinweg! hingeſtellt in die Abſicht des großen
Folgeganzen — wie elend werden „manche
„Modeurtheile unſers Jahrhunderts uͤber
„Vorzuͤge, Tugenden, Gluͤckſeligkeit ſo ent-
„fernter, ſo abwechſelnder Nationen, aus
„blos allgemeinen Begriffen der Schule!„
Jſt die menſchliche Natur keine im Guten ſelbſtſtaͤndige Gottheit: ſie muß alles lernen, durch Fortgaͤnge gebildet werden, im all- maͤhligen Kampf immer weiter ſchreiten; na- tuͤrlich wird ſie alſo von den Seiten am mei- ſten, oder allein gebildet, wo ſie dergleichen Anlaͤſſe zur Tugend, zum Kampf, zum Fort- gange hat — Jn gewiſſem Betracht iſt alſo jede menſchliche Vollkommenheit National, Saͤ- kular und am genaueſten betrachtet, Jndivi- duell. Man bildet nichts aus als wozu Zeit, Klima, Beduͤrfniß, Welt, Schickſal, An- laß giebt: von uͤbrigen abgekehrt: die Nei- gungen oder Faͤhigkeiten, im Herzen ſchlum- mernd, koͤnnen nimmer Fertigkeiten wer- den; die Nation kann alſo bey Tugenden der erhabenſten Gattung von einer Seite, von einer andern Maͤngel haben, Ausnahmen machen,
Wi-
� [51/0055]
Widerſpruͤche und Ungewißheiten zeigen, die
in Erſtaunen ſetzen; aber niemand, als der
ſein idealiſch Schattenbild von Tugend, aus
dem Kompendium ſeines Jahrhunderts mit-
bringt, und Philoſophie gnug hat, um auf
einem Erdenfleck die ganze Erde finden zu
wollen, ſonſt keinen! Fuͤr jeden, der menſch-
liches Herz aus dem Elemente ſeiner Lebens-
umſtaͤnde erkennen will, ſind dergleichen Aus-
nahmen und Widerſpruͤche vollkommen
menſchlich: Proportion von Kraͤften und
Neigungen zu einem gewiſſen Zwecke, der
ohne jene nimmer erreicht werden koͤnnte: alſo
gar keine Ausnahmen, ſondern Regel.
Seis, mein Freund, daß jene kindliche orientaliſche Religion, jene Anhaͤnglichkeit an das weichſte Gefuͤhl des menſchlichen Le- bens auf der andern Seite Schwaͤchen gebe, die du nach dem Muſter andrer Zeiten ver- dammeſt. Ein Patriarch kann kein roͤmiſcher Held, kein griechiſcher Wettlaͤufer, kein Kaufmann von der Kuͤſte ſeyn; und eben ſo wenig, wozu ihn das Jdeal deines Katheders, oder deiner Laune hinaufſchraubte, um ihn falſch zu loben, oder bitter zu verdammen. Seis, daß er nach ſpaͤtern Vorbildern dir
furcht-
D 2�
[52/0056]
furchtſam, todſcheu, weichlich, unwiſſend,
muͤßig, aberglaͤubig, wenn du Galle im Auge
haſt, abſcheulich vorkaͤme: er iſt, wozu ihn
Gott, Klima, Zeit und Stufe des Weltalters
bilden konnte, Patriarch! — Hat alſo gegen
alle Verluſte ſpaͤterer Zeiten, Unſchuld, Got-
tesfurcht, Menſchlichkeit: in denen er fuͤr
jedes ſpaͤte Zeitalter ewig ein Gott ſeyn wird!
der Aegypter kriechend, ſklaviſch, ein Erd-
thier, aberglaͤubiſch und traurig, hart ge-
gen Fremde, ein gedankenloſes Geſchoͤpf der
Gewohnheit — hier gegen den leichten alles
ſchoͤn bildenden Griechen, dort gegen einen
Menſchenfreund im hohen Geſchmack unſers
Jahrhunderts, der alle Weisheit im Kopfe und
alle Welt im Buſen traͤgt — welche Figur!
aber nun auch jenes Unverdroſſenheit, Treue,
ſtarke Ruhe — kannſt du die mit der grie-
chiſchen Knabenfreundſchaft und Jugendbuh-
lerey um alles Schoͤne und Angenehme ver-
gleichen? und wieder griechiſche Leichtigkeit,
Taͤndeley mit Religion, Mangel gewiſſer
Liebe, Zucht und Ehrbarkeit vergleichen,
wenn du ein Jdeal, weiß nicht weſſen nehmen
wollteſt? Konnten aber jene Vollkommenhei-
ten ohne dieſe Maͤngel in dem Maaße und
Grade ausgebildet werden? Die Vorſehung
ſelbſt,
� [53/0057]
ſelbſt, ſieheſt du, hats nicht gefodert, hat
nur in der Abwechslung, in dem Weiter-
leiten durch Weckung neuer Kraͤfte und Er-
ſterbung andrer, ihren Zweck erreichen wol-
len — Philoſoph im nordiſchen Erdenthal,
die Kinderwaage deines Jahrhunderts in der
Hand, weiß du es beſſer, als ſie?
Machtſpruͤche Lobes und Tadels, die wir aus einem aufgefundenen Lieblingsvolke des Alterthums, in das wir uns vergaften, auf alle Welt ſchuͤtten — welches Rechtes ſeyd ihr! Jene Roͤmer konnten ſeyn, wie keine Na- tion; thun, was keiner nachthut: ſie waren Roͤmer. Auf einer Welthoͤhe, und alles rings um ſie Thal. Auf der Hoͤhe von Ju- gend auf, du dem Roͤmerſinn gebildet, han- delten in ihm — was Wunder? Und was Wunder, daß ein kleines Hirten- und Acker- volk in einem Thale der Erde nicht eiſernes Thier war, was ſo handeln konnte? Und was Wunder, daß dies wieder Tugenden hatte, die der edelſte Roͤmer nicht, und der edelſte Roͤmer auf ſeiner Hoͤhe, im Drange der Noth, Grauſamkeiten mit kaltem Blute be- ſchließen konnte, die der Hirte im kleinen Thale denn nun wieder nicht auf der Seele hatte.
Auf
D 3�
[54/0058]
Auf dem Gipfel jener Rieſenmaſchine war lei-
der! die Aufopferung oft Kleinigkeit, oft
Noth, oft (arme Menſchheit, welcher Zu-
ſtaͤnde biſt du faͤhig!) oft Wohlthat. Eben
die Maſchine, die weitreichende Laſter moͤglich
machte, wars, die auch Tugenden ſo hoch
hob, Wuͤrkſamkeit ſo weit ausbreitete: iſt
die Menſchheit uͤberhaupt in Einem jetzigen
Zuſtande reiner Vollkommenheit faͤhig?
Gipfel graͤnzt an Thal. Um edle Spartaner
wohnen unmenſchlich behandelte Heloten. Der
roͤmiſche Triumphator mit Goͤtterroͤthe ge-
faͤrbt iſt unſichtbar auch mit Blute getuͤncht:
Raub, Frevel und Wolluͤſte ſind um ſeinen
Wagen: vor ihm her Unterdruͤckung: Elend
und Armuth zieht ihm nach. — Mangel
und Tugend wohnen alſo auch in dieſem Ver-
ſtande in einer menſchlichen Huͤtte immer bey-
ſammen.
Schoͤne Dichtkunſt, ein Lieblingsvolk der Erde, in uͤbermenſchlichem Glanze zu zaubern — auch iſt die Dichtkunſt nuͤtzlich, denn der Menſch wird auch durch ſchoͤne Vorurtheile veredelt — aber wenn der Dichter ein Ge- ſchichtſchreiber, ein Philoſoph iſt, wie es die meiſten zu ſeyn vorgeben, und die denn
nach
� [55/0059]
nach der einen Form ihrer Zeit — oft iſt ſie
ſehr klein und ſchwach! — alle Jahrhunderte
modeln — Hume! Voltaͤre! Robertſons!
klaßiſche Geſpenſter der Daͤmmerung! was
ſeyd ihr im Lichte der Wahrheit?
Eine gelehrte Geſellſchaft unſrer Zeit i) gab, ohne Zweifel in hoher Abſicht die Frage auf, „welches in der Geſchichte wohl das gluͤck- „lichſte Volk geweſen?„ und verſtehe ich die Frage recht: liegt ſie nicht außer dem Hori- zont einer menſchlichen Beantwortung, ſo weiß ich nicht, als zu gewiſſer Zeit und unter gewiſſen Umſtaͤnden, traf auf jedes Volk ein ſolcher Zeitpunkt, oder es wars nie eines. Jſt nemlich wiederum menſchliche Natur kein Gefaͤß einer abſoluten, unabhaͤngigen, un- wandelbaren Gluͤckſeligkeit, wie der Philo- ſoph ſie definirt: ſie zieht aber uͤberall ſo viel Gluͤckſeligkeit an, als ſie kann: ein bieg- ſamer Ton, ſich in den verſchiedenſten Lagen, Beduͤrfniſſen und Bedruͤckungen auch verſchie-
den
i) Die Herren muͤſſen ein erſchrecklich hohes
Jdeal gehabt haben, denn meines Wiſſens,
haben ſie keine ihrer philoſophiſchen Aufga-
ben je erreicht gefunden.
D 4� [56/0060]
den zu formen: ſelbſt das Bild der Gluͤckſe-
ligkeit wandelt mit jedem Zuſtande und Him-
melsſtriche — (denn was iſt dies je anders
als die Summe von Wunſchbefriedigungen,
„Zweckerreichungen und ſanftem Uberwin-
„den der Beduͤrfniſſe,„ die ſich doch alle
nach Land, Zeit und Ort geſtalten?) im
Grunde alſo wird alle Vergleichung mißlich.
So bald ſich der innerliche ſinn der Gluͤck-
ſeligkeit, die Neigung veraͤndert hat: ſo bald
die aͤußern Gelegenheiten und Beduͤrfniſſe
den andern Sinn bilden und befeſtigen —
wer kann die verſchiedene Befriedigung ver-
ſchiedner Sinne in verſchiednen Welten ver-
gleichen? den Hirten und Vater des Orients,
den Ackermann und Kuͤnſtler, den Schiffer,
Wettlaͤufer, Ueberwinder der Welt — wer
vergleichen? Jm Lorbeerkranze, oder am An-
blicke der geſegneten Heerde, am Waaren-
ſchiffe und erbenteten Feldzeichen liegt nichts —
aber an der Seele, die das brauchte, dar-
nach ſtrebte, das nun erreicht hat, und nichts
anders als das erreichen wollte — jede Na-
tion hat ihren Mittelpunkt der Gluͤckſelig-
keit in ſich, wie jede Kugel ihren Schwer-
punkt!
Gut � [57/0061]
Gut hat auch hier die gute Mutter geſorgt.
Sie legte Anlagen zu der Mannichfaltigkeit
ins Herz, machte jede aber an ſich ſelbſt ſo
wenig dringend, daß wenn nur einige befrie-
digt werden, ſich die Seele bald aus dieſen
erweckten Toͤnen ein Koncert bildet, und die
unerweckten nicht fuͤhlet, als wiefern ſie
ſtumm und dunkel, den lautenden Geſang
unterſtuͤtzen. Sie legte Anlagen von Man-
nichfaltigkeit ins Herz, nun einen Theil der
Mannichfaltigkeit im Kreiſe um uns, uns zu
Haͤnden: nun maͤßigte ſie den menſchlichen
Blick, daß nach einer kleinen Zeit der Ge-
wohnheit ihm dieſer Kreis, Horizont wurde.
Nicht druͤber zu blicken: kaum druͤber zu ahn-
den! alles was mit meiner Natur noch gleich-
artig iſt, was in ſie aßimilirt werden kann,
beneide ich, ſtrebs an, mache mirs zu eigen;
daruͤber hinaus hat mich die guͤtige Natur mit
Fuͤhlloſigkeit, Kaͤlte und Blindheit bewaf-
net; — ſie kann gar Verachtung und Eckel
werden — hat aber nur zum Zweck, mich auf
mich ſelbſt zuruͤckzuſtoßen, mir auf dem Mit-
telpunkt Gnuͤge zu geben, der mich traͤgt.
Der Grieche macht ſich ſo viel vom Aegypter,
der Roͤmer vom Griechen zu eigen, als er fuͤr
ſich braucht: er iſt geſaͤttigt, das uͤbrige faͤllt
zu
D 5�
[58/0062]
zu Boden und er ſtrebts nicht an! Oder wenn
in dieſer Ausbildung eigner Nationalneigungen
zu eigner Nationalgluͤckſeligkeit der Abſtand
zwiſchen Volk und Volk ſchon zu weit gedie-
hen iſt: ſiehe, wie der Aegypter den Hirten,
den Landſtreicher haſſet! wie er den leichtſin-
nigen Griechen verachtet! So jede zwo Na-
tionen, deren Neigungen und Kreiſe der Gluͤck-
ſeligkeit ſich ſtoßen — man nennts Vorur-
theil! Poͤbeley! eingeſchraͤnkten Nationaliſm!
Das Vorurtheil iſt gut, zu ſeiner Zeit: denn
es macht gluͤcklich. Es draͤngt Voͤlker zu
ihrem Mittelpunkte zuſammen, macht ſie feſter
auf ihrem Stamme, bluͤhender in ihrer Art,
bruͤnſtiger und alſo auch gluͤckſeliger in ihren
Neigungen und Zwecken. Die unwiſſendſte,
vorurtheilendſte Nation iſt in ſolchem Betracht
oft die erſte: das Zeitalter fremder Wunſch-
wanderungen, und auslaͤndiſcher Hoffnungs-
fahrten iſt ſchon Krankheit, Blaͤhung, un-
geſunde Fuͤlle, Ahndung des Todes!
III. Und der allgemeine, philoſophiſche, men- ſchenfreundliche Ton unſres Jahrhunderts goͤnnet, jeder entfernten Nation, jedem aͤlte- ſten Zeitalter der Welt, an Tugend und Gluͤck- ſeligkeit ſo gern „unſer eigen Jdeal?„ iſt
ſo
� [59/0063]
ſo alleiniger Richter, ihre Sitten nach ſich allein
zu beurtheilen? zu verdammen? oder ſchoͤn
zu dichten? Jſt nicht das Gute auf der Erde
ausgeſtreut? Weil eine Geſtalt der Menſchheit
und ein Erdſtrich es nicht faſſen konnte, wards
vertheilt in tauſend Geſtalten, wandelt —
ein ewiger Proteus! — durch alle Welttheile
und Jahrhunderte hin — auch, wie er wan-
delt und fortwandelt, iſts nicht groͤßere Tu-
gend oder Gluͤckſeligkeit des Einzeln, wor-
auf er ſtrebet, die Menſchheit bleibt immer
nur Menſchheit — und doch wird ein Plan
des Fortſtrebens ſichtbar — mein großes
Thema!
Wers bisher unternommen, den Fortgang der Jahrhunderte zu entwickeln, hat meiſtens die Lieblingsidee auf der Fahrt: Fortgang zu mehrerer Tugend und Gluͤckſeligkeit ein- zelner Menſchen. Dazu hat man alsdenn Fakta erhoͤhet, oder erdichtet: Gegenfakta verkleinert oder verſchwiegen; ganze Seiten bedeckt; Woͤrter fuͤr Woͤrter genommen, Aufklaͤrung fuͤr Gluͤckſeligkeit, mehrere und feinere Jdeen fuͤr Tugend — und ſo hat man „von der allgemeinfortgehenden Verbeſſerung „der Welt„ Romane gemacht — die keiner
glaubte,
� [60/0064]
glaubte, wenigſtens nicht der wahre Schuͤler
der Geſchichte und des menſchlichen Herzens.
Andre die das Leidige dieſes Traums ſa- hen, und nichts beſſers wußten — ſahen La- ſter und Tugenden, wie Klimaten, wechſeln, Vollkommenheiten, wie einen Fruͤhling von Blaͤttern entſtehen und untergehen, menſch- liche Sitten und Neigungen, wie Blaͤtter des Schickſals fliegen ſich umſchlagen — kein Plan! kein Fortgang! ewige Revolution — Weben und Aufreißen! — penelopiſche Ar- beit! — Sie fielen in einen Strudel, Skep- ticismus an aller Tugend, Gluͤckſeligkeit und Beſtimmung des Menſchen, in den ſie alle Ge- ſchichte, Religion, und Sittenlehre flechten — — der neueſte Modeton des neueſten, inſonder- heit franzoͤſiſchen Philoſophen, k) iſt Zweifel!
Zwei-
k) Der gute ehrliche Montagne fieng an; der
Dialektiker Baile, ein Raiſonneur, deſſen
Widerſpruͤche nach Artikeln ſeiner Gedan-
kenform, des Diktionairs, Crouſaz und
Leibnitz gewiß nicht haben verguͤten koͤnnen,
wuͤrkte aufs Jahrhundert weiter. Und denn
die neuern Philoſophen, Allanzweifler mit
eigenen kuͤhnſten Behauptungen, Voltaire,
Hume ſelbſt die Diderots — es iſt das
große Jahrhundert des Zweifelns und Wel-
lenerregens.
�
[61/0065]
Zweifel in hundert Geſtalten, alle aber mit
dem blendenden Titel „aus der Geſchichte der
„Welt!„ Widerſpruͤche und Meereswogen:
man ſcheitert, oder was man von Moralitaͤt
und Phioſophie aus dem Schiffbruche rettet,
iſt kaum der Rede werth.
Sollte es nicht offenbaren Fortgang und Entwicklung aber in einem hoͤhern Sinne ge- ben, als mans gewaͤhnet hat? Sieheſt du die- ſen Strom fortſchwimmen: wie er aus einer kleinen Quelle entſprang, waͤchſt, dort ab- reißt, hier anſetzt, ſich immer ſchlaͤngelt und weitet und tiefer bohret — bleibt aber im- mer Waſſer! Strom! Tropfe! immer nur Tropfe, bis er ins Meer ſtuͤrzt — wenns ſo mit dem menſchlichen Geſchlechte waͤre? Oder ſieheſt du jenen wachſenden Baum! jenen em- porſtrebenden Menſchen! er muß durch ver- ſchiedne Lebensalter hindurch! alle offenbar im Fortgange! ein Streben auf einander in Kontinuitaͤt! Zwiſchen jedem ſind ſcheinbare Ruheplaͤtze, Revolutionen! Veraͤnderun- gen! und dennoch hat jedes den Mittelpunkt ſeiner Gluͤckſeligkeit in ſich ſelbſt! der Juͤng- ling iſt nicht gluͤcklicher als das unſchuldige, zufriedne Kind: noch der ruhige Greis un-
gluͤck-
� [62/0066]
gluͤcklicher, als der heftigſtrebende Mann: der
Pendul ſchlaͤgt immer mit gleicher Kraft,
wenn er am weiteſten ausholt und deſto ſchnel-
ler ſtrebt, oder wenn er am langſamſten
ſchwanket, und ſich der Ruhe naͤhert. Jn-
deß iſts doch ein ewiges Streben! niemand iſt
in ſeinem Alter allein, er bauet auf das Vorige,
dies wird nichts als Grundlage der Zukunſt,
will nichts als ſolche ſeyn — ſo ſpricht, die
Analogie in der Natur, das redende Vor-
bild Gottes in allen Werken! Offenbar ſo
im Menſchengeſchlechte! Der Aegypter konnte
nicht ohne den Orientalier ſeyn, der Grieche baue-
te auf jene, der Roͤmer hob ſich auf den Ruͤ-
cken der ganzen Welt — wahrhaftig Fort-
gang, fortgehende Entwicklung, wenn auch
kein Einzelnes dabey gewoͤnne! Es geht ins
Große! es wird, womit die Huͤlſengeſchichte
ſo ſehr pralet, und wovon ſie ſo wenig zeigt, —
Schauplatz einer leitenden Abſicht auf Er-
den! wenn wir gleich nicht die letzte Abſicht
ſehen ſollten, Schauplatz der Gottheit, wenn
gleich nur durch Oeffnungen und Truͤmmer
einzelner Scenen.
Wenigſtens iſt der Blick weiter als jene Phi- loſophie, die unter- uͤber miſcht, nur immer
hie
� [63/0067]
hie und da, bey einzelnen Verwirrungen
aufhaͤlt, um alles zum Ameiſenſpiele,
zum Geſtrebe einzelner Neigungen und
Kraͤfte ohne Zweck zum Chaos zu machen,
in dem man an Tugend, Zweck und Gott-
heit verzweifelt! Wenns mir gelaͤnge, die de-
ſperatſten Scenen zu binden, ohne ſie zu ver-
wirren — zu zeigen wie ſie ſich aufeinander
beziehen, aus einander erwachſen, ſich in
einander verlieren, alle im Einzelnen nur Mo-
mente, durch den Fortgang allein Mittel zu
Zwecken, — welch ein Anblick! welche edle
Anwendung der menſchlichen Geſchichte!
welche Aufmunterung zu hoffen, zu handeln,
zu glauben, ſelbſt wo man nichts, oder nicht
alles ſieht. — Jch fahre fort — — —
Zwey-
�
[64/0068]
Zweyter Abſchnitt.
Auch die roͤmiſche Weltverfaſſung erreichte
ihr Ende, und je groͤſſer das Gebaͤude,
ſo hoͤher es ſtand, mit deſto groͤſſerm Stur-
ze fiels! die halbe Welt war Truͤmmer.
Voͤlker und Erdtheile hatten unter dem Baume
gewohnt, und nun, da die Stimme der hei-
ligen Waͤchter rief! „haut ihn ab!„ welch ei-
ne große Leere! Wie ein Riß im Faden der
Weltbegebenheiten! nichts minder, als eine
neue Welt war noͤthig, den Riß zu heilen.
Norden wars. Und was man auch nun uͤber den Zuſtand dieſer Voͤlker fuͤr Urſpruͤn- ge und Syſteme erſinnen mag: das ſimpelſte ſcheint das wahreſte: in Ruhe warens gleich- ſam „Patriarchien wie ſie in Norden ſeyn „konnten.„ Da unter ſolchem Klima kein morgenlaͤndiſches Hirtenleben moͤglich war, ſchwerere Beduͤrfniſſe hier den menſchlichen Geiſt mehr druckten, als wo die Natur faſt allein fuͤr den Menſchen wuͤrkte: eben die ſchwerere Beduͤrfniſſe, und die Nordluft die Menſchen aber mehr haͤrtete, als ſie im warmen
aro-
� [65/0069]
aromatiſchen Treibhauſe Oſts und Suͤds ge-
haͤrtet werden konnten: natuͤrlich blieb ihr Zu-
ſtand roher, ihre kleine Geſellſchaften getrenn-
ter und wilder: aber die menſchlichen Bande
noch in Staͤrke, menſchlicher Trieb und Kraft
in Fuͤlle. — Da konnte das Land werden,
was Tacitus beſchreibt. Und als dies nordi-
ſche Meer von Voͤlkern mit allen Wogen in
Bewegung gerieth, Wogen draͤngten Wogen,
Voͤlker andre Voͤlker! Mauer und Damm um
Rom war zerriſſen: ſie ſelbſt hatten ihnen die
Luͤcken gezeigt und ſie herbeygelockt, daran zu
flicken — endlich da alles brach, welche Ue-
berſchwemmung des Suͤds, durch den Nord!
und nach allen Umwaͤlzungen und Abſcheulich-
keiten welche neue nordſuͤdliche Welt!
Wer den Zuſtand der roͤmiſchen Laͤnder (und ſie waren damals das gebildete Univerſum!) in den letzten Jahrhunderten bemerket, wird dieſen Weg der Vorſehung, einen ſo ſonder- baren Erſatz menſchlicher Kraͤfte zu bereiten, anſtaunen und bewundern. Alles war erſchoͤpft, entnervt, zerruͤttet. Von Menſchen verlaſ- ſen, von entnervten Menſchen bewohnt, in Ueppigkeit, Laſtern, Unordnungen, Freyheit und wildem Kriegesſtolz unterſinkend. Die ſchoͤ-
nen
E�
[66/0070]
nen roͤmiſchen Geſetze und Kaͤnntniſſe konn-
ten nicht Kraͤfte erſetzen, die verſchwunden
waren, Nerven wiederherſtellen, die keinen
Lebensgeiſt fuͤhlten, Triebfedern regen, die da
lagen — alſo tod! ein abgematteter, im Blu-
te liegender Leichnam — da ward in Norden
neuer Menſch gebohren. Unter friſchem Him-
mel, in der Wuͤſte und Wilde, wo es niemand
vermuthete, reifte ein Fruͤhling ſtarker, nahr-
hafter Gewaͤchſe, die in die ſchoͤnern, ſuͤdlichern
Laͤnder — jetzt traurigleere Aecker! — ver-
pflanzt neue Natur annehmen, große Ernte
fuͤrs Weltſchickſal geben ſollte! Gothen,
Vandalen, Burgunden, Anglen, Hunnen,
Herulen, Franken und Bulgaren, Sklaven
und Longobarden kamen — ſetzten ſich, und
die ganze neuere Welt vom mittellaͤndiſchen zum
ſchwarzen, vom atlandiſchen zum Nordmeer,
iſt ihr Werk! ihr Geſchlecht! ihre Verfaſ-
fung!
Nicht blos Menſchenkraͤfte, auch welche Geſetze, und Einrichtungen brachten ſie da- mit auf den Schauplatz der Bildung der Welt. Freylich verachteten ſie Kuͤnſte und Wiſſenſchaften, Ueppigkeit und Feinheit — die die Menſchheit verheeret hatten; aber wenn
ſie
� [67/0071]
ſie ſtatt der Kuͤnſte, Natur: ſtatt der Wiſ-
ſenſchaften, geſunden nordiſchen Verſtand,
ſtatt der feinen, ſtarke und gute, obgleich
wilde Sitten brachten, und das alles nun zu-
ſammen gaͤhrte — welch ein Eraͤugniß! Jhre
Geſetze, wie athmen ſie maͤnnlichen Muth,
Gefuͤhl der Ehre, Zutrauen auf Verſtand,
Redlichkeit und Goͤtterverehrung! Jhre Feu-
daleinrichtung wie untergrub ſie das Gewuͤhl
volkreicher, uͤppiger Staͤdte, baute das Land,
beſchaͤftigte Haͤnde und Menſchen, machte ge-
ſunde und eben damit auch vergnuͤgte Leute.
Jhr ſpaͤteres Jdeal uͤber die Beduͤrfniſſe hin-
aus — es gieng auf Keuſchheit und Ehre,
veredelte den beſten Theil der menſchlichen Nei-
gungen: obgleich Roman, ſo doch ein hoher
Roman: eine wahre neue Bluͤthe der menſch-
lichen Seele.
Bedenke man z. B. was die Menſchheit in den Jahrhunderten dieſer Gaͤhrung fuͤr Er- holungsfriſt und Kraͤfteuͤbung dadurch be- kam, daß alles in kleine Verbindungen, Ab- theilungen und Untereinanderordnungen fiel, und ſo viele, viele Glieder wurden! Da rieb ſich immer eins am andern, und alles erhielt ſich in Athem und Kraͤften. Zeit der Gaͤh-
rung
E 2�
[68/0072]
rung, aber eben dieſe hielt ſo lange den De-
ſpotiſmus ab, (der wahre Rachen der Menſch-
heit, der alles — wie ers nennt, in Ruhe
und Gehorſam — aber wies iſt, in Tod
und einfoͤrmige Zermalmung hinabſchlingt!)
Jſts nun beſſer, iſts fuͤr die Menſchheit gefun-
der und tuͤchtiger, lauter lebloſe Raͤder einer
großen, hoͤlzernen gedankenloſen Maſchine her-
vorzubringen, oder Kraͤfte zu wecken und zu
regen? Sollts auch durch ſogenannte un-
vollkommene Verfaſſungen, Unordnung, bar-
bariſchen Ehrenpunkt, wilde Haͤndelſucht
und dergleichen ſeyn — wenns Zweck er-
reicht, immer beſſer, als lebend todt ſeyn
und modern.
Jndeß hatte die Vorſehung fuͤr gut befun- den, zu dieſer neuen Gaͤhrung nordſuͤdlicher Saͤfte noch ein neues Ferment zu bereiten und zu zumiſchen — die chriſtliche Religion. Jch darf doch bey unſerm chriſtlichen Jahrhun- derte nicht erſt um Verzeihung bitten, daß ich von ihr als einer Triebfeder der Welt rede — betrachte ſie ja nur als Ferment, als Sauerteig, zu Gutem oder zu Boͤſem — wozu man noch will.
Und � [69/0073]
Und da verdient der Punkt, von zween Sei-
ten mißverſtanden, einige Eroͤrterung.
Die Religion der alten Welt, die aus Morgenlande uͤber Aegypten nach Griechen- land und Jtalien gekommen, war in allem Betracht ein verduftetes kraftloſes Ding ge- worden, das wahre Caput mortuum deſſen, was ſie geweſen war und ſeyn ſollte. Wenn man nur die ſpaͤtere Mythologie der Griechen und die Puppe von politiſcher Voͤlkerreli- gion bey den Roͤmern betrachtet: ſo brauchts keines Worts mehr — — Und doch war nun auch faſt „kein ander Principium der Tugend„ in der Welt! Die roͤmiſche Aufopferung fuͤrs Vaterland war von ihrer Hoͤhe geſunken und lag im Moraſte der Schwelgerey und kriege- riſcher Unmenſchlichkeit. Griechiſche Jugend- ehre und Freyheitliebe — wo war ſie? Und der alte aͤgyptiſche Geiſt, wo war er, als Grie- chen und Roͤmer in ihrem Lande niſteten? Wo- her nun Erſatz? Philoſophie konnte ihn nicht geben: ſie war das ausgeartetſte Sophiſten- zeug, Diſputirkunſt, Troͤdelkram von Mey- nungen ohne Kraft und Gewißheit, eine mit alten Lumpen behangene Holzmaſchine ohne Wuͤrkung aufs menſchliche Herz, geſchweige
denn
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denn der Wuͤrkung, ein verfallen Jahrhun-
dert, eine verfallene Welt zu beſſern! Und
nun ſollte Aufbau der Truͤmmern von Voͤlkern
geſchehen, die in ihrem Zuſtande noch Reli-
gion noͤthig hatten, durch ſie allein gelenkt
werden konnten, Geiſt des Aberglaubens in
alles miſchten. — — Und doch fanden nun
dieſe Voͤlker auf ihrem neuen Schauplatze nichts,
als was ſie verachteten oder nicht faſſen konn-
ten: roͤmiſche Mythologie und Philoſophie,
wie Bildſaͤulen, und Sittengeſtalten. — Und
ihre nordiſche Religion, ein Reſt des Orients
auf nordiſche Art gebildet, langte nicht hin —
hatten eine friſchere, wuͤrkſamere Religion
noͤthig — ſiehe da! hatte die Vorſchung ſie
kurz vorher an einem Orte entſtehen laſſen,
woher man einen Erſatz der ganzen weſtlichen
Welt am wenigſten hofte. Zwiſchen den
nackten Bergen Judaͤas! Kurz vor dem Um-
ſturze des ganzen unberuͤhmten Volkes, eben
in der letzten elendſten Epoche deſſelben —
auf eine Weiſe, die allemal wunderbar blei-
ben wird, entſtand ſie, erhielt ſich, ſchlug
ſich eben ſo ſonderbar durch Kluͤfte und Hoͤlen
weiten Weg hindurch — auf einen Schau-
platz, der ſie ſo noͤthig hatte! worauf
ſie
� [71/0075]
ſie ſo viel, viel gewuͤrkt! — Allemal die
ſonderbarſte Begebenheit der Welt!
Da wars doch nun gewiß ein großes und ſehenswuͤrdiges Schauſpiel, wie unter Julian die beyden beruͤhmteſten Religionen, die aͤl- teſte heidniſche und die neuere chriſtliche um nichts weniger als Herrſchaft der Welt ſtrit- ten. Religion — das ſahe Er und Jeder- mann! — Religion in aller Staͤrke des Worts, war ſeinem verfallnen Jahrhunderte unentbehrlich. Griechiſche Mythologie und roͤmiſche Staatseeremonie — das ſahe Er ebenfalls! — war dem Jahrhunderte zu ſei- nen Zwecken nicht zureichend. Er grif alſo zu allem, wozu er konnte; zur kraͤftigſten und aͤlteſten Religion, die er kannte, zur Reli- gion des Morgenlandes — regte in ihr alle Wunderkraͤfte, Zaubereyen und Erſcheinun- gen auf, daß ſie ganz Theurgie ward, nahm ſo viel er konnte, Philoſophie, Pythagoriſm und Platonifm zu Huͤlfe, um allem den fein- ſten Anſtrich der Vernunft zu geben — ſetzte alles auf den Triumphwagen des groͤßten Gepraͤnges, von den zwey unbaͤndigſten Thie- ren, Gewalt und Schwaͤrmerey gezogen, von der feinſten Staatskunſt gelenkt — alles
um-
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umſonſt! ſie erlag! ſie war verlebt — elen-
der Aufputz eines todten Leichnams, der nur
zu andrer Zeit hatte Wunder thun koͤnnen:
die nackte neue chriſtliche Religion ſiegte!
Man ſiehet, daß die Sache ein Fremdling betrachtet, der Muſelmann und Mammeluke ſeyn koͤnnte, um eben das zu ſchreiben. So fahre ich fort.
Dieſelbe nun, ſo ſonderbar entſtandne Re- ligion ſollte doch das iſt unleugbar, nach dem Sinne des Urhebers (ich ſage nicht, ob ſies in der Anwendung jedes Zeitalters geworden?) ſie ſollte eigentliche Religion der Menſch- heit, Trieb der Liebe, und Band aller Na- tionen zu einem Bruderheere werden — ihr Zweck von Anfang zu Ende! Eben ſo ge- wiß iſts, daß ſie (ihre Bekenner moͤgen ſpaͤ- ter hin aus ihr gemacht haben, was ſie woll- ten) daß ſie die Erſte geweſen, die ſo reine geiſtige Wahrheiten, und ſo herzliche Pflich- ten, ſo ganz ohne Huͤlle und Aberglauben, ohne Schmuck und Zwang gelehret: die das menſchliche Herz ſo allein, ſo allgemein, ſo ganz und ohne Ausnahme hat verbeſſern wollen. Alle vorigen Religionen der beſten Zeiten und Voͤlker waren doch nur enge Na-
tional,
� [73/0077]
tional, voll Bilder und Verkleidungen, voll
Ceremonien und Nationalgebraͤuche, an de-
nen immer die weſentlichen Pflichten nur hin-
gen und hinzugefuͤgt waren — Kurz, Reli-
gionen eines Volks, eines Erdſtrichs, eines
Geſetzgebers, einer Zeit! dieſe offenbar in al-
lem das Gegentheil. Die lauterſte Philo-
ſophie der Sittenlehre, die reinſte Theorie
der Wahrheiten und Pflichten, von allen
Geſetzen, und kleinen Landverfaſſungen unab-
haͤngig, kurz wenn man will, der menſchen-
liebendſte Deiſmus. —
Und ſonach gewiß Religion des Weltalls. Es habens andre, und ſelbſt ihre Feinde be- wieſen, daß eine ſolche Religion gewiß nicht zu anderer Zeit, fruͤher oder ſpaͤter haͤtte auf- keimen oder aufkommen, oder ſich einſtehlen koͤnnen — man nenne es wie man wolle. Das menſchliche Geſchlecht mußte zu dem Deismus ſoviel Jahrtauſende bereitet, aus Kindheit, Barbarey, Abgoͤtterey und Sinnlichkeit all- maͤhlig hervorgezogen; ſeine Seelenkraͤfte durch ſo viel Nationalbildungen, orientaliſche, aegyptiſche, griechiſche, roͤmiſche u. ſ. w. als durch Stuffen und Zugaͤnge entwickelt ſeyn, ehe ſelbſt die mindſten Anfaͤnge nur zu An-
ſchauung,
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ſchauung, Begrif, und Zugeſtehung des Jdeals
von Religion und Pflicht und Voͤlkerverbin-
dung gemacht werden konnten. Auch als
Werkzeug allein betrachtet, ſchiens, daß der
roͤmiſche Eroberungsgeiſt vorhergehen mußte,
uͤberall Wege zu bahnen, einen politiſchen Zu-
ſammenhang zwiſchen Voͤlkern zu machen, der
voraus unerhoͤrt war, auf eben dem Wege
Toleranz, Jdeen vom Voͤlkerrechte in Gang
zu bringen, in dem Umfang voraus uner-
hoͤrt! — Der Horizont ward ſo erweitert, ſo
aufgeklaͤrt, und da ſich nun zehn neue Na-
tionen der Erde auf dieſen hellen Horizont
ſtuͤrzten, ganz andre neue Empfaͤnglichkeiten
eben fuͤr die Religion mitbrachten, ſie bedurf-
ten, ſie alleſamt in ihr Weſen verſchmelzten —
Ferment! wie ſonderbar biſt du bereitet! und
alles auf dich zubereitet! und tief und weit
umher eingemiſchet! hat lang und ſtark ge-
trieben und gegaͤhret — was wird es noch
ausgaͤhren?
„Eben das alſo, woruͤber man meiſtens ſo „witzig und philoſophiſch ſpottet, wo denn die- „ſer Sauerteig, chriſtliche Religion, genannt, „rein geweſen? wo er nicht mit Teige eigner, „der verſchiedenſten und oft der abſcheulich-
„ſten
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„ſten Denkart vermiſcht worden?“ eben das,
duͤnkt mich offenbare Natur der Sache. War
dieſe Religion, wie ſies wuͤrklich iſt der feine
Geiſt, „ein Deiſmus der Menſchenfreund-
„ſchaft,„ der ſich in kein einzeln buͤrgerlich
Geſetz miſchen ſollte; wars jene Philoſophie
des Himmels, die eben ihrer Hoͤhe und un-
irrdiſcher Lauterkeit wegen, ganze Erde um-
faſſen konnte: mich duͤnkt, ſo wars ſchlechter-
dings unmoͤglich, daß der feine Duft ſeyn, an-
gewandt werden konnte, ohne mit irrdiſchern
Materien vermiſcht zu werden, und ſie gleich-
ſam zum Vehikulum zu beduͤrfen. Das war
nun natuͤrlich die Denkart jedes Volks, ſei-
ne Sitten und Geſetze, Neigungen und Faͤ-
higkeiten — kalt oder warm, gut oder boͤſe,
barbariſch oder gebildet — alles, wie es war.
Die chriſtliche Religion konnte und ſollte nur
durch alles dringen, und wer ſich uͤberhaupt
von goͤttlichen Veranſtaltungen in der Welt
und im Menſchenreich anders als durch welt-
und menſchliche Triebfedern Begriffe macht,
iſt wahrhaftig mehr zu utopiſchdichteri-
ſchen, als zu philoſophiſchnatuͤrlichen Ab-
ſtraktionen geſchaffen. Wenn hat in der gan-
zen Analogie der Natur die Gottheit anders,
als durch Natur gehandelt? und iſt darum
keine
� [76/0080]
keine Gottheit, oder iſts nicht eben Gottheit,
die ſo all ergoſſen, einfoͤrmig und unſichtbar
durch alle ihre Werke wuͤrkt? — Auf einem
menſchlichen Schauplatze laß alle menſchliche
Leidenſchaften ſpielen! in jedem Zeitalter ſie
dem Alter gemaͤß ſpielen! ſo in jedem Welt-
theile, in jeder Nation! die Religion ſoll nichts
als Zwecke durch Menſchen und fuͤr Men-
ſchen bewuͤrken — Sauerteig oder Schatz:
jeder traͤgt ihn in ſeinem Gefaͤße, miſcht ihn zu
ſeinem Teige! und je feiner der Duft iſt, je
mehr er an ſich verfloͤge, deſtomehr muß er zum
Gebrauch vermiſcht werden. Jch ſehe in der
Gegenmeynung keinen menſchlichen Sinn.
Und ſo war nun auch, blos phyſiſch und in menſchlichem Sinne zu reden, eben die Zumi- ſchung der chriſtlichen Religion die gewaͤhlte- ſte, die man ſich faſt denken kann. Sie nahm ſich bey der taͤglich uͤberhandnehmenden Noth der Armen an, daß ſelbſt Julian ihr dieß einſchmeichelnde Verdienſt nicht ablaͤug- nen konnte. Sie ward in noch ſpaͤtern Zei- ten der Verwirrung, einziger Troſt und Zu- flucht gegen die allgemeine Bedraͤngniß (ich rede nicht, wie die Geiſtlichen das immer ge- brauchet?) ja, ſeit die Barbaren ſelbſt Chri-
ſten
� [77/0081]
ſten waren, wurde ſie allmaͤhlich wuͤrkliche
Ordnung und Sicherheit der Welt. Da ſie
die reißende Loͤwen zaͤhmte, und uͤberwand die
Ueberwinder — welch ein bequemer Teig um
tief einzudringen, weit und ewig zu wuͤrken!
Die kleinen Verfaſſungen, wo ſie alles um-
ſchlingen konnte; die weit abgeſonderten
Staͤnde, wo ſie gleichſam allgemeiner Zwi-
ſchenſtand ward; die groſſen Luͤcken der blos
kriegeriſchen Lehnsverfaſſung, wo ſie an Wiſ-
ſenſchaften, Rechtspflege, und Einfluß auf
die Denkart alles ausfuͤllte, uͤberall unent-
behrlich und gleichſam Seele zu Jahrhunder-
ten wurde, deren Leib nichts als kriegeriſcher
Geiſt und ſklaviſcher Ackerbau war — konn-
te eine andre Seele, als Andacht, die Glieder
binden, den Koͤrper beleben? War im Rathe
des Schickſals der Koͤrper beſchloſſen: wel-
che Thorheit, auſſer dem Geiſte, der Zeit, uͤber
ſeinen Geiſt zu waͤhnen! Es war, duͤnkt mich,
einiges Mittel der Progreßion!
Wem iſts nicht erſchienen, wie in jedem Jahrhunderte das ſogenannte „Chriſtenthum„ voͤllig Geſtalt oder Analogie der Verfaſſung hatte, mit- oder in der es exſiſtirte! Wie eben derſelbe gothiſche Geiſt auch das Jnnere und
Aeuſſere
� [78/0082]
Aeuſſere der Kirche eindrang, Kleider und Ce-
remonien, Lehren und Tempel formte, den
Biſchoffſtab zum Schwerdt ſchaͤrfte, da al-
les Schweedt trug, und geiſtliche Pfruͤnden,
Lehne und Sklaven ſchuf, weils uͤberall nur
ſolche gab. Man denke ſich von Jahrhun-
derte zu Jahrhunderte jene ungeheuren Anſtal-
ten von geiſtlichen Ehrenaͤmtern, Kloͤſtern,
Moͤnchsorden, endlich ſpaͤter gar Kreuzzuͤ-
gen und der offenbaren Herrſchaft der Welt —
ungeheures gothiſches Gebaͤude! uͤberladen,
druͤckend, finſter, geſchmacklos — die Erde
ſcheint unter ihm zu ſinken — aber wie groß!
reich! uͤberdacht! maͤchtig! — ich rede von
einem hiſtoriſchen Eraͤugniſſe! Wunder des
menſchlichen Geiſts und gewiß der Vorſe-
hung Werkzeug.
Wenn mit ſeinen Gaͤhrungen und Reibun- gen der gothiſche Koͤrper uͤberhaupt Kraͤfte regte: gewiß trug der Geiſt, der ihn belebte und band, das Seine bey. Wenn durch jenen eine Miſchung von hohen Begriffen und Neigungen in Europa ausgebreitet wur- de, in der Miſchung und in dem Umfange noch nie gewuͤrkt; allerdings war auch ſie darinne webend. Und ohne mich hier auf die
ver-
� [79/0083]
verſchiednen Perioden des Geiſts der mittlern
Zeiten einlaſſen zu koͤnnen; wir wollens go-
thiſchen Geiſt, nordiſches Ritterthum im
weitſten Verſtande nennen — groſſes Phaͤ-
nomenon ſo vieler Jahrhunderte, Laͤnder und
Situationen.
Gewiſſermaßen noch immer „Jnbegriff „alle der Neigungen, die voraus einzelne „Voͤlker und Zeitlaͤufte entwickelt hatten.„ ſie laſſen ſich ſogar in ſie aufloͤſen, aber das wuͤrkſame Element, das alle band, und zu ei- ner lebendigen Kreatur Gottes machte, iſt in jedem Einzeln nicht mehr daſſelbe. Vaͤterli- che Neigungen, und heilige Verehrung des weiblichen Geſchlechtſ: unausloͤſchliche Frey- heitliebe und Deſpotismus: Religion und kriegeriſcher Geiſt: puͤnkltliche Ordnung und Feyerlichkeit und ſonderbarer Hang zur Aventure — das floß zuſammen! orientali- ſche, roͤmiſche, nordiſche, ſaraceniſche Be- griffe und Neigungen! man weiß, wenn? wo? und in welchem Maaſſe ſie jetzt und dort zuſammengefloſſen ſind, und ſich modifi- cirt haben —. Der Geiſt des Jahrhunderts durchwebte und band — die verſchiedenſten Ei- genſchaften — Tapferkeit, und Moͤncherey,
Aben-
� [80/0084]
Abentheur und Galanterie, Tyranney und
Edelmuth; bands zu dem Ganzen, das uns
jetzt — zwiſchen Roͤmern und uns — als Ge-
ſpenſt als romantiſches Abentheuer daſteht,
einſt wars Natur, war — Wahrheit.
Man hat dieſen Geiſt„ der nordiſchen Rit- terehre„ mit den heroiſchen Zeiten der Grie- chen verglichen l) — und freylich Punkte der Vergleichung gefunden — Aber an ſich bleibt er in der Reihe aller Jahrhunderte duͤnkt mich, Einzig! — nur ſich ſelbſt gleich! Man hat ihn, weil er, zwiſchen Romern und Uns — quanti viri! — Uns! ſteht, ſo ſchrecklich ver- ſpottet; Andre, von etwas abentheurlichem Gehirne haben ihn ſo hoch uͤber alles erho- ben — mich duͤnkt, er iſt nichts mehr und min- der, als „einzelner Zuſtand der Welt!„ keinen der vorigen zu vergleichen, wie ſie mit Vorzuͤgen und Nachtheilen: auf ſie gegruͤn- det, ſelbſt in ewiger Veraͤnderung und Fort- ſtrebung — ins Große.
Die dunkeln Seiten dieſes Zeitraums ftehn in allen Buͤchern: jeder klaſſiſche Schoͤnden-
ker
l) Hurd lettr. on chivalery.
�
[81/0085]
ker, der die Polieirung unſers Jahrhunderts
fuͤrs non plus ultra der Menſchheit haͤlt, hat
Gelegenheit ganze Jahrhunderte auf Barba-
rey, elendes Staatsrecht, Aberglauben und
Dummheit, Mangel der Sitten und Ab-
geſchmacktheit — in Schulen, in Landſitzen,
in Tempeln, in Kloͤſtern, in Rathhaͤuſern,
in Handwerkszuͤnften, in Huͤtten und Haͤu-
ſern zu ſchmaͤlen und uͤber das Licht unſers
Jahrhunderts, das iſt, uͤber ſeinen Leichtſinn
und Ausgelaſſenheit, uͤber ſeine Waͤrme in
Jdeen und Kaͤlte in Handlungen, uͤber ſeine
ſcheinbare Staͤrke und Freyheit, und uͤber
ſeine wuͤrkliche Todesſchwaͤche und Ermat-
tung unter Unglauben, Deſpotismus und
Uppigkeit zu lobjauchzen. Davon ſind alle
Buͤcher unſerer Voltaͤre und Hume, Robert-
ſons und Jſelins voll, und es wird ein ſo
ſchoͤn Gemaͤlde, wie ſie die Aufklaͤrung und
Verbeſſerung der Welt aus den truͤben Zeiten
zum Deiſmus und Deſpotismus der Seelen
d. i. zu Philoſophie und Ruhe herleiten —
daß dabey jedem Liebhaber ſeiner Zeit das
Herz lacht.
Alle das iſt wahr und nicht wahr. Wahr, wenn man wie ein Kind, Farbe gegen Farbe
haͤlt
F�
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haͤlt, und ja ein helles, lichtes Bildchen ha-
ben will — in unſerm Jahrhunderte iſt leider!
ſo viel Licht! — Unwahrheit wenn man die
damalige Zeit in ihrem Weſen und Zwecken,
Genuß und Sitten, inſonderheit als Werk-
zeug im Zeitlaufe betrachtet. Da lag in die-
ſen dem Scheine nach gewaltſamen Auftrit-
ten und Verbindungen oft ein Feſtes, Binden-
des, Edles und Großherrliches, das wir mit
unſern Gottlob! feinen Sitten, aufgeloͤſten
Zuͤnften und dafuͤr gebundnen Laͤndern, und
angebohrner Klugheit und Voͤlkerliebe bis ans
Ende der Erde, fuͤrwahr weder fuͤhlen noch
kaum mehr fuͤhlen koͤnnen. Siehe, du ſpot-
teſt uͤber die damalige Knechtſchaft, uͤber die
rohen Landſitze des Adels, uͤber die vielen
kleinen Jnſeln und Unterabtheilungen, und
was davon abhing — preiſeſt nichts ſo ſehr,
als die Aufloͤſung dieſer Bande, und weißt kein
groͤſſeres Gut, was je der Menſchheit geſche-
hen, als da Europa und mit ihm die Welt
frey wurde. Frey wurde? ſuͤſſer Traͤumer!
wenns nur das, und das nur wahr waͤre!
Aber nun ſiehe auch, wie durch den Zuſtand
in jenen Zeiten Dinge ausgerichtet wurden,
uͤber die ſonſt alle menſchliche Klugheit hatte
verbloͤden muͤſſen: Europa bevoͤlkert und ge-
bauet:
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bauet: Geſchlechter und Familien, Herr und
Knecht, Koͤnig und Unterthan drang ſtaͤrker
und naͤher an einander: die ſo genannten ro-
hen Landſitze hinderten das uͤppige ungeſun-
de Zunehmen der Staͤdte, dieſer Abgruͤnde
fuͤr die Lebenskraͤfte der Menſchheit: der
Mangel des Handels und der Feinheit ver-
hinderte Ausgelaſſenheit und erhielt ſimple
Menſchheit — Keuſchheit und Fruchtbarkeit
in Ehen, Armuth und Fleiß und Zuſammen-
drang in Haͤuſern. Die rohen Zuͤnfte und
Freyherrlichkeiten, machten Ritter- und Hand-
werksſtolz, aber zugleich Zutrauen auf ſich,
Feſtigkeit in ſeinem Kreiſe, Mannheit auf
ſeinem Mittelpunkte, wehrte, der aͤrgſten Pla-
ge der Menſchheit, dem Land- und Seelenjo-
che, unter das offenbar, ſeitdem alle Jnſeln
aufgeloͤſt ſind, alles mit froh und freyem Mu-
the ſinkt. Da konnten in etwas ſpaͤtern Zei-
ten denn ſoviel kriegeriſche Republiken und
wehrhafte Staͤdte werden! erſt waren die
Kraͤfte gepflanzt, genaͤhrt und durch Reiben
erzogen, von denen im traurigen Reſte, ihr
noch jetzo lebt. Haͤtte euch der Himmel die
barbariſchen Zeiten nicht vorhergeſandt und ſie
ſo lange unter ſo mancherley Wuͤrfen und Stoͤſ-
ſen erhalten — armes, policirtes Europa, das
ſeine
F 2�
[84/0088]
ſeine Kinder frißt oder relegiret, wie waͤreſt
du mit alle deiner Weisheit — Wuͤſte!
„Daß es jemanden in der Welt unbegreiflich „waͤre, wie Licht die Menſchen nicht naͤhrt! „Ruhe und Ueppigkeit und ſo genannte Ge- „dankenfreyheit nie allgemeine Gluͤchſeligkeit „und Beſtimmung ſeyn kann!„ Aber Em- pfindung, Bewegung, Handlung — wenn auch in der Folge ohne Zweck, (was hat auf der Buͤhne der Menſchheit ewigen Zweck?) wenn auch mit Stoͤßen und Revolutionen, wenn auch mit Empfindungen, die hie und da ſchwaͤrmeriſch, gewaltſam, gar abſcheu- lich werden — als Werkzeug in den Haͤn- den des Zeitlaufs, welche Macht! welche Wuͤrkung! Herz und nicht Kopf genaͤhrt! mit Neigungen und Trieben alles gebunden nicht mit kraͤnkelnden Gedanken! Andacht und Ritterehre, Liebeskuͤhnheit und Buͤrger- ſtaͤrke — Staatsverfaſſung und Geſetzge- bung, Religion. — Jch will nichts weniger, als die ewigen Voͤlkerzuͤge und Verwuͤſtun- gen, Vaſallenkriege und Befehdungen Moͤnchs- heere, Wallfahrten, Kreuzzuͤge vertheidigen: nur erklaͤren moͤchte ich ſie: wie in allem doch Geiſt hauchet! Gaͤhrung menſchlicher
Kraͤfte.
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Kraͤfte. Große Kur der ganzen Gattung
durch gewaltſame Bewegung, und wenn ich
ſo kuͤhn reden darf, das Schickſal zog, (al-
lerdings mit großem Getoͤſe, und ohne daß
die Gewichte da ruhig hangen konnten), die
große abgelaufne Uhr auf! da raſſelten al-
ſo die Raͤder!
Wie anders ſehe ich die Zeiten in dem Lichte! Wie viel ihnen zu vergeben, da ich ſie ſelbſt ja immer im Kampfe gegen Maͤn- gel, im Ringen zur Verbeſſerung, und ſie wahrhaftig mehr als eine andere, ſehe! Wie viel Laͤſterungen gerade zu falſch und uͤber- trieben, da ihr Mißbraͤuche entweder ange- dichtet werden aus fremden Hirn, oder die damals weit milder und unvermeidlicher wa- ren, ſich mit einem gegenſeitigen Guten kom- penſirten, oder die wir ſchon jezt offenbar als Werkzeuge zu groſſem Guten in der Zukunft, woran ſie ſelbſt nicht dachten wahrnehmen. Wer lieſt dieſe Geſchichte, und ruft nicht oft Neigungen und Tugenden der Ehre und Frey- heit, der Liebe und Tapferkeit, der Hoͤflich- keit und des Worts, wo ſeyd ihr geblieben! eure Tiefe verſchlaͤmmet! eure Feſte, weicher Sandboden voll Silberkoͤrner, wo nichts
waͤchſt!
F 3�
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waͤchſt! Wie es auch ſey, gebt uns in man-
chem Betracht eure Andacht und Aberglau-
ben, Finſterniß und Unwiſſenheit, Unord-
nung und Rohigkeit der Sitten und nehmt
unſer Licht und Unglauben, unſre entnervte
Kaͤlte und Feinheit, unſre philoſophiſche Ab-
geſpanntheit und menſchliches Elend! —
Uebrigens aber freylich muß Berg und Thal
graͤnzen, und das dunkle feſte Gewoͤlbe konn-
te — nichts anders ſeyn als dunkles feſtes
Gewoͤlbe — Gothiſch!
Rieſenſchritt im Gange des menſchlichen Schickſals! Naͤhmen wirs blos, daß Verderb- niſſe vorhergehen, um Verbeſſerung, Ord- nung hervorzubringen — ein groſſer Schritt! Um das Licht zu geben war ſo groſſer Schat- te noͤthig: Der Knote mußte ſo feſt zugezo- gen werden, damit nachher die Entwicklung erfolge: mußte es nicht gaͤhren, um den hefenloſen, reinen goͤttlichen Trank zu geben? — mich duͤnkt, das folgte unmittelbar aus „der Lieblingsphiloſophie„ des Jahrhunderts. Da koͤnnt ihr ja herrlich beweiſen, wie ſo viel Ecken erſt haben muͤſſen gewaltig abgerieben wer- den, ehe das runde, glatte, artige Ding er- ſcheinen konnte, was wir ſind! wie in der Kir-
che
� [87/0091]
che ſo viel Graͤuel, Jrrthuͤmer, Abge-
ſchmacktheiten und Laͤſterungen vorhergehen,
alle die Jahrhunderte nach Verbeſſerung rin-
gen, ſchreyen und ſtreben mußten, ehe eure Re-
formation, oder lichte, hellglaͤnzende Deiſ-
mus entſtehen konnte. Die uͤble Staats-
kunſt mußte das Rad all ihrer Uebel und Ab-
ſcheulichkeiten durchlaufen, eh unſre „Staats-
kunſt„ im ganzen Umfange des Worts, er-
ſcheinen durfte, wie die Morgenſonne aus Nacht
und Nebel. — Noch immer alſo ſchoͤnes Ge-
maͤlde, Ordnung und Fortgang der Natur,
und du glaͤnzender Philoſoph ja allem auf
den Schultern!
Aber kein Ding im ganzen Reiche Gottes kann ich mich doch uͤberreden! iſt allein Mit- tel — alles Mittel und Zweck zugleich, und ſo gewiß auch dieſe Jahrhunderte. War die Bluͤthe des Zeitgeiſtes, „der Ritterſinn,„ an ſich ſchon ein Produkt der ganzen Vergan- genheit, in der gediegenen Form des Nord- lands: war die Miſchung von Begriffen der Ehre und der Liebe und der Treue und An- dacht und Tapferkeit und Keuſchheit, die jetzt Jdeal war, voraus unerhoͤrt geweſen; ſiehe damit, gegen die alte Welt gehalten,
da
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da die Staͤrke jedes einzelnen Nationalcha-
rakters verlohren gangen war, ſiehe eben
in dieſer Miſchung, Erſatz, und Fortgang
ins Groſſe. Von Orient bis Rom wars Stamm:
jetzt giengen aus dem Stamme Aeſte und Zwei-
ge; keiner an ſich ſtammfeſt, aber ausge-
breiteter, luftiger, hoͤher! Bey aller Barba-
rey waren die Kaͤnntniſſe, die man ſchola-
ſtiſch behandelte, feiner und hoͤher: Die
Empfindungen, die man barbariſch und pfaf-
fenmaͤſſig anwandte, abſtrahirter und hoͤher:
aus beyden floſſen die Sitten, das Bild je-
ner. Von ſolcher Religion, ſo elend ſie im-
mer ausſah, hatte doch kaum ein Zeitalter
vorher gewußt: ſelbſt das Feinere der tuͤr-
kiſchen Religion, was unſre Deiſten ihr ſo hoch
anrechnen, war nur „durch die chriſtliche
Religion„ entſtanden, und ſelbſt die elend-
ſten Spitzfuͤndigkeiten der Moͤncherey, die
romanhafteſten Phantaſtereyen zeigen, daß
Feinheit und Gewandtheit gnug in der Welt
war, dergleichen auszudenken, zu faſſen: —
daß man wuͤrklich ſcharf anfieng in ſo feinem
Elemente zu athmen. Pabſtthum haͤtte doch
nie in Griechenland und dem alten Rom exſi-
ſtiren koͤnnen, nicht blos aus den Urſachen,
die man gewoͤhnlich anſieht, ſondern wuͤrk-
lich
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lich auch der uralten Simplicitaͤt wegen, weil zu
dergleichen raffinirten Syſtem noch kein Sinn,
kein Raum war: und Pabſtthum des alten Aegyp-
tens war wenigſtens gewiß eine weit groͤbe-
re und plumpere Maſchine. Solche Rgie-
rungsformen, bey allem gothiſchen Geſchmacke
hatten ſie, doch kaum vorher noch exſiſtirt;
mit der Jdee von barbariſcher Ordnung vom
Element herauf bis zum Gipfel, mit den
immer veraͤnderten Verſuchen alles zu bin-
den, daß es doch nicht gebunden waͤre. —
Der Zufall oder vielmehr roh und freywuͤr-
kende Kraft erſchoͤpfte ſich in kleinen Formen
der groſſen Form, wie ſie ein Politiker kaum
haͤtte ausdenken koͤnnen: — Chaos, wo alles
nach neuer hoͤherer Schoͤpfung ſtrebte, ohne
zu wiſſen, wie? und welcher Geſtalt? — Die
Werke des Geiſtes und des Genies aus dieſen
Zeiten ſind gleicher Art, ganz des zuſammen-
geſetzten Duftes aller Zeiten voll: zu voll
von Schoͤnheiten, von Feinheiten, von Er-
findung, von Ordnung, als daß es Schoͤn-
heit, Ordnung, Erfindung bleibe — ſind,
wie die gothiſchen Gebaͤude! Und wenn ſich
der Geiſt bis auf die kleinſten Einrichtungen
und Gebraͤuche erſtreckt — iſts unrecht, wenn
in dieſen Jahrhunderten noch immer Krone des
alten
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alten Stamms erſchiene! (nicht Stamm mehr,
das ſollts und konnts nicht ſeyn) aber Krone!
Eben das nicht-Eine, das Verwirrte der rei-
che Ueberfluß von Aeſten und Zweigen; das
macht ſeine Natur! da hangen die Bluͤthen von
Rittergeiſt, da werden, wenn der Sturm die
Blaͤtter abtreibt, einſt die ſchoͤnern Fruͤchte
hangen.
So viele Bruͤdernation en und keine Mo- narchie auf der Erde! — Jedweder Aſt von hier gewiſſermaſſe ein Ganzes — und trieb ſeine Zweige! alle trieben neben einander, flochten, worren ſich, jedes mit ſeinem Saf- te. — Dieſe Vielheit von Koͤnigreichen! dies Nebeneinanderſeyn von Brudergemeinden; alle von einem deutſchen Geſchlechte, alle nach einem Jdeal der Verfaſſung, alle im Glau- ben einer Religion, jedes mit ſich ſelbſt und ſeinen Gliedern kaͤmpfend, und von einem heiligen Winde, dem paͤbſtlichen Anſehen, faſt unſichtbar aber ſehr durchdringend getrie- ben und beweget — Wie iſt der Baum erſchuͤt- tert! auf Kreuzzuͤgen und Voͤlkerbekehrungen wohin hat er nicht Aeſte, Bluͤthe und Zweige geworfen! — Wenn die Roͤmer bey ihrer Un- terjochung der Erde den Voͤlkern, nicht auf dem
beſten
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beſten Wege, zu einer Gattung „von Voͤlkerreecht
und allgemeiner Roͤmererkennung„ hatten hel-
fen muͤſſen: Das Pabſtthum mit alle ſeiner Ge-
waltſamkeit ward in der Hand des Schickſals
Maſchine zu einer „noch hoͤhern Verbindung,
„zur allgemeinen Erkennung ſeyn ſollender
„Chriſten! Bruͤder! Menſchen!„ Das Lied
ſtieg durch Mißklaͤnge und kreiſchende Stim-
mungen gewiß in hoͤhern Ton: Gewiſſe meh-
rere geſammlete, abſtrahirte, gegaͤhrte Jdeen,
Neigungen und Zuſtaͤnde breiteten ſich uͤber
die Welt hin — wie ſchoß der eine alte ſimple
Stamm des Menſchengeſchlechts in Aeſte und
Zweige!
Endlich folgte, wie wir ſagen, die Aufloͤ-
ſung, die Entwickelung: lange ewige Nacht
klaͤrte ſich in Morgen auf: es ward Refor-
mation, Wiedergeburt der Kuͤnſte, Wiſſen-
ſchaften, Sitten! — die Hefen ſanken; und
es ward — unſer Denken! Kultur! Phi-
loſophie! on commencoit à penſer comme
nous penſons aujourd’hui: on n’etoit plus
Barbare.
Kei- � [92/0096]
Keinen Zeitpunkt der Entwickelung des menſch-
lichen Geiſtes hat man ſchoͤner beſchrieben als
dieſen! da alle unſre Geſchichten, Diſcours
preliminaires zur Encyklopaͤdie alles menſch-
lichen Wiſſens, und Philoſophien darauf wei-
ſen, m) und von Oſt und Weſt, von Anbeginn
und geſtern alle Faͤden, die gezogen ſind, oder
wie Herbſtſpinneweben im Kopfe flattern, dar-
auf als auf den hoͤchſten Gipfel menſchlicher
Bildung zu ziehen wiſſen: Und da das Sy-
ſtem nun ſchon ſo glaͤnzend, beruͤhmt, lieblich
angenommen und vollkommen ausgemacht iſt:
ſo wage ich nichts hinzuzuſetzen — ich lege blos
einige kleine Anmerkungen neben an.
Zuerſt muß ich zum uͤberhohen Ruhm des menſchlichen Verſtandes n) ſagen, daß im-
mer
m) Hume Geſchichte von Engl. und ver-
miſchte Schr.; Robertſons Geſch. von
Schottland und Carl V.; D’Alembert me-
langes, de litterature et de philoſ., Jſelins
Geſch. der Menſchheit Th. 2., Vermiſchte
Schriften, und was dem nachhinkt und
nach lallet.
n) Gloire de l’eſprit, humain ſes progrés, revolu- tions, ſon developpement, ſa creation etc. � [93/0097]
mer weniger Er, wenn ich ſo ſagen darf, als
ein blindes Schickſal, was die Dinge warf
und lenkte, an dieſer allgemeinen Weltveraͤn-
derung wuͤrkte. Entweder warens ſo große,
gleichſam hingeworfene Begebenheiten, die
uͤber alle menſchliche Kraͤfte und Ausſichten
giengen, denen ſich die Menſchen meiſtens wi-
derſetzten, wo niemand die Folge, als uͤber-
legten Plan, traͤumte, oder es waren kleine
Zufaͤlle, mehr Funde, als Erfindungen,
Anwendungen einer Sache, die man lange
gehabt, und nicht geſehen, nicht gebraucht
hatte — oder gar nichts als ſimple Mechanik,
neuer Kunſtgrif, Handwerk, das die Welt
aͤnderte — Philoſophen des achtzehnten Jahr-
hunderts, wenn das iſt, wo bleibt eure Ab-
goͤtterey gegen den menſchlichen Geiſt?
Wer legte hier Venedig an dieſem Platze, unter dem tiefſten Bedraͤngniß der Noth an? und wer uͤberdachte, was dies Venedig, allein an dieſem Platze, ein Jahrtauſend hindurch, allen Voͤlkern der Erde ſeyn konnte und ſollte? Der dieſen Sund von Jnſeln in den Moraſt warf, der dieſe wenigen Fiſcher dahinleitete, war derſelbe, der das Saamenkorn fallen laͤßt, das zu der Zeit und an dem Orte eine
Eiche
� [94/0098]
Eiche werde; der die Huͤtte an die Tiber
pflanzte, daß Rom, das ewige Haupt der
Welt daraus wuͤrde. Eben derſelbe iſts, der
jetzt Barbarn hinzufuͤhrt, daß ſie die Littera-
tur der ganzen Welt, die Bibliothek zu
Alexandrien (gleichſam ein verſinkendes Welt-
theil!) vernichtigen, jetzt eben dieſelbe hinzu-
fuͤhrt, daß ſie einen kleinen Reſt Litteratur
erbetteln, erhalten, und auf einer ganz an-
dern Seite, auf Wegen, die niemand getraͤumt
oder gewuͤnſcht hatte, nach Europa bringen
ſollten. Eben derſelbe, der jetzt durch ſie an
einer andern Seite eine Kaiſerſtadt zerſtoͤren
laͤßt, daß die Wiſſenſchaften, die da niemand
ſuchte und die da ſo lange muͤßig waren, nach
Europa fliehen — Alles iſt großes Schickſal!
von Menſchen unuͤberdacht, ungehoft, un-
bewuͤrkt — ſiehſt du, Ameiſe nicht, daß
du auf dem großen Rade des Verhaͤngniſſes nur
kriecheſt?
Wenn wir in die Umſtaͤnde des Urſprungs aller ſogenannten Welterleuchtungen naͤher ein- dringen: die nemliche Sache. Dort im großen hier im kleinen, Zufall, Schickſal, Gott- heit! Was jede Reformation anfieng, waren Kleinigkeiten; die nie ſo gleich den großen
un-
� [95/0099]
ungeheuren Plan hatten, den ſie nachher ge-
wannen; — ſo oft es gegentheils vorher der
große, wuͤrklich uͤberlegte, menſchliche Plan
geweſen war: ſo oft mißlang er. Alle eure
große Kirchenverſammlungen, ihr Kaiſer.
Koͤnige! Kardinaͤle und Herren der Welt! wer-
den nimmermehr nicht aͤndern, aber dieſer un-
feine, unwiſſende Moͤnch, Luther ſolls aus-
richten! Und das von Kleinigkeiten, wo er
ſelbſt nichts weniger, als ſo weit denkt! durch
Mittel, wo nach der Weiſe unſerer Zeit, phi-
loſophiſch geſprochen, nie ſo was auszurich-
ten war! meiſtens er ſelbſt das wenigſte aus-
richtend, nur daß er andre anſtieß, Refor-
matoren in allen andern Laͤndern weckte, er
aufſtand und ſagte „ich bewege mich! darum
„giebts Bewegung!„ dadurch ward, was gewor-
den iſt. Veraͤnderung der Welt! Wie oft wa-
ren ſolche Luthers fruͤher aufgeſtanden und —
untergegangen. Der Mund ihnen mit Rauch
und Flammen geſtopft, oder ihr Wort fand
noch keine freye Luft, wo es toͤnte — aber nun
iſt Fruͤhling: die Erde oͤfnet ſich, die Sonne
bruͤtet und tauſend neue Gewaͤchſe gehen her-
vor — Menſch, du warſt nur immer, faſt
wider deinen Willen, ein kleines blindes
Werkzeug.
„War- � [96/0100]
„Warum iſt nicht, ruft der ſanfte Philo-
„ſoph, jede ſolcher Reformationen lieber! ohne
„Revolution geſchehen? Man haͤtte den
„menſchlichen Geiſt nur ſollen ſeinen ſtillen
„Gang gehen laſſen, ſtatt daß jetzt die Leiden-
„ſchaften im Sturme des Handelns neue Vor-
„urtheile gebahren, und man Boͤſes mit Boͤ-
„ſem verwechſelte„ — — Antwort! weil ſo
ein ſtiller Fortgang des menſchlichen Geiſtes
zur Verbeſſerung der Welt kaum etwas anders
als Phantom unſrer Koͤpfe, nie Gang Gottes
in der Natur iſt. Dies Saamenkorn faͤllt in
die Erde! da liegts und erſtarrt; aber nun
kommt Sonne es zu wecken: da brichts auf:
die Gefaͤſſe ſchwellen mit Gewalt auseinander:
es durchbricht den Boden — ſo Bluͤthe, ſo
Frucht — Kaum die garſtige Erdpiltze waͤchſt,
wie dus traͤumeſt. Der Grund jeder Refor-
mation war allemal eben ſolch ein kleines Saa-
menkorn, fiel ſtill in die Erde, kaum der Re-
de werth: die Menſchen hattens ſchon lange,
beſahens und achtetens nicht — aber nun
ſollen dadurch Neigungen, Sitten, eine
Welt von Gewohnheiten geaͤndert, neuge-
ſchaffen werden — iſt das ohne Revolution;
ohne Leidenſchaft und Bewegung moͤglich? Was
Luther ſagte, hatte man lange gewußt; aber jetzt
ſagte
� [97/0101]
ſagte es Luther! Roger Baco, Galilaͤi,
Lartes, Leibnitz, da ſie erfanden, wars ſtille:
es war Lichtſtrahl — aber ihre Erfindungen
ſollten durchbrechen, Meynungen wegbringen,
die Welt aͤndern — es ward Sturm und
Flamme. Habe immer der Reformator auch
Leidenſchaften gehabt, die die Sache, die
Wiſſenſchaft ſelbſt nicht foderte, die Einfuͤh-
rung der Sache foderte ſie, und eben daß er
ſie hatte, gnug hatte, um jetzt durch ein Nichts
zu kommen, wozu ganze Jahrhunderte durch
Anſtalten, Maſchinerien und Gruͤbeleyen,
nicht hatten kommen koͤnnen — eben das iſt
Kreditiv ſeines Berufs!
„Meiſt nur ſimple mechaniſche Erfindun- „gen die man zum Theil laͤngſt geſehen, ge- „habt, damit geſpielt, die aber jetzt durch „einen Einfall ſo und nicht anders angewandt, „die Welt veraͤnderten.„ So z. E. die An- wendung des Glaſes zur Optik, des Mag- nets zum Kompaße, des Pulvers zum Krie- ge, der Buchdruckerkunſt fuͤr die Wiſſen- ſchaften, des Calculs zu einer ganz neuen mathematiſchen Welt — und alles nahm an- dre Geſtalt an. Man hatte das Werkzeug ver- aͤndert, einen Platz außer der alten Welt gefunden, und ſo ruͤckte man dieſe fort.
Ge-
G� [98/0102]
Geſchuͤtz erfunden! und ſiehe die alte
Tapferkeit der Theſeus, Spartaner, Roͤ-
mer, Ritter und Rieſen weg — der Krieg
anders und wie viel anders mit dieſem andern
Kriege!
Buchdruckerey erfunden! und wie ſehr die Welt der Wiſſenſchaften geaͤndert! erleichtert und ausgebreitet! Licht und flach worden! Al- les kann leſen, buchſtabieren — alles was le- ſen kann, wird gelehrt.
Mit der kleinen Nadel auf dem Meer — wer kann die Revolutionen in allen Weltthei- len zaͤhlen, die damit bewuͤrkt ſind. Laͤnder gefunden, ſo viel groͤßer als Europa! Kuͤſten erobert voll Gold, Silber, Edelſteine, Ge- wuͤrz und Tod! Menſchen in Bergwerke, Sklavenmuͤhlen und Laſterſitten hineinbekehrt oder hinein kultiviert! Europa entvoͤlkert, mit Krankheiten und Ueppigkeit an ſeinen geheim- ſten Kraͤften verzehrt — wer kann zaͤhlen! wer beſchreiben! Neue Sitten, Neigungen, Tugenden, Laſter — wer kann zaͤhlen und be- ſchreiben? Das Rad, in dem ſich ſeit drey Jahr- hunderten die Welt bewegt, iſt unendlich — und woran hiengs? was ſtieß es an? die Na-
del-
� [99/0103]
delſpitze zwey oder drey mechaniſcher Ge-
danken!
II. Eben daher muß folgen, daß ein groſ- ſer Theil dieſer ſogenannten neuen Bildung ſelbſt wuͤrkliche Mechanik ſey; naͤher unter- ſucht — wird dieſe, wie ſehr neuerer Geiſt! Wenn meiſtens neue Methoden in jeder Art und Kunſt die Welt veraͤnderten — neue Me- thoden entuͤbrigten Kraͤfte, die voraus noͤthig waren, ſich aber jetzt — denn jede unge- brauchte Kraft ſchlaͤft! — mit der Zeit ver- lohren. Gewiſſe Tugenden der Wiſſenſchaft des Krieges, des buͤrgerlichen Lebens, der Schiffart, der Regierung — man brauchte ſie nicht mehr: es ward Maſchiene, und die Maſchiene regiert nur Einer. Mit einem Ge- danken! mit einem Winke! — dafuͤr ſchlafen auch wie viel Kraͤfte! Geſchuͤtz erfunden, und damit welche Nerve roher koͤrperlicher Kriegs- ſtaͤrke, und Seelenkriegsſtaͤrke, Tapferkeit, Treue, Gegenwart in einzeln Faͤllen, Ehrege- fuͤhl der alten Welt ermattet! Das Heer iſt eine gedingte, Gedankenkraft-Willenloſe Maſchine geworden, die ein Mann in ſeinem Haupte lenkt, und die er nur als Pantin der Bewe- gung, als eine lebendige Mauer bezahlt, Ku-
geln
G 2�
[100/0104]
geln zu werfen und Kugeln aufzufangen. Jm
Grunde alſo, wuͤrde ein Roͤmer und Sparta-
ner vielleicht ſagen, Tugenden im innerſten
Heerde des Herzens weggebrannt, und ver-
welkt ein Kranz militariſcher Ehre — und was
iſt an der Stelle? der Soldat iſt erſter Lohn-
diener des Staats in Heldenlivrey — ſiehe
ſeine Ehre und Beruf! Er iſt — und mit
leichter Muͤhe die Reſte von einzelnen Exi-
ſtenzen geſprengt: die altgothiſche Freyheit-
ſtaͤnde: Eigenthumsformen, das elende
Gebaͤude in ſchlechtem Geſchmack! in Grund
geſchoſſen und zerſtoͤrt, wird in ſeinen kleinen
Truͤmmern ſo dicht blokirt, daß Land, Ein-
wohner, Buͤrger, Vaterland manchmal wohl
etwas, aber Herr und Knecht, Deſpot und
Livreyendieners jedes Amts, Berufs und Stan-
des, vom Bauer bis zum Miniſter und vom
Miniſter zum Prieſter, alles iſt. Heißt Lan-
deshoheit! verfeinte Staatskunſt! neue
philoſophiſche Regierungsart! — iſts auch
wuͤrkliche Fuͤrſtenhut und Krone der neuern
Jahrhunderte — worauf ſie aber nur ru-
hen! — wies der beruͤhmteſte Sonnenadler
auf allen Muͤnzen zeigt — auf Trommeln,
Fahnen, Kugeln und immerfertigen Sol-
datenmuͤtzen.
Der � [101/0105]
Der Geiſt der neuern Philoſophie — daß
er auf mehr als eine Art Mechanik ſeyn muͤſſe,
zeigt, denke ich, der meiſte Theil ſeiner Kin-
der. Bey Philoſophie und Gelehrſamkeit oft
wie unwiſſend und unkraͤftig in Sachen des
Lebens und des geſunden Verſtandes! Statt,
daß in den alten Zeiten der philoſophiſche Geiſt
nie fuͤr ſich allein beſtand, von Geſchaͤften
ausgieng und zu Geſchaͤften eilte, alſo auch
nur Zweck hatte, volle, geſunde, wuͤrkende
Seelen zu ſchaffen, ſeit er allein ſtehet und
Handwerk geworden — iſt er Handwerk.
Der wievielſte Theil von euch betrachtet Logik,
Metaphyſik, Moral, Phyſik, als was ſie
ſind — Organe der menſchlichen Seele, Werk-
zeuge, mit denen man wuͤrken ſoll! Vorbil-
der von Gedankenformen, die nur unſrer
Seele eine ihr eigne ſchoͤnere Gedankenform
geben ſollen — dafuͤr ſchlaͤgt man mechaniſch
ſeine Gedanken dahin ein, ſpielt und gaukelt —
der abentheuerlichſte Burſche von Klopffechter!
Er tanzt mit dem Degen auf dem akademiſchen
Seile zur Bewundrung und Freude aller, die
ringsum ſitzen, und dem großen Kuͤnſtler jauch-
zen, daß er nicht Hals und Bein breche: —
das iſt ſeine Kunſt. Ein Geſchaͤft auf der Welt
wollt ihrs uͤbel beſorgt haben, ſo gebts dem
Phi-
G 3�
[102/0106]
Philoſophen! Auf dem Papier wie rein! wie
ſanft! wie ſchoͤn und groß; heillos im Ausfuͤh-
ren! bey jedem Schritte ſtaunend und ſtarrend
vor ungeſehenen Hinderniſſen und Folgen.
Das Kind indeß war wuͤrklich großer Philo-
ſoph, konnte rechnen, und mit Syllogismen,
Figuren und Jnſtrumenten gelaͤufig, oft ſo
gluͤcklich ſpielen, daß neue Syllogismen, Re-
ſultate, und ſogenannte Entdeckungen her-
auskamen — die Frucht, die Ehre, der
Gipfel des menſchlichen Geiſtes! — durch
mechaniſches Spiel!
Das war die ſchwerere Philoſophie — und nun die leichte, die ſchoͤne! Gottlob! was iſt mechaniſcher, als dieſe. Jn Wiſſenſchaften, Kuͤnſten, Gewohnheiten, Lebensart, wo ſie hineingedrungen, wo ſie Saft und Bluͤthe des Jahrhunderts iſt, was mechaniſcher als ſie? Eben das alte Herkommen, das ſinn- loſe Vorurtheil von Lernen, Langſamreifen, Tiefeindringen und Spaͤtbeurtheilen hat ſie ja wie ein Joch vom Halſe geworfen! hat in unſre Gerichtsſchranken, ſtatt kleiner, ſtau- biger, detaillirter Kenntniſſe, wo jeder Vor- fall als der behandelt und unterſucht werden ſoll, der er iſt — hat darinn welch ſchoͤnes,
leich-
� [103/0107]
leichtes, freyes Urtheil gebracht, nach zwey
Vorfaͤllen alles zu meſſen und abzuthun! uͤber
das Jndividuelle, worinn allein Species facti
beſteht, hinuͤber, ſich am hellen, vortreflichen All-
gemeinen zu halten — ſtatt Richter — (Bluͤ-
the des Jahrhunderts!) — Philoſoph zu ſeyn.
Hat in unſre Staatswirthſchaft und Regie-
rungskunde, ſtatt muͤhſam erlangter Kaͤnnt-
niſſen von Beduͤrfniſſen und wahrer Beſchaf-
fenheit des Landes, welchen Adlersblick! wel-
che Anſicht des Ganzen gebracht wie auf einer
Landcharte und philoſophiſchen Tabelle!
Grundſaͤtze durch den Mund Montesquieus
entwickelt, aus und nach welchen hundert ver-
ſchiedene Voͤlker und Erdſtriche, aus dem
Stegreif nach dem Ein mal Eins der Politik
in zwey Augenblicken berechnet werden. — —
So alle ſchoͤne Kuͤnſte, Handwerke und bey-
nahe die kleinſten Tageloͤhnereyen — wer
braucht in ihrer Tiefe, muͤhſam, wie in einem
Gewoͤlbkeller umher zu klettern, zu arbeiten?
Man raiſonnirt! Woͤrterbuͤcher und Philo-
ſophien uͤber alle, ohne eine einzige mit dem
Werkzeug in der Hand zu verſtehen: ſind al-
leſammt abregé raiſonné ihrer vorigen Pedan-
terie geworden — abgezogner Geiſt! Phi-
lo-
G 4�
[104/0108]
loſophie aus zwey Gedanken, die mechaniſchte
Sache von der Welt.
Darf ich beweiſen, was der neuere Witz fuͤr eine edle mechaniſche Sache ſey? Giebts eine gebildetere Sprache und Periodenform d. i. einen engern Leiſten der Gedanken, der Le- bensart, des Genies und Geſchmacks, bey dem Volke, von dem er ſich unter hundert Ge- ſtalten am glaͤnzendſten in der Welt verbreitet hat? Welch ein Schauſpiel iſt mehr Mario- nette eines ſchoͤnen Regelmaaßes — welche Lebensart mehr Aefferey einer leichten mecha- niſchen Hoͤflichkeit, Luſtigkeit und Wortzier- de — welche Philoſophie mehr das Ausge- kramte weniger Sentiments, und eine Be- handlung aller Dinge in der Welt nach dieſen Sentiments geworden, als die —? Affen der Humanitaͤt, des Genies, der Froͤlichkeit, der Tugend, und eben weil ſie nichts, als das ſind, und ſo leicht nachgeaͤfft werden koͤnnen, ſind ſies fuͤr ganz Europa. —
III. Daher wird denn nun wohl begreiflich, zu „welchem Mittelpunkte„ die Bildung hinſtre- „be, und immer hingelenkt werde „Philoſo- „phie! Gedanke! — leichtere Mechanik!
„Rai-
� [105/0109]
„Raiſonnement, das ſich bis auf die Grund-
„ſaͤulen der Geſellſchaft erſtreckt, die ſonſt nur
„ſtanden und trugen!„ Und auch da kann
ichs in zehnerley Betracht kaum begreifen, wie
das ſo allgemein und einzig fuͤr den Gipfel
und Zweck aller menſchlichen Bildung, alles
Gluͤcks, alles Guten verraiſonnirt werden
koͤnne? Jſt denn der ganze Koͤrper beſtimmt
zu ſehen? und muß, wenn Hand und Fuß
Auge und Gehirn ſeyn will, nicht der ganze
Koͤrper leiden? Raiſonnement zu unvorſuͤch-
tig, zu unnuͤtz verbreitet — obs nicht Nei-
gung, Trieb, Thaͤtigkeit zu leben, ſchwaͤchen
koͤnnte und wuͤrklich geſchwaͤcht habe? —
Allerdings mag nun wohl dieſe Ermattung dem Geiſte mancher Laͤnder bequem ſeyn: er- mattete Glieder muͤſſen fort, haben keine Kraͤfte als — etwa zum Gegendenken. Jedes Rad bleibt aus Furcht, oder Gewohnheit oder Ueppigkeit und Philoſophie an der Stelle und was iſt nun ſo manche große philoſophiſchre- gierte Heerde, als ein zuſammengezwungner Hau- fe — Vieh und Holz! Sie denken! man breitet Denken vielleicht unter ſie aus — bis auf einen Punkt: damit ſich von Tage zu Tage mehr als Maſchine fuͤhlen, aber nach gegebenen Vor-
ur-
G 5�
[106/0110]
urtheilen fuͤhlen knirſchen lernen und fort muͤſ-
ſen — Sie knirſchen — ey doch, ſie koͤnnen nichts
als knirſchen: und laben ſich mit Freydenken.
Das liebe, matte, aͤrgerliche unnuͤtze Frey-
denken, Erſatz fuͤr alles, was ſie vielleicht mehr
brauchten — Herz! Waͤrme! Blut! Menſch-
heit! Leben!
Nun rechne ein jeder. Licht unendlich er- hoͤht und ausgebreitet: wenn Neigung, Trieb zu leben ungleich geſchwaͤchet iſt! Jdeen von allgemeiner Menſchen - Voͤlker - und Fein- desliebe erhoͤht! und warmes Gefuͤhl der Vater - Mutter - Bruder - Kindes - Freun- desneigungen unendlich geſchwaͤchet! Grund- ſaͤtze der Freyheit, Ehre, Tugend ſo weit verbreitet, daß ſie jeder aufs helleſte anerken- net, daß in gewiſſen Laͤndern ſie jederman bis zum Geringſten auf Zung und Lippen hat — und jeder von ihnen zugleich mit den aͤrgſten Ketten der Feigheit, Schande, Ueppigkeit, Kriecherey und elender Planloſigkeit gebun- den. Handgriffe und Erleichterungen un- endlich verbreitet — aber alle die Handgriffe gehen in die Hand Eines oder Etlicher zuſam- men, der allein denkt: der Maſchine iſt die Luſt zu leben, zu wuͤrken, menſchlich edel und
gut-
� [107/0111]
gutthaͤtig, vergnuͤgt zu leben, verſchwunden:
lebt ſie mehr? Jm ganzen und im kleinſten
Theile, der einzige Gedanke des Meiſters.
Jſt dies nun das ſchoͤne Jdeal vom Zuſtan- de, zu dem wir durch alles hingebildet ſind, das ſich immer weiter in Europa ausbrei- tet, das in alle Welttheile hinſchwimmet, und alles policiren will, zu ſeyn, was wir ſind — Menſchen? Buͤrger eines Vater- lands? Weſen fuͤr ſich etwas zu ſeyn in der Welt? vielleicht wenigſtens und gewiß aber alleſamt nach Anzahl, Beduͤrfniſſen, Zweck und Beſtimmung politiſcher Calcul: jeder in der Uniform ſeines Standes, Maſchinen! — da ſtehen nun jene glaͤnzende Marktplaͤtze zur Bildung der Menſchheit, Kanzel und Schauplatz, Saͤle der Gerechtigkeit, Viblio- theken, Schulen und ja inſonderheit die Kro- nen aller illuſtre Akademien! Jn welchem Glanz! zum ewigen Nachruhm der Fuͤrſten! zu wie großen Zwecken der Bildung und Auf- klaͤrung der Welt, der Gluͤckſeligkeit der Menſchen! herrlich eingeweihet — was thun ſie denn? was koͤnnen ſie thun? — ſie ſpielen!
IV. Alſo � [108/0112]
IV. Alſo von einigen der beruͤhmteſten Mit-
tel, die, die Ehre unſers Jahrhunderts! den
ſchoͤpferiſchen Plan haben, „Menſchheit zu
„bilden„ — Ein Wort! Wir kommen damit
wenigſtens zu einer ſehr praktiſchen Seite des
Buchs.
Jſt nicht vom Anfange an, vergebens ge- ſchrieben, ſo ſieht man Bildung und Fort- bildung einer Nation iſt nie anders als ein Werk des Schickſals: Reſultat tauſend mit- wuͤrkender Urſachen, gleichſam des ganzen Elements, in dem ſie leben. Und iſt dies, was fuͤr ein Kinderſpiel, dieſe Bildung blos in und durch einige hellere Jdeen zu ſetzen, worauf man faſt von Wiederherſtellung der Wiſſenſchaften her trabet! dies Buch, dieſer Autor, dieſe Menge von Buͤchern ſoll bilden; das ganze Reſultat derſelben, die Philoſophie unſers Jahrhunderts ſoll bilden — was hieße das anders, als die Neigungen wecken oder ſtaͤrken, durch die die Menſchheit beſeligt wird — und welche Kluft, das dies geſche- he! Jdeen geben eigentlich nur Jdeen: meh- rere Helle, Richtigkeit und Ordnung zu den- ken — das iſt aber auch alles, worauf man gewiß rechnen kann: denn wie ſich das alles
nun
� [109/0113]
nun in der Seele miſche? was es vor ſich
ſinden und veraͤndern ſoll? wie ſtark und
daurend dieſe Veraͤnderung werde? und wie
ſie ſich nun endlich in die tauſendgeſtaltigen
Anlaͤſſe und Fuͤgungen des menſchlichen Le-
bens, geſchweige eines Zeitalters, eines gan-
zen Volks, des ganzen Europa, des ganzen Welt-
alls, (wie unſre Demuth waͤhnet), hineinmi-
ſche und hineinwerfe — ihr Goͤtter, welche
andre Welt von Fragen!
Ein Menſch, der die kuͤnſtliche Denkart unſers Jahrhunderts kennen lernte, laͤſe alle Buͤcher, die wir von Kind auf leſen, loben und wie es heißt, uns darnach bilden, ſammlete die Grundſaͤtze, die wir alle laut oder ſchwei- gend zugeſtehen, auch mit gewiſſen Kraͤften unſrer Seele bearbeiten u. ſ. w. wollte hier- aus nun auf das ganze lebendige Triebwerk des Jahrhunderts Schluß machen — erbaͤrm- licher Fehlſchuß! Eben weil dieſe Grundſaͤtze ſo gaͤng und gaͤbe ſind; als Spielwerk von Hand zu Hand, als Mundwerk von Lippe zu Lippe gehen — eben deßwegen wirds wahr- ſcheinlich, daß ſie keine Wuͤrkung mehr thun koͤnnen. Braucht man, womit man ſpielt? und wenn man des Getreydes ſoviel hat, daß
man
� [110/0114]
man den Acker nicht beſaͤet, bepflanzet, ſon-
dern als Kornboden uͤberſchuͤtten muß —
duͤrrer, trockner Kornboden! kann etwas
wurzeln? aufgehen? kommt ein Korn nur
in die Erde?
Was ſoll ich Exempel zu einer Wahrheit ſu- chen, zu der faſt alles leider! Exempel waͤ- re — Religion und Moral, Geſetzgebung und gemeine Sitten. Wie uͤberſchwemmt mit ſchoͤnen Grundſaͤtzen, Entwicklungen, Syſtemen, Auslegungen — uͤberſchwemmet, daß faſt niemand mehr Boden ſieht und Fuß hat — eben deßwegen aber auch nur hinuͤber- ſchwimmet. Der Theologe blaͤttert in den ruͤhrendſten Darſtellungen der Religion, ler- net, weiß, beweißt und vergißt: — zu den Theologen werden wir alle von Kind auf ge- bildet. Die Kanzel ſchallet von Grundſaͤtzen, die wir alle zugeſtehen, wiſſen, ſchoͤn fuͤhlen, und — auf und neben der Kanzel laſſen. So mit Lektuͤre, Philoſophie und Moral. Wer iſt nicht uͤberdruͤſſig ſie zu leſen? und welcher Schriftſteller machts nicht ſchon zum Haupt- geſchaͤfte, gut einzukleiden: die unkraͤftige Pille nur ſchoͤn zu verſilbern. Kopf und Herz iſt einmal getrennt: der Menſch iſt leider! ſo
weit,
� [111/0115]
weit, um nicht nach dem was er weiß, ſon-
dern was er mag, zu handeln. Was hilft
dem Kranken alle der Vorrath von Leckerbiſ-
ſen, den er mit ſiechem Herzen nicht genieſ-
ſen kann, ja deß Ueberfluß ihn eben ſiechher-
zig machte. —
Den Verbreitern des Mediums dieſer Bildung koͤnnte man immer die Sprache und den Wahn laſſen, als wenn ſie „die Menſch- heit„ und inſonderheit ja den Philoſophen von Paris, daß ſie toute l’Europe und tout l’U- nivers bilden — man weiß ſchon was die Sprache bedeutet? — Ton! conventionelle Phraſe! ſchoͤne Wendung, oder hoͤchſtens nuͤtzlicher Wahn. — Aber wenn auch die auf ſolche Mittel der Letternkultur fallen, die ganz andre Werkzeuge — wann ſie eben mit je- nen dem Jahrhundert ſchoͤnen Dunſt geben, Augen auf den Glanz dieſes unwuͤrkſamen Lichts lenken, um Herzen und Haͤnde frey zu haben, — Jrrthum und Verluſt, ihr ſeyd klaͤglich! —
Es gab ein Zeitalter, wo die Kunſt der Geſetzgebung fuͤr das einzige Mittel galt, Na- tionen zu bilden, und dieß Mittel auf die ſon-
der-
� [112/0116]
derbarſte Art angegriffen, nur meiſt eine allge-
meine Philoſophie der Menſchheit, ein Ko-
dex der Vernunft, der Humanitaͤt — was,
weiß ich mehr? werden ſollte: die Sache war
ohne Zweifel blendender als nuͤtzlich. Aller-
dings lieſſen ſich damit alle „Gemeinſaͤtze des
„Rechten und Guten, Maximen der Men-
„ſchenliebe und Weisheit, Ausſichten aus al-
„len Zeiten und Voͤlkern fuͤr alle Zeiten, und
„Voͤlker erſchoͤpfen„ — fuͤr alle Zeiten und
Voͤlker? — und alſo leider! eben nicht fuͤr
das Volk, dem dies Geſetzbuch aufgenommen
ſeyn ſoll, als ſein Kleid. So allgemeines Ab-
geſchoͤpfte iſts nicht auch Schaum vielleicht,
der in der Luft aller Zeiten und Voͤlker zer-
fließt? und wie anders fuͤr die Adern und Seh-
nen ſeines Volks Nahrung bereiten, daß ſie
ihm Herz ſtaͤrke, und Mark und Bein er-
friſche!
Zwiſchen jeden Allgemeingeſagten, wenn auch der ſchoͤnſten Wahrheit — und ihrer minde- ſten Anwendung iſt Kluft; Und Anwendung am einzigen rechten Orte? zu den rechten Zwecken? auf die einzige beſte Weiſe? — der Solon eines Dorfs, der wuͤrklich nur eine boͤſe Gewohnheit abgebracht, nur einen Strom
menſch-
� [113/0117]
menſchlicher Empfindungen und Thaͤtigkei-
ten in Gang gebracht — er hat tauſendfach
mehr gethan, als all ihr Raiſonneurs uͤber die
Geſetzgebung, bey denen alles wahr, und al-
les falſch — ein elender allgemeiner Schat-
te iſt. —
Es war eine Zeit, da die Errichtung von Akademien, Bibliotheken, Kunſtſaͤlen, Bil- dung der Welt hieß — vortreflich! dieſe Aka- demie iſt der Name des Hofes, das wuͤrdige Prytaneum verdienter Maͤnner, eine Unter- ſtuͤtzung koſtbarer Wiſſenſchaften, ein vortref- licher Saal am Geburtsfeſte des Monar- chen. — Aber was die nun zur Bildung des Landes, der Leute, der Unterthanen thue? Und wenn ſie alles thaͤte — wie fern das Gluͤckſe- ligkeit gebe? Koͤnnen dieſe Bildſaͤnlen, und wenn ihr ſie an Weg und Pfoſten ſtellt, jedem Vorbeygehenden in einen Griechen verwandeln, daß er ſie ſo anſehe, ſo fuͤhle, ſich ſo in ihnen fuͤhle? Schwer! Koͤnnen dieſe Gedichte, dieſe ſchoͤne Vorleſungen nach attiſcher Art eine Zeit ſchaffen, wo dieſe Gedichte und Reden Wunder thaten und wuͤrkten? Jch glaube nein! und die ſogenannten Wiederherſteller der Wiſſenſchaften, wenn auch Pabſt und Kar-
dinaͤle
H�
[114/0118]
dinaͤle, lieſſen immer Apollo, Muſen und al-
le Goͤtter in den neulateiniſchen Gedichten ſpie-
len — ſie wuſten, daß es Spiel war. Die
Bildſaͤule Apollo konnte immer neben Chri-
ſto und der Leda ſtehen: Alle drey thaten
eine Wirkung. — Keine! — koͤnnte die Vor-
ſtellung, der Schauplatz wirklichen roͤmiſchen
Heroismus hervorbringen und Brutus und
Kato’s ſchaffen — glaubt ihr, daß euer
Schauplatz ſtehen? daß eure Kanzel ſtehen
wuͤrde? — Man ballet endlich in den edelſten
Wiſſenſchaften Oßa auf den Pelion — groſſes
Unternehmen! — man weiß beynahe nicht, wo-
zu man ballet? Die Schaͤtze liegen da und wer-
den nicht gebraucht: wenigſtens iſts gewiß nicht
die Menſchheit, die ſie jezt brauchet.
Es war eine Zeit, da alles auf Erziehung ſtuͤrmte — und die Erziehung wurde geſetzt in ſchoͤne Realkenntniſſe, Unterweiſung, Auf- klaͤrung, Erleichterung ad captum und ja in fruͤhe Verfeinerung zu artigen Sitten. Als wenn alle das Neigungen aͤndern und bilden koͤnnte? Ohne an ein einziges der verachteten Mittel zu denken, wie man gute Gewohnhei- ten, ſelbſt Vorurtheile, Uebungen und Kraͤf- te wiederherſtellen oder neu ſchaffen und da-
durch
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durch allein „beſſere Welt„ bilden koͤnnte. —
Der Aufſatz, der Plan wurde abgefaßt, ge-
druckt, vergeſſen! ein Lehrbuch der Erzie-
hung, wie wir tauſend haben! ein Kodex gu-
ter Regeln, wie wir noch Millionen haben
werden, und die Welt wird bleiben, wie ſie iſt.
Wie anders dachten einſt daruͤber die Zei- ten und Voͤlker, da alles noch ſo enge Na- tional war. Aus dem beſonderſten einzelnen Beduͤrfniſſe ſtieg jede Bildung herauf und kehr- te dahin zuruͤck — lauter Erfahrung, That, Anwendung des Lebens in dem beſtimmteſten Kreiſe. Hier in der Patriarchenhuͤtte: Dort im engen Ackergebiete, dort in einer kleinen Republik Menſchen, wo man alles kennt, fuͤhlt, alſo auch zu fuͤhlen geben konnte, das menſchliche Herz in Hand hatte, und uͤberſahe, was man ſprach! da wars alſo ein guter Vor- wurf, den unſer erleuchtetes Jahrhundert den minder erleuchteten Griechen macht, daß ſie nichts recht allgemeines und rein abgezognes philoſophirt, ſondern immer in der Natur klei- ner Beduͤrfniſſe, auf einem engen Schauplatz geſprochen haͤtten. Da wars auch angewandt geſprochen, jedes Wort fand Stelle: und in den beſſern, Zeiten, da man noch gar nicht
durch
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durch Worte ſprach, durch That, Gewohn-
heit, Vorbild, tauſendfachen Einfluß — wie
anders! Beſtimmt, ſtark, und ewig. Wir
ſprechen uͤber hundert Staͤnde, Klaſſen, Zei-
ten, Menſchengattungen auf einmal, um fuͤr
jede nichts zu ſprechen: unſre Weisheit ſo
fein und unkoͤrperlich — iſt abgezogner Geiſt,
der ohne Gebrauch verfliegt. Dort wars
und bliebs Weisheit des Buͤrgers, Geſchich-
te eines menſchlichen Gegenſtandes, Saft voll
Nahrung. —
Wenn meine Stimme alſo Macht und Raum haͤtte, wie wuͤrde ich allen, die an der Bil- dung der Menſchheit wuͤrken, zuruffen: nicht Allgemeinoͤrter von Verbeſſerung! Papier- kultur! wo moͤglich Anſtalten — thun! laßt die reden, und ins blaue des Himmels hin- einbilden, die das Ungluͤck haben, nichts an- ders zu koͤnnen; hat der Liebling der Braut nicht eine ſchoͤnere Stelle, als der Dichter, der ſie ſingt, oder der Freywerber, der um ſie wirbt? Siehe, wer die Menſchenfreund- ſchaft, Voͤlkerliebe und Vatertreue am ſchoͤn- ſten beſingen kann, hat vielleicht im Sinne, ihr auf Jahrhunderte den tiefſten Dolchſtoß zu geben? Dem Scheine nach der edelſte Geſetz-
geber,
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geber, vielleicht der innigſte Zerſtoͤrer ſeines
Jahrhunderts! Von innerer Verbeſſerung,
Menſchheit und Gluͤckſeligkeit nicht die Re-
de: — er ſtrebte dem Strom des Jahrhunderts
nach, ward Heyland des menſchlichen Geſchlechts
nach dem Wahne des Jahrhunderts, erſtreb-
te ſich alſo auch den kurzen Lohn des allen —
welkenden Lorbeer der Eitelkeit, morgen Staub
und Aſche. — Das groſſe, goͤttliche Werk,
Menſchheit zu bilden — ſtill, ſtark, verbor-
gen, ewig — mit kleiner Eitelkeit konnts
nicht graͤnzen!
V. Ohne Zweifel wird man, nach dem, was ich geſchrieben, den Allgemeinſatz anbringen, daß man immer die Ferne lobe und uͤber die Ge- genwart klage; daß es Kinder ſind, die ſich in die Ferne des Goldſchaums verlieben, und den Apfel, den ſie in der Hand dafuͤr hingeben, weil ſie jenes nicht kennen — aber vielleicht bin ich dieß Kind nicht. Jch ſehe alles Groſſe, Schoͤ- ne, und Einzige unſers Jahrhunderts ein, und habe es bey allem Tadel, immer zum Grunde behalten „Philoſophie! ausgebreitete Helle! „mechaniſche Fertigkeit und Leichtigkeit zum „Erſtaunen! Mildheit!„ Wie hoch iſt, ſeit der Wiederherſtellung der Wiſſenſchaften unſer
Jahr-
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Jahrhundert darinn geſtiegen! mit welchen ſon-
derbar leichten Mitteln auf die Hoͤhe kommen!
wie ſtark hats ſie befeſtigt und fuͤr die Nach-
kommenſchaft geſichert! — ich glaube Bemer-
kungen daruͤber gegeben zu haben, ſtatt der
uͤbertriebenen Lobesdeklamation, die man in
allen, zumal franzoͤſiſchen Modebuͤchern findet. —
Wahrlich ein groſſes Jahrhundert als Mit- tel und Zweck: ohne Zweifel der hoͤchſte Gipfel des Baums in Betracht aller vorigen, auf denen wir ſtehen! Wie haben wir uns ſo vielen Saft aus Wurzel, Stamm und Ae- ſten zu Nutz gemacht, als unſre duͤnnen Gip- felzweige nur faſſen koͤnnen! ſtehen hoch uͤber Morgenlaͤnder, Griechen, Roͤmer, zu- mal uͤber den mittlern gothiſchen Barbarn! hoch ſehen wir alſo uͤber die Erde! Gewiſ- ſermaſſe alle Voͤlker und Welttheile unter un- ſerm Schatten, und wenn ein Sturm zwey kleine Zweige in Europa ſchuͤttelt, wie bebt und blutet die ganze Welt! Wenn iſt je die ganze Erde an ſo wenig vereinigten Faͤden ſo allgemein zuſammen gegangen, als jetzt? Wenn hat man mehr Macht und Maſchi- nen gehabt, mit einem Druck, mit einem Fingerregen ganze Nationen zu erſchuͤttern?
Alles
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Alles ſchwebt an der Spitze zweyer oder drey
Gedanken!
Zu gleicher Zeit — wenn iſt die Erde ſo allgemein erleuchtet geweſen, als nun? und faͤhrt immerfort mehr erleuchtet zu werden. Wenn voraus die Weisheit immer nur enge National war, und alſo auch tiefer grub und feſter anzog — wie weit gehen jetzt ihre Stra- len! wo wird nicht, was Voltaͤre ſchreibt, ge- leſen! die ganze Erde leuchtet beynahe ſchon von Voltaͤrs Klarheit!
Und wie ſcheint dieß immer fortzugehen! Wo kommen nicht europaͤiſche Kolonien hin, und werden hinkommen! Ueberall werden die Wilden, je mehr ſie unſern Brandtwein und Ueppigkeit liebgewinnen, auch unſrer Be- kehrung reif! Naͤhern ſich, zumal durch Brandt- wein und Ueppigkeit, uͤberall unſrer Kultur — werden bald, hilf Gott! alle Menſchen wie wir ſeyn! gute, ſtarke, gluͤckliche Menſchen!
Handel und Pabſtthum, wie viel habt ihr ſchon zu dieſen groſſen Geſchaͤfte beygetragen! Spanier, Jeſuiten und Hollaͤnder: ihr men- ſchenfreundlichen, uneigennuͤtzigen, edlen und
tugend-
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tugendhaften Nationen! wie viel hat euch in
allen Welttheilen, die Bildung der Menſch-
heit nicht ſchon zu danken?
Geht das in den uͤbrigen Welttheilen, wie denn nicht in Europa. Schande fuͤr England, daß das Jrrland ſo lange wild und barba- riſch blieb: es iſt policirt und gluͤcklich. Schande fuͤr England, daß die Nordſchotten ſo lange ohne Beinkleider giengen: ſie tragen ſie jetzt wenigſtens auf einer Stange mit ſich und ſind gluͤcklich. Welch Reich hat ſich in unſerm Jahrhunderte nicht groß und gluͤck- lich gebildet! Ein einziges lag zur Schande der Menſchheit in der Mitte da — ohne Aka- demien und Ackerbauſocietaͤten, trug Knebel- baͤrte und naͤhrte demnach Koͤnigsmoͤrder. Und ſiehe da! was — mit dem wilden Corſika das edelmuͤthige Frankreich ſchon allein uͤber- nommen hatte, — das thaten drey, — Knebel- baͤrte zu Menſchen zu bilden wie wir ſind! gute, ſtarke, gluͤckliche Menſchen!
Alle Kuͤnſte, die wir treiben, wie hoch ge- ſtiegen! kann man ſich etwas uͤber jene Re- gierungskunſt, das Syſtem! die Wiſſenſchaft
zur
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zur Bildung der Menſchheit denken? o) die
ganze einzige Triebfeder unſrer Staaten,
Furcht und Geld. Ohne Religion (die kin-
diſche Triebfeder!) ohne Ehre und Seelenfrey-
heit und Menſchengluͤckſeligkeit im mindſten
zu brauchen. Wie wiſſen wir, den einzigen
Gott aller Goͤtter, Mammon, als einen zwey-
ten Proteus zu erhaſchen! und wie zu verwan-
deln! und wie alles von ihm zu erzwingen,
was wir nur wollen! — hoͤchſte gluͤckſelige
Regierungskunſt! —
Sehet ein Kriegsheer! das ſchoͤnſte Urbild menſchlicher Geſellſchaft! Alle wie bunt und leicht gekleidet, leicht genaͤhret, harmoniſch den- kend, frey und bequem in allen Gliedern! edel ſich bewegend! Wie helle trefliche Werkzeuge in ihrer Hand! Summe von Tugenden, die ſie bey jeder taͤglichen Handhabung lernen — ein Bild der hoͤchſten Vortreflichkeit des Menſchengeiſtes, und der Regierung der Welt — Reſignation!
Gleichgewicht von Europa! du groſſe Er- findung, von der kein Zeitalter vorher wußte!
wie
o) Hume politiſche Schr. Verf. 4. 9. 25. 26. u.
ſeine Geſch.
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wie ſich jetzt dieſe groſſen Staatskoͤrper, in de-
nen ohne Zweifel die Menſchheit am beſten ge-
pflegt werden kann, an einander reiben, ohne
ſich zu zerſtoͤren, und je zerſtoͤren zu koͤnnen,
wie wir ſo traurige Beyſpiele an der elenden
Staatskunſt der Gothen, Hunnen, Vanda-
len, Griechen, Perſer, Roͤmer, kurz aller Zei-
ten vor uns haben! und wie ſie ihren edlen
Koͤnigsgang fortgehen, dieſe Waſſertonne voll
Jnſekten, in ſich zu ſchlucken, um Einfoͤrmig-
keit, Friede und Sicherheit zu ſchaffen. Arme
Stadt? gequaͤltes Dorf? — heil uns! zu Auf-
rechthaltung des Gehorſams, des Friedens und
der Sicherheit, aller Kardinaltugenden und
Gluͤckſeligkeiten, Soͤldner! Verbundete!
Gleichgewicht Europa’s! Es wird und muß,
heil uns! ewige Ruhe, Friede, Sicherheit
und Gehorſam in Europa bleiben.
Da duͤrfen nur unſre politiſche Geſchicht- ſchreiber und hiſtoriſche Epopeendichter der Monarchie, das Wachsthum dieſes Zuſtan- des von Zeit zu Zeit malen! p) „Einſt, trau-
rige
p) Robertſons Geſch. Karls 5, die Einleitung
davon dieß nur ein treuer Auszug iſt, mit
etwanigem Urtheil uͤber ſein Urtheil. Τα-
ρασσες τους ανδρωπους ου τα πραγματα, αλλα
τα περι πραγματων δογματα. Ευριπ.
�
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„rige Zeiten! da man blos nach Beduͤrfniß
„und eignem Gefuͤhl etwa handelte: trauri-
„gere Zeiten, da die Macht der Regenten,
„gar noch nicht Schrankenlos, und traurigſte
„Zeiten unter allen, da ihre Einkuͤnfte noch
„nicht ganz willkuͤhrlich waren — da — wie
„wenig gibts fuͤr den philoſophiſchen Epo-
„peengeſchichtſchreiber allgemein zu raiſonni-
„ren, oder ins Ganze von Europa hinzuma-
„len! keine Armeen, die vermoͤgend waͤren,
„ferne Graͤnzen zu beunruhigen, kein Landes-
„herr, der aus ſeinem Lande koͤnnte, zu ero-
„bern: alſo alles nur auf elende Gegenwehr
„und Selbſtvertheidigung angelegt: keine
„Politik! kein Blick auf ferne Zeiten und
„Laͤnder, keine Spekulation in den Mond!
„alſo keine Verbindung der Laͤnder durch dieſe
„menſchenfreundlichen Naͤchſtenblicke — kurz,
„kein — und das iſt das Wort fuͤr den neuſten
„hoͤchſten Geſchmack! — kein geſellſchaftli-
„ches Leben in Europa. Gottlob! ſeitdem
„einzelne Kraͤfte und Glieder des Staats
„abgethan, Adel durch Staͤdte, Staͤdte durch
„freygelaßnes Land, und Adel, Staͤdte und
„freygelaßnes Land durch Voͤlker ſo glorreich
„gegen- und uͤberwogen, in das Wunderding
„Maſchinen hineingelenkt ſind, niemand mehr
von
� [124/0128]
„von Selbſtgerechtigkeit, Selbſtwuͤrde und
„Selbſtbeſtimmung weiß und wiſſen darf —
„Heil uns, welch geſellſchaftliches Leben in
„Europa! Wo der Monarch den Staat ſo ganz
„in ſeiner Macht hat, daß dieſer ihm nicht
„mehr Zweck, ſondern auswaͤrtiges Handeln
„durch ihn Zweck iſt — wo er alſo ſo weit
„ſieht, rechnet, rathſchlaget, handelt, jeder
„durch Winke, von denen er nichts verſteht
„und weiß, zum Enthuſiasmus geruͤhrt und
„geleitet werden, kein Staat ohne den Blick,
„des andern, eine Pflaumfeder aufheben
„darf — ohne daß von der ferneſten Urſache
„fich allgemeiner Aderlaß in allen Welttheilen
„von ſelbſt beſchließe! Große Allgemeinheit!
„wie gedrungene menſchliche, leidenſchaftloſe
„Kriege daher entſpringend! wie gerechte,
„menſchliche, billige Unterhandlungen daher
„entſpringend!„ Und wie wird die hoͤchſte Tu-
gend, die Reſignation, jedes Einzelnen da-
bey befoͤrdert — hohes geſellſchaftliches Le-
ben in Europa!
Und durch wie glorreiche Mittel q) man da- hin gekommen! „daß die Macht der Monar-
„chie
q) Noch immer blos aus Robertſon Auszug.
�
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„chie in gleichem Schritt mit der Entkraͤftung
„einzelner Glieder und der Staͤrke des Soͤld-
„nerſtandes gewachſen! durch welche Mit-
„tel ſie ihre Vorrechte erweitert, ihre Ein-
„kuͤnfte gemehret, ihre innern Feinde unter-
„jocht oder gelenkt, ihre Grenzen verbreitet —
„das zeigt die mittlere und neuere, inſonder-
„heit die Vorgaͤngerin von ganz Europa, die
„franzoͤſiſche Geſchichte.„ Glorreiche Mittel,
und der Zweck wie groß: Waage Europa’s!
Gluͤckſeligkeit Europa’s! Auf der Waage und
in der Gluͤckſeligkeit bedeutet jedes einzelne
Sandkorn ohne Zweifel viel! — —
„Unſer Syſtem des Handels!„ Ob man ſich etwas uͤber das Verfeinte der allumfaſſenden Wiſſenſchaft denke? Was warens fuͤr elende Spartaner, die ihre Heloten zum Ackerbau brauchten, und fuͤr barbariſche Roͤmer, die ihre Sklaven in die Erdgefaͤngniſſe einſchloſſen! Jn Europa iſt die Sklaverey abgeſchaft, r) weil berechnet iſt, wie viel dieſe Sklaven mehr ko- ſteten und weniger braͤchten, als freye Leute: Nur Eins haben wir uns noch erlaubt, drey
Welt-
r) Millar uͤber den Unterſchied der Staͤnde
Hauptſt. 5.
�
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Welttheile als Sklaven zu brauchen, zu ver-
handeln, in Silbergruben und Zuckermuͤhlen
zu verbannen — aber das ſind nicht Euro-
paͤer, nicht Chriſten, und dafuͤr bekommen
wir Silber und Edelgeſteine, Gewuͤrze, Zucker
und — heimliche Krankheit: alſo des Handels
wegen und zur wechſelſeitigen Bruderhuͤlfe
und Gemeinſchaft der Laͤnder.
„Syſtem des Handels„ — Das Große und Einzige der Anlage iſt offenbar! Drey Welt- theile durch uns verwuͤſtet und policiret, und wir durch ſie entvoͤlkert, entmannet, in Ueppig- keit, Schinderey und Tod verſenkt: das iſt reich ge- handelt und gluͤcklich. Wer iſt der nicht an der großen Ziehwolke, die Europa ausſaugt, An- theil haben? ſich in ſie draͤngen, und kann er nicht andere, ſeine eigne Kinder als groͤßter Handelsmann entleeren muͤßte? — Der alte Name, Hirt der Voͤlker, iſt in Monopoliſten verwandelt — und wenn die ganze Wolke mit hundert Sturmwinden denn bricht — — groſ- ſer Gott Mammon, — dem wir alle jetzt dienen, hilf uns! —
„Lebensart und Sitten!„ wie elend, als es noch Nationen und Nationalcharakter gab: s)
was
s) Hume vermiſchte Schr. Th. 4. XXIV.
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was fuͤr wechſelſeitiger Haß, Abneigung ge-
gen die Fremden, Feſtſetzung auf ſeinen Mit-
telpunkt, vaͤterliche Vorurtheile, Hangen an
der Erdſcholle, an der wir gebohren ſind und
auf der wir verweſen ſollen! Eeinheimiſche
Denkart! enger Kreis von Jdeen — ewige
Barbarey! bey uns ſind Gottlob! alle Na-
tionalcharaktere ausgeloͤſcht! wir lieben uns
alle, oder vielmehr keiner bedarfs den andern
zu lieben; wir gehen mit einander um, ſind
einander voͤllig gleich — geſittet, hoͤflich,
gluͤckſelig! haben zwar kein Vaterland, keine
Unſern fuͤr die wir leben; aber ſind Men-
ſchenfreunde und Weltbuͤrger. Schon jetzt
alle Regenten Europa’s, bald werden wir alle
die franzoͤſiſche Sprache reden! — Und denn —
Gluͤckſeligkeit! es faͤngt wieder die guͤldne Zeit
an, „da hatte alle Welt einerley Zunge und
„Sprache! wird Eine Heerde und Ein Hirte
„werden!„ Nationalcharaktere, wo ſeyd ihr?
„Lebensart und Sitten Europa’s! Wie ſpaͤt reifte in den gothiſchen Zeiten des Chri- ſtenthums die Jugend: Kaum im dreyſigſten Jahre muͤndig: man verlohr den halben Theil ſeines Lebens in einer elenden Kindheit. Phi- loſophie, Erziehung und gute Sitten welche
neue
� [128/0132]
neue Schoͤpfung habt ihr geſchaffen! Wir
ſind jetzt im dreyzehnten Jahre reif, und durch
ſtumme und laute Suͤnden im zwanzigſten ver-
bluͤhet. Wir genießen das Leben, recht in der
Morgenroͤthe und ſchoͤnſten Bluͤthe!
„Lebensart und Sitten Europa’s!„ Wel- che gothiſche Tugend, Beſcheidenheit, ju- gendliche Bloͤdigkeit, Schaam! t) Fruͤhe werden wir des zweydeutigen, unbehuͤflichen Mantels der Tugend los; Geſellſchaften, Frau- enzimmer, (die nun am meiſten bey Schaam entbehren! und die ſie auch am wenigſten noͤ- thig haben!) ſelbſt unſere Aeltern wiſchen ſie uns fruͤhe von den Wangen. Oder wenn das nicht, Lehrmeiſter guter Sitten! wir gehen auf Reiſen, und wer wird ſein ausgewachſenes Kleid der Kindheit, außer Mode und Anſtand wieder bringen? Wir haben Dreuſtigkeit, Ton der Geſellſchaft, Leichtigkeit uns alles zu be- dienen! ſchoͤne Philoſophie! „Zaͤrtlichkeit „des Geſchmacks und der Leidenſchaften!„ u) Jmmer waren Griechen und Roͤmer in ihrem Geſchmacke noch wie grob! hatten am wenig-
ſten
t) Hurts Geſpraͤche uͤber das Reiſen.
u) Hume pol. Verſ. 1. 17. 23. � [129/0133]
ſten den Ton des Umgangs mit dem ſchoͤnen
Geſchlechte! Plato und Cicero konnten Baͤnde
Geſpraͤche uͤber Metaphyſik und maͤnnliche Kuͤn-
ſte ſchreiben und es ſprach nie ein Weib.
Wer ſollte bey uns ein Stuͤck und wenn’s auch
Philoktet auf ſeiner wuͤſten Jnſel waͤre,
ohne Liebe aushalten! Voltaͤre — aber man
leſe, wie ernſtlich er ſelbſt fuͤr der Nachfolge
gewarnet. Frauenzimmer ſind unſer Publi-
kum, unſre Aſpaſien des Geſchmacks und der
Philoſophie. Wir wiſſen, karteſianiſche Wir-
bel und newtoniſche Attraktionen in ein Schnuͤr-
leib einzukleiden: ſchreiben Geſchichte, Pre-
digten und was nicht mehr? fuͤr und als
Weiber. Die feinere Zaͤrtlichkeit unſers Ge-
ſchmacks iſt bewieſen.
„Schoͤne Kuͤnſte und Wiſſenſchaften!„ v) Die groͤbern haben freylich die Alten, und zwar die elende unruhige Regimentsform, kleine Republiken ausbilden koͤnnen: aber ſeht auch wie grob jene Beredſamkeit Demoſthenes!
jenes
v) Hume Verſ. Th. 4. XVI, XVII, Voltaire
ſiecle de Louis XIV, XV, und XX, und die
Heere Panegyriſten der neuen Litteratur.
J� [130/0134]
jenes griechiſche Theater! grob ſelbſt jene
geprieſene Anticke! Und mit ihrer Malerey
und Muſik iſts gar nur aufgedunſnes Maͤhr-
chen und Zetergeheul geweſen. Die feinere
Bluͤthe der Kuͤnſte hat auf die gluͤckſelige Mo-
narchie gewartet! An den Hoͤfen Ludwigs
copirte Corneille ſeine Helden, Racine ſeine
Empfindungen: man erfand eine ganz neue
Gattung der Wahrheit, der Ruͤhrung und des
Geſchmacks, von der die fabelhaften, kalten,
prachtloſen Alten nichts gewußt — die Opera.
Heil dir Oper! du Sammelplatz und Wettei-
fer aller unſerer ſchoͤnen Kuͤnſte!
Jn der gluͤckſeligen Monarchie wars, wo’s noch Erfindungen gab. w) Man erfand ſtatt der alten pedantiſchen Univerſitaͤten, glaͤnzende Akademien. Boßvet erfand eine Geſchichte, ganz Deklamation und Predigt und Jahr- zahlregiſter, die den einfaͤltigen Xenophon und Livius ſo weit uͤbertraf: Bourdaloue erfand ſeine Redegattung, wie beſſer als De- moſthen! Man erfand eine neue Muſik, — Harmonie, die keiner Melodie bedurfte, eine neue Baukunſt, was jeder unmoͤglich geglaubt,
eine
w) Voltaire ſiecle de Louis 14.
�
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eine neue Saͤule — und was die Nachwelt
am meiſten bewundern wird, eine Architektur
auf der Fluͤhe und mit allen Produktionen der
Natur — das Gartenweſen! Voll Propor-
tionen und Symmetrie! Voll ewigen Genuſ-
ſes und ganz neue Natur ohne Natur, Heil
uns! was konnten wir allein unter der Mo-
narchie erfinden!
Am ſpaͤtſten fieng man an zu philoſophi- ren. x) Und wie neu! ohne Syſtem und Grundſaͤtze, daß es frey bliebe, immer zu an- drer Zeit auch das Gegentheil zu glauben. Ohne Demonſtration! in Witz gehuͤllet: denn „alle ſtrenge Philoſophie hat nie die Welt ge- „beſſert.„ y) Endlich gar — herrliche Er- findung! — in Memoirs und Woͤrterbuͤchern, wo jeder leſen kann, was und wie viel er will — und die herrlichſte der herrlichen Er- findungen, das Woͤrterbuch, die Encyklo- paͤdie aller Wiſſenſchaften und Kuͤnſte. „Wenn einſt durch Feuer und Waſſer alle Buͤ-
„cher,
x) Diſc. prelim. Von der Encyklopaͤdie, Vol-
taire tableau encyclopedique des connoiſſan-
ces humaines.
y) Hume Verſ. Th. I. Abh. I.
J 2� [132/0136]
„cher, Kuͤnſte und Wiſſenſchaften untergehen;
„aus und an dir, Encyklopaͤdie! hat der
„menſchliche Geiſt alles!„ Was die Buch-
druckerkunſt den Wiſſenſchaften, iſt die En-
cyklopaͤdie der Buchdruckerkunſt geworden: z)
hoͤchſter Gipfel der Ausbreitung, Vollſtaͤndig-
keit und ewigen Erhaltung.
Nun ſollte ich noch das Beſte, unſre unge- heuren Fortſchritte in der Religion ruͤhmen. Da wir gar die Lesarten der Bibel aufzuzaͤhlen angefangen! in den Grundſaͤtzen der Ehre, ſeit- dem wir das laͤcherliche Ritterthum abge- ſchaft, und Ordens zu Leitbaͤndern der Kna- ben und Hofgeſchenken erhoben — am mei- ſten aber unſern hoͤchſten Gipfel von menſch- licher — Vater-Weibs- und Kindestugen- den ruͤhmen — aber wer kann in einem ſol- chen Jahrhunderte, als das unſere iſt, alles ruͤhmen. Gnug wir ſind „Gipfel des Baums! „in himmliſcher Luft webend: die goldne Zeit „iſt nahe!„
Drit-
z) Diſc. prelim. und Melange de litt. p. d’além- bert. T. I. IV. � [133/0137]
Dritter Abſchnitt.
Zuſaͤtze.
Die Himmelsluft iſt ſo erquickend, daß man
gern zu lange uͤber Wipfel und Baͤumen
ſchwebet: hinunter an den traurigen Boden,
um etwa aufs Ganze oder Nichtganze einen
Blick zu werfen.
Großes Geſchoͤpf Gottes! Werk dreyer Welttheile, und faſt ſechs Jahrtauſende! die zarte ſaftvolle Wurzel, der ſchlanke, bluͤhende Sproͤßling, der maͤchtige Stamm, die ſtark- ſtrebende verſchlungne Aeſte, die luftigen weit verbreiteten Zweige — wie ruhet alles auf einander, iſt aus einander erwachſen. — Groſ- ſes Geſchoͤpf Gottes! aber wozu? zu wel- chem Zwecke?
Daß offenbar dies Erwachſen, dieſer Fort- gang aus einander nicht „Vervollkommung „im eingeſchraͤnkten Schulſinne ſey, hat, duͤnkt „mich, der ganze Blick gezeigt.„ Nicht mehr
Saa-
J 3�
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Saamenkorn, wenns Sproͤßling, kein zar-
ter Sproͤßling mehr, wenns Baum iſt. Ue-
ber dem Stamm iſt Krone; wenn jeder Aſt,
jeder Zweig derſelben Stamm und Wurzel
ſeyn wollte — wo bliebe der Baum? Ori-
entalier, Griechen, Roͤmer waren nur ein-
mal in der Welt; ſollten die elektriſche Kette,
die das Schickſal zog, nur in Einem Punkte,
auf Einer Stelle beruͤhren! — Wir alſo,
wenn wir Orientalier, Griechen, Roͤmer auf Ein-
mal ſeyn wollen, ſind wir zuverlaͤßig Nichts.
„Jn Europa ſoll jetzt mehr Tugend ſeyn, „als je in aller Welt geweſen?„ Und warum, weil mehr Aufklaͤrung darinn iſt — ich glau- be, daß eben deshalb weniger ſeyn muͤſſe.
Was iſts, wenn man auch nur die Schmeich- ler ihres Jahrhunderts fraͤgt, was iſt dieſe mehrere Tugend Europa’s, durch Aufklaͤ- rung? — „Aufklaͤrung!„ Wir wiſſen jetzt „ſo vielmehr, hoͤren, leſen ſo viel, daß wir ſo „ruhig, gedultig, ſanftmuͤthig, unthaͤtig „ſind. — Freylich — freylich — zwar — „und auch das noch; aber bey allem bleibt „doch der Grund unſrer Herzen immer ſo weich!„ Ewige Suͤßler, das heißt alles ja, wir ſind
dort
� [135/0139]
dort oben die duͤnnen, luftigen Zweige, frey-
lich bebend, und fliſternd bey jedem Winde;
aber ſpielt doch der Sonnenſtral ſo ſchoͤn durch
uns! ſtehn uͤber Aſt, Stamm und Wurzel
ſo hoch, ſehen ſo weit und — ja nicht ver-
geſſen, koͤnnen ſo weit und ſchoͤn fliſtern!
Ob man nicht ſaͤhe, daß wir alle Laſter und Tugenden der vergangenen Zeit nicht haben, weil wir — durchaus nicht ihren Stand, Kraͤfte und Saft, Raum und Element ha- ben. Freylich kein Fehler, aber was erluͤgt man ſich denn auch daraus, Lob, Ungereimt- heiten von Anmaßung? Was taͤuſcht man ſich mit unſern Mitteln der Bildung, als ob die das ausgerichtet? und nimmt alles zuſam- men, ſich uͤber den Tand ſeiner eignen Wich- tigkeit zu hintergehen? Warum endlich traͤgt man den „Roman einſeitiger Hohnluͤge„ denn in alle Jahrhunderte, verſpottet und verun- ziert damit die Sitten aller Voͤlker und Zeit- laͤufte, daß ein geſunder, beſcheidner, unein- genommner Menſch ja faſt in allen ſo genannt pragmatiſchen Geſchichten aller Welt, nichts endlich mehr, als den ekelhaften Wuſt des „Preisideals ſeiner Zeit„ zu leſen, bekommt. Der ganze Erdboden wird Miſthaufe, auf
dem
J 4�
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dem wir Koͤrner ſuchen und Kraͤhen! Philo-
ſophie des Jahrhunderts!
„Wir haben keine Straſſenraͤuber, keine „Buͤrgerkriege, keine Unthaten mehr„ — aber wo? wie? und warum ſollten wir ſie ha- ben? Unſre Laͤnder ſind ſo wohl policirt, mit Landtraßen verhauen, mit Beſatzungen ver- propft, Aecker weislich vertheilt, die weiſe Juſtitz ſo wachſam — wo ſoll der arme Spitz- bube, wenn er auch Muth und Kraft zu dem rauhen Handwerke haͤtte, es treiben? warum es aber auch treiben? Er kann ja nach den Sitten unſers Jahrhunderts auf eine weit be- quemere, gar ehrwuͤrdige und glorreiche Weiſe Haus-Kammer- und Bettraͤuber werden — in dieſen Bedienungen vom Staate beſolder wer- den, — warum ſich nicht lieber beſolden laſ- ſen? Warum das unſichre Handwerk — zu dem er — und darauf kommts hinaus — weder Muth noch Kraft, noch Gelegenheit hat? Gna- de Gott eurer neuen, freywilligen Tugend!
Haben wir „keine buͤrgerlichen Kriege,„ weil wir alle ſo zufriedene, allgeſaͤttigte, gluͤckliche Unterthanen ſind? Oder iſts nicht eben aus Ur- ſachen, die oft gerade das Gegentheil beglei-
ten?
� [137/0141]
ten? Kein Laſter — weil wir alle ſo viel hin-
reißende Tugend, Griechenfreyheit, Roͤmer-
patriotism, Morgenlandsfroͤmmigkeit, Rit-
terehre, und alle im groͤßten Maaße — oder
iſts nicht gerade, weil wir der allen keine ha-
ben, und leider alſo auch ihre einſeitige, ver-
theilte Laſter nicht haben koͤnnen. Duͤnne
ſchwankende Aeſte!
Und als ſolche, iſts freylich mit unſer Vor- zug, „eben der matten, kurzſichtigen, all- „verachtenden, allein ſelbſtgefaͤlligen, nichts „ausrichtenden und eben in der Unwuͤrkſam- „keit troſtvollen Philoſophie„ faͤhig zu ſeyn. Morgenlaͤnder, Griechen und Roͤmer, warens nicht.
Als ſolcher, iſts unſer Vorzug, unſre Mit- tel der Bildung ſo beſcheiden zu ſchaͤtzen und anzurechnen. Geiſtlicher Stand, daß die Welt nie ſo menſchlich, theologiſch aufgeklaͤrt: Weltlicher Stand, daß ſie nie ſo menſchlich, einfoͤrmig gehorſam- und ordnungsvoll: unſre Gerechtigkeit, daß ſie nie ſo menſchlich und friedeliebend — endlich unſre Philoſo- phie, daß ſie nie ſo menſchlich und goͤttlich geweſen ſey als jetzt — durch wen? — da
zeigt
J 5�
[138/0142]
zeigt jeder auf ſich! „Wir ſind die Aerzte, die
„Heilande, die Aufklaͤrer, die neuen Schoͤp-
„fer — die Zeiten des tollen Fiebers ſind vor-
„bey„ — Nun ja Gottlob! und der ſchwind-
ſuͤchtige Kranke liegt da ſo ruhig im Bette,
wimmert und — — danket! dankt; aber ob
er auch danke? Und wenn ers thaͤte; eben die-
ſer Dank koͤnnte er nicht als Kennzeichen ſei-
ner Verfallenheit, Kleinmuth, und der za-
gendſten Menſchheit eben gelten? Wie wann
ſo gar Empfindung eines andern beſſern mit
dem Genuße entflohen waͤre? daß ich mich ſelbſt,
da ich dies ſchreibe, vielleicht den giftigſten,
hoͤniſchſten Seitabverzerrungen ausſetze?
Wenns eben ſchon gnug waͤre, daß wir den-
ken, haben Manufakturen, Handel, Kuͤnſte,
Ruhe, Sicherheit und Ordnung — Unſre
Regierungen mit nichts mehr in ſich zu kaͤmp-
fen: unſre Staatsverfaſſungen werden groß!
— ſo weiten Blick umher! — ſo weit um-
her, ſo ferne voraus ſpielend — Welche Zeit
konnte das? — Alſo! ſo ſprechen unſre Staats-
Handels- und Kunſtgeſchichte. — Man glaubt
Satyre zu leſen, und man lieſt nichts, als
treue Denkart. Was lohnts, daß ich weiter
rede? Wenns blos Sieche waͤre; und nicht
zugleich Hinderniß, das jedes Mittel dagegen
auf-
� [139/0143]
aufhebet! — im Todesſchweiße aber mit Opium
traͤumen: warum den Kranken ſtoͤren, ohne
daß man ihm hilft.
Alſo vielmehr, was dem Kranken auch mehr
gefallen wird. Wir ſind bey dieſer Fortruͤ-
ckung freylich auch auf unſrer Stelle, Zweck
und Werkzeug des Schickſals.
Gemeiniglich iſt der Philoſoph alsdenn am meiſten Thier, wenn er am zuverlaͤßigſten Gott ſeyn wollte: ſo auch bey der zuverſichtlichen Berechnung von Vervollkommung der Welt. Daß doch ja alles huͤbſch in gerader Linie gien- ge, und jeder folgende Menſch und jedes fol- gende Geſchlecht in ſchoͤner Progreßion, zu der er allein den Exponenten von Tugend und Gluͤckſeligkeit zu geben wuſte, nach ſeinem Jdeal vervollkommet wuͤrde! da trofs nun immer auf ihn zuhinterſt: er das lezte, hoͤchſte Glied, bey dem ſich alles endigt. „Sehet zu ſolcher „Aufklaͤrung, Tugend, Gluͤckſeligkeit iſt die Welt „geſtiegen! ich, hoch auf dem Schwengel! das „goldne Zuͤnglein der Weltwaage: ſehet „mich!„
Und � [140/0144]
Und der Weiſe bedachte nicht, was ihn doch
das leiſeſte Echo von Himmel zu Erde haͤtte
lehren muͤſſen, daß wahrſcheinlich immer Menſch
Menſch bleibe, nach der Analogie aller Din-
ge nichts als Menſch! Engel und Teufelge-
ſtalt im Menſchen — Romangeſtalten! — Er
nichts als das Mittelding zwiſchen! trozig und
verzagt, in Beduͤrfniß ſtrebend, in Unthaͤtig-
keit und Ueppigkeit ermattend, ohne Anlaß
und Uebung Nichts, durch ſie allmaͤhlig fort-
ſchreitend beynah alles — Hieroglyphe des
Guten und Boͤſen, wovon die Geſchichte voll
iſt — Menſch! — immer nur Werkzeug!
Bedachte nicht, daß dieß verborgne Doppel- geſchoͤpf tauſendfach modificirt werden koͤnne und nach dem Bau unſrer Erde faſt muͤße; daß es eine Schoͤpfung von Klima, Zeitum- ſtaͤnden, mithin National- und Sekulartu- genden gebe, Bluͤthen, die unter dem Himmel wachſen und faſt von nichts gedeihen, dort ausſterben oder elend falben (eine Phyſik der Geſchichte, Seelenlehre und Politik, woran ja unſer Jahrhundert ſchon ſo viel gedichtet und gebruͤtet hat!) daß es dieß alles geben koͤnne und muͤſſe, von innen aber unter der vielfach veraͤnderten Schlaube immer noch derſelbe
Kern
� [141/0145]
Kern von Weſen und Gluͤckfaͤhigkeit auf-
bewahrt ſeyn koͤnne, und nach aller menſchli-
chen Erwartung faſt ſeyn werde.
— Bedachte nicht, daß es unendlich mehr Fuͤrſorge des Allvaters zeige, wenn dieß ge- ſchaͤhe; wenn in der Menſchheit ein unſicht- barer Keim der Gluͤcks- und Tugendempfaͤng- lichkeit auf der ganzen Erde und in allen Zeit- altern liege, der verſchiedlich ausgebildet, zwar in verſchiednen Formen erſcheine, aber inner- lich nur ein Maas und Miſchung von Kraͤften.
— Bedachte endlich nicht, — allwiſſendes Geſchoͤpf! — daß mit dem Menſchengeſchlecht ein groͤſſerer Plan Gottes im Ganzen ſeyn koͤnne, den eben ein einzelnes Geſchoͤpf nicht uͤberſiehet, eben weil nichts auf etwas blos einzelnes, zumal nicht auf den Philoſophen oder Thronſitzer des achtzehnden Jahrhun- derts als letzte Endlinie liefe, — weil etwa noch alle Scenen, in deren jedem jeder Schau- ſpieler nur Rolle hat, in der er ſtreben und gluͤcklich ſeyn kann — alle Scenen noch etwa ein Ganzes, eine Hauptvorſtellung machen koͤnnen, von der freylich der einzelne, eigen-
nuͤtzige
� [142/0146]
nuͤtzige Spieler nichts wiſſen und ſehen, die
aber der Zuſchauer im rechten Geſichtspunkte
und in ruhiger Abwartung des Folgeganzen
wohl ſehen koͤnnte. —
Siehe das ganze Metall von Himmel zu Erde — was iſt Mittel? was iſt Zweck? nicht alles Mittel zu Millionen Zwecken? nicht al- les Zweck von Millionen Mitteln? Tauſend- fach die Kette der allmaͤchtigen, allweiſen, Guͤ- te in und durch einandergeſchlungen: aber je- des Glied in der Kette an ſeinem Orte Glied — haͤngt an Kette und ſieht nicht wo endlich die Kette hange. Jedes fuͤhlt ſich im Wahne als Mittelpunkt, fuͤhlt alles im Wahne um ſich nur ſo fern als es Stralen auf dieſen Punkt, oder Wellen geußt, ſchoͤner Wahn! die groſſe Kreislinie aber aller dieſer Wellen, Stralen und ſcheinbaren Mittelpunkte — wo? wer? wozu?
Jn der Geſchichte des menſchlichen Ge- ſchlechts waͤrs anders? auch mit allen Wel- len und Folgezeiten anders, als eben der „Bau- plan allmaͤchtiger Weisheit?„ Wenn das Wohnhaus bis aufs kleinſte Behoͤr „Gottes- gemaͤlde„ zeiget — wie nicht die Geſchichte
ſeines
� [143/0147]
ſeines Bewohners? Jenes nur Dekoration!
Gemaͤlde in einem Auftritte, Anſicht! Dieß
ein „unendliches Drama von Scenen! Epo-
„pee Gottes durch alle Jahrtauſende Welt-
„theile und Menſchengeſchlechte, tauſendge-
„ſtaltige Fabel voll eines groſſen Sinns! —
Daß dieſer Sinn, dieſer Allanblick wenig- ſtens auſſer dem Menſchengeſchlechte liegen muͤſſe — Jnſekt einer Erdſcholle, ſiehe wieder auf Himmel und Erde! findeſt du im ganzen todt und lebendig, auf einmal webenden Welt- all dich den ausſchließenden Mittelpunkt, auf den alles wuͤrke? oder wuͤrkeſt du nicht ſelbſt mit wo? wie? und wenn? (Wer hat dich darum gefragt?) zu hoͤhern dir unbekannten Zwecken! zu Zwecken, zu denen der Morgen- ſtern und die kleine Wolke, neben ihm du und der Wurm mitwuͤrkt, den du jetzt zertrittſt! das nun in der groſſen, allweiten Zuſammen- welt eines Augenblicks unleugbar und uner- forſchlich: in der groſſen, allweiten Folgewelt, in allen Begebenheiten und Fortwickelungen des Menſchengeſchlechts, in dem Drama, voll Weisheit und Knote des Erfinders, kannſt du da etwas minder und anders vermuthen? Und wenn dir das Ganze ein Labyrinth waͤre,
mit
� [144/0148]
mit hundert Pforten verſchloſſen, mit hundert
geoͤfnet — der Labyrinth iſt „Pallaſt Got-
„tes, zu ſeiner Allerfuͤllung, vielleicht zu ſei-
„nem Luſtanblicke, nicht zu deinem!„
Abgrund die ganze Welt, der Anblick Gottes in einem Momente. — Abgrund, worinn ich von allen Seiten verloren ſtehe! ſehe ein groſ- ſes Werk ohne Namen, und uͤberall voll Na- men! voll Stimmen und Kraͤfte! Jch fuͤh- le mich nicht an dem Orte, wo die Harmonie aller dieſer Stimmen in ein Ohr toͤnt, aber was ich hier an meinem Orte von verkuͤrztem, ver- wirrendem Schalle hoͤre, ſo viel weiß und hoͤre ich gewiß, hat auch was harmoniſches! toͤnt auch zu Lobgeſang im Ohre deſſen, fuͤr den Raum und Zeit nichts ſind. — Men- ſchenohr, weilet wenige Augenblicke, hoͤrt auch nur wenige Toͤne, oft nur ein ver- druͤßliches Stimmen von Mißtoͤnen, denn es kam dieß Ohr eben zur Zeit des Stim- mens und traf ungluͤcklicher Weiſe vielleicht in den Wirbelwind eines Winkels. Der aufge- klaͤrte Menſch der ſpaͤtern Zeit, Allhoͤrer nicht blos, will er ſeyn, ſondern ſelbſt der letzte Sum- menton aller Toͤne! Spiegel der Allvergan- genheit, und Repraͤſentant des Zwecks der
Kom-
� [145/0149]
Kompoſition in allen Scenen! — das alt-
kluge Kind laͤſtert; ey wenns vielleicht gar nur
Nachhall des letzten uͤbriggebliebnen Sterbe-
lauts waͤre, oder ein Theil des Stimmens! —
Unter dem groſſen Baume Allvaters a) deſ- ten Gipfel uͤber alle Himmel, deſſen Wurzeln un- ter Welten und Hoͤlle reichen: bin ich Adler auf dieſem Baume? bin der Rabe, der auf ſei- ner Schulter ihm taͤglich den Abendgruß der Welten zu Ohr bringt? — welch eine kleine Laubfaſer des Baums mag ich ſeyn! kleines Komma oder Strichlein im Buche aller Welten!
Was ich auch ſey! Ruf von Himmel zu Er- de, daß wie alles, ſo auch ich an meiner Stelle etwas bedeute. Mit Kraͤften ausgeſpart zum Ganzen, und ja nur mit Gefuͤhl der Gluͤck- ſeligkeit auch nach Maas dieſer Kraͤfte! Wer meiner Bruͤder hatte Vorrecht ehe er war? und wenns Zweck und Zuſammenſtimmung des Hausraths foderte, daß er Gold- ich Er- degefaͤß wurde — ich nun eben Erdegefaͤß auch in Zweck, Klang, Dauer, Gefuͤhl und
Tuͤch-
a) Eine groſſe Vorſtellung der nordiſchen Edda!
K� [146/0150]
Tuͤchtigkeit, kann ich mit dem Werkmeiſter
ſtreiten? Jch bin nicht uͤbergangen, niemand
vorgezogen; Fuͤhlbarkeit, Thaͤtigkeit und Tuͤch-
tigkeit des Menſchengeſchlechts iſt vertheilt.
Hier reißt der Strohm ab, dort ſetzt er an.
Wem viel gegeben iſt, der hat auch viel zu
leiſten. Wer mit viel Sinnen erquickt wird,
hat mit viel Sinnen zu ſtreben — Jch glau-
be nicht, daß ein Gedanke, mit dem was er
ſagt und verſchweigt, was er in Anſicht gibt
und woruͤber er Himmelsdecke ziehet, groͤſſere
Empfindung gebe, als dieſer, im Lichte der gan-
zen Geſchichte! —
Daß er darinn erſcheine, dahin laͤuft wenig-
ſtens mein Wunſch, die groſſe olymbiſche Renn-
bahn! Jſt unſer Zeitalter in irgend einer Ab-
ſicht edel nutzbar, ſo iſts „ſeine Spaͤte, ſeine
„Hoͤhe, ſeine Ausſicht!„ Was Jahrtauſende
durch, auf daſſelbe bereits zubereitet worden!
wodurch es wieder in ſo hoͤherm Sinn auf ein
anderes zubereite! die Schritte gegen und von
ihm — Philoſoph, willt du den Stand deines
Jahrhunderts ehren und nutzen: das Buch
der Vorgeſchichte liegt vor dir! Mit ſieben
Siegeln
� [147/0151]
Siegeln verſchloſſen; ein Wunderbuch voll
Weiſſagung: auf dich iſt das Ende der Ta-
ge kommen! lies!
Dort Morgenland! die Wiege des Men- ſchengeſchlechts, menſchlicher Neigungen und aller Religion. Wenn Religion in aller kal- ten Welt verachtet und vergluͤht ſeyn ſollte: ihr Wort dorther Feuer- und Flammengeiſt dort- her webend. b) Mit Vaterwuͤrde und Einfalt, die inſonderheit noch immer „das Herz „des unſchuldigen Kindes„ wegfuͤhrt! Kind- heit des Geſchlechts wird auf Kindheit jedes Jndividuum wuͤrken: der lezte Unmuͤndige noch im erſten Morgenlande geboren! —
Die Juͤnglinge aller ſogenannten feinen Lit- teratur und Kunſt, ſind die Griechen: was wei- ter liegt, iſt dem Geſichte des Jahrhunderts vielleicht zu tief, zu kindiſch; aber ſie in der rechten Morgenroͤthe der Weltbegebenheiten, was haben ſie auf all’ ihre Nachzeit ge- wuͤrkt! — Die ſchoͤnſte Bluͤthe des menſch- lichen Geiſtes, des Heldenmuths, der Va- terlandsliebe, des Freygefuͤhls, der Kunſt-
lieb-
b) Das verachtete Buch — die Bibel!
K 2� [148/0152]
liebhaberey, des Geſanges, des Tons der
Dichtung, des Lauts der Erzaͤhlung, des
Donners der Beredtſamkeit, des Aufbruchs
aller buͤrgerlichen Weisheit, wie es jetzt iſt,
iſt ihr. Sie dahingeſtellet: ihnen Himmel,
Land, Verfaſſung, ein gluͤcklicher Zeitpunkt ge-
geben: ſie bildeten, erfanden, nannten: Wir
bilden und nennen noch nach — ihr Jahrhun-
dert hat ausgerichtet! — Aber nur einmal
ausgerichtet! da Menſchengeiſt mit allen Kraͤf-
ten es zum zweytenmal wecken wollte — der
Geiſt war Staub; der Sproͤßling blieb Aſche:
Griechenland kam nicht wieder.
Roͤmer, die erſten Sammler und Austhei- ler der Fruͤchte, die anderweit vorher gewach- ſen, jetzt reif in ihre Haͤnde fielen. Zwar mußten ſie Bluͤthe und Saft an ſeinem Orte laſſen: Aber Fruͤchte theilten ſie doch aus: Reliquien der uralten Welt im Roͤmerklei- de, nach Roͤmerart, in Roͤmerſprache — wie, wenn alles unmittelbar aus Griechen- land gekommen waͤre? Griechengeiſt, Grie- chenbildung, Griechenſprache? — wie alles anders in Europa! — Es ſollte nicht! Grie- chenland, noch ſo entfernt dem Norden, in ſeinem ſchoͤnen Archipelagus von Weltgegend:
der
� [149/0153]
der menſchliche Geiſt in ihm, noch ſo ſchlank
und zart — wie ſollt er mit allen Voͤlkern
ringen? ihnen, ſeine Nachfolge aufzwingen?
wie konnte die grobe nordiſche Schale den
feinen Griechenduft faſſen? Alſo Jtalien
war die Bruͤcke: Rom die Mittelzeit der
Haͤrtung des Kerns und ſeiner Austhei-
lung — ſelbſt die heilige Sprache der neuchriſt-
lichen Welt war ein Jahrtauſend durch, mit
allem was ihr anklebt, in ganz Europa roͤmiſch.
Selbſt, da Griechenland zum zweytenmal auf Europa wuͤrken ſollte, konnts nicht un- mittelbar wuͤrken: Arabien ward der ver- ſchlaͤmmte Kanal — Arabien der under plot zur Geſchichte der Bildung Europa’s. Wenn, wies jetzt iſt, Ariſtoteles, beſtimmt war, ſeine Jahrhunderte allein zu herrſchen und die Wuͤr- me und Modermotten der ſcholaſtiſchen Denk- art in allem — zu erzeugen: wie, wenns Schickſal geweſen waͤre, daß Plato, Homer, die Dichter, Geſchichtſchreiber, Redner fruͤ- her haͤtten wuͤrken koͤnnen? — wie alles un- endlich anders! Es war nicht beſtimmt. Der Kreis ſollte dort hinuͤber: die arabiſche Reli- gion und Nationalkultur haßte dieſe Blumen: vielleicht haͤtten ſie in Europa der Zeiten auch
noch
K 3�
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noch nicht gedeihet; da ſich Gegentheils ari-
ſtoteliſche Spitzfindigkeit und mohriſcher Ge-
ſchmack ſo wohl mit dem Geiſte der Zeit ver-
trug — Schickſal! —
Jn Europa ſollte das Gewaͤchs der alten Weltjahrhunderte nur gedoͤrret und abgekel- tert werden: aber von da aus unter die Voͤl- ker der Erde kommen: wie ſonderbar nun, daß ſich Nationen auf die Staͤtte zur Arbeit drangen, ohne zu wiſſen, wie? und wozu? Das Schickſal rief ſie zum Geſchaͤfte in den Weinberg; nach und nach, jeden zu ſeiner Stun- de. Alles war ſchon erfunden, gefuͤhlt, fein erſonnen, was vielleicht erfonnen werden konn- te: hier ward alles nun in Methode, in Form der Wiſſenſchaft geſchlagen — und denn ka- men, nun eben die neuen, kaͤlteſten mechani- ſchen Erfindungen hinzu, die es ins Groſſe ſpiel- ten: Maſchinen der kalten europaͤiſchnor- diſchen Abſtraktion, fuͤr die Hand des Alllen- kers groſſe Werkzeuge! da liegen nun die Saa- menkoͤrner faſt unter allen Nationen der Er- de: wenigſtens allen bekannt, allen zugang- bar: werden ſie haben, wenn ihr Zeitpunkt kommt. Europa hat ſie gedoͤrret, aufgefaͤ- delt, verewigt — ſonderbarer Ball! Was
haſt
� [151/0155]
haſt du kleiner nordiſcher Welttheil, einſt
Abgrund von Hainen und Eisinſeln, auf dem
Balle werden muͤſſen! — was wirſt du noch
werden! —
Die ſogenannte Aufklaͤrung und Bildung der Welt hat nur einen ſchmalen Streif des Erdballs beruͤhrt und gehalten: auch koͤn- nen wir nicht etwas in ihrem Laufe, Stande und Umlaufe aͤndern, ohne daß ſich zugleich alles aͤndert. Wie? wenn z. E. allein die Einfuͤhrung der Wiſſenſchaften, der Reli- gion, der Reformation anders geweſen waͤ- re? — ſich die nordiſchen Voͤlker anders ge- miſcht, anders gefolgt waͤren? nicht das Pabſtthum ſo lange Vehikulum ſeyn muͤſ- ſen? — was koͤnnt ich nicht noch zehnfach mehr fragen? — Traͤume! Es war nicht: und hinten nach koͤnnen wir immer etwas durchblicken, warum es nicht war? Freylich aber ein kleines Etwas!
Auch ſieht man, warum eigentlich keine Na- tion hinter der andern, ſelbſt mit allem Zu- behoͤr derſelben jemals worden iſt, was die andre war? Mochten alle Mittel ihrer Kul- tur dieſelbe ſeyn: Kultur nimmer dieſelbe,
weil
K 4�
[152/0156]
weil allemal ſchon alle Einfluͤſſe der alten, jezt
veraͤnderten Natur dazu fehlten. Griechen-
wiſſenſchaften, die die Roͤmer an ſich zogen,
wurden roͤmiſch: Ariſtoteles ein Araber
und Scholaſticker: und mit den Griechen
und Roͤmern der neuen Zeiten — welche
elende Sache! Marſilius, du biſt Plato?
Lipſius, du Zeno? wo ſind deine Stoiker?
deine Helden, die dort ſo viel thaten? Alle ihr
neuen Homere, Redner und Kuͤnſtler — wo
iſt eure Welt der Wunder?
Auch in kein Land hat die Bildung ihren Ruͤcktritt nehmen koͤnnen, daß ſie zum zwey- tenmal geworden waͤre, was ſie war — der Weg des Schickſals iſt eiſern und ſtrenge: Scene der Zeit, der Welt war ſchon voruͤber; Zwecke, wozu ſie ſeyn ſollten, vorbey, — kann der heutige Tag der geſtrige werden? Wer- den, da der Gang Gottes unter die Natio- nen mit Rieſenſchritte fortgeht, kindiſche Ruͤck- pfade von Menſchenkraͤften bewuͤrkt werden koͤnnen? — Jhr Ptolomaͤen, konntet nicht wie- der Aegypten ſchaffen! ihr Hadriane nicht Grie- chenland wieder! noch Julian Jeruſalem — Ae- gypten, Griechenland und du Land Gottes! wie elend liegt ihr, mit nackten Bergen, ohne Spur
und
� [153/0157]
und Stimme des Genius, der voraus auf
euch gewandelt und in alle Welt ſprach —
warum? er hat ausgeſprochen! Sein Druck
auf die Zeiten iſt geſchehen: Das Schwert
ausgebraucht, und die zerſtuͤckte leere Schei-
de liegt da! das waͤre Antwort auf ſo viel
unnuͤtze Zweifel, Bewunderungen und Fragen.
„Gang Gottes uͤber die Nationen! Geiſt
„der Geſetze, Zeiten, Sitten und Kuͤnſte,
„wie ſie ſich einander gefolgt! zubereitet!
„entwickelt und vertrieben!„ haͤtten wir doch
einen ſolchen Spiegel des Menſchengeſchlechts
in aller Treue, Fuͤlle, und Gefuͤhl der Offen-
barung Gottes. Vorarbeiten gnug; aber al-
les in Schlaube und Unordnung! Wir haben
unſer jetziges Zeitalter faſt aller Nationen,
und ſo die Geſchichte faſt aller Vorzeiten durch-
krochen und durchwuͤhlt, ohne faſt ſelbſt zu
wiſſen, wozu wir ſie durchwuͤhlt haben. Hi-
ſtoriſche Fakte und Unterſuchungen, Entdeckun-
gen und Reiſebeſchreibungen liegen da: wer
iſt, der ſie ſondere und ſichte?
„Gang Gottes uͤber die Nationen!„ Montesquieus edles Rieſenwerk hat nicht durch
eines
K 5�
[154/0158]
eines Mannes Hand werden koͤnnen, was es
ſeyn ſollte. Ein gothiſches Gebaͤude im phi-
loſophiſchen Geſchmack ſeines Jahrhunderts
Eſprit! oft nichts weiter! Aus Stelle und
Ort geriſſen und auf drey oder vier Markt-
plaͤtze, unter das Panier drey elender Allge-
meinoͤrter — Worte! — dazu leerer, un-
nuͤtzer, unbeſtimmter, allverwirrender E-
ſpritworte! hingetruͤmmert. Durchs Werk
alſo ein Taumel aller Zeiten, Nationen und
Sprachen, wie um den Thurm der Verwir-
rung, daß jedweder ſeinen Bettel, Reichthum
und Ranzen, an drey ſchwache Naͤgel han-
ge — Geſchichte aller Voͤlker und Zeiten, dieß
groſſe lebendige Werk Gottes auch in ſeiner
Folge, ein Ruinenhaufen von drey Spitzen
und Kapſeln — aber freylich auch ſehr ede-
ler, wuͤrdiger Materialien — Montesquieu!
Wer, der uns den Tempel Gottes herſtel- le, wie er in ſeinem Fortgebaͤude iſt, durch alle Jahrhunderte hindurch! die aͤlteſten Zei- ten der Menſchenkindheit ſind vorbey: Aber Reſte und Denkmaͤler gnug da — die herr- lichſten Reſte, Unterweiſung des Vaters ſelbſt an dieſe Kindheit — Offenbarung, Sagſt du, Menſch, daß ſie dir zu alt ſey,
in
� [155/0159]
in deinen zu klugen, altgreiſen Jahren — ſiehe
um dich! der groͤßte Theil von Nationen der
Erde iſt noch in Kindheit, reden alle noch die,
Sprache, haben die Sitten, geben die Vorbil-
der des Grads der Bildung — wohin du un-
ter ſogenannte Wilde reiſeſt und horcheſt, toͤ-
nen Laute zur Erlaͤuterung der Schrift!
wehen lebendige Kommentare der Offenba-
rung!
Die Abgoͤtterey, die die Griechen und Roͤ- mer ſo viel Jahrhunderte genoſſen; der oft fanatiſche Eifer, mit dem alles bey ihnen auf- geſucht, ins Licht geſetzt, vertheidigt, gelobt worden — welche groſſe Vorarbeiten und Beytraͤge! Wenn der Geiſt der uͤbertriebnen Verehrung wird gedaͤmpft; die Partheylich- keit, mit der ein jeder ſein Volk, als eine Pan- dora, liebkoſet, gnug ins Gleichgewicht gebracht ſeyn — ihr Griechen und Roͤmer, denn wer- den wir euch kennen und ordnen!
Es hat ſich ein Nebenweg zu den Arabern gezeigt, und eine Welt von Denkmaͤlern liegt da, um ſie zu kennen. Es haben ſich, obwohl zu ganz andern Zwecken, Denkmaͤler der mitt- lern Geſchichte vorgefunden, theils wird ſich, was noch im Staube liegt (wenn alles von
unſrer
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unſrer aufgeklaͤrten Zeit ſo gewiß zu hoffen waͤ-
re!) gewiß bald, vielleicht in einem halben
Jahrhunderte finden. Unſre Reiſebeſchrei-
bungen mehren und beſſern ſich: alles laͤuft,
was in Europa nichts zu thun hat, mit einer
Art philoſophiſcher Wuth uͤber die Erde —
wir ſammlen „Materialien aus aller Welt
„Ende,„ und werden in ihnen einſt finden, was
wir am wenigſten ſuchten, Eroͤrterungen der
Geſchichte der wichtigſten menſchlichen Welt.
Unſre Zeit wird bald mehrere Augen oͤfnen: uns zeitig gnug wenigſtens idealiſche Brunn- quellen fuͤr den Durſt einer Wuͤſte zu ſuchen treiben. — Wir werden Zeiten ſchaͤtzen lernen, die wir jezt verachten — das Gefuͤhl allge- meiner Menſchheit und Gluͤckſeligkeit wird rege werden: Ausſichten auf ein hoͤheres, als menſchlich Hieſeyn wird aus der truͤmmer- vollen Geſchichte das Reſultat werden, uns Plan zeigen, wo wir ſonſt Verwirrung fanden: Alles findet ſich an Stelle und Ort — Ge- ſchichte der Menſchheit im edelſten Verſtan- de — du wirſt werden! So lange laſſet alſo den groſſen Lehrer und Geſetzgeber der Koͤni- ge fuͤhren und verfuͤhren. Er hat ſo ſchoͤ- nes Vorbild gegeben, mit zwey, drey Worten
alles
� [157/0161]
alles zu meſſen, auf zwey, drey Regiments-
formen, denen mans leicht anſieht, wannen
und wie eingeſchraͤnktes Maaſſes und Zeit-
raums ſie ſind? — auf ſie alles hinzufuͤhren.
Wie angenehm ihm im Geiſte der Geſetze aller
Zeiten und Voͤlker, uns nicht, ſeines Volks zu
folgen — auch das iſt Schickſal. Man hat oft
lange den Fadenknaͤul in der Hand, freut ſich,
daran blos einzeln rupfen zu koͤnnen, um ihn
nur mehr zu wirren: Eine gluͤckliche Hand,
die das Gewirre an einem Faden ſanft und
langſam zu entwickeln Luſt hat — wie weit
und eben laͤuft der Faden! — Geſchichte der
Welt! dahin denn jetzt die kleinſten und groͤß-
ten Reiche und Vogelneſter ſtreben. —
Alle Eraͤugniſſe unſrer Zeit, ſind auf groſ-
ſer Hoͤhe, und ſtreben weit hinaus — mich
duͤnkt, im beyden liegt der Erſatz deſſen, daß
wir freylich, als einzelne mit wenigerer Kraft
und Freudegefuͤhl wuͤrken koͤnnen. Alſo wuͤrk-
lich Aufmunterung und Staͤrke.
Du kannſt, Sokrates unſrer Zeit! nicht mehr, wie Sokrates wuͤrken: denn dir fehlt
der
� [158/0162]
der kleine, enge, ſtarkregſame, zuſammenge-
draͤngte Schauplatz! die Einfalt der Zeiten,
Sitten und des Nationalcharakters! die Be-
ſtimmtheit deiner Sphaͤre! — Erdbuͤrger
und nicht mehr Buͤrger zu Athen, fehlt dir
natuͤrlich auch die Anſicht deſſen, was du in
Athen thun ſollt: das ſichere Gefuͤhl deſſen,
was du thuſt: die Freudempfindung von dem,
was du ausgerichtet habeſt — Dein Daͤmon!
Aber ſiehe! wenn du wie Sokrates handelſt,
demuͤthig Vorurtheilen entgegen ſtrebeſt,
aufrichtig, menſchenliebend, dich ſelbſt auf-
opfernd Wahrheit und Tugend ausbreiteſt,
wie du kannſt — Umfang deiner Sphaͤre er-
ſetzt vielleicht das Unbeſtimmtere und Verfeh-
lende deines Beginnens! Dich werden hundert
leſen und nicht verſtehen: hundert und gaͤhnen:
hundert und verachten: hundert und laͤſtern:
hundert, und die Drachenfeſſeln der Gewohn-
heit lieber haben und bleiben wer ſie ſind.
Aber bedenke, noch vielleicht hundert uͤberblei-
ben, bey denen du fruchteſt: wenn du lange
verweſet biſt, noch eine Nachwelt, die dich
lieſet und beſſer anwendet. Welt und Nach-
welt iſt dein Athen! Rede!
Welt � [159/0163]
Welt und Nachwelt! Ewiger Sokrates,
wuͤrkend und nicht blos die todte Buſſe mit
Pappellaube bekraͤnzt wie wirs Unſterblichkeit
nennen! Jener ſprach anſchaulich, lebendig,
im engen Bezirke: und ſein Wort fand eine ſo
gute Stelle. — Xenophon und Plato dichte-
ten ihn in ihre Denkbuͤcher und Geſpraͤche:
es waren nur Manuſcripte, zum Gluͤck fuͤr
uns, beſſer als hundert andre, dem wegſchwem-
menden Strom der Zeit entronnen. Was du
ſchreibſt, ſollte Wort fuͤr Wort, Welt und
Ewigkeit werth ſeyn, weil du, (wenigſtens
Materialien und Moͤglichkeit nach,) fuͤr Welt
und Ewigkeit ſchreibeſt. Jn weſſen Hand
kann deine Schrift kommen! im Kreiſe, wie wuͤr-
diger Maͤnner und Richter ſollteſt du reden!
Tugend lehren, in dem Lichte und Klarheit, wies
Sokrates in ſeinem Alter noch nicht konnte!
zur Menſchenliebe anmuntern, die, wenn ſie
ſeyn koͤnnte, wahrhaftig mehr als Vater-
lands- und Buͤrgerliebe waͤre! Gluͤckſelig-
keit auch in Zuſtaͤnden, auch unter Situatio-
nen, verbreiten, wie jene mit den dreyßig
Heilanden des Vaterlands, denen auch ihre
Statuen geſetzt waren, kaum ſeyn mochten —
Sokrates der Menſchheit!
Leh- � [160/0164]
Lehrer der Natur! was kannſt du mehr
ſeyn, als Ariſtoteles und Plinius! Wie weit
mehr ſind dir Wunder und Werke geoͤfnet!
was fuͤr Huͤlfsmittel, ſie den Augen andrer zu
oͤfnen die jene nicht hatten! auf welcher Hoͤhe ſte-
heſt du! Gedenke Newtons! was der einige New-
ton fuͤrs Ganze des menſchlichen Geiſtes gewuͤr-
ket! was das alles allweit gewuͤrket, geaͤndert, ge-
fruchtet! zu welcher Hoͤhe er ſein ganzes Geſchlecht
gehoben! — — Du ſteheſt auf der Hoͤhe! ſtre-
beſt, ſtatt die große Schoͤpfung Gottes in ein
klein Gebaͤude deines Kopfs (von Koſmogo-
nie, Thierentſtehung, Formenbildung u.
dgl. c) zu verengen, blos dem Strome der
Gotteskraft nach, ſie in allen Formen, Ge-
ſtalten und Schoͤpfungen tief und treu zu fuͤh-
len, zu fuͤhlen zu geben, dem Schoͤpfer zu die-
nen und nicht dir. — Bote der Herrlichkeit
durch alle Reiche der Weſen! Nur von dieſer
Zeithoͤhe konnteſt du den Himmelsflug neh-
men, entdecken, mit der Fuͤlle und Adel
und Weisheit reden! mit der unſchuldigen,
maͤchtigen, allguͤtigen Gottesanſicht, Menſchen-
herzen erquicken, die aus keiner andern Pfuͤtze
erquickt werden konnten. Das thuſt du fuͤr Welt
und
c) Buͤffon.
�
[161/0165]
und Nachwelt! Freylich unter allen Entdeckern
und Forſchern nur Einer, Ein kleiner Name!
aber fuͤr Welt und Nachwelt! und wie hoch!
wie herrlich — als es Plinius und Ariſtote-
les nicht konnten — Engel Gottes in dei-
ner Zeit!
Was fuͤr hundert mehrere Mittel hat Arzt und Menſchennaturkenner jetzt, als Hippo- krates und Machaon! in Vergleich dieſer ge- wiß Sohn Jupiters, Gott! Und wie? wenn ers nun auch mit aller Empfindung jener menſch- lichern Zeiten wuͤrde! Gott, Entdecker und Hei- land dem Siechen an Leib und Seele! rettend hier einen Juͤngling, der jetzt unter den er- ſten Roſen des Lebens, die er zu brechen glaub- te, eine Feuerſchlange fand — ihn (er kanns vielleicht allein!) ihm ſelbſt, Aeltern, der Nachkommenſchaft, die durch Uns leben- oder todvolles Daſeyn erwartet, der Welt, der Tugend wiedergebe! Unterſtuͤtzte hier den Mann, der ein Opfer ſeiner Verdienſte durch Arbeit oder Gram ward, ſchenkte ihm die ſuͤßeſte Be- lohnung, die er jetzt doch nur oft als ganzen Dank fuͤr ſein Leben genießen konnte, ein heitres Alter! Rettet ihn — vielleicht die Einzige Saͤule gegen hundert Unfaͤlle der Menſchheit,
die
L�
[162/0166]
die den letzten Blick ſeiner Augen begleiten wer-
den, nur Einige Jahre vom Grabe! Das
Gute dieſer Jahre ſein: das Troͤſtende, Heitre,
was dieſer Todtenerweckte verbreitet, ſein! Jn
Zeiten, wo Ein geretteter Mann ſo viel thun,
und wo auch die unſchuldigere Menſchheit auf
wie hundert Weiſen ſo elend erliegen kann —
was biſt du in den Zeiten, Arzt mit menſch-
lichem Herzen!
Was ſoll ich alle Staͤnde und Klaſſen durch- gehen, der Gerechtigkeit, der Religion, der Wiſſenſchaften, einzelner Kuͤnſte — je hoͤher jede in ihrer Art iſt, je weiter ſie wuͤrken kann; wie beſſer und lieber! Eben weil du nur freywillig ſo wuͤrken mußteſt: weil nichts dich foderte oder zwang, in deinem Stande und Klaſſe ſo gut und groß und edel zu handeln: eben weil dich nichts ſo gar weckte und viel- mehr alles zudrang, dich zu einem blos me- chaniſchen Diener deiner Kunſt zu machen, und jede tiefere Empfindung einzuſchlaͤfern — vielleicht dies Ungewoͤhnliche an dieſer dir ſtatt Lorbeer gar Dornen auf dein Haupt pflanzte — um ſo reiner, ſtiller, goͤttlicher iſt deine ver- borgne, gepruͤftere Tugend. Jſt mehr als jene Tugend andrer Zeiten, die von Antrieben und
Be-
� [163/0167]
Belohnungen geweckt, am Ende doch nur
Buͤrgerzubehoͤr war und edle Pracht des Koͤr-
pers! die deine iſt Lebensſaft des Herzens.
Wie muͤßte ich reden, wenn ich das Ver- dienſt derer beſchreiben wollte, die wuͤrklich Saͤulen oder Angeln unſers Jahrhunderts ſind, um die ſich alles bewegt. Regenten! Hirten! Pfleger der Voͤlker! — ihre Kraft mit den Triebfedern unſrer Zeit iſt halbe All- macht! Schon ihr Bild, ihr Anſchauen, ihr Belieben, ihre ſchweigende, nur geſchehen- laſſende Denkart — ſagt ihnen ihr Genius nur, daß ſie zu was Edlerm da ſind, als mit einer ganzen Heerde, als Maſchine, zu eig- nen — es ſey auch ſo glorreichen Zwecken, — zu ſpielen, dieſe Heerde auch, als Zweck! zu weiden, wenn mehr, fuͤr ein groͤßeres Ganze der Menſchheit zu ſorgen — Regenten, Hir- ten, Pfleger der Voͤlker! den Zepter der All- macht in ihrer Hand! mit wenigen Menſchen- kraͤften! in Jahren! durch bloße Abſicht und Aufmunterung, wie unendlich mehr zu thun, als jener Mogul auf ſeinem goldnen Throne thut, oder jener Deſpot auf einem Thron Men- ſchenkoͤpfe jetzt thun will! Wer unter blos po- litiſchen Abſichten erliegt: iſt vielleicht im hoͤchſten
Stan-
L 2�
[164/0168]
Stande ſo gemeinerer Seele, als jener Linſen-
werfer, nur gluͤcklich geworfen zu haben, oder
jener Floͤtenſpieler, der nur die Loͤcher
trift —
Mit dir rede ich lieber, Hirt deiner Heer- de, Vater, Mutter in der armen Huͤtte! Auch dir ſind tauſend Antriebe und Lockungen ge- nommen, die dir einſt dein Vatergeſchaͤft zum Himmel machten. Kannſt dein Kind nicht be- ſtimmen! wird dir fruͤhe vielleicht in der Wiege ſchon mit einer Ehrenfeſſel der Freyheit — hoͤchſtes Jdeal unſrer Philoſophen! — gezeich- net: Kannſts nicht fuͤr vaͤterlichen Heerd, Va- terſitten, Tugend und Daſeyn erziehen — es mangelt dir alſo ſchon immer Kreis, und da alles verwirret iſt, und laͤuft die erleichternſte Triebfeder der Erziehung, Abſicht. Mußt beſorgen, daß, ſo bald es dir aus den Haͤn- den geriſſen wird, es mit Einmal ins große Lichtmeer des Jahrhunderts, Abgrund! ſinke — Verſunknes Kleinod! unwiederbringliche Exi- ſtenz einer Menſchenſeele! der bluͤthenreiche Baum, zu fruͤh aus ſeiner Muttererde geriſ- ſen, in eine Welt von Stuͤrmen verpflanzt, denen der haͤrteſte Stamm oft kaum beſtehet, vielleicht gar dahin eingepflanzt mit verkehrtem
En-
� [165/0169]
Ende, Gipfel ſtatt Wurzel, und die traurige
Wurzel in der Luft — er droht dir in Kurzem
da zu ſtehn, verdorret, ſcheußlich, Bluͤthe und
Frucht auf der Erde — Verzweifle nicht im
Hefen des Zeitalters! was dich auch drohe und
hindere — erziehe. Erzieh um ſo beſſer, ſiche-
rer, feſter — fuͤr alle Staͤnde und Truͤbſale,
wohin er geworfen werde! fuͤr Stuͤrme, die
auf ihn warten! Unthaͤtig ſeyn kannſt du doch
nicht: boͤſe, oder gut erziehen mußt du: gut —
und wie groͤßere Tugend! wie groͤßerer Lohn,
als in jedem Paradieſe leichterer Zwecke und
einfoͤrmigerer Bildung. Wie noͤthiger hat
jetzt die Welt Einen der ſimplen Tugend erzog-
nen, als ſies jemals hatte! Wo alle Sitten
gleich und alle gleich eben, recht und gut
ſind — was brauchts Muͤhe! Gewohnheit er-
zieht und Tugend verliert ſich in bloße Gewohn-
heit. Aber hier! Ein leuchtender Stern in
der Nacht! Demant unter Haufen Erde- und
Kalkſteine! Einen Menſchen unter Schaaren
Affen und politiſcher Larven — wie viel kann
er weiter bilden durchs ſtille, goͤttliche Bey-
ſpiel! Wellen um und nach ſich verbreiten
vielleicht in die Zukunft! — zudem denke,
wie reiner deine Tugend und edler! mehrere
und groͤßere Huͤlfsmittel der Erziehung von
ge-
L 3�
[166/0170]
gewiſſen Seiten, je mehr dir und deinem
Juͤnglinge aͤußere Triebfedern auf der andern
Seite fehlen! denke zu welcher hoͤhern Tu-
gend du ihn erzieheſt, als zu der Lykurg und
Plato erziehen konnten und durften! —
das ſchoͤnſte Zeitalter fuͤr die ſtille, verſchwiegne,
meiſt verkannte, aber ſo hohe, ſich ſo weit
verbreitende Tugend!
Das duͤnkt mich alſo immer gewiß: je we- niger es in unſerm Jahrhunderte geben mag, ganz und groß Gute: je ſchwerer die hoͤchſte Tugend uns werden muß, und je ſtiller, ver- borgner ſie anitzt nur werden kann — wo ſie iſt, um ſo hoͤhere, edlere vielleicht ein- mal unendlich nuͤtzliche und folgenſchwangere Tugend! Jndem wir uns meiſtens verlaſſen und verlaͤugnen; koͤnnen manche unmittel- bare Belohnungen nicht genießen, ſtreun das Saamenkorn in die weite Welt hin, ohne zu ſehen, wo es falle? wurzele? obs auch da nur einmal zum Guten fruchte? Edler, ins Ver- borgne und Allweite zu ſaͤen, ohne daß man ſelbſt Ernte erwartet! und gewiß um ſo groͤſ- ſer die allweite Ernte! dem wehenden Zephyr vertraue den Saamen: um ſo weiter wird er ihn fuͤhren, und wenn einmal alle die Keime
auf-
� [167/0171]
aufwachen, zu denen auch der edlere Theil un-
ſers Jahrhunderts ſtill und ſchweigend bey-
trug — in welche ſelige Zeit verliert ſich mein
Blick! —
Eben an Baumes hoͤchſten Zweigen bluͤhen
und ſprießen die Fruͤchte — ſiehe da die ſchoͤ-
ne Vorausſicht des groͤßeſten der Werke
Gottes! Aufklaͤrung — wenn ſie uns gleich
nicht immer zu ſtatten kommt, wenn wir gleich
bey groͤßerer Oberflaͤche und Umfange an Tiefe
und Grabung des Stroms verlieren: gewiß
eben damit, daß wir uns einem großen Ocean,
ſchon ſelbſt ein kleines Meer, naͤhern. Aſſo-
ciirte Begriffe aus aller Welt: eine Kennt-
niß der Natur, des Himmels, der Erde,
des Menſchengeſchlechts, wie ſie uns beynah
unſer Univerſum darreichen kann — Geiſt der-
ſelben, Maſſe und Frucht bleibt fuͤr die Nach-
welt. Das Jahrhundert iſt hinuͤber, da
Jtalien unter Verwirrung, Unterdruͤckung,
Meuterey und Betrug ſeine Sprache, Sitten,
Poeſie, Politik und Kuͤnſte bildeten — was
gebildet wurde, hat ſein Jahrhundert uͤber-
lebt: wuͤrkte weiter und ward die erſte Form
Eu-
L 4�
[168/0172]
Europens. Elend und Jammer, unter dem
das Jahrhundert des franzoͤſiſchen großen Koͤnigs
ſeufzte, zum Theil voruͤber: die Zwecke, zu
denen er alles wollte und brauchte, vergeſſen,
oder ſtehn als Puppen der Eitelkeit und Hohn-
lache muͤßig da: all ſeine eherne Meere, die
er ſelbſt trug, und die Waͤnde, wo er immer
ſelbſt leibte, ſind dem Gedanken jedwedes preis-
gegeben, der auch nicht dabey denken will,
was Ludwig wollte — Aber Geiſt der Kuͤn-
ſte an ihnen geuͤbt iſt blieben. Die For-
ſchungen der Kraut- und Muͤnz- und Edel-
ſtein- und Waſſerwaage- und Meſſungsrei-
ſen bleiben, wenn alles verfallen iſt, was dar-
an Theil hatt’ und was dadurch litt’ und wo-
zu es ſollte! die Zukunft ſtreift uns unſre
Schlaube ab und nimmt den Kern. Der
kleine Zweig hat nichts davon, aber an ihm
hangen die lieblichen Fruͤchte.
Wie nun? wenn einſt alle das Licht, das wir in die Welt ſaͤen, womit wir jetzt viel Augen blenden, viel elend machen und verfinſtern, allenthalben gemaͤßigt Lebenslicht und Lebens- waͤrme wuͤrde — die Maſſe von todten aber hellen Kenntniſſen, das Feld voll Beine, was auf- um- und unter uns liegt, wurde —
wo-
� [169/0173]
woher? wozu? — belebt — befruchtet —
welche neue Welt! wie gluͤcklich ſeiner Haͤnde
Werk in ihr genießen! Alles bis auf Erfin-
dungen, Ergoͤtzlichkeiten, Noth, Schickſal
und Zufall, ſtrebt uns uͤber eine gewiſſe groͤ-
bere Sinnlichkeit voriger Zeitalter zu erhe-
ben, uns zu einer hoͤhern Abſtraktion im Den-
ken, Wollen, Leben und Thun zu entwoͤh-
nen, — fuͤr uns nicht immer annehmlich, oft
mißlich! Die Sinnlichkeit des Morgenlands,
die ſchoͤnere Sinnlichkeit Griechenlands —
die Staͤrke Roms hinuͤber: und wie elend troͤ-
ſten uns unſre leidige Abſtraktionstroͤſter und
Sentenzen, warum uns oft ſchon Beweg-
gruͤnde, Triebfedern und Gluͤckſeligkeiten
beſtehen muͤſſen: das Kind wird auch von einer
letzten Sinnlichkeit hart entwoͤhnet — Aber ſie-
he das hoͤhere Zeitalter, was vorwinkt. Kein
Thor kanns leugnen, wenn die feinen Beweg-
gruͤnde, die hoͤhere, himmliſche Tugend, der
abgezogenere Genuß irdiſcher Seligkeiten der
menſchlichen Natur moͤglich iſt, aͤußerſt erhe-
bend und veredelnd iſt ſie! Vielleicht alſo,
daß jetzt an dieſer Klippe viele zu Grunde ge-
hen! Vielleicht, und gewiß haben jetzt unend-
lich wenigere dieſe fenelonſche Tugend, als
jene Spartaner, Roͤmer und Ritter die ſinn-
liche
L 5�
[170/0174]
liche Bluͤthe ihres Welt- und Zeitgeiſts. —
Die breiten Landſtraſſen werden immer engere
Fußtritte und Steilhoͤhen auf denen wenige
wandeln koͤnnen, — aber Hoͤhen ſinds und ſtre-
ben zum Gipfel! Welcher Zuſtand einmal auf
dem kruͤmmenden Schlangenwege der Vorſehung,
wenn Haut und Hinderniſſe zuruͤckgelaſſen, ver-
juͤngtes Geſchoͤpf in neuem Fruͤhlinge aufle-
bet! — eine unſinnlichere, ſich gleichere
Menſchheit! nun voͤllig Welt um ſich, Lebens-
kraft und Principium, nach dem wir nur muͤh-
ſam ſtreben, in ſich habend — welche
Schoͤpfung! und wer, der die Wahrſcheinlich-
keit und Moͤglichkeit davon zu leugnen haͤtte?
Verfeinerung und laͤuternder Fortgang der
Tugendbegriffe aus den ſinnlichſten Kindes-
zeiten hinauf durch alle Geſchichte iſt offen-
bar: Umherbreitung und Fortgang ins
Weite offenbar: und das alles ohne Zweck?
ohne Abſicht?
Daß ſich die Begriffe von menſchlicher Frey- heit, Geſelligkeit, Gleichheit und Allgluͤck- ſeligkeit aufklaͤren und verbreiten, iſt bekannt. Fuͤr uns nicht ſo gleich von den beſten Folgen, oft dem erſten Anſcheine nach, das Boͤſe anfangs das Gute uͤberwiegend: Aber! —
Ge- � [171/0175]
Geſelligkeit und leichter Umgang zwiſchen
den Geſchlechtern, hat er nicht die Ehre, An-
ſtaͤndigkeit und Zucht beyder Theile erniedrigt?
fuͤr Stand, Geld und Artigkeit alle Schloͤſſer
der großen Welt aufgeſprengt? die erſte Bluͤ-
the des maͤnnlichen und die edelſten Fruͤchte
des weiblichen Geſchlechts in Ehe- und Mut-
terliebe und Erziehung haben wie viel gelitten?
ihr Schade ſich wohin fortverbreitet? — Ab-
grund unerſetzlicher Uebel! da ſelbſt die Quel-
len der Beſſerung und Geneſung, Jugend, Le-
benskraft und beſſere Erziehung verſtopft ſind. —
Die ſchlankern, alſo leicht umher ſpielenden
Aeſte koͤnnen nicht anders als in ihrem zu fruͤh
und unkraͤftigen Lebensſpiele mitten im Son-
nenſtrale verdorren! Unerſetzlicher Verluſt! —
vielleicht fuͤr alle Politik unabhelfbar! fuͤr alle
Menſchenliebe nicht gnug zu beklagen, — aber
fuͤr die Hand der Vorſehung noch Werkzeug.
Wenn hundert arme Geſchoͤpfe hier mit ver-
trocknetem Gaum um die erſte Quelle des Le-
bens, der Geſelligkeit und Freude hinſinken,
lechzen und verſchmachten — die Quelle ſelbſt,
an denen ſie ſich ungluͤcklich taͤuſchten, laͤutert!
Siehe, wie ſie in ſpaͤtern Jahren, vielleicht
auch uͤbertrieben, nun andre Fruͤchte der
Ergoͤtzlichkeit ſuchen, ſich neue Welten idea-
li-
� [172/0176]
liſiren und mit ihrem Unheil die Welt beſſern!
Abgelebte Aſpaſien bilden Sokrate: Jgnaz
ſeine Jeſuiten, die Epaminondas aller Zeit
erzeugen ſich Schlachten bey Leuktra: Hel-
den, Philoſophen, Weiſe und Moͤnche von
ſo unſinnlicher, hoͤherer Tugend, Aufſtre-
bung und Verdienſtlichkeit — wie viele blos
aus dieſem Grunde! Wer zum Nutzen der
Welt berechnen und waͤgen will, thus! Er hat
große Summe von meiſtens nicht ungewiſſen
Ausſchlags vor ſich: der Gang der Vorſehung geht
auch uͤber Millionen Leichname zum Ziel!
Freyheit, Geſelligkeit und Gleichheit, wie ſie jetzt uͤberall aufkeimen — ſie haben in tau- ſend Mißbraͤuchen Uebels geſtiftet und werdens ſtiften. Wiedertaͤufer und Schwaͤrmer ver- wuͤſteten Deutſchland zu Luthers Zeiten, und jetzt bey der allgemeinen Vermiſchung der Staͤnde, bey dem Heraufdringen der Nie- dern an die Stelle welker, ſtolzer und un- brauchbarer Hohen, um in kurzem noch aͤrger als ſie zu werden — die ſtaͤrkſten, nothwen- digſten Grundplaͤtze der Menſchheit werden lee- rer: die Maſſe verderbten Lebenſafts tritt tief hinunter. Und wenn eine Vormundſchaft dieſes großen Koͤrpers um eines zeitigen ver- mehrten Appetits, oder eines ſcheinbaren Zu-
ſatzes
� [173/0177]
ſatzes von Kraͤften halber, zuſieht, lobt und
befoͤrdert — oder wenn ſie auch aufs aͤrgſte
ſich widerſetzte: den Grund der „fortgehenden
„Verfeinerung und des Aufdringens zu Rai-
„ſonnement, Ueppigkeit, Freyheit und Frech-
„heit„ wird ſie nimmermehr heben. Wie
ſehr das wahre freywillige Anſehen der Obrig-
keit, Aeltern und hoͤchſten Staͤnde in der Welt,
nur ſeit einem Jahrhunderte gefallen, iſt bey
einer kleinen Vergleichung unſaͤglich: auf zehn-
fache Weiſe tragen unſre kleine und große Große
dazu weiterhin bey: Schranken und Schlag-
baͤume niedergeriſſen: Vorurtheile, wie es
heißt, des Standes, der Erziehung, und
ja der Religion unter die Fuͤſſe getreten und
zu ihrem Schaden ſelbſt verſpottet: wir wer-
den alle — durch einerley Erziehung, Phi-
loſophie, Jrreligion, Aufklaͤrung, Laſter,
und endlich zur Zugabe, durch Unterdruͤckung,
Blutdurſt und unerſaͤttliche Habſucht, die
ſchon die Gemuͤther weckt und zum Selbſtge-
fuͤhl bringt, werden wir alle — Heil uns, und
nach vielen Unordnungen und Elende, Heil uns!
was unſre Philoſophie ſo ruͤhmet und an-
ſtrebt, — Herr und Knecht, Vater und
Kind, Juͤngling und die fremdeſte Jung-
frau, wir alle werden Bruͤder. Die Herren
weißa-
� [174/0178]
weißagen wie Kaiphas, aber freylich zuerſt
auf eignen Kopf, oder das Haupt ihrer Kinder!
Wenn unſre „Menſchenregierung„ auch nichts mehr als ſchoͤne Huͤlle gewonnen haͤtte: den guten Schein und Anſchein, die Spra- che, die Grundſaͤtze und Geſinnungen und Ordnung, die jetzt jedes Buch, und jeder junge Prinz, als ob er ein lebendiges Buch waͤre, auf der Zunge fuͤhret — Großer Fortgang. Verſuche jemand, Machiavell und Antimachiavell zuſammen zu leſen — Philoſoph und Menſchenfreund wird den Letz- ten verehren, ſeine unberuͤhrten mit Blumen und gruͤnem Strauch bedeckte Moderſtellen, und unſondirte Wunden, wo man nicht auf den Grund kommen wollen und moͤgen, wil- lig uͤberſehen und ſagen: welch ein Buch! welch ein Prinz, der wie das Buch daͤchte! Nur eingeſtuͤnde, anerkennte, wuͤßte, in beylaͤufigen Geſinnungen handelte, fuͤr Welt und Nachwelt welch ein Prinz! Statt grober, unmenſchlich grauſamer Tollheit koͤnnten frey- lich Krankheiten herrſchen, die eben ſo druͤ- ckend und ſchaͤdlicher ſind, weil ſie ſchleichen; geprieſen und nicht erkannt werden, und bis Mark und Bein in die Seele freſſen. Das
all-
� [175/0179]
allgemeine Kleid, von Philoſophie und Men-
ſchenliebe kann Unterdruͤckungen verbergen,
Eingriffe in die wahre, perſoͤnliche Menſchen-
und Landes-Buͤrger- und Voͤlkerfreyheit,
wie Caͤſar Borgia ſie nur wuͤnſchte: Alle das
den angenommenen Grundſaͤtzen des Jahr-
hunderts gemaͤß mit einem Anſtande von Tu-
gend, Weisheit, Menſchenliebe und Voͤl-
kervorſorge: da’s alſo geſchehen kann und
faſt muß — Lobredner dieſer Huͤllen ſeyn,
als ob ſie Thaten waͤren, mag ich nicht: ohne
Zweifel haͤtte auch Machiavell in unſerm Jahr-
hunderte nicht geſchrieben, wie er ſchrieb und
Caͤſar in andern Beziehungen nicht handeln
duͤrfen wie damals: im Grunde wuͤrde noch
mit alle dem Nichts als Kleid geaͤndert.
Aber auch nur dies geaͤndert, iſt Wohlthat.
Daß in unſerm Jahrhunderte jeder, der wie
Machiavell ſchriebe, geſteinigt wuͤrde —
doch ich nehme mein Wort zuruͤck — Wer fuͤr
die Tugend aͤrger als Machiavell ſchreibt, er
wird nicht geſteinigt — er ſchreibt philoſo-
phiſch, witzig, franzoͤſiſch und ja — ohne
Religion. Alſo „wie Unſer Einer!„ Und —
desavouirt ja ſeine Schriften! —
Aus- � [176/0180]
Ausgelaſſenheit zu denken, wenns nur mit
gewiſſen Konvenientien des Wohlſtands ge-
ſchieht, (der wahre Wohlſtand darf um ſo fer-
ner ſeyn!) auch ſelbſt auf dieſem giftigen aus-
ſchweifenden Baume ſproſſen gute Fruͤchte!
Glaubt ihr nicht, daß dieſer Sinn und Unſinn,
den man jetzt gegen die Religion ſo ungeſcheuet
ſaget, einſt vortrefliche Wuͤrkungen haben wer-
de? Von Erlaͤuterungen, Rechtfertigungen
und Beweiſen der Religion abſtrahirt, die oft
nicht viel beweiſen, ich weiß nicht welcher groſ-
ſe Mann ein naͤchſtes Jahrhundert des Aber-
glaubens prophezeihte, weil das unſre ſich in
ſo dummen Unglauben erſchoͤpfte. — Aber
wies auch laufe, (und es waͤre ſchlimm, wenn
nur Aberglaube wieder den Unglauben ab-
wechſeln koͤnnte, und der ewige elende Kreis-
lauf nicht weiter braͤchte!) Religion Ver-
nunft und Tugend muͤſſen durch die tolleſten
Angriffe ihrer Gegner unfehlbar einmal gewin-
nen! — Der Witz, die Philoſophie, die Frey-
heit zu denken, war gewiß zu dieſem neuen
Throne nur wider Wiſſen und Willen geruͤſt:
Ploͤtzlich einmal die Wolke zertheilet, und
wenn ſie denn daſtehn, wird in voller Glorie
die alleuchtende Sonne der Welt. —
Auch � [177/0181]
Auch der groſſe Umfang und die Allge-
meinheit, in der das alles laͤuft, ſehen wir,
kann darzu offenbar ein unbekanntes Geruͤſte
werden. Je mehr wir Europaͤer Mittel und
Werkzeuge erfinden, euch andern Welttheile zu
unterjochen, zu betruͤgen und zu pluͤndern —
Vielleicht iſts einſt eben an euch zu triumphi-
ren! Wir ſchlagen Ketten an, womit ihr uns
ziehen werdet: die umgekehrte Pyramiden d)
unſrer Verfaſſungen, werden auf eurem Boden
aufrecht kommen, ihr mit uns — Gnug, ſicht-
barlich geht alles ins Groſſe! Wir umfaſſen,
womit es ſey, den Kreis der Erde, und was
darauf folgt, kann wahrſcheinlich nie mehr
ſeine Grundlage ſchmaͤlern! wir nahen uns
einem neuen Auftritte, wenn auch freylich blos
durch Verweſung! —
Eben daß ſich unſre Denkart in Gutem und Boͤſem verfeinet, und ſich eben damit unſre ſtaͤrkere, ſinnlichere Grundſaͤtze und Triebfedern abreiben, ohne daß der groͤſſere Haufe etwas dagegen noch bisher an die Stelle zu ſetzen
Luſt
d) Ritter Temple verglich eine gewiſſe Regie-
rungsform mit dem Bilde!
M� [178/0182]
Luſt oder Kraft haͤtte: wohin muß uns dieß
bringen? Die ſinnlichen ſtarken Bande der
alten Republiken und Zeitalter ſind laͤngſt (und
es iſt Triumph unſrer Zeit!) aufgeloͤſt: an den
feinern Banden unſrer Zeit nagt alles: Phi-
loſophie, Freygeiſterey, Ueppigkeit und eine
Erziehung zu dieſem allen von Gliede zu Glie-
de, tiefer und weiter verbreitet — Die meiſten
unſrer politiſchen Triebfedern muß ſogar ſchon
die ruhige Weisheit verdammen oder ver-
achten, und der Streit zwiſchen dem Chriſten-
thume und der Weltart iſt ein wie alter Vor-
wurf und Skrupel zu beyden Seiten! Da ſich
alſo Schwaͤche in nichts als Schwaͤche endi-
gen, und eine uͤberſtrengte Anziehung und
Mißbrauch des lezten gedultigen Wurfs der
Kraͤfte nichts als jenen voͤlligen Hinwurf be-
ſchleunigen kann — doch es iſt nicht mein Amt
weiſſagen!
Noch minder weiſſagen, „was allein Erſatz „und Quelle neuer Lebenskraͤfte auf einem ſo „erweiterten Schauplatze ſeyn koͤnne, werde „und faſt ſeyn muͤſſe? Woher neuer Geiſt „alle das Licht und die Menſchengeſinnung, „auf die wir arbeiten zu der Waͤrme, zu der „Beſtandheit, und zu der Allgluͤckſeligkeit
brin-
� [179/0183]
„bringen koͤnne und werde.„ Ohne Zweifel
rede ich noch von fernen Zeiten!
Laſſet uns, meine Bruͤder, mit muthigem, froͤlichem Herzen auch mitten unter der Wol- ke arbeiten: denn wir arbeiten zu einer groſ- ſen Zukunft.
Und laſſet uns unſer Ziel ſo rein, ſo hell, ſo ſchlackenfrey annehmen, als wirs koͤnnen: denn wir laufen in Jrrlicht und Daͤmmerung und Nebel.
Wenn ich da Thaten ſehe, oder vielmehr
ſchweigende Merkmale von Thaten ahnde aus
einem Geiſte, der fuͤr die Huͤlle ſeiner Zeit zu
groß, und fuͤr ihr Lobgeſchrey zu ſtill und
bloͤde dahingeht und im Finſtern ſaͤet? Sa-
menkoͤrner, die wie alle Gotteswerke und Schoͤp-
fungen vom kleinen Keim anfangen, denen
mans aber beym erſten kleinen Sproͤßlein, ſo
lieblich anſiehet und anreucht, daß ſie Schoͤpf-
fung Gottes im Verborgenen ſeyn werden. —
Und waͤrens Anlagen inſonderheit zur edelſten
Pflanze der Menſchheit, Bildung, Erzie-
hung,
M 2�
[180/0184]
hung, Staͤrkung der Natur in ihren beduͤrf-
tigſten Nerven, Menſchenliebe, Sympathie
und Bruͤdergluͤckſeligkeit — heilige Pflanzen,
wer iſt unter euch gewandelt, daß ihn nicht
ein Schauer beſſerer Zukunft ergriffe, und
er euren Urheber klein und groß, Koͤnig und
Knecht, nicht im ſtilleſten Abend-Morgen- und
Mitternachtopfer ſegne. Alle bloß koͤrperli-
che und politiſche Zwecke zerfallen, wie Scherd’
und Leichnam: die Seele! der Geiſt! Jn-
halt fuͤrs Ganze der Menſchheit — der
bleibt: und wohl, wem da aus der reinen, un-
truͤbbaren Lebensquelle viel ward! —
Es iſt faſt unvermeidlich, daß eben das Hoͤ-
here, Weitverbreitete unſers Jahrhunderts auch
Zweydeutigkeiten der beſten und ſchlimmſten
Handlungen geben muß, die bey engern, tie-
fern Sphaͤren wegfielen. Eben daß niemand
faſt mehr weiß, wozu er wuͤrkt: das Ganze
iſt ein Meer, wo Wellen und Wogen, die wo-
hin? aber wie gewaltſam! rauſchen — weiß
ich, wohin ich mit meiner kleinen Woge kom-
me? — Nicht blos Feind und Verlaͤumder
wird die Beginnen des wuͤrkſamſten beſten
Man-
� [181/0185]
Mannes oft in ein zweifelhaftes Licht ſtellen
koͤnnen; vielleicht wird ſelbſt dem warmen
Bewunderer in kaͤltern Stunden auch Ne-
bel und Doppellicht erſcheinen. Alle Radien
ſind ſchon dem Mittelpunkte ſo fern, — laufen
alle, wohin? und wenn werden ſie dahin
kommen?
Man weiß, was man allen Reformatoren aller Zeiten vorgeworfen, daß wenn ſie einen neuen Schritt thaten, ſie auch immer hinter ſich Luͤcken lieſſen, vor ſich Staub und Er- ſchuͤtterung machten, und unter ſich Unſchul- diges zertraten. Die Reformatoren der lez- ten Jahrhunderte trift das ſichtlicher und dop- pelt. Luther! Guſtav Adolph! Peter der Groſſe! Welche drey haben in den neuern Zeiten mehr veraͤndert? edleren Sinnes ge- aͤndert? — und ſind ihre, zumal unvorherge- ſehne Folgen, allemal zugleich unwiderſpruͤck- liche Zunahmen des Gluͤcks ihre Nachkom- men geweſen? Wer die ſpaͤtere Geſchichte kennt, wird er nicht manchmal ſehr zweifeln?
Ein Monarch, deſſen Namen unſre Zeit mehr traͤgt und zu tragen verdient, als das Zeitalter Ludwigs
den
M 3� [182/0186]
— den uns
ſein Jahrhundert mit aufbewahrt!
welche neue Schoͤpfung Europa’s hat er von ſeinem Flecke her in dreyßig kurzen Jahren bewuͤrkt! — Jn Kriegs- und Regierungs- kunſt, in Behandlung der Religion und Ein- richtung der Geſetze, als Apollo der Mu- ſen, und als Privatmann unter der Krone — dem allgemeinen Scheine nach das Muſter der Monarchien — welch ein Gutes geſtiftet! Aufklaͤrung, philoſophiſchen Geiſt und Maͤſ- ſigung vom Throne ringsum verbreitet! orien- taliſchen, dummen Pracht, Schwelgerey und Luxus, der vormals oft das einzige Goldge- haͤge der Hoͤfe war, wie erſchrecklich zertruͤm- mert und verjaget! Fette Unwiſſenheit, blin- den Eifer und Aberglauben uͤberall wie tief verwundet! Sparſamkeit und Ordnung, Re- gelmaͤßigkeit und Fleiß, ſchoͤne Kuͤnſte und einen ſogenannten Geſchmack frey zu den- ken, — wie hoch erhoben! — Das Jahrhun- dert traͤgt ſein Bild, wie ſeine Uniform: Jahr- hundert ohne Zweifel die groͤßte Lobrede ſeines Namens. — Jndeß wird auch eben die Muͤn- ze, das Bruſtbild weggekehrt, und das bloſſe Reſultat ſeiner Schoͤpfung als Menſchenfreund
und
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und Philoſoph betrachtet, ohne Zweifel einmal
etwas mehr und anders zeigen! Zeigen viel-
leicht, wie durch ein natuͤrlich Geſetz der Un-
vollkommenheit menſchlicher Handlungen mit
der Aufklaͤrung — auch eben ſo viel luxuri-
rende Mattigkeit des Herzens, — mit Spar-
ſamkeit, ihr Zeichen und Gefolge Armuth,
mit Philoſophie blinder kurzſichtiger Unglau-
be, mit Freyheit zu denken, immer Sklave-
rey zu handeln, Deſpotismus der Seelen
unter Blumenketten, — mit dem groſſen Hel-
den, Eroberer und Kriegsgeiſt Erſtorbenheit,
Roͤmerverfaſſung, wie da Armeen alles waren,
Verfall und Elend ſich habe verbreiten muͤſ-
ſen. Zeigen, was Menſchenliebe, Gerechtigkeit,
Maͤßigkeit, Religion, Wohl der Untertha-
nen — alle bis auf einen gewiſſen Grad als Mit-
tel zum Erreichen, behandelt — was alle das
auf ſeine Zeit — auf Reiche ganz andrer
Verfaſſung und Ordnung — auf Welt und
Nachwelt fuͤr Folgen haben muͤſſen — die
Waage wird ſchweben? ſteigen — ſinken —
welche Schaale? was weiß ich? —
„Der Schriftſteller von hundert Jahren, e)„ der ohne Zank und Widerſpruch wie ein Mo-
narch
e) Voltaͤr.
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narch auf ſein Jahrhundert gewuͤrkt hat —
von Liſſabon bis Kamtſchatka, von Zembla
bis in die Kolonien von Jndien geleſen, ge-
lernt, bewundert, und was noch mehr iſt,
befolgt — mit ſeiner Sprache, mit ſeinen
hundertfachen Talenten der Einkleidung, mit
ſeiner Leichtigkeit, mit ſeinem Schwunge von
Jdeen auf lauter Blumen — am allermeiſten
dadurch, daß er auf der gluͤcklichen Stelle
geboren wurde, die Welt zu nuͤtzen, Vorgaͤn-
ger und Nebenbuhler zu nuͤtzen, Gelegenhei-
ten, Anlaͤſſe, zumal Vorurtheile und Lieblings-
ſchwaͤchen ſeiner Zeit, zumal ja die nutzbar-
ſten Schwaͤchen der ſchoͤnſten Braͤute ſeiner
Zeit, der Regenten in ganz Europa zu nuͤ-
tzen — dieſer groſſe Schriftſteller, was hat er
nicht ohne Zweifel auch zum Beſten des Jahr-
hunderts gethan! Licht verbreitet, ſo genann-
te Philoſophie der Menſchheit, Toleranz,
Leichtigkeit im Selbſtdenken, Schimmer der
Tugend in hundert liebenswuͤrdigen Geſtal-
ten, verduͤnnte und verſuͤßte kleine menſch-
liche Neigungen — als Schriftſteller ohne
Zweifel auf der groͤßten Hoͤhe des Jahrhun-
derts! — Aber nun zugleich damit, was fuͤr
elenden Leichtſinn, Schwaͤche, Ungewißheit
und Kaͤlte! was fuͤr Seichtigkeit, Planlo-
ſigkeit,
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ſigkeit, Scepticism an Tugend, Gluͤck und
Verdienſt! — was mit ſeinem Witze wegge-
lacht, ohne es zum Theil weglachen zu wol-
len! — ſanfte, angenehme und nothwendige
Bande mit frevelnder Hand aufgeloͤſet, ohne
uns, die wir nicht alle au Chateau de Fernay
reſidiren, das mindeſte an die Stelle zu ge-
ben? Und durch welche Mittel und Wege hat
er ſelbſt ſein Beſtes erlangt? wenn er uns
mit alle der Philoſophie und Schoͤnliebha-
berey der Denkart ohne Moral und feſte
menſchliche Empfindung denn in die Haͤn-
de liefere? — man kennet die groſſe Kabale
gegen und fuͤr ihn, weiß, wie anders Roußeau
predige? vielleicht gut, daß beyde predigen,
weit von einander und in manchem beyde ein-
ander aufhebend — oft das Ende menſchli-
chen Beginnens! die Linien heben ſich auf,
aber ihr lezter Punkt ſteht weiter! — —
Kein groſſer Geiſt, durch den das Schickſal Veraͤnderung bewuͤrkt, kann freylich mit al- lem, was er denkt und fuͤhlt, nach der Ge- meinregel jeder mittelmaͤßigen Seele gemeſ- ſen werden. Es giebt Ausnahmen hoͤherer Gattung, und meiſt alles Merkwuͤrdige der Welt geſchieht durch dieſe Ausnahmen. Die
graden
M 5�
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graden Linien gehen nur immer gerade fort,
wuͤrden alles auf der Stelle laſſen? wenn
nicht die Gottheit auch auſſerordentliche Men-
ſchen, Kometen, in die Sphaͤren der ruhigen
Sonnenbahn wuͤrfe, fallen und im tiefſten Falle
ſich wieder erheben lieſſe, wohin kein Auge der
Erde ſie verfolget. Auch thuts nur Gott oder
unter Menſchen ein Thor, daß er jede fernſte
moraliſche oder unmoraliſche Zwiſchenfolge ei-
ner Handlung auf die Rechnung des Verdien-
ſtes und der erſten Abſicht des Handelnden
ſetzet! wer faͤnde ſonſt in allem in der Welt mehr
Anklaͤger, als der erſte und einzige Handler, der
Schoͤpfer! — Aber, meine Bruͤder, laſſet uns
ja die Pole nicht verlaſſen, um die ſich alles
dreht, Wahrheit, Bewußtſeyn des Wohl-
wollens, Gluͤckſeligkeit der Menſchheit! laßt
uns am allermeiſten auf der groͤßten Hoͤhe
des Meers, auf welcher wir jetzt ſchweben, in
Jrr- und Nebellichte, das vielleicht aͤrger iſt,
als voͤllige Nacht, laſſet uns da fleißig nach
dieſen Sternen, den Punkten aller Richtung,
Sicherheit und Ruhe hinſehen, und denn mit
Treue und Emſigkeit unſern Lauf ſteuren.
Groß muß das Ganze ſeyn, wo in jeder Ein-
zelnheit ſchon ſo ein Ganzes erſcheint! in je-
der
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der Einzelnheit aber nur auch immer ſo ein
unbeſtimmtes Eins, allein aufs Ganze, ſich
offenbaret! Wo kleine Verbindungen ſchon
groſſen Sinn geben, und doch Jahrhunderte
nur Sylben, Nationen nur Buchſtaben, und
vielleicht Jnterpunktionen ſind, die an ſich
nichts, zum leichtern Sinne des Ganzen, aber
ſo viel bedeuten! Was o einzelner Menſch
mit deinen Neigungen, Faͤhigkeiten und Bey-
trage biſt du? — Und willt, daß ſich an dir
allſeitig die Vollkommenheit erſchoͤpfe? —
Eben die Eingeſchraͤnktheit meines Erdpunk- tes, die Blendung meiner Blicke, des Fehl- ſchlagen meiner Zwecke, das Raͤthſel meiner Neigungen und Begierden, das Unterliegen meiner Kraͤfte nur auf das Ganze eines Ta- ges, eines Jahrs, einer Nation, eines Jahr- hunderts — eben das iſt mir Buͤrge, daß ich Nichts, das Ganze aber Alles ſey! Was fuͤr ein Werk, zu dem ſo viele Schattengruppen von Nationen und Zeiten, Koloſſenfiguren faſt ohne Geſichtspunkt und Anſicht! ſo vie blinde Werkzeuge gehoͤren, die alle im Wahne des Freyen handeln und doch nicht wiſſen, was? oder wozu? die nichts uͤberſehen, und doch ſo eifrig mithandeln, als waͤre ihr Amei-
ſenhaufe
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ſenhaufe das Weltall — was fuͤr ein Werk
dieß Ganze! Bey der kleinſten Spanne, die
wir davon uͤberſehen, ſo viel Ordnung und
ſo viel Wirrung, Knote und Anlage zur Auf-
loͤſung — beydes eben fuͤr die uͤberſchwaͤngli-
che Herrlichkeit im Allgemeinen, Sicherheit und
Gewaͤhrleiſtung. Elend klein muͤßte es ſeyn,
wenn ich, Fliege, es uͤberſehen koͤnnte! wie
wenige Weisheit und Mannigfaltigkeit, wenn
ein durch die Welt Taumelnder, der ſo viel
Muͤhe hat, nur Einen Gedanken feſt zu halten,
nie eine Verwickelung faͤnde? — Jn einer
Spanne, die nichts iſt, und wo doch tauſend
Gedanken und Saamenkoͤrner zugleich ſtre-
ben: in einem halben Zeitmaas der Tonkunſt
von zwey Schlaͤgen, wo ſich aber eben vielleicht
die ſchwerſten Toͤne zur ſuͤſſeſten Aufloͤſung
wickeln — wer bin ich, daß ich urtheile, da
ich eben nur den groſſen Saal queer durchge-
he, und einen Seitenwinkel des groſſen verdeck-
ten Gemaͤldes im dunkelſten Schimmer beaͤu-
ge? Was Sokrates zu den Schriften eines
Menſchen ſagte, der eingeſchraͤnkt wie er mit
ihm in Einem Maaße der Kraͤfte ſchrieb —
was ſoll ich zu dem groſſen Buche Gottes
ſagen, das uͤber Welten und Zeiten gehet!
Von
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Von dem ich kaum eine Letter bin, kaum drey
Lettern um mich ſehe. — —
Unendlich klein fuͤr den Stolz, der Alles ſeyn, wiſſen, wuͤrken und bilden will! Unendlich groß fuͤr die Kleinmuth, die ſich Nichts zu ſeyn getrauet — beyde nichts als einzelne Werkzeuge im Plane einer unermeßlichen Vor- ſehung!
Und wenn uns einſt ein Standpunkt wuͤr- de, das Ganze nur unſres Geſchlechts zu uͤber- ſehen! wohin die Kette zwiſchen Voͤlkern und Erdſtrichen, die ſich erſt ſo langſam zog, denn mit ſo vielem Geklirr Nationen durchſchlang und endlich mit ſanfterm aber ſtrengerm Zu- ſammenziehen dieſe Nationen binden und wo- hin? leiten ſollte — wohin die Kette reicht? wir ſehen die reife Ernte der Saamenkoͤrner, die wir aus einem blinden Siebe unter die Voͤlker verſtreut, ſo ſonderbar keimen, ſo verſchie- denartig bluͤhen, ſo zweydeutige Hoffnungen der Frucht geben ſahen — wir habens ſelbſt zu koſten, was der Sauerteig, der ſo lang, ſo truͤb und unſchmackhaft gaͤhrte, endlich fuͤr Wohlgeſchmack hervorbrachte zur allgemei-
nen
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nen Bildung der Menſchheit — Fragment
des Lebens, was wareſt du? —
— quanta ſub nocte iacebat Noſtra dies!
wohl aber, wen ſein Lebensfragment auch alsdann nicht gereuet!
Βλεπομεν γαρ αρτι δἰ εσοπτρου εν αινιγματι, τοτ_
δε προσωπον προς προσωπον αρτι γινωσκω εκ μερους, το-
τε δε επιγνωσομαι, καϑως και επιγνωϑην. Νονι δε
μενει πιςις, ελπις, αγαπη, τα τρια ταυτα, μειξων
δ_ τουτων η αγαπη.
Druckfehler.
S. 8. Z. 1. dieſen heroiſchen Anfaͤngen.
S. 25. Z. 7. Kantonskriege.