Die menschliche Gestalt in der Geschichte der Kunst  

From The Art and Popular Culture Encyclopedia

Jump to: navigation, search

"Considering how the nude dominated sculpture and painting at two of the chief epochs in their history, one might have expected a small library on the subject. But in fact there are only two general studies of any value, Julius Lange's Die menschliche Gestalt in der Geschichte der Kunst (1908) and Wilhelm Hausenstein's Der nackte Mensch (1913), in which much useful material is cooked into a Marxist stew." --from the preface to The Nude: A Study in Ideal Form (1956)

{{Template}} Die menschliche Gestalt in der Geschichte der Kunst von der zweiten Blütezeit der griechischen Kunst bis zum 19. Jahrhundert (Strasbourg, 1903)is a book by Julius Lange. It is a translation of Menneskefiguren i Kunstens Historie: Fra den græske Kunsts anden Blomstringstid indtil vort Aarhundrede (Copenhagen, 1898).


See also

  • Darstellung des Menschen in der Älteren Griechischen Kunst (1899) [1]

Pages ix-xxxi reprinted from "Det kongelige danske videnskabernes selskabs skrifter. Historisk og filosofisk afdeling," ser. 5, vol. v, no. 4, 1892 (a portion of the French résumé)

Pages 1-108 translated from "Billedkunstens fremstilling af menneskeskikkelsen i dens ældste periode indtil höjdepunktet af den græske kunst. Studier over de fra perioden efterladte kunstværker: Det kongelige danske videnskabernes selskabs skrifter. Historisk og filosofisk afdeling," ser. 5, vol. V, no. 4, 1892, p. 138-258

Pages 111-225 translated from "Billedkunstens iremstilling af menneskeskikkelsen i den graeske kunsts förste storhedstid. Stüdier i de fra perioden efterladte kunstværker: Det kongelige danske videnskabernes selskabs skrifter. Historisk og filosofisk afdeling," ser. 6, vol. IV, no. 4, 1898 ==Full text==Skip to main content

jan-willem_geerinck

Die menschliche gestalt in der geschichte derkunst

Julius Henrik Lange


I


HARVARD COLLEGE LIBRARY


FROM THE BEQUBST OP

CHARLES SUMNER

CLASS OP 183O

FOB BOOKS BBLATOC TO FOUTICS AND FINE ABTS

TRANSFERRED TO

FINE  ARTS  LIDRARV.  


1



6


JULIUS JANGE,.-

DIE MENSCHLICHE GESTALT// IN DER

GESCHICHTE DER KUNST

VON DER ZWEITEN BLÜTEZEIT DER GRIECHISCHEN KUNST BIS ZUM XIX. JAHRHUNDERT

HERAUSGEGEBEN VON P. KÖBKE AUS DEM DÄNISCHEN ÜBERTRAGEN VON MATHILDE MANN

«Ich bin nun recht im Studium der Menschengestalt, welche das Non plus ultra alle» menschlichen Wissen» und Tun Ist.*

Gathc in Italien


STRASSBURG i. E. MDCCCC1II DRUCK UND VERLAG VON J. H. ED. HEITZ (H EITZ & MÜNDEL). MÖLLERSTRASSE 16.




VORWORT ZUR DÄNISCHEN AUSGABE.


Unier den mannigfachen beschriebenen Blättern, die sich in Julius Langes Nachlass fanden — ntu/efähr aus den letzten 20 Jahren seines Mens — hatte der grossere Teil nur In teresse für trat ige. Da war ei ne Menge Notizen ton seinen Studienreisen, rührend welcher er stets grossen Wert darauf legte, an Ort und Stelle Aufzeichnungen zu machen. Ferner lagen da eine Menge Abschriften und Uebersetzungen, oft ganze Foliobogen , mit seiner festen, schönen Handschrift ge- schrieben : Zitate aus griechischen und lateinischen, französischen und deutschen, englischen und italienischen Schriftstellern ; diese Zitate, die er sich bei gegebener Gelegenheit zu Nutzen machte, betrafen nicht allem die Kunst, sondern die rerschieden sten Themata. Endlich waren da seine eigenen im Studierzimmer niedergeschriebenen Gedanken und Entwürfe — lose hingeworfene Konzepte zu späterer mündlicher oder schriftlicher Behandlung  : einige, die sich auf ältere Vorlesungen bezogen, andere, die man in seinen erschienenen /fächern und Abhandhin gen genauer ausge- führt wiederfindet . Nichts ron all diesem war für die Oeffeullielikeil geeignet, aber was davon möglicherweise den Studien Anderer zu Nutze kommen kann, wird an eine unserer Bibliotheken abgegeben werden.

Doch fand sich unter seinen Papieren, ganz zerstreut zwischen all dem. I': ehrigen, ein grosses und werteolles Material für die Veröffentlichung.

Seil rieten Jahren halle er es Ja für die Hauptaufgabe seines Lebens gehalten, die Entwicklung des Menschenbildes in Skulptur und Malerei durch den Lauf aller Zeiten zu schildern. Er sprach oft über diesen seinen Plan , ernsthaft und im Seherz, das Letztere wohl als A usdruck eines gewissen Zweifels, ob es ihm Je gelingen würde, sein Werk zu rollenden.  »Die Zerstörung des Menschengeschlechts» nannte eres in solchen Augenblicken. Der erste Hand, die « Darstellung der menschlichen Gestalt in der Bilduerei von der ältesten Periode bis zum Höhepunkt der griech- ischen Kunst» war ISU'3 in den «Schriften der dänischen Gesell sehn fl der Wissen- schaften» erschienen , er hatte in der Heimat wie im Auslände grosses Aufsehen erregt — namentlich durch die aufgestellte Theorie ron dem « Frontal itats-Geselz» für alle • Einleiluugskunst» und die Auflage ist schon lange cer griffen. Ferner hatte er bei



- IV -


seinem Tode den zweiten Band des Werkes, auch zur Aufnahme in die •Schriften der Gesellschaft der Wissenschaften* bestimmt, vollendet; dieser, der «die erste Blüteperiode der griechischen Kunst behandelt», namentlich Phidias, und mit Polyhlet schliesst, wurde 1898 ton Dr. phil. C. Jörgensen heraus ge geben. x

Das /Unterlassene Manuskript seht die Geschichte der menschlichen Figur fort und schliesst sie ab. Die Beschaffenheit des Manuskripts zeigt, u. a. durch die sehr verschiedene Orthographie, dass der Verfasser bei Gelegenheit bald dieses, bald jenes, oft fernliegende Thema zur Behandlung aufgenommen hat ; so sind die Schlussbetrachlnngen *über das Verhältnis der Bildnerei zur Dichtkunst* und die • Zukun flsaussichlen* offenbar mehrere Jahre ror seinem Tode geschrieben, während er sich in seiner letzten Lebenszeit hauptsächlich mit der Kunst des griechischen Altertums beschäftigt hat.

Wohl weist das Werk, so wie es hier vorliegt, allerlei Lücken auf. Gewisse Themata aus der Geschichte des Figurenstils hat dei Verfasser nicht mehr mit- nehmen können, — in bezug auf das Altertum z. B. «die weiblichen Gestalten der jüngeren griechischen Kunst» und %dic römische Skulptur». Andere Themata sind nur kurz skizziert, der Verfasser hat sie offenbar noch mehr ausführen wollen. Es ist sicher auch seine Absicht gewesen, eigentliche Monographien über verschiedene Künstler zu schreiben, die einen hervorragenden Einfluss auf den Fignrenslil gehabt haben. Aber der historische Faden in der Entwicklung des Hauptlhemas ist doch sehr deutlich und im wesentlichen nicht unterbrochen.

Die sprach liehe Darstellung in diesem Werke ist so. wie Julius Lauge sie hinterlassen hat. Nur, wo ein einzelner Ausdruck zu lose hingeworfen erschien, ist mit leiser Hand an der Form geändert. An mehreren Stellen haben Wieder- holungen stehen bleiben müssen, die der Autor sicher gestrichen haben würde; dies konnte jetzt jedoch nicht ohne eine vollständige l'mredaklton geschehen. Aber auf der andern Seite scheint es, als wenn gerade das Gepräge des ersten Entwurfes, das gewisse Teile des Manuskripts (ragen, hie und da der Darstellung eine eigene Frische verliehen habe.

Was die Realität des Inhalts anbetrifft, so sind nur die gefundene» wenigen Ungenauig keilen in bezug auf das Tatsächliche geändert. Betreffs der kunstkri- lischen und historischen Anschauungen des Verfassers sind selbstverständlich keinerlei Aenderungen oder Bemerkungen gemacht. Für die Einteilung des ganzen Stoffes und den grösslen Teil der Ueberschriften über die einzelnen Abschnitte trägt der Herausgeber — wie dies der Zustand des Manuskripts mit sich brachte. — die Verantwortung  ; ebenso trägt er die Verantwortung für Titelblatt und Motto.

Angestrebt wurde, dass das Werk so weit wie möglich ein historisch forl- gesetztes Ganzes ohne Unterbrechung des leitenden Fadens bilden konnte. Deshalb sind des Autors früher gedruckte, grössere l 'ebersichten, seine "Querschnitte»


1 Dieser zweite Band, sowie der die griechische Kunst betreffende Teil des ersten ist in deutscher Uebersetzung bereit» im Jahre 18U8 bei HeiU um! Mündel erschienen.



- V -


der Entwicklung, z. B.  »Die Geschichte eines Motivs» und  »die Geschichte eines Ausdrucks» hier nickt aufgenommen. Auch konnte nicht die Rede davon sein, das Buch •Sergel und Thorwaldsen» ganz oder nur teilweise aufzunehmen. Dahingegen hat Julius Lange selber zwei seiner bereits veröffentlichten Abhandlungen,  »Der Mosesbrunnen» und  »die Kunst der Rokokozeit» mit in das Manuskript aufgenommen. Zwei seiner älteren Monographien «die Ueberreste der antiken Malkunst» und • Ruhens Darstellung des Menschen» sind ebenfalls der Schrift eingefügt worden; ein Judicium dafür, dass dies in Uebereinstimmnng mit dem Plan des Verfassers geschehen ist, selbst wenn er sie umgearbeitet und vielleicht ein icenig verkiirtt hätte, scheint darin zu liegen, dass er sie nicht in den beiden früher erschienenen Banden seiner gesammelten Aufsätze abgedruckt halte.

Der Herausgeber hat es sich angelegen sein lassen, den Text der Schrift mit Bildern in reichlichem Umfang zu versehen, und der Direktion des •Carlsberg- fonds» muss ein ehrerbietiger Dank abgestattet werden, dass sie dies durck eine liberale Unterstützung möglich gemacht hat.

Zum Schluss noch eine persönliche Bemerkung des Herausgebers. Wenn mein teurer verstorbener Freund, dessen grosse Auffassung des Lebens und der Kunst, dessen seltenen Kenntttisreichtum, dessen klare und wanne Rede, dessen feinen Witz wir noch imnur schmerzlich entbehren, — wenn er zu seinen nächsten Ange- hörigen den Wunsch geäussert hat, ich möckle die Veröffentlichung seiner Manu- skripte übernehmen, so habe ich freilich sehr gern die Arbeit übernommen und habe bei der steligen Beschäftigung damit mich voller Freude in seinen Ge- dankengang hineingelebt, habe aber häufig Zweifel empfunden, ob ich wokl der Aufgabe gewachsen sei. Doch bin ich immer wieder zu der Anschauung zurückge- kehrt, dass, vorausgesetzt, dass der Herausgeber nicht eines gewissen Masses von Kunstblick und iunslhislorischem Wissen ermangelte — eigentlich tnehr allgemein literarische als fachliche Voraussetzungen erforderlich seien.

P. KÖBKE.



VORREDE ZUR DEUTSCHEN AUSGABE.


Als die Uebersetzerin dieses Buches im Jahre JS9S mit Julius Lange die l'ebersetzung des ersten Bandes, der •Darstellung des Menschen in der älteren griechischen Kunst», durchnahm , /"ragte sie, teie gross denn das ganze Werk würde. Da spannte er die Arme weit aus und sagte: *So gross!» Sie sah ihn staunend an. — *Ach, dm ist so wie bei den kleinen Kindern, wenn man sie fragt, wie gross bist du? Dann strecken sie die Arme in die Hohe. Ich meine damit — solange ich lebe, werde ich an dem Werke arbeiten und es doch nicht beenden.» — Zwei Monate nach dieser Unterredung starb Julius Lange, kaum GO Jahre alt — der Trost, sein Lebenswerk vollendet zu sehen, war seiner letzten Stunde nicht beschieden.

Was sich im lYachlass an Manuskripten zu dem Werke cor fand, hat Langes Freund P. Köbke herausgegeben ; über die Art der Herausgabe berichtet er selbst in seinem Vorwort. — Man mag erstaunt sein, dass Julius Lange sich noch so weit entfernt von seinem Ziele wussle . denn das Vorhandene schliesst sich fast lückenlos zu einem Buch zusammen, dem auch der breit ausgeführte, weithin schauende Schluss nicht fehlt. Aber dem genauer Zusehenden entgeht nicht, was für Arbeit der

Verfasser noch cor sich sah .• nicht nur die wenigen Lücken hätte er ausgefüllt, er hätte auch die einzelnen Kapitel mehr abgerundet, A ach träge h inein r erarbeitet,

Wiederholungen gestrichen, er hätte namentlich die Untersuchung überall bis zur gleichen liefe der Problemstellung gelrieben und das Tempo der Entwicklung , die jetzt oft langsam vorwärtsschreitet, zuweiten tigernd eerwetlt, oft in grossen Sprüngen dahineilt, geebnet.

Trotzdem so das Werk nicht in der Gestalt erschien, die der Verfasser ihm ■zu geben gewillt war, so konnte eine deutsche Ausgabe doch nichts anderes tun als der dänischen genau folgen, und es entspricht die torliegende Uebersetznug voll- kommen der Auswahl und Anordnung P. Köbkes.* Ein Kürzen der zu lang ge-

1 Weggeblieben sind, auf Wunsch des dum sehen Herausgebers, nur nett kleinere Abschnitte: 8. 77-öH *über die Unter weit sb Uder des I'olggnot- uml S. 17S-182 'das Verhält it ix des Hirten zur Herde in der Symbolik des Mlertnms-. Heide Untersuchungen steten mit dem Grundgedanken nur tn losein Zusammenhang.



— vni -

ratenen, ein Auslassen der erst angelegten Partieen hätte den Reiz der ersten Frische zerstört, die auf den nach Art freien Vortrags breit hingeschriebenen Abschnitten nicht weniger wie auf den flüchtig hingeworfenen Skizzen liegt : es wäre ein Eingriff in die Persönlichkeit Langes gewesen, die, auch wenn sie etwas nicht vollkommen sagt, ein Hecht hat, gehört zu werden. Und es war auch sachlich nicht nötig: denn bei allem Mangel an einheitlicher Form hält der Grundgedanke, der Langes A usgangs- punkt, nicht erst das Resultat seiner Untersuchung war, das Ganze zusammen.

Das Buch ist keine Kunstgeschichte , in der die erhaltenen Werke früherer Zeiten geordnet, auf die Namen der Künstler getauft, in Schnlzusammenhänge ge- bracht werden. Langes Tendenz ist nicht die, das historische Geschehen in der Kunstentmickimg zu erforschen und so von Verlorenem eine dem Gewesenen mög- lichst nahekommende Vorstellung zu schaffen. Dassdie.se Art von Historie nicht seine Sache sei — das hat er oft in seinen Briefen ausgesprochen. — *S>«'«  Sinn war ganz auf die erhaltenen Kunstwerke gerichtet. Das Leben, das in ihnen liegt, durch das Wort zu wecken, darin sah er seine Aufgabe; wenn ihm dazu die Geschichte half, so war sie ihm willkommen.

Der Weg, den Lange zur Erreichung seines Zieles geht, ist nicht der der ästhe- tischen Analyse, die immer ein einzelnes Kunstwerk in den Brennpunkt der Betrach- tung rückt, die das Bild als Organismus, als Lösung formal-künstlerischer Probleme untersucht und die in den verschiedenen Seiten künstlerischen Schaffens ebensoriefe Angriffspunkte für die Lösung ihrer Aufgabe sieht. Sein Auge ist bei der Forschung fast nur auf eine Seite des Kunstwerks gerichtet: auf die Darstellung des Men- schen. Der im Kunstwerk dargestellte Mensch mit seinen äusseren und inneren, körperlichen und geistigen Eigenschaften ist das Objekt seiner Untersuchung. Die malerische oder plastische Körperauffassung des Künstlers ist hiebei nur ein kleiner 'Teil des Problems. Lange geht gewtssermassen hinler die Kunstwerke er beschwört die menschlichen Gestalten, die in ihnen leben, heisst sie heraustreten aus dem Rahmen und sich bewegen als denkende und handelnde Individuen. Seine Phantasie konstruiert sozusagen das Geschlecht der Modelle, die dem Künstler zu Gebote standen. Da er aber das Material zu diesem Bau nicht etwa ans historischen Nachrichten nimmt und so die Kunstwerke aus dem « Milieu» des Künstlers zu erklären sucht, sondern mit den Augen ans dem Kunstwerk alles herausholt was an Leben in ihm enthalten ist, und andere Quellen nur nachher zur besseren Verdeutlichung zu Hilfe nimmt, so bleibt seine Betrachtung stets innerhalb der Well des Künstlers : die Menschen, die er schildert leben nur in der Well, die ihnen als von Künstlern ge- schauten Objekten zukommt. Wo dteser Weg des direkten Herauslesens der mensch- lichen Werte nicht gangbar ist, wo man zu historischen Untersuchungen greifen muss, da ist für Lange das Wort Kunst am falschen Ort: die •Kunst der Kata- komben» behandelt er in seinem Buche nur um darzutun, dass sie den Namen Kunst gar nicht verdient.

Es liegt in der Natur von Langes Problemstellung, dass die Unterschiede zwischen den Werken eines Künstlers, die in der Hauptsache formal-künstlerischer



- IX -


Art sind, zurücktreten gegenüber der gemeinsamen menschlichen Atmosphäre, der die Werke eines Künstlers, oft einer ganzen Zeil entstammen. Und in der Erkenntnis dieses Allgemeinen liegt auch die grossle Märke von Langes Forschung. Ks ist ihm in ganz seltenem, ja vielleicht einzigem Masse die Gabe eigen, die Knlwicklnng der Kunst mit scharfem Auge ans der grössten Entfernung zu übersehen, wo das Un- terscheidende der einzelnen Kunstwerke verschwindet und nur das der grossen Perioden übrig bleibt. Durch diene Art des Sehens erseht iesst er der Wissenschaft die wert- vollsten Erkenntnisse. Das von ihm entdeckte  »Gesetz der Frontaliläl» , in dem er fast die ganze Kunst ton ihren Anfängen bis zum Jahre 500 vor Christus zusammen fasste, bleibt für alle Zeilen eine der fundamentalsten Knideckungen der Kunstgeschichte, wenn auch einzelne Ausnahmen vielleicht eine andere Formulie- rung des Oeselzes anempfehlen.

Für die spätere Kunst waren Gesetze ton gleicher Weile der Bedeutung nicht mehr zu finden. Aber auch in dem torliegenden Bande sind die grossen Unterschiede der Perioden nicht weniger fein gesehen. Der Nachweis der Verinnerlichung , einer •seelischen Erotik» als des unterscheidenden Merkmals der griechischen Kunst des 4. Jahrhunderts vor Christus im Vergleich mit der des />. Jahrhunderts die Er- klärung des Stils der menschlichen Figur in der Kunst des christlichen Mittelalters durch den Hinweis auf die •antihumauistische Tendenz* der Zeit: das sind nur Beispiele für die grosszügige und zusammenfassende Betrachtungsweise, die dem Buche seinen Charakter terleiht.

Inwiefern Langes Standpunkt von zentraler Bedeutung für die Erkenntnis der Kunst ist, besonders wo es sich um einzelne Kunstwerke oder Künstler handelt — diese Frage kann hier nur gestreift werden. Der tiefste Einblick in ein Kunstwerk, die umfassendste Erkenntnis wird ron diesem Standpunkt aus da möglich sein, w>o das allgemein menschliche Temperament des Künstlers die grossle Bolle spielt: vielleicht hat in dem Buche kein Künstler eine so erschöpfende Behandlung erfahren wie Rubens. Versagen muss die Betrachtungsweise da, wo ein Künstler sehr ausschliesslich rein formal-künstlerische Probleme verfolgt, wie Michelangelo, oder wo die menschliche Figur nickt Selbstzweck, sondern dienendes Glied tn einem architektonischen Ganzen ist, wie in der Skulptur der Gotik

Für Lange selber freilich ist dieser Standpunkt nicht so ausschliesslich der einzig mögliche, dass in ihm sich das ganze Buch erschöpfte. Er geht sehr oft darüber hinaus, und verfolgt in einer Menge von E inzelbtobachtnngen die spezielleren künstlerischen Probleme. Dass dies nicht gleichmässig geschieht, sondern bald mehr, bald weniger, daran ist wohl nur der unfertige Zustand des Buches schuld. Hätte der Verfasser länger gelebt, so wären sicher aus den Blumen, die jetzt da und dort verstreut aus der üppigen Wiese aufleuchten, wohlgepflcgte Beete geworden.

Was dem Buche trotz seiner unfertigen Gestalt zu einer einheitlichen Wirkung rerhilft, ist der Grundgedanke ; aber es ist auch Langes Persönlichkeil. Julius Lange konnte keine Seite schreiben, ohne dass diese den Stempel einer starken eigen- artigen Persönlichkeit trug; das beweisen alle seine Schriften und nicht zum min-



- X -


deslen die Briefe, die vor Jahresfrist in deutscher L'ebersetznng erschienen sind. Seine  »aice Freude an der Welt und die Kraft, sich diese Freude durch alle Mühen der Forschung hindurch zu bewahren verleiht seinen Wuchern eine Frische, die sie wie ungelehrt erscheinen lasst, seine starke Phantasie giesst einen Schimmer von Poesie, sein gemütlicher Humor einen Ha uch ton warmer Mensch lich keil über sie aus. — Her Erfolg ton Langeis Schriften in Henlschland bedeutet einen neuen Sieg der nordischen Natur, die uns hier freilich mit ganz anderem Gesicht ansieht, als wir es von ihr aus der schönen Literatur gewohnt sind: hinter diesen Hücker u steht nicht der Mensch Jakobsens oder Ibsens, der im Nebel Geister sieht, und nur im zarten Licht des spaten Nachmittags Gleichnisse für seine Empfindungen sucht, oder der im trüben Kampf des Fanatismus an den Grenz pfählen seiner Menschen- natur zerschellt — sondern der Nordländer, der das klare starke Licht des nor- dischen Mittags liebt und den Sturm com Meere her, weil er die Seele gross und einfach macht.

Mit nehm.

WAL TU ER RIEZLEIi.



1NI1ALTSVEHZEIC11NIS


DAS ALTERTIM (SCHLÜSS).


Die ttcaU Blutepenodc der griechischen Kumt 1

Allmincinc Churaku ristik der Periode 1

Die Darstellung des Faiiiilinileben» in den Orabrelicfs H

Der erwachsene Mensch und das Kind . ,_ , . . . , . . .  : . .  : .  : 17

Die jugendliche männliche Gestalt .... 2fl

Die hellenistische Kunst . . . . Ht>

Die Anatomie und ihr Kintlus-- auf ilic Skulptur . . . , . , , , . , .  !W

D<-r I.uiikmni- Kopf iKxkurs) . , I I

Die Gallier ... . ■ 4<>

JJie antike Miilcni >■ 1

Diu Knlw icklunu iUt Farbe , . *'>!

Ap"llod<m).-> iiml Zeuxi> . *>K

Di.' IVk-rresle. der antiken MalkmiM , . , . . , = , .  ; .  :  : ,  : .  :  : .  : hl

Exkurs über die historische Au*l. ^'hiil' der Alcxandcrschlacht . . . 112

Das (iorgnuenhaupt .... , 114


DAS MITTELALTER

Du Antipathie des jüdischen Volke* tl"J< n Hilda und ihre W tihumi a<tf ou (>• schichte da hinist 1_'7

D,e ,iltt l,i etliche bildend»- Kunst. Das < hnstluh, Mittelult-r . , , , ,  ;  :  : 1A!

Dur /.-il n.t.-li dein S(\j i ^ d.--. Heidentum-, Mi^hrtir 1 m  » mii' m tur « 1 1 > t> 1 1 1 ) . it ■ 1 . ■ KiiuM IM

Die .Skulptur uiul Malct.-i der Katakomben . . . l.'.ii

Allgemeine Charakteristik des Figurenstils im Mittelalter, namentlich im früheren .... 1>>1

Die tteelc als selbständige Figur Hi*

Das siliert Mittelalter in den nordischen Ländern 17t»

Die menschliche Figur in der .Skulptur der Gotik ibib ungcf'ihr y.um Jahre M<H>) .... 17f>

Die I 'arsti-lluug .Irr Individualität wahn-nd des .-paleivn >l 1 1 1 .■ ht 1 1 . i.-. 1 SS

Die 3lalerschule in Köln l'.fi

Di. niederländische HildliaucTsrhule in }!nri:Liii.l . . , _^ . . 1 '.'•">

Die niederländische Malerei von ea. 1 Um bis ra l'Ji i'OH

a Dio MalkunM und die glcicluriti-.T Skulptur .... -".'>

b't Das Streben nadi Idealitiit in dieser Schule ■ . . 'J)."»

c) Der Realismus . . 211

d) Kleidemacht und Nacktheit -1"'

e) Das Psychologische, der Ausdruck . .

Sehl 1188: (juüik'ii Maasys . . ■ tKM

Die mittcUdlerln he (irnhtitjur und ihre spatere Entwicklung ...... .__


- XII -


Das spatere Mittelalter Italiens 247

Pii' Vor-KcnaiSMUice in d.-r Skulptur: die l'isanor 247

Die Maler Cinialmc und GidUo '2'>.\

Realistische Motivo bei (liutto und ihre Entwicklung in der späteren Kunst (Exkurs) . . . 2">7


IHK N KU KHK /KIT.

Ihr modeine Humanismus, seine Kiitienklunii und Kulmination 'J'iT

Iii -toi iscli-t;eiigraphischcr ['inriss Verlaufs iiiul ih r Au^bn ilnnu ili;s nem r. n Humanismus lIT7

Genriuerc Cluinüleristik der Renaissance- Kunst und ihrer Hnuiitrriinisrntanien 2KK

Einzelne Werke der RenaisMincekutistler [Bruchstück) 321

Pollttjuolu 321

K:tlVi>p| ..... 323

Ti/ittn - - - Ü2M

Der Einßuss der huintiiitsttsclvii Kunst auf das übrige Eurt>\Ht 33>»

Der Verfall iles Humanismus in Italien selber 344

Sitanische Maler im siebzehnten Jahrhundert 3ÖO

Flandrische und Holländische Kunst an siebzehnten Jahrhundert 'M'A

Rnbcns 3(iH

Van Dyck 389

Die Holländer 3112

Zwei Bilder von Rcmbrandt . . . • • ■ , ■ . ■ , , ■ ■ . ■ . . . . . . SHi

Der deutsche Baltlm-ur UniiK'i ,  ;i',ts

Die Kunst Frankreichs im Zeitalter Ludwigs XIV. und Ludwigs XV 400

Der Xeu- Klassizismus . . . . . . . . , , . , , , . . , , , . , , Alti

Bückblick auf Nicola» Poussin — Louis David 41(>

txhluss des tjniifci\ , , , , , , , ,  : ,  :  : , , , , . . . , . . . . . . . . Lüi


VERZEICHNIS DER ABBILDUNGEN.


Tafel

Figur 1. Attisches Grabrelicf: Mann und Frau I

2. Attisches Grabrelicf: Mutter und Tochter . . , . , . , , 1

» 3. Altisches Grabrelicf: Zwei alte Männer bei der Mahlzeit,

während Charon kommt Ii

1. Attisi -lies Grabrelicf: Der Vater und der j untre Sülm . . . . M

» 5. Hermes mit dem Pionysoskindc von Praxiteles III

<>. Der Kideelisenlöler (Vatikan! IV

7. Herakles mit Tclcphos auf dem Ann (Vatikan) ...... V

8. Silen mit dem kleinen Dionysos (Louvre) VI

0. Der Nilgott (Vatikan) VII

> 10. Das Leukothen-Relief (Villa Albani, Rom) VIII

II Kirene und Plutos von Kephisodotos (München) IX

12. Mannor^i u[)pe einer Frau mit dem Säugling < Vatikan i . . . X

13. Campanische Statuengruppe (Papua) XI

14. Etruskischer Bronzespiegel i Berlin) X[

» 15. u. 10. Marinorkopf aus dem Tempel von Tcgea (jetzt in Athen) . XII

17. Praxiteles: Knp( des Hermes XII

» 18. Apoxyomenos (Vatikan) Xll

. 19. Junger Satyr (Kapitol) XIII

• 20. Ares Imdovisi .Kuml XIII

21 Huliender Hermes  : Hruli/eslal ue, Neapel! ... . . . Xl\r

> 22. Marsyas (Florenz) XIV

23. Der Borghesische Fechter (Uni vre) XV

. 24. Der Itorghcsischc Fechter (Kopf) XVI

» 25. Der Farnesischc Herakles (Neapel) XVII

» 26. Der Laokoonkopf (aus der Gruppe im Vatikan) XVI

> 27. Der sterbende Gallier (Kapitol) XVIII

» 28. u. 20. Der Gallier, der sein Weib und sich selbst töte! (Villa

Ludovisi, Rom) XIX u. XX


- XIV -

T.ifcl

Figur HO. Aphrodite mit dem weinenden Eros (Wandgemälde aus Pompoi) XXI

' 31. Meiden (Wandgemälde aus Pompeji XXII

112. Orestes und l'ylades ( 'Wandgemälde aus Pompoi) __ XXIII

33. Hermes mit Orpheus und Kurydikc i Kelief * XXII

31. Parins auf seinem Wagen uuis der AlcxanderschlachQ . . . XXIV

'.V*. Achilleus unter Lvkomedes Töchtern XXV

» 30 Achilleus und Hrisei* , XXVI

» 37. A|K)lkni um! Papline . . . X X V

■  :iS, Ares und Aphrodite XXVII

'.id. Ein junges Mädchen, das Winnen pflückt XXVII

i 10 Kim» Miiiiitde auf dem Kücken eines Kentauren XXVIII

II H.T«h:nilin , XXIX

\2. Bacchantin aul einem Meerpanlher XXV11I

I. 1. Perscus, der der Medusa das Haupt abschlägt (.Melopenroliel aus

■Selinunt) , , , , , , , , , , , , , , , . , , , XXIX

II. Modusa Kotuianini i München > . X X I X

IT). Die lote Mini i ticniine, London i . XXX

» 40. Die sog. Medusa Ludovisi 'Jloni; XXX

17 — 18. Modusonköpfo, Gemmen (London) XXX

» 4t). Der gute Hirte (Latcraninuscuin ) XXXI

> 50. Das jüngste Gericht yAuluni XXXI

51. Kelief aus den Exlern-Stcinen \ Wcstphalcn) . X X X 1 1

» 52. Der Triumph des Todes (Ausschnitt, (.ainpo Santo in I'i-a. XXXII

53. Grabstein des Presbyters Prunn i. Hildesheim i XXXIII

51. Portalliguren der Kathedrale zu Chartres, Westseite . . . . XXXIII

> 55. Portalliguren der Kathedrale zu Chart res XXXIV

."»Ii, Die heilige Modor-ta i Kathedrale zu ( Iharl res . . . XXXI V

57. Der Prophet Daniel (Pom zu Freiberg i S.) X X X V

5S. Kruxilix in der Kirche zu Wechselhurg XXXV

5t). Der Engel Gabriel und Muria 1 Kathedrale zu Heims) . . . . XXXV

» 00. Grälin Haha iDoin zu Naumburg) XXXV

> 00a — 00h. Ein kurlisierendes Paar Dom zu Pasel i XXXVI

> 00c. Statue Konrads III. 'Hamberg; . . XXXVI

» Ol. Königliche Figur i Keimst _ . . XXXVII

» (\2. Pertrand du Gnesrlin, Giabligur (St. Penis i XXXVII

» Q.'l. Veronika mit dem Schwcisshich, Wilhelm von Hörle (London; XXXVII

> Ol. Kölnische Schuh?. Die Madonna mit der Pohnenbliite (Köln) . XXXVIII » <£>. Die heilige l'isula und ihre Jungfrauen j Kölner Dombild) . . XXXVIII

<>'». Maua im lhi^eidiag Kolm , XXXIX

» 07. Die heiligen drei Könige, Dombild (Köln) XL

OS. Grabmal für Johann den Unerschrockenen von Burgund und

Margucrite von Hävern iDijon) XLI


- XV -

T.il.-I

Figur <>'•>. Moscshruniicn in Cliainpiiml lici Dijon . XLII

- TU. Moses XLUI

Tl. Zacharias XI. III

■ 72. David M.III

~'-'> Jeremias ,  ; .  : , , XLiil

74- Dame! und K-.i,;i- . . . __ XI.IV

75. Hciin-ur ■ , L . , X1.IV

~i' I* hanncsaltar in der St. Bavo- Kirche Gent) . XU V

77. Hubert van Eyek, Der thronende Gull iSl. Havo-Altar, Genh XLV

7S. Zeus von Otricoli i. Vatikan i. . . XLVI

70 Hubert van Eyek. Die heilige Jungfrau i.St. Bavo-Altar, Gent i XLVI

80. Hubert van Kyck. Spielende Engel i Genter Altar. Merlini XLVII

Hl. Hubert van Eyek. Singende Engel  »Gentcr Altar. Merlin). . . XLVII

82. Jan van Evek, Gattin de* Künstleres 'Brügge? XI, IX

X\. Jan van Eyek, Die Madonna des Kanzlers Mollin (Eouvre) . . XI. VIII

» 84. Jan van Eyek. Die Madonna von Lucca [Frankfurt a. M.t XI. IX

> KQ. Jan van Evek, Die heiligen Einsiedler [ Genter Altar, Merlin) . L

SO. Jan van Eyek. Jean Arnollini und Gattin. (Eondon i . . . . El

S7. Gerard David, .Madonna von einer Schar heiliger Frauen

umgeben. (Rouen) • . . . E|

88. Jan van Evek, Die Streiter Christi (Genter Altar. Merlin? Ell

80. Jan van Eyek, Die gerechten Richter 'Genier Altar, Berlin) EMI

IM), van Eyek, Adain (Gunter Altar, Brüssel) EIV

Dl. van Eyek, Eva (Genter Altar, Brüssel' . ■ - , . EIV

Memling, Pas jiing.Mc derielii ■l):m/iufi ■  : ■__ UV

»  !KI Hieron. Bosch, St. Michaels Kampf mit den bösen Engeln (Brüssel). EV

» Ol. Roger van der Wevden. Die Kreuzabnahme (Madrid) . . . . EVI

05. Jan van Evek, Madonna mit dem heiligen Domitian < Brügge» . EVI

> {.Hi. Die van Eycks, Anbetung des Lammes (Ausschnitt, Altar in Gent i . LVIII

» 1)7. Mümling, Verlobung der heiligen Katharina i Brügge i . . . . L VII

t>8. Mümling, Männerporträt ^Frankfurt i . . LVIII

■  !>0. Dierick Bouts, Das Martyrium des heiligen Erasmus (Löwen) . LEX

lo<i Mogci' van di r Wcydcn (/? j, Das Scbwcisstuch der Veronika

(Antwerpen) . . EX

» 101. Quinten Massys, Die Grablegung (Altarbild. Antwerpen) EX

102 — HKS. Quinten Massvs, Gastmahl des Hemdes und Johannis

Martyrium v Altarlliigel, Antwerpen,! LXI

101. Quinten Massvs. Bort rät eines Gelehrten (Frankfurt) LXI

105. Agoslino Busti, Gaston de Foix (Mailand) LXII

» 1(X). Gerniain Bilon, Hemneh II. und Katharina von Mcdici (St. Denis) . LXII

1(17, Louis de Lre/e Linien i I.XIII

■ 108. Stagio Stagi, Filippo Decio il'isn I.XIII


— XVI —

T.ifi I

Figur 100. Jean Cousin, Philippe <lc Chahot (Loh vre) LXIll

HO. Ryshnvk, Neu lim (Westminsler l LXIV

■ III Pigalle, Haremui l Nolre-I  »ante 1 • . . . LXIV

112. Nie. lJisano, Madonna und die heiligen drei Könige (Pisa). . LXV

> 113. Nie. Pisano, Darstellung im Tempel (Pisa) LXV

> II I, Giovanni Pisano, Weibliche Figur ( «Temperantia^ ) (Pisa) . . LXVI

> 115. Giovanni Pisano, Herkules (Pisa) LXVI

> HO. Giovanni Pisano, Der Kindcrmord in Bethlehem (Pistoja) . . LXVI

117. Loren zo Mailand?), Adam und Eva (Orvieto) LXVH

1 18. Lorcnzo Maitani (Vi, Die Toten, die aus den Gräbern auferstehen . („XVII

119. Giiuabue, Madonna Hurellai (Sta. Maria Novella, Florenz) LXVIII

> 120. Duecio, Madonna (Siena) LXVIII

> 121. Giollo, Madonna (Akademie, Florenz) LXIX

122. liiolli». St. Kian/iskns vermähl! sn-h mit der Aniiul i Assisi: . LXVIII

123. Michelangelo, Lorcnzo Medicis Grabmal mit 'Morgen«  und

- Abend- (Florenz) LXX

124. Michelangelo, Badende Soldaten (Ausschnitt nach dem Kupfer- stich) LXX

125. Manlegna, Deckengemälde (Manlua) LXXI

> 120. Leonardo, Gruppe aus dem <■ Reiterkampf* (nach Hubens'

Zeichnung l.XXI

> 127. BatTael, Der Jüngling aus -Marias Verlöbnis» (Mailand) . . LXXII

128. Raffach St. Georg mit dem Drachen ( Zeichnung, Florenz! . . LXXII

. 129. Ramtel, Angelo Doni ( Florenz \ LXXII

KU). Ralfiiel, Selhslporlräl i Florenz i LXXII

LSI. Ramtel. Disputa (Ausschnitt, Valikan: LXXIII

» 132. Ramtel, Disputa (Ausschnitt, Vatikan) LXXI1I

> Ramtel, Die Schule zti Athen (Ausseht»!!, Valikau) .... LXXIV

134. Tizian. Venus und Adonis (Madrid) . . . , . , LXX V

IM.") Tizian, Der Sündcnl'all i. Madrid i. LXX VI

» 136. Tizian, Prometheus i nach der Zeichnung von S. Kroyer, Madrid) . LXX VII

» 137. Tizian, Der Zinsgrosehen (Dresden) LXXV1H

138. Tizian, Diebeiden Frauen am Brunnen (Gallerie Borghesein Rom) . LXXVII1

> 130. Albrecht Dürer, Ritter, Tod und Teufel. Kupferstich . . . . LXXIX 140. Lucas Cranach, Venus und Amor (Kopenhagen) LXXX

111. Bernini, Apollo und Daphne (Palazzo Borghese, Rom) . . . LXXX1

112. Ribera, Die Grablegung (Louvre) . . . LXXXI

■ 1 13. liihera. St. Pitulus iLouvrci LXXXll

144. Ribera, Sl. Onufrius (Kopenhagen) LXXXll

145. Ribera, St. Sebastian (Berlin) LXXXIII

» 140. Ribera, St. Barlholomäus (Madrid) LXXXIII

117. Velasquez. Bacchus unter Trinkern (Madrid i ...... 1, XXXIV


- XVII -

TiilH

Figur 148. Vclasqucs, Apollo in Vulkans Schmiede (Madrid) LXXXIV

> 149. Velasquez, Die Tapetenfabrik (Madrid) LXXXV

• 150. Velasquez, Christus am Kreuz (Madrid) LXXXV1

151. Velasquez, Die L'ebcrgabc von Breda (Madrid) LXXXV

» 152. Bubens (statt Mmillo), Christus um Kreuz LXXXVI1

151). Ruhens, Atalanlc um! Mcleagcr (München ) LXXXVI

154. Bubens, Stur/ der Verdammten (München) LXXXVIII

155. Bubens, Die Dioskuren rauben Leukippos' Töchter (München) . I, XXXIX

• 15G. Bubens, Abt Irselius (Kopenhagen) LXXXIX

157. Bubens, Bacchanal (München) XC

l.">s. Bnlx'iis, Der I- nichtkran/, , München i XC

150. Van Dyck, Christi Verhöhnung (Berlin) . . XCI

U><>. Van Dyck. Der I .eirlniani Christi illcrlun XU

101. Bembrandl, Danac (St. Petersburg) XCII

• 102. Bembrandl, Die heilige Familie (St. Petersburg) XC.HI

• 103. Bigaud, Ludwig XIV. (Loiivre) XCIV

104. Friedrich V. Nach einem (icmälde auf liatinö (Dänemark) . . XCV

K>5. Friedrich IV. Alahasler-Kignr auf Schloss Bosen borg X( iV

100. (I. Coustou, Ki'xiigin Maria Leezinska als Juii" X( ,V

107. Coysevox, Die Herzogin von Motirgogne als Diana (1710) . . XCV

108. N. S. Adam, Prometheus (1702) XCV

UV.). Pmissin, Bauh der Sabincrinnen iLnuvrci ... XCV1

■ 170. Poussin, Davids Einzug ( Dulwieh-Gallcric, London) . . . . XCVII

171. David, Die Sabinerinnen (Loiivre) • . . . . XCVII

172. David, Der Schwur der Horatier (Louvie) XI ' VIII

173. Gemälde nach Davids Kniwurf: Die F.idesablcgung im Ballhaus (Versailles, Ausschnitt i . . ■ XCVIII


HKHJGHTIGUNGEN.


Seite 44

Zeile 11

von

unten ist Fig. 2*1 einzuschalten.

oben lies Fig. '»Ort iitiil l'>Ob statt Fig. til und *>-2.

» 21

von

, ]S8

» 22

von

oben lies Fig. 00c statt 60.

f l'.tt

» 3

von

unten lies Fig. (>l statt Fig. K3.

  • IM

» 3

von

oben lies Fig. i]'.'. statt Fig. (14.

. ^i;,

• 1

von

oben ist Fig. zu streichen; Zeile 11 von oben lies Fig. 7* > statt Fig. 77

and Zeile Ii von nnten lies Fig. 77 statt Fig. 78.

• «07

• 1

von

oben ist Fic. 78 einzuschalten.

• m

• t»

von

unten lies Fig. H"i statt Fig. 84.

. om

• 1

von

oben ist Fig.  ?S4 einzuschalten.

• 221»

• 1

von

oben ist Fig. H4 zu streichen und Zeile II von oben lies Fig. Hl statt Fig.  :>'>.

. 8»

» 13

VOM

unten lies sehend statt sehen.

» ssri

. h;

von

oben lies Stadium statt Studium

» m

. 1!

von

unten lies kam statt sah.

»  ;»7

» 12

von

oben lies Fig. 12ti statt Fig. 127. oben ist Fig. Il'T einzuschalten.

» 324

» fi

von

» 331

> 14

von

unten ist Fig. IMS einzusehalten.

• 3«>2

• 14

von

nuten ist Fig. 1,'rJ zu streichen, da diese Abbildung irrtümlich aus der

dänischen Ausgabe als Kruzifix des Murillo übernommen wurde.

•  ;wa

. 2

von

oben lies der üblichen statt derselben.

» 433

» 1

von

oben lies jedenfalls nur insofern innerhalb desselben.

. 43« 

» lf>

von

oben lie* ilfiti Kailnn *t.Att dar Sailen.

, I4i)

• 2

von

oben lies der Darstellung statt ihrer Darstellung.

• 447

• 17

von

oben lies den eingekochten statt ungekochten; Zeile 3 von unten lies als

e r früher hatte und Zeile ."> von unten der Inhalt statt den Inhalt.


DAS ALTERTUM

(SCHLUSS).



D1K ZWEITE BLÜTEPERIODE DER. GRIECHISCHEN KUNST.

(I>AS VIERTE JAHRHUNDERT VOR CHR.)


ALLGEMEINE CHARAKTERISTIK DER PERIODE.

Man teilt die Geschichte in Perioden ein, — aber was heisst eine «Periode»  ? Diejenigen, die selber die Geschichte des Altertums erlebten und ihr Meer befahren, empfanden wohl den Wechsel der Zeiten, merkten aber doch gewiss ebenso wenig von den Grenzen der Perioden wie die Seeleute von dem Aequator oder den Wendekreisen etwas merken, wenn sie sie passieren. Die Wellen des Ozeans kennen keine Grenzen. Und die Linien, mit denen man die Oberfläche der Erde einteilt, haben doch noch eine mathematische Regelmässigkeit und Deutlichkeit, wie sie die historischen Grenzen niemals erlangen können, wenn sie einigermassen dem entsprechen sollen, was wirklich geschehen ist. Endlich ist die Geschichte der Kultur und der Kunst noch weil schwieriger einzuteilen als die politische: Selbst die grössten äusseren Ereignisse beeinflussen sie nicht gleich so, dass sie eine deutliche Querteilung angeben. Wo Entwicklung ist, da ist auch ein unregelmässiges Wachstum, eine ununterbrochene Strömung. Die Fäden in dem Gewebe der Geschichte reichen weit zurück und greifen so ineinander, dass man sich nie ganz klar darüber wird, wo der Abschnitt gemacht werden muss.

Den bestimmtesten Eindruck davon, welchem Zeitraum die Geschichte einen Stempel von deutlichem und besonderem Charakter aufgedrückt hat, erhält man wohl, wenn man die Dinge aus der grossesten Entfernung betrachtet, oder indem man — wie bei der Reurteilung der Farbentöne und Valeurs eines Gemäldes — die Augen halb zukneift, um alle Eindrücke von Einzelheiten zu entfernen, und nur die Farbenmassen einander gegenüber sieht. Wenn man auf diese Weise die Geschichte der griechischen Bildnerci überschaut, sieht man zuerst die archaische Kunst vor dem Jahre 500 als gesammelte Masse mit den deutlichsten Merkmalen. Darauf taucht nach einem Ucbergang die Kunst des Phidias und Pol y kl et auf mit ihrem ganz ausgeprägten Charakter, den wir in dem vorhergehenden Bande

1



- 2 -


zu schildern versucht haben.1 Ferner nach einem weniger deutlichen Uebergaug abermals die ungefähr sechs oder doch vier mittleren Jahrzehnte des vierten Jahrhunderts (Skopas, Praxiteles, Lysippos) mit einem so eigen- artigen und von der vorausgehenden Periode so verschiedenen Charakter, dass nicht viel üebung dazu gehört, um die Erzeugnisse dieser beiden Perioden von einander zu unterscheiden. Diese Deutlichkeit im Charakter der ganzen Periode ist eine grosse und wichtige Tatsache, die niemals ausser Acht gelassen werden darf bei der Hetrachtung der Vielfältigkeit der Nuancen in dem gemeinsamen Farbenton, die man entdeckt, wenn man näher hinzutritt und genauer zuschaut, und die natürlich von den verschiedenen künstlerischen [Höhlungen, Schulen, Individuen herrührt, die sich innerhalb der Periode geltend machen. Die kennen wir nur sporadisch und völlig unzulänglich, um sie durchgehend» aus einander zu halten und sie als geschlossene Einheiten zu schildern. Was wir wirklich kennen, ist — ausser den einzelnen Werken — nur der allgemeine generelle Charakter der Periode, der Zeitgeist mit seinen ideellen Forderungen, an denen das Publikum wie auch die Künstler selber beteiligt waren. Den sollten wir studieren.

Wo die Anfangsgrenze für diese Periode zu setzen ist, das ist sehr schwer zu sagen. Kennten wir etwas von der grossen Malerei vom Ende des fünften Jahrhunderts — Zeuxis, Parrhasios, Thimauthes u. s. w. — , so würde sie sich unserer Anschauung nach möglicherweise besser mit dem vierten wie mit dem fünften Jahrhundert verbinden. l'eberhaupt war die Zeit des peloponnesischen Krieges eine Gührungsperiodc, in der viel Neues vorbereitet und begonnen wurde, und die wir erst aus späteren Entwicklungsstadien kennen, so weit sie nicht ganz für uns ver- loren ist. Auf der andern Seite sind uns aus derselben Zeit Werke erhalten, die deutlich der Richtung des Phidias und Polyklel angehören und die wir mit Hecht zur Charakterisierung derselben benutzt haben. 1

Und noch schwieriger ist es, eine Schlussgrenze für die Kunst des vierten Jahrhunderts anzugeben. Es mag leicht genug sein, auf die grossen, schnell auf- einanderfolgenden Zeitereignisse hinzuweisen, die sich an die Namen Philipps und Alexanders knüpfen: die Unterjochung des republikanischen Griechenlands, die Er- oberung Asiens und Aegyptens, die Errichtung der neuen Monarchien. Hier ist eine so deutliche Grenzscheide in der politischen Geschichte gegeben, wie man sie sich nur wünschen kann, und unbestreitbar erhielt die Kunst neue Bedingungen, unter denen sie arbeiten konnte. Dass dies auch dazu beitrug, ihren Charakter zu ver- ändern, soll später nachgewiesen werden. Und doch tritt der Gegensatz zwischen den beiden Hauptperioden in der entwickelten hellenischen Kunst — der Kunst des fünften und vierten Jahrhunderls — viel deutlicher hervor als der Unterschied zwischen der letzten hellenischen Periode (dem vierten Jahrhundert) und der nach- folgenden «hellenistischen». Es ist weniger die Rede von einem eigentlich neuen Stil und neuen Initiativen als von einer extremen, zuweilen sehr extremen Ent-


> lu Jul. Lun^e «I>uri>tellung des Menschen»


i i


— 3 —


wicklung dessen, was schon im vierten Jahrhundert herrschend war. Will man nicht fingierte kunstgesehichtlichc Gren/.en aufstellen, die keine Begründung in dem haben, was man weiss, oder mit seinen Augen und seinem künstlerischen Sinn auffassen kann, so wird es in der Regel unmöglich sein, scharf zwischen der Kunst vor und nach Alexander zu sondern. Was sicher der Zeit nach ihm angehört — und darunter beiluden sich allerdings sehr wichtige Kiseheinungcn — wird später besonders behandelt werden ; aber wir nehmen keinen Anstoss daran, in diesem Abschnitt, der von dem vierten Jahrhundert handelt, in mehreren Punkten die Kunst der späteren Zeit mit in die Betrachtung zu ziehen.

Neue Aufgaben und Richtungen in der Darstellung des Menschen im vierten Jahrhundert

Wenn ich nun hervorheben soll, was den wesentlichen Unterschied zwischen dem künstlerischen Charakter des fünften und dem des vierten Jahrhunderts ausmacht, so will ich als Ausgangspunkt benutzen, was Xenophon in seinen Nachrichten über Sokrates (Memorab. III, lOy über dessen Unterhaltungen mit Künstlern mitteilt. In der einfachen Sprache des Mitteilens werden hier eine Menge Dinge geäussert, von denen ein moderner Leser vielleicht glaubt, dass er sie nicht von «einem Geist aus den Gräbern«  zu lernen braucht; liest man sie aber mit kunslgeschichtlichen Vorkenntnissen und mit dem Hinblick auf die Entwicklungsstufe in der Kunst, die der Zeit des Sokrates eigentümlich war, da fühlt man, dass es bahnbrechende Worte sind, wichtig und interessant in jedem Punkt und Samenkörner für neue Frucht.'

Xenophon erzählt also hier von Sokrates :

«Selbst wenn er mit Künstlern und Handwerkern über die Hantierungen sprach, auf die sie sich verslanden, und die sie ausübten, nützte er ihnen durch seinen lehrreichen Unterricht. So ging er einmal zu dem Maler V a r r h a s i o s und liess sich auf folgende Unterhaltung mit ihm ein  :

Nicht wahr, Farrhasios, das, was die Malerei darstellt, ist ja das, was man sieht; es sind Eigenschaften an den Körpern, die ihr mit Hilfe von Farben darstellt, wie das Vertiefte und das Erhabene, das Harte und das Weiche, das Rauhe und das Glatte, das Junge und das Alle. Ja, ganz Recht.

Aber wenn ihr nun davon ausgeht, schöne Gestalten darzustellen, und da es nicht leicht ist, alles fehlerfrei an einem einzelnen Menschen zu linden, sammelt ihr da nicht von vielen, was bei jedem am schönsten ist, damit der ganze Körper auf diese Weise schön erscheinen kann? Ja, so machen wir es.

Aber nun in bezug auf die Seele: Stellt ihr auch deren Wesen und Eigen- schaften so dar, wie es am gewinnendsten und einnehmendsten und liebenswür- digsten und Sehnsucht und Liebe erweckendsten ist  ? Uder lässt sich das nicht darstellen V

' Vergl. des Verfassers früheren Hinweis hierauf in «Darstellung des Menschen» S.  :t4 —  :i~>.



Ja, wie sollte man das sichtbar darstellen, was überhaupt nicht sichtbar ist, und was weder Proportionen noch Farbe, noch irgend welche von den Eigenschaften hat, die du vorhin nanntest?

Ja, aber kommt es denn nicht vor, dass ein Mensch andre zuweilen freundlich und zuweilen feindlich ansieht V

Ja, das sollte ich meinen.

Kann man das denn nicht in seinen Augen darstellen? Ja, sehr gut.

Aber wenn nun Leute beobachten wie es ihren Lieben ergeht, kann man da nicht einen Unterschied in ihren Gesichtern sehen, je nachdem sie sehen, dass es ihnen gut oder schlecht ergehl  ? Sehen sie ihre Freunde glücklich, so sehen sie froh und munter aus; und wenn sie sie im Unglück sehen, wird ihr Ausdruck finster ; und sollte es nicht möglich sein, dies durch Nachbildung darzustellen?

Ja, freilich.

Und nun die übrigen Eigenschaften der Seelen : Der Edelmut und das Freie, und auf der andern Seite das Niedrige und Sklavische; und ferner das Sittliche und Sinnige und im Gegensatz dazu das Freche und Geschmacklose — zeigt sich das nicht im Gesicht und in der Stellung, mag nun ein Mensch stille stehen oder sieh bewegen ; und sollte sich das nicht darstellen lassen  ?

Ja, allerdings.

Und welche Art Menschen meinst du, mögen wir am liebsten sehen  : Die, in deren Aeusserem sich ein schöner und guter und liebenswürdiger Charakter offenbart, oder die, bei denen man einen hässlichen, boshaften und schlechten sieht?'

Das macht allerdings einen grossen Unterschied, Sokrates.»

«Ein anderes Mal begab er sich zu dem Bildhauer K I e i t o n und hatte folgende Unterredung mit ihm :

Dass du es verstehst, in deiner Kunst Läufer und Ringer und Fausl kämpfen und Pankratiasten in ihrem Unterschied von einander zu charakterisieren, das sehe ich, und das weiss ich. Was aber in Sonderheit durch das Gesicht zu der Seele des Menschen redet : dass die Gestalten lebend erscheinen, wie legst du das in die Statuen hinein?

Als Kleiton sich besann und nicht sogleich anwortele, sagte Sokrates : Be- wirkst du nicht, indem du die Gestalten der lebenden Personen nachahmst, dass deine Statuen mehr lebend erscheinen?

Ja, ganz recht.

Also indem du die Teile nachahmst, die sich bei den verschiedenen Stellungen im Körper heben und senken, die, die sich zusammenbiegen, und die, die sich aus- strecken, die, die sich spannen und die, die erschlaffen, bewirkst du, dass deine Ge- stalten natürlicher und individueller erscheinen.


' Piaton  : «Falls die Tagend in ihrer ganz.cn Schiine von dem menschlichen Auge erschaut werden konnte, müsste jeder, der sie sähe, cnt/.ückt und verliebt in sie scin.>



5 -


Jawohl.

Gewährt es nun aber dem Beschauer nicht ein wenig Vergnügen, wenn man den Seelenzusland in den Körpern während irgend einer Handlung darstellt? Ja, das ist natürlich.

Sollte da nicht die Kunst den drohenden Blick des Kämpfenden und das frohe Antlitz des Siegers nachahmen? Ganz recht.

Es wird also eine Aufgabe für den Bildhauer, in der Gestalt die Wirksamkeit der Seele darzustellen.»

Wie man sieht, fordert Sokrales von der Kunst den Ausdruck «1 e s Seelenlebens. Kr ist in dieser Sache natürlich nur ein Dolmetscher für das gewesen, was sich in der Zeit regte, und es ist nicht wahrscheinlich, dass die be- deutenderen Künstler in diesem Punkt des Fingerzeigs des Philosophen bedurft haben sollten, und dass ihnen selber alle Initiative gefehlt haben sollte. Aber es gehört nun einmal mit zu dem Stil, in dem Xenophon und Piaton die Unterredungen ihres Meisters wiedergeben, dass er selber als absolut überlegen auftritt, und der, mit dem er spricht, häufig nur bejahend zu einem jeden seiner Sätze nickt. Und ganz ohne Bedeutung ist es wohl auch nicht, dass gerade er dem Ausdruck in der Kunst das Wort redet. Kr war ja vor allen andern der Entdecker der Subjektivität, und niemand kannte wie er der Zukunft erlösenden Einlluss auf die Entwicklung des geistigen Lebens. Seine Worte wurden prophetisch für die Kunst der Nachwelt durch Jahr- hunderte.

Sokrales will nun freilich keineswegs die Maler- und Bildhauerkunst ihres kör- perlichen Programms berauben. Er geht im Gegenteil — gesund und echt griech- isch — davon aus, dass die Grundlage für die Wirksamkeit der bildenden Kunst in Folge der Natur der Sache und der ganzen früheren Entwicklung auf dem Körper- lichen beruht. Dass die Bildhauer verstehen, körperliche Typen  : Läufer, Faust- kämpfer u. s. w. in ihrer Verschiedenartigkeit untereinander zu charakterisieren, — das weiss man im Voraus, und darüber ist nichts mehr zu sagen  ; jetzt muss aber eine Fronlveränderung erfolgen, jetzt gilt es den Ausdruck der Seele in Antlitz und Auge! Darin liegt doch ganz klar, dass das Interesse für das Körperliche als solches ein wenig in den Hintergrund gerückt wird. Namentlich musste diese Gedankenbe- wegung schwächend auf das Interesse für das Athletische, die höchste Entwicklung der Kraft und Brauchbarkeit des Körpers wirken, die gleich von Anfang an die treibende Kraft in der Entwicklung der bildenden Kunst gewesen war. Und es liegen mehrere Andeutungen vor, dass dieses Interesse allmählich von den Athenern oder doch jedenfalls von dem vorgeschritteneren Teil derselben als halbwegs über- wundenes Stadium betrachtet wurde : man brach nicht damit, aber man wollte höher hinaus. Aristophanes beschuldigt ja Sokrates selber, eine dialektische und disputierende Jugend grossgezogen zu haben im Gegensatz zu den Pferdelieb- habern und Gymnastiken!, die nach den alten Traditionen lebten. Xenophon klajrl darüber, dass die Athener zu seiner Zeit die Hebung und die Abhärtung ihrer Leiber



_ 0 -


versäumen, ja sogar über diejenigen lachen, die sich dessen belleissigcn tMemorah. Soor. Hl, ä). Kuripides ist unwillig gestimmt gegen diese ewig gepriesene Athletik und zweifelt daran, dass sie von wirklichem Nutzen ist: hat man jemals einen Mann seine Stadt mit einem Diskus in der Hand verteidigen sehen? Es war jetzt zur modernen Belustigung geworden, einem Wortkumpf beizuwohnen, wo man einander mit dialektischen Spitzfindigkeiten ein Hein stellte, und viele zogen diesen einem Ringkampf vor, wo es sieh darum handelte, Arme und Heine zu gebrauchen.

Hierüber darf man jedoch nicht vergessen, dass die gymnasiischen Fehiingeu viel zu tiefe Wurzeln in Privatleben und Gewohnheiten der Griechen, in ihren öffentlichen, nationalen und religiösen Institutionen geschlagen hatten, als dass man den Glauben an ihre Hedeutung und ihre Ehre und ihren Huf auf einmal hätte verdunkeln können, — nicht einmal in Athen, geschweige denn unter dem dorischen Volk, l'nd für die Kunst war es ein Glück, dass ihre solideste Grundlage nicht unter ihren Füssen schwankte. Wie die Interessen für das Seelische und für das Körperliche so zu sagen miteinander konkurrierten, das historisch richtig aufzufassen, ist eine schwierige Sache. Einen der wichtigsten Heil rüge dazu hat man in der Kunst dieser Periode gegeben, nämlich in ihrer Darstellung der jungen, männlich entwickelten Gestalt, die wir deshalb in einem folgenden Abschnitt auch genauer betrachten werden.

Dass Sokrates mit seiner Forderung seelischen Ausdrucks auf eine Lücke hingewiesen hat, die die ältere Kunst mit all ihrer Grösse und Schönheit wirklich noch offengelassen hatte, darüber werden sich moderne Betrachter leicht einigen. Aber man muss sich hüten, diese Sache auf allzu moderne Weise aufzufassen: es geht nicht ohne weiteres an, den seelischen Ausdruck als eine ganz neue Entdeckung ent- weder des Sokrates selber oder seiner Zeitgenossen oder Epigonen anzusehen. Wir haben ja auch im Vorhergehenden von dem Seclmiausdruck in der älteren Kunst gesprochen: von der lächelnden Selbstzufriedenheit der archaischen Gestalten, von dem hoheitsvollen Ernst und «1er Scham im fünften Jahrhundert. Es liegl durch- weg auch über den älteren Figuren eine seelische Stimmung: wären sie Körper ohne Seele gewesen, hätten sie ja die Maske des Todes gelragen und wären ab- stossend und unheimlich gewesen. Was es war, was Sokrates eigentlich verlangt, und was die neue Zeit vollzieht, verdient deswegen eine genauere Untersuchung.

Die archaische Kunst, namentlich die statuarische, hatte sowohl Seele als Körper steif dargestellt, ohne Veränderung und Bewegung: erst durch den grossen Umschwung in der Kunst um das Jahr ">IM) erhielt der Körper seine Beweglichkeit, die von einer Einheit, einem «Ich-, zusammengehalten wird. Man lernt jetzt die Siellungen der Figuren in Cebereinstimmuiig mit der Wirklichkeit als vorüber- gehend aufzufassen, sogar als veränderlich von einem Augenblick zum andern, und die Kunst stellte die Gestall ja nur in einem einzelnen Augenblick dar. Ihren Höhepunkt erreicht diese Auffassung in einer Figur wie Myron's Diskoswerfer, die die schnellste Uebergangsbcwegung wiedergibt, im übrigen aber auch in manchen andern Werken des fünften Jahrhunderts. Man kann nicht leugnen, dass



— 7 -

hierin gewissermassen ein seelischer Ausdruck liegt, nämlich in Hern Sinne des Bewusstseins, das der Mensch, das Ich, von dem Zweck der Bewegung und den Mitteln als lebende Maschine hat ; das Altertum aber meinte trotzdem mit Recht, dass Myron, so interessant er in bezug auf das Körperliche war, doch das Gefühl der Seele nicht ausdrücke (corporum lenus curiosus animi sensus non expressisse). Die Miene bleibt auch vollkommen ruhig, spiegelt nicht das innere Gefühl der An- strengung wieder oder den Genus» an derUebung, die Hoffnung auf einen glücklichen Wurf oder dergleichen. Während der Körper das vollste Mass der Beweglichkeit erhallen hat, ist die Seele hier noch steif.

Indessen wird die Seele — man findet davon auch eine Andeutung in Sokrates' Worten an Parrhasios — nicht allein durch die Miene des Gesichts ausgedrückt, die ja selbst nichts weiter ist als Modifikationen in der Stellung der Gesichtszüge, sondern auch ausserdem noch durch die Haltung des Körpers, des Rumpfes und der (ilieder. Sowohl in der Körperslellung als auch in der Miene beruht der Ausdruck für das Gefühl so zu sagen auf einem Ueberschuss von Modifikationen, die in keinem praktischen Zweck aufgehen, wie das bei dem Diskuswerfer der Fall ist, wo alles auf die Mechanik des Körpers hinausläuft. In andern Figuren des fünften Jahr- hunderts liegt, ohne Rücksicht aur die Miene im Gesicht, ein wirklicher Ausdruck in der Haltung und der Bewegung des Körpers. Selbst noch in ihrem koptlosen Zu- stand geben die Giebelfigurcn des Parthenon dem Erstaunen der Seele und dem heiligen Verwundern Ausdruck; und trotz der vollkommenen Buhe der Mienen ge- langen die Stimmungen der Seele in manch einem Belief oder auf einem Vasen- gemälde aus dem fünften Jahrhundert zu einem herrlichen Ausdruck. Ks ist über- haupt ein wichtiger Zug in der Geschichte des seelischen Ausdrucks, dass derselbe durch die grösseren Linien des ganzen Körpers früher zum Bewusstsein gelangt als durch das feine Formenspiel des Gesichts, — im Gegensalz zu der Gegenwart, nament- lich unter den Nordländern, wo fast der ganze Ausdruck durch die Mienen wieder- gegeben wird, während der Körper im übrigen so steif und unbeweglich ist, und so träge mitempfindet.

Und dies gilt nicht allein von Kunstwerken, sondern hat auch seine Begründung in dem wirklichen Leben selber. Die Südländer sind weit beredter mit dem ganzen Körper als die Nordländer und die Menschen im Altertum sind es sicher noch mehr gewesen als die der Jetztzeit. Aber in der älteren Zeil in Griechenland ist diese Beredtsamkeit unter strenger Zucht gehalten Wenn Ferikles, der grosse Repräsentant des athenischen Anstandes, auf der Rednertribüne stand, war seine Miene unbeweglic h ( TTpoiw-'/j GVGTCtst; iÜpuiTTö; «•!; ys).toT5i 3t*l irpaoT«? roftut: v.x\ xaTa<jT0>.7; 7T£fi£:o)>r; r.y,- r/jftiM txTaparrötJiiV» ra'Oo; tv  :w ).e'y«iv xat ir>.a<i;xa fMvr; aWpViv).' Die Haltung des Gesichts war noch strenger als die Miene, ja, die spartanischen Jünglinge sollen die Augen nicht mehr bewegt haben als ein Bronzebild. Line stark modifizierte Miene stand in völligem Widerspruch zu den SehünhcitsbegrifTen des Zeitalters.

1 Vergleiche die geistvolle Anmerkung l zu § HKS in K. 0. Müllers Archäologie.



— 8 —


Die Absicht damit war, «d i e v e r n ü n f t i g e und ruhige (! p m ii I s- Stimmung auszudrücken, die sich immer gleich bleibt», die der wahre Adel des Menschen ist, auf die der grosse Haufe sich aber nur wenig versteht, »weil sie ihm völlig fremd ist» (Piatons Staat X). Es ist das stille Wasser auf dem tiefsten Grund des Meeres im Gegensat/, zu dem oberen, -leidenschaftlichen und Wechsel reichen Teil der Seele», der von allen Stürmen bewegt wird. Diesen Geist sollte der Mensch nähren und, durch das ganze öffentliche Leben mit seiner den Menschen auferlegten Verpflichtung, sich gegenseitig zu erziehen, ihn auch für andere zur Schau tragen. Dass sich die Seele in allen äusseren Wechselfällen des Lebens selbst gleich bleibt, ist eine Forderung an den Menschen, eine Idee, die ihre grosse Schönheit und Würde besitzt. F.s ist der Stolz, das Ehrgefühl, die Zuverlässigkeit der Seele, die ethische Forderung, die besonders charakteristisch Tür die Menschen der Antike ist und der die Menschengestalten der antiken Kunst die unvergleichliche sichere und vornehme Haltung zu verdanken haben, die alle späteren Zeiten erbaut und ihnen imponiert hat.

Und doch liegt hierin etwas, was im Namen der Mehrheil berichtigt werden muss, weil es eben nur eine Forderung war, eine Idee, die keine wirkliche Gewähr in Psychologie und Erfahrung hat. Der Mensch kann sich keinen Teil seiner Seele als unveränder- lich und unberührbar vorbehalten : nur wo Veränderung ist. ist in Wirklichkeit Seele. Wenn man noch lange fortgefahren wäre, jene unnahbare, unveränderliche Miene, wie sie uns aus den Gestalten des fünften Jahrhunderts entgegentritt, beizu- behalten, so wäre sie zu einer toten Maske geworden. Hier nun tritt Sokrates mit seinen neuen Forderungen heran. Die Haltung der Seele muss ihre Steifheit aul- geben : der Ausdruck der Seelenbewegung soll in jeder Lage mit den körperlichen Bewegungen in Einklang stehen  : erst dann bringen wir den ganzen Menschen zum Ausdruck. Der Kämpfende und der Sieger, Freund und Feind dürfen nicht mit dem gleichen Ausdruck dargestellt werden. Er bezieht sich hierbei hauptsächlich auf den Ausdruck des Gesichts, auf die Miene, die auch hauptsächlich der Umbildung be- durfte. Doch zeigt die Kunst der folgenden Zeit, wie wir sehen werden, dass sie inbezug auf den seelischen Ausdruck in der Hallung des Leibes selber als Ganzes weniger auf den sirengeren ethischen Charakter ausging, sondern sich mehr der Erfahrung des Lehens ansehloss und davon mehr Tür die Kunsl gewann. Das Leben ging auch hier voran  : Der Redner auf der Tribüne entfaltete weit lebhaftere He- wegungen als bisher.

Sokrales zeigt in seinen Worlen an Parthasios ganz deutlich, wenn auch ohne Polemik, auf eine neue seelische Idealität hin, indem er als Eigenschaften der idealen Seele das mehr Gewinnende und Einnehmende und Liebenswürdige und Sehnsucht und Liebe Erweckende hervorhebt. Diese Worte haben Klang und eine gewisse Erolik, die im Gegensatz zu den älteren Gestalten steht, die aber wirklich ganz der neuen Kunst entspricht.

Die Schönheit, die als •Kalokagathia* delinicrt werden kann, und die nur eine andere Seite der vollkommen entwickelten Brauchbarkeit, Funktionstüchtigkeit des lebenden Körpers ist, ist ihrem Wesen nach eigentlich ganz objekliv und kalt.



- 9


Die menschliche Geslall wird hier von demselben Gesichtspunkt aus betrachtet wie tote Dinge, Gebrauchsgegenstände — ein schöner und brauchbarer Läufer: ein schöner und brauchbarer Ringer; ein schönes und brauchbares Schwert; sogar ein schöner und brauchbarer Mistkorb, um Sokrates' Ausdruck bei seiner Entwicklung dieses Begriffes anzuwenden. (Xen. Memor. 111,8.) 1 Man kann annehmen, dass die Theorie der Schönheit im älteren Griechenland des sechsten und fünften Jahrhunderts wesentlich so gewesen war; und wir moderne Menschen fassen ja wirklich die Schönheit in den Gestalten der älteren Kunst wesentlich als kalt auf. Sie ist mehr strahlend als wärmend. Wenn die Gestalten des fünften Jahrhunderts trotzdem einen unmittelbaren Eindruck auf uns machen, und uns wohl gar zu grösserer Bewunderung hinreissen als irgend welche andere Darstellungen der menschlichen Gestalt aus früherer oder späterer Kunst, so muss dies darauf beruhen, dass doch wohl mehr darin liegt als der reine Begriff von Kalokagalbia; denn diesen Begriff würden wir, die wir nicht die Erfuhrungen der Griechen besitzen, kaum imstande sein, unmittelbar zu wür- digen. Es liegt auch dieser Art Schönheit Erotik zu Grunde, ein begeisterter und entzückter Sinn. Im Leben selber war ja die Erotik sehr wach. Aber alles wurde in eine Idealbildung von allgemeiner (politischer) Gültigkeit umgesetzt.

Diese Seite der Sache, die erotische, arbeitet sich im vierten Jahrhundert weit kräftiger durch und wird bewusster. Die Gestalt wird nicht nur ein Gegenstund der Liebe, sie wird auch selbst erotisch. Es ist freilich sehr seilen die Bede von Darstellung eigentlich erotischer Verhältnisse, aber die Figur ist von einer gewissen einnehmenden Süsse durchdrungen, die sich sanft in die Seele schmeichelt.

Und dies stimmt nicht allein mit Sokrates' oben angeführten Worten überein, sondern auch mit andern merkenswerten Aeusserungen in den Schriften seiner Schü- ler, des Xenophon und des Piaton, namentlich in den beiden gleichlautenden Schrillen dieser Schüler, die den Namen Symposion tragen. Dort wird in feurigen Worten Eros gepriesen, wobei einzig und allein die Liebe des Mannes und Jünglings unter- einander verstanden ist, wenn sie sich rein von niedriger Sinnlichkeit hält, als die stärkste und edelste Lebensmacht. Sie wird durch Schönheit wachgerufen. Der ver- liebte Kritobulos (bei Xenophon) würde seine Schönheit nicht gegen das ganze Reich des Grosskönigs verlauschen. Denn er hat selber erfuhren, dass die Schönheil seines geliebten Kleiuias ihm grössere Freude bereitet, als irgend etwas anderes. Er spricht darüber wie ein Troubadour. Er würde blind für alles andere sein, wenn er nur Kleinias sehen dürfte. Er grollt der Nacht und dem Schlaf, die Kleiuias ver- bergen und ist der Sonne und dem Tage dankbar, die ihn wieder zeigen Er würde sich selber arm machen, um Kleinias alles zu geben  ; er würde sich zum Sklaven machen, wenn Kleinias sein Herr sein wollte u. s. w. (Vergl. die begeisternde Wirkung des schönen Knaben Arislolykos, der bei dem Symposion eintritt.) Und auf der andern Seite erweckt Eros die Schönheit Jeder Gnl (begeisterte ist ein sehenswerter Anblick, aber die, die von andern Göttern beherrscht werden, erkennt

1 Vcrgl. den Hinweis hierauf in de» Verfassers «Darstellung des Menschen», S. 210.



~- 10 —


man an etwas furchtcinflösseudem in Blick und Stimme; Eros dagegen verleiht dem Blick mehr Freundlichkeit, der Stimme einen milderen Tun, den Bewegungen eine edlere Hallung. Man erinnert sich dieser Worte heim Betrachten der Kunst des vierten Jahrhunderts (Praxiteles).

Plalon verweilt namentlich bei der Macht der Liehe, Scham und Ehrgefühl wachzurufen: die innige Gemeinschaft zwischen Zweien, die in einander verliebt sind, birgt den Funken und die Glut in sich, und hierin haben die glänzendsten Tugenden in Krieg und Politik ihre Wurzel. Deshalb ist der Staat ebenso sehr dabei inter- essiert wie das Privatleben. Man schämt sich vor niemand — nicht einmal vor seinem Vater — in dem Grade wie vor seinem Geliebten, man wünscht sich vor niemandes Augen so auszuzeichnen wie vor den seinen. Ein Heer, das aus lauter liebenden Paaren bestünde, würde die Welt erobern können. Diese Art von Liebe ist allein für die Edlen. Von einem Bedner aus dem vierten Jahrhundert, Aeschines. lernen wir, dass es durch das Gesetz und bei Strafe körperlicher Züchtigung einem Sklaven verboten war, einen freien Knaben zu lieben und seinen Schritten zu folgen, wohingegen es den vornehmen Knaben in allem Guten stärkte, wenn er einen guter, und edlen Liebhaher hatte. Dies Verhältnis wurde ebenso wie die Ausbildung in Leibesübungen als das Vorrecht der Edlen betrachtet. Beide Teile waren deswegen — ebenso wie die Philosophie — bei den Despoten, Tyrannen, Monarchen verhasst und beargwöhnt. Das Liebesverhältnis des Harmodios und Aristogeiton zu einander hatte ja auch in alten Zeiten die Tyrannei in Athen gestürzt, und ihm verdankt die Stadt ihre demokratische Verfassung.

Schönheit, Erotik. Flug und Begeisterung in der Seele, Ehrgefühl, Freiheitsgefühl bildeten in dieser Lebensanschauung eine engzusammenhängende Kette von Mächten und Worten, von der kein Glied weggenommen werden konnte. Durch diese Kette ging ein lebendiger elektrischer Strom, eine schwärmerische Unruhe, die die Zeit und ihre Kunst erfüllte.


Die neue Forderung an die Kunst, der Sokr.iles das Wort führt, wurde wirklich ganz erfüllt. Aber der Ausdruck entwickelte sich in der antiken Kunstgeschichte hauptsächlich auf einem Gebiete, das für die Erkenntnis späterer Zeit in Dunkelheit gehüllt ist, nämlich weit mehr in der feinen, gebrechlichen und vergänglichen Malerei als in Marmor und Bronze. Von dieser Entwicklung, die eine so eingreifende und universelle Bedeutung hat, sind uns jetzt nur einzelne und spärliche Aeusse- rungen in den Nachrichten der Literatur oder in späteren Gemälden erhalten, in denen man eine Art Wiederholung der ausgezeichneten Werke aus dieser Periode ahnen kann. Nicht die Malerei allein ist uns verloren, sondern überhaupt die Farbe, auch insofern, als sie die Skulpturwerke bedeckt hat.

Doch ist es nicht so sehr die Farbe seiher, die das Organ für den seelischen Ausdruck gewesen ist. Die Malerei hat reichere Komposilionsmittel uls die Plastik



- 11


und zugleich in ihrer Arbeitsweise bessere Bedingungen, die Seclenhewegung aus- zusprechen, namentlich in dem Mienenspiel des Antlitzes. Kinen Zug, eine Form, an denen der Bildhauer lange arheiten muss, um sie im Marmor auszuführen, kann der Maler mit dem Pinsel und der nüssigen Farbe im Handumdrehen resthalten ; und sein Gemälde kann durch diese Schnelligkeit und Geschmeidigkeit eine gewisse subjektive Wärme und Frische vor der Skulptur voraushaben, — etwas von der hinreissenden Macht, die in der Improvisation liegt. Alles, was wir von antiker Malerei kennen, trägt auch — in weit höherem Grade als die Mehrzahl der modernen Bilder — das Gepräge einer schnellen und energischen Arbeit : Die Farbe ist mit der grossesten Frische ohne irgend welche Ausglättung, Vermischung, Verschmelzung der Pinsel- striche aufgetragen: dasselbe gilt auch von der enkaustischen Malerei, die mit dem Keslron arbeitet. Nun kann man wohl einwenden, dass das, was uns au Malerei von römischen Gräbern oder aus den vom Vesuv begrabenen Städten oder den en- kaustischen Gemälden von ägyptisehen Gräbern erhalten ist, alles verhältnismässig untergeordnete grösstenteils dekorative Arheiten sind, von denen man nicht auf Apelles und Protogcnes schliessen darf; aber ich meine doch, dass wenn man in den üeberresten der antiken Malerei eine Einheit und eine Gemeinsamkeit im Stil findet, dies sich auf den Höhepunkten geltend gemacht haben muss, von wo aus der Ton für die ganze Kunst ausging.

Aber von dem Ausdruck des Pathetischen in der Malerei können wir uns keine erschöpfende Vorstellung aus den Werken machen, in denen die Bildhauerkunst sich auch solche Aufgaben gestellt hat. Der Niobe-Kopf, — um ein berühmtes Werk anzuführen, das ein Original aus dieser Periode wiedergibt — wo der Ausdruck im wesentlichen in den schräge abfallenden Linien der Augenbrauen, der Augen und des Mundes beruht, wo aber die Flächen sonst glatt ohne eine einzige Falte sind, gibt kaum eine Vorstellung davon, wie die Malerei ihre Mittel benutzt hat.

Dazu kommt noch, dass die Malerei in noch höherem Grade als das Relier imstande ist den dramatischen Verkehr zwischen den Menschen zu schildern. Die Skulptur war sowohl infolge ihrer technischen Bedingungen als ihrer Traditionen mehr darauf angewiesen, das künstlerische Interesse in bezug auf die Schönheit und den Charakter der einzelnen Figur zu wahren. Dies kann die Malerei wohl auch tun und hat es in vielen, ausgezeichneten Kunstwerken getan: die antike Malerei hat auch nie in dem Masse wie die moderne dieses Interesse ausser Auge ge- lassen. Aher sie hat auch in vielen Fällen das Zusammenspiel (die Erzählung der Begebenheiten) zur Hauptsache gemacht, dem gegenüber der Durchführung der einzelnen Figur nur ein untergeordneteres Interesse zugewandt wurde.

Was ist nicht in dieser Fülle von ausgezeichneter Malerei verloren! Alle diese neuen, genialen, schlagenden Ideen in Zeuxis', Timanthes und Parrhasios' Ge- mälden, die mit der Macht des Unerwarteten die Mitwell überraschten, belustigten, bewegten, und wo der geistvolle Pinsel bei der Schilderung momentan ergrifTener und ergreifender Ausdrücke glänzte! Von Timanthes' berühmter Klimax im Ausdruck der Trauer unter den Teilnehmern von Iphigenies Opferung, dieser Klimax, die in



— 12 —

des Vaters, Agamemnons, verhülltem Haupte gipfelte, haben wir sicher nur eine äusserst schwache Vorstellung durch das schlecht ausgeführte pompejanischc Ge- mälde, das denselben Stoff behandelt. Uns von Parrhasios" Feinheiten in den Gesichts- ausdrücken (arguliae voltus) eine begründete Vorstellung zu machen, ermangeln wir jeden Mittels.


Die /.weile Blütezeit der griechischen Kunst hat ihren Höhepunkt ca. 350—30. Verhältnismässig ist hier, wenn wir das eben Entwickelte zusammenfassen Wullen, das Interesse für das Körperliche im Vergleich zu früheren Zeiten ein wenig zurück- gedrängt. Namentlich hat die Athletik etwas von ihrer alten Herrlichkeit eingebüssl. Man interessiert sich weniger für den Menschen der körperlichen Anstrengung als für den Geistesmensehen oder den Genussmenschen oder beide im Verein. Doch darf, wie gesagt, die Bedeutung hiervon nicht übertrieben werden: Die antike Bild- nerei ist von Anfang bis zu Ende auf einer gewissen gesunden und breiten Körper- lichkeil begründet; die neue Periode übernimmt auch in dieser Hinsicht das alte Erbe, ja schafft sogar neue Formen für das athletische Ideal; doch besteht dies meistens darin, dass sie zu dem archaischen Ideal zurückkehrt und es mit den Mitteln der hoch entwickelten Kunst realisiert iLysippos). Dies dürfte mehr ein Kunslprodukt sein — die Naivität fehlt.

Die Seele, der (ieist werden also als etwas Selbständiges im Verhältnis zum Körper autgefasst. Piaton spricht vom Körper als von etwas, von dem der Mensch ent- kleidet werden kann, und man findet dann in dem Innern die Seele. Schon Sokrates halle (künstlerischer) die Darstellung der Seele durch den Ausdruck gefordert, der die momentane körperliche Bewegung begleitet : der drohende Blick der Kämpfenden, die frohe Miene des Siegers. Er vergisst nicht den Ausdruck in der Haltung und Bewegung des Körpers, fordert aber vor allem Ausdruck in Blick und Miene. Und das tat wirklich Not. Wohl lag Ausdruck in der älteren Kunst, in der archa- ischen wie auch in der zur Zeil des Phidias und des Polyklel: aber dies war der Aus- druck der bleibenden Stimmung, nicht der vorübergehenden Emotion. Es war der Mensch, der sich selber gleich blieb, nicht der Mensch, der «ausser sich gerät*. Ausserdem fordert Sokrates die Darstellung des indirekten sympathischen Ausdrucks, der das Mitempfinden der Person beim Anblick des glücklichen oder unglücklichen Schicksals eines andern zeigt. Dies war eine wirklich völlig neue Forderung, aber die neue Periode realisierte sie auch mit der höchsten Kraft (das hervorragendste, uns erhal- tene Beispiel ist wohl Darius* Ausdruck in der < Alexanderschlacht»). Er verlangt ferner den Ausdruck für das seelisch Ideale, das «Gewinnende, Einnehmende, Sehnsucht und Liehe Erweckende», also für das, was Seele zu Sech; zieht. Und dies hat die allcrgrösste Bedeutung für die neue Kunst, deren Ausdruck sich durchweg von der älteren Periode durch eine gewisse Seelensüsse unterscheidet, die sogar sehr intensiv werden kann. Wenn man den Stil dieser Periode den schönen- genannt hat, so ist



- 13 -


das nicht ganz zutreffend; denn der Stil der ersten Blütezeit 'der grosse Stili dürfte doch schöner gewesen sein. Das Eigentümliche ist vielmehr das Sympathische.

Indem man so darauf ausgeht, die Seele des Beschauers zu gewinnen und zu fesseln, wird die Kunst weniger naiv, weniger objektiv als die ältere, zuweilen ein wenig ostentativ, gleichsam in < kursiv», was jedoch keineswegs so zu verstehen ist, als oh alle Naivität geschwunden sei. Wie reich und üppig die Kunst in dieser Periode auch geblüht haben mag, — mau kann doch vielleicht annehmen, dass die erwachende Reflexion und die entwickelte Philosophie ihrem Szepter die Spitze abgebrochen haben.

Die Aufmerksamkeit ist jetzt mehr von den älteren Idealen, dem athletischen und dem politischen, dem Staatsbürger ideal, abgelenkt und den innigeren, intimeren, engeren menschlichen Verhältnissen zugewendet. Auf den Grabmalen) werden Familienverhältnisse (Mann und Frau, Eltern und Kinder) dargestellt. In einer Reihe sehr bedeutender Kunstwerke wird das charakteristische Verhältnis zwischen dem Erwachsenen oder Aelteren und dem kleinen Kinde dargestellt. (Eirene und Plutos, der Hermes des Praxiteles mit dem Dionysoskind, Silen und der kleine Bacchus, Herakles und Telephos, Herakles und Eros, der Nil und die Kinder.) Gleich- zeitig wird auch das kleine Kind seiner Natur nach charakterisiert, worauf sich die ältere Kunst eigentlich nicht eingelassen hatte. Mit der veränderten Gefühlsweise steht die Vorliebe für die weicheren, feineren, gefühlvolleren menschlichen Organismen und eine genauere Charakteristik derselben im Zusammenhang: die Epbeben und namentlich die Frau. Die Frau spielt jetzt eine weit grössere Rolle als bisher, ob- wohl sie in der antiken Kunst niemals die Hauptrolle gespielt hat. Ihre Gestalt wird jetzt mehr im Gegensatz zu der des Mannes charakterisiert, und nach und nach immer mehr als Gegenstand für die erotischen Gefühle des Mannes. Natürlich ist die Süsse des Ausdrucks besonders charakteristisch für die Gestalt und das Antlitz der Frau.

Die idealen Aufgaben werden weniger gleichartig, und die Kunst erhält einen grösseren Umfang von Aufgaben, ein reicheres Repertoire innerhalb des menschlichen Lebens. Man hat mehr Mittel zu einer verschiedenartigen Idealisierung. Schon Parr- hasios soll die Fähigkeit besessen haben, individualisiertere Göttertypcn zu schaffen; der Zeus von Otricoli ist wirklich Zeus und könnte nie als etwas anderes aufgefassl werden, der Apollo von Belvedere ist wirklich Apollo u. s. w. Diese Fähigkeit, die menschliche Gestalt zu individualisieren wird fortwährend entwickelt und umfasst mehr und mehr alle Aufgaben der Kunst, sowohl die mythologischen als die rein mensch- lischen (wobei man ja freilich die Antike als e i n e n grossen Künstler auffasst, ohne zu wissen, inwieweit das Gesetz auch für die einzelnen Künstlerindividualitälen gilt). Die ältere Kunst halte sich mehr für den Menschen interessiert, die neuere interessiert sich mehr für die Menschen. Damit steht auch die beständig zunehmende Entwicklung des realistischen Porträts in Zusammenhang. Hauptsächlich die Männer sind Gegenstand der Porträtkunst. Ein kühnes Individualisieren ohne Vorbehalt und infolge dessen eine unvergleichliche Galerie scharfgeschnittener Originale.



— 14


Dass der Stil in der Plastik der neueren Zeit «malerischer» wird, das heisst, dass er mehr und mehr das Licht- und Schattenspiel auf der Oberfläche als künst- lerisches Ausdrucksmittel benutzt, kommt wohl eigentlich daher, dass er weniger auf Freiluflkunst als auf das Interieur berechnet ist. Das merkt man namentlich in der Diadoehen periode — der hellenistischen Zeit.


IHK I) ABSTELLUNG DES FAMILIENLEBENS IN DEN GBABBELIEES.

Wenn Sokrates von dem seelischen Verhältnis redet, weist er namentlich auf das Zusammenleben hin: das seelische Verhältnis der Personen zueinander. Wohl ist der Ausdruck nicht absolut auf das Leben der Menschen unter einander beschränkt : aber es ist klar und wird überall von der Entwicklungsgeschichte der Kunst bestätigt, dass das Z u s a m m e n I e b c n in überwiegender Weise den Ausdruck in den ein/.elnen Figuren wachruft. Deshalb wird unsere Aufmerksamkeit in erster Linie auf die Kunstformeii hingelenkt, die Kompositionen von Figuren darstellen: Das Belief, die Statuengruppe, das Gemälde.

Es ist charakteristisch für die neue Kunst, dass ihr Blick ganz andere Arten des Zusammenlebens sucht als die ältere. Dies fühlt man namentlich ganz deutlich bei der Komposition der Grabreliefs, worunter man ja in den allermeisten Fällen die attischen, athenischen versieht. Früher hatte man den Verstorbenen hauptsächlich als einzelne Figur dargestellt, und wenn ein paar Figuren zusammen angeordnet waren, so bestand doch nur äusserst seilen ein wirklich seelisches Ver- hältnis zwischen ihnen. Es waren Gestalten im Rahmen des gewöhnlichen Staats- bürger-Ideals, bereit, jeden Augenblick in ein grossartiges Volksschauspiel einzutreten, wie es der Parlhenonfries darstellt. Sie gehören dem grösseren politischen Leben an. Jetzt stellt man sie mit Vorliebe in wirklichem Verhältnis zu einander stehend dar, in Verhältnissen, die der engeren, rein privaten Gemeinschaft, der Familie, angehören. Und dadurch wird ein Ausdruck der Innigkeit des Gefühls wachgerufen, wovon man früher jedenfalls nur sehr selten eine Spur entdeckt. Doch ist die Dar- stellung hier noch völlig ideell, abstrakt, wenn man will, — ohne Porträts; nur ver- ändern sich die Züge und die Formen des Ideals allmählich ein wenig, und der Aus- druck bekommt ein milderes Gepräge. Ideell ist es auch, dass der Tod des Menschen nicht in der natürlichen Wirklichkeit, verbunden mit Krankheit und Leiden, darge- stellt wird, sondern nur als ein Heimgang zu einem andern — nicht weniger ideellen Dasein. Die Auffassung ist milde und trostreich : in der Begel ist es nicht der Ver- storbene oder Sterbende selber, der als über das Scheiden vom Leben trauernd dargestellt wird, der Ausdruck der Trauer tritt in der Darstellung der Ueberlebenden, die sich von ihrem Geliebten trennen müssen, in die Erscheinung, — eine milde Trauer, die sich vorläulig mehr in Bewegungen und im Gestus äussert als in irgeud



- 15 -


einer Verzerrung der Miene des Gesichts. Dass die Vorstellung, die uns die Grab- reliefs von dem griechischen Familienleben als einem Leben in eitel Würde und gegenseitiger Liebe geben, völlig ideal ist, kann beinahe als etwas selbstverständ- liches angesehen werden: und daraus Sehlussfolgcrungen über die wirklichen Ver- hältnisse, nicht allein in dem einzelnen Familienleben sondern auch in dem durch- gehenden und gewöhnlichen Zustand, ziehen zu wollen, würde ebenso unrichtig sein, als wollten wir aus den Leichenreden unserer eigenen Zeit reellen und zuverlässigen Bescheid über persönliche Verhältnisse erwarten. Wo von kürzlich Verstorbenen die Rede ist, ist die Well ja immer euphemistisch gewesen, wozu auch ein ganz natürlicher Anlass vorhanden ist: und was kann man da von den Griechen erwarten, die in allen Funkten Euphcmisten waren? Wenn man aus den Grabreliefs sehr hohe Vorstellungen über die Stellung der Frau in der griechischen Familie und über die Würde der Gattin als Gleichgestellte des Mannes bekommt, so muss man das wohl weit eher als einen Wiederklang des Familienlebens in dem heroischen Griechenland betrachten, dessen Andenken beständig durch epische und tragische Dichtung lebendig erhalten wird, — durch jene Dichtungsarten, die nach Aristoteles die Menschen besser darstellten, als sie waren — denn als gültiges Zeugnis von dem Familien- leben in Athen um das Jahr 400 oder später. Damals war Penelope doch wohl kaum der richtige Typus der griechischen Gattin.

Sicher aber ist es, dass man durch das Studium dieser Grabmäler ganz ein- genommen werden kann von dem griechischen Familienleben. .Jedenfalls sind die Ideen so schön und liebenswürdig. Zu den schönsten gehört die allereinfachste, v>v die häutig unter verschiedenen Formen vorkommt : Mann und Frau, die einander die Hand reichen, ein Bild treuer ehelicher Liebe und vermutlich mit der Neben- bedeutung, dass der eine der Gatten Abschied von diesem Leben nimmt — umso- mehr, als der Tod häufig als Abschied des Heimgehenden von den Lieberlebenden dargestellt wird. Eine erwachsene Tochter ist gestorben : vor ihrem Heimgang kommt sie, um ihrer Mutter Lebewohl zu sagen, die als Frau des Hauses sitzt, während die Magd hinter ihrem Stuhl steht.1 Sie will die Tochter zurückhalten, beugt sich ganz vor auf dem Stuhl, so dass dieser sich mit dem hinteren Bein vom Boden hebt, und streckt die Arme begehrend aus. Und die Tochter, die schon in das Mysterium des Todes eingeweiht ist, empfindet mehr Mitleid mit der Mutter wie mit sich selber: sie fasst die Mutter mit der einen Hand unter den ausgestreckten Arm und streckt die andere nach ihrer Wange und ihrem Kinn aus, tröstend, be-


1 Im Zentral-Museum in Athen. Natürlich kann das Familienverhältnis zwischen den beiden Hauptpersonen nicht ganz sicher nach dem Bilde bestimmt werden ; vielleicht ist hier auch die Rede von zwei Schwestern. Dass die stehende Figur, die auf alle Fälle die Verstorbene ist, die Mutter und die sitzende eine überlebende Tochter sein sollte — beide sind ja nach Art der grie- chischen Kunst jugendlich dargestellt - bin ich nicht geneigt zu glauben. Aber es muss stark hervorgehoben werden, dass der seelische Inhalt der Komposition, wie ich ihn oben zu schildern versucht habe, im Wesentlichen ganz derselbe bleibt; wie man auch das Familienverhältnis zwischen den dargestellten Fraueu auffassen mag. das ist ganz deutlich ausgesprochen.



- 16 -


ruhigend, erklärend  : T innre nicht über mich, der Orl wohin ich gehe, ist nicht so schlimm, wie du glaubst ! Ihre wehmütigen blicke trennen sich so schwer von ein- ander. Wer würde wohl beim Anblick dieser Abschiedsszene sagen, dass der griechischen Kunst das Herz fehlt! Die kleine Magd, die hinter dem Stuhl der Mutter steht, sieht auch mit liebevoller und wehmütiger Ehrfurcht zu der Scheidenden hin, indem sie zwei Kinger der einen Hand gegen die Seite des Kopfes legt, — dergleichen Bewegungen der Hand nach dem Kopfe hinauf kommen häufig vor als Ausdruck für Trauer. Man erinnere sich hier der Aufforderung des Sokrates an den Künstler, den in- direkten, sympathischen Ausdruck zu beachten, der nicht das eigene Schicksal der Person betrifft, sondern ein Abglanz seines Gefühls beim Anblick des Schicksals anderer ist. Dies war wirklich etwas Neues in der Kunst, eine wesentliche Er- weiterung ihres menschlichen Gebietes, eine Erklärung der Brüderschaft zwischen den Menschen, sogar ohne irgend welche Bücksicht der Person auf sich selber. Die sympathische, ideale Darstellung des Todes auf den Grabmälern war ein gutes Feld für diese Art des Ausdruckes, und am reinsten — wenn auch am bescheidensten — tritt er bei den Figuren in die Erscheinung, die im voraus den geringsten Anteil an dem Schicksal des Verstorbenen haben, namentlich bei dem Gesinde. Sklaven und Sklavinnen sind ja doch auch Menschen.

Ein grosses, mangelhaft erhaltenes Grabmal, das sich jedenfalls im Frühling 1S87

Fi*.  :s noch an seinem Platz beim Dipylou in Athen befand, ist ein geniales Beispiel für die eigentümliche Art und Weise, wie die griechische Kunst in dieser Periode den Tod auffasste und schilderte. Zwei Greise, alte Freunde und Gesellschafts- genossen, sieht man bei der Mahlzeit am Tische liegen  ; jeder von ihnen hat seine Gattin zur Seite sitzen. Da rollen plötzlich die Wogen des Styx über den Fussboden hin, und Charon steuert sein Boot geradenwegs auf die Festtafel zu, seine Hund nach dem einen der beiden Alten ausstreckend, um seinen Obolus einzufordern. Die Gattin bemerkt dies und legt ihre Band sanft auf die Schulter des Mannes, ihn warnend, dass es jetzt Zeit für ihn ist, sich zum Aufbruch fertig zu machen. Und er ist auch bereit: Er drückt nur noch die Hand seines alten Kameraden zum Ab schied. Wie kurz und schneidig ist das nicht erzählt, und wie glücklich, wie hell und mild in der Stimmung — keine grossen Bewegungen, kein Jammer und Weinen, nur eine schöne Erinnerung an die traulichen Verhältnisse des Lebens! — Allmählich wird freilich doch die Miene der Trauer ausgeprägter, immer aber bei den Ueber- lebenden, weniger bei den Toten selbst. Ein alternder Vater hat seinen jungen,

Fi*. *. prächtigen Sohn verloren. Dieser steht schon in der anderen Welt, in einem herrlich verklärten Dasein, als sei er ein junger Herakles. Zu seinen Füssen kauert der kleine Sklave, trauernd und kummervoll; und ihm gerade gegenüber steht der Vater auf seinen langen Stab gestützt, und starrt mit tief bewundernder Trauer in der Miene den verlorenen Sohn an: Obwohl der äusserlichc Absland ganz gering ist, merkt man doch an dem Ausdruck dos Vaters, dass eine Welt zwischen ihnen liegt.



DER ERWACHSENE MENSCH I NI) DAS KIND.

Eine eigenartige Form für dies innigere, weichere Gemeinschafts- und Familien- leben hat man in einer Reihe von erhaltenen Kunstwerken ersten Ranges, meistens statuarischen Arbeilen gefunden, die irgendeine erwachsene Gestalt zu- sammen mit e i n e in kleinen Kinde darstellen. Es ist sehr bezeichnend für die Kunst des vierten Jahrhunderts, dass sie diese Art von Verhältnis betont. Und eine notwendige Bedingung, dass das Verhältnis mit wahrer künstlerischer Wirkung dargestellt werden kann, ist es, dass die Gestalt des zarten Kindes im Gegensatz zu der des Erwachsenen und in Uebereinstimmung mit seiner eigenartigen Natur charakterisiert wird.

Das älteste Werk aus dieser Reihe ist des Bildhauers Kephisodolos des Aelteren schöne Gruppe : Eirene und Flu tos, von der eine gut ausgeführte Wiederholung erhalten ist (Glyptothek in München). Die Originalgruppe war bei Ge- legenheit des vorteilhaften Friedens, den Athen mit Sparta im Jahre 375 vor Christus geschlossen hatte, ausgeführt worden.

Von demselben Kephisodolos, dem Meister der Eirene und Pluto? wird berichtet, dass er eine (Bronze-) Gruppe des Herines ausführte, der dem kleinen Dionysoskinde zu essen gibt. (Mercurius Eiberum patrem in infantia nutriens, Plin. 34, 87; — also abermals ein Bild des Erwachsenen mit dem zarten Kinde. Es sind ausserdem sehr gewichtige Gründe dafür vorgebracht, diesen Bildhauer als Vater und Lehrer des berühmten Praxiteles zu betrachten, und von ihm haben wir ja ein Werk, dessen Motiv in hohem Grade dem letztgenannten geglichen hat, nämlich die Gruppe des Hermes mit dem Di on ys os ki n d e aus dem Heratempel in Olympia. Sie ist nicht in allen Teilen erhalten, wie man sie sich aber als Ganzes fi*. denken soll, darüber kann kein Zweifel mehr herrschen. Hermes steht, den linken Ellenbogen leicht auf einen Stamm neben sieh gestützt; auf dem Arm trägt er den kleineu Bruder, und mit der rechten Hund hat er eine Weintraube in die Höhe ge- hoben, nach der der klein«! Weingott, zum ersten Male seinen angenehmen Beruf hier in der Welt ahnend, begehrlieh die Hand ausstreckt, zappelnd und jubelnd. Hermes sieht auf ihn herab und hat seine stille Freude an seinem Eifer und seiner Lebhaftig- keit: Er selber hat, — was das Kind nicht hat — , das Bewusslsein davon, was der Kleine bedeutet. Die Bedenken, die mau in bezug auf die Annahme gehegt hat, dass Hermes, obwohl er den Kopf nicht ganz dem Kinde zuwendet, es wirklich beobachtet, sind mir immer überllüssig erschienen. Die Augen sind leichter beweglich als der Hals, und wenn man nach etwas auf der Seile hinsieht, dreht man die Augen mehr als den Kopf. Der Sinn ist ja auch hier gerade der, dass Hermes sich halb verstohlen über das Kind freut, ohne seine Aufmerksamkeit auf sich lenken zu wollen. Es würde ungeschickt und unwahr gewesen sein, wenn er den Kopf mehr gedreht hätte.

Ein unvergleichliches olympisches Genrebild, schelmisch, geistreich, poetisch. Hier ist ein offenbarer Fortschritt von der Gruppe de* Kephisodolos in bezug n.



- 18 —


auf den Ausdruck des Verhältnisses der Figuren unter einander  ; an der Gestalt des Hermes1 haftet nicht das Geringste mehr von dem «Götterbilde* : Alles — die Stellung und die Miene bis in ihre feinsten Züge — fügt sich geschmeidig dem Zusammen- spiel ein. Hermes ist weniger imponierend als Eirene ; es ist ein feiner Anflug von Ironie in den Ausdruck gekommen, genau so wie das zu dem Verhältnis des er- wachsenen Bruders zu dem kleinen passt. Es ist auch interessant zu beob- achten, dass diese eigenartige Bewegung des Kopfes: zugleich ein Neigen und eine Drehung nach der Seite, mit dem eigentümlichen und geistvollen, beobachtenden oder fragenden Ausdruck, bei einer antiken Figur vorkommt, die sicher auf Praxiteles KiK.f.. zurückgeführt werden kann, nämlich bei der Statue des «Eidechsentöter s>. Hat Praxiteles in grösserem Masse eine individuelle Vorliebe für diese Bewegung gehabt? Man bemerkt sie auch in der Figur der «Elektra» in der schönen Marmor- gruppe in der Ludovisischen Sammlung, die man «Elektra und Orestes* genannt hat: ausserdem hat der Kopf dieser weiblichen Figur eine sehr ausgeprägte physiognomische Aehnlichkeit mit dem Kopf des Hermes von Praxiteles. Auch der Faltenwurf des Ge- wandes hat hier einen Stil, den wir für Praxiteliseh halten könnten. Und dieselbe Bewegung des Kopfes und denselben Stil in der Gewandung finden wir in der grossesten und schönsten der in Herkulanum gefundenen weiblichen Statuen, die nach dem Museum in Dresden gekommen sind.

Indem wir nun die übrigen antiken Darstellungen des Erwachsenen mit dem Kinde in eine gemeinsame Betrachtung zusammenfassen und die wichtigsten hervorheben, können wir die Fruge nicht umgehen, ob wir hierdurch die antiken Kunstwerke allein von unserem eigenen Standpunkt, dem der Neuzeit, aus ordnen und betrachten, oder ob die Werke, auf die wir uns beziehen, nicht einen gemein- samen Ursprung haben. Wir haben ja gesehen, dass die ins Auge fallende künstle- rische Verwandtschaft zwischen Eirene und Hermes wahrscheinlich wirklich in dem sehr nahen persönlichen Verhältnis zwischen den Künstlern begründet ist. Eine st» enge historische Verbindung darf man nun wohl freilich nicht zwischen allen Werken vermuten, die zu dieser Reihe gehören, aber die Sache kann sich so verhalten haben, dass Zeitgenossen und Epigonen so viel Geschmack an diesen Motiven gefunden, die die grossen attischen Bildhauer aus dem vierten Jahrhundert darzustellen versucht hatten, dass der Erwachsene mit dem Kinde ein sehr beliebtes Thema wurde, auch nach der Zeit Alexanders in der früheren hellenistischen Periode. Es konnte auf mancherlei Weise aufgefasst und unter mancherlei Formen dargestellt werden  : aber der Blick fand doch immer wieder den Weg dahin infolge der ausleckenden Macht des Beispiels und weil es so gut in das ganze Gefühlsleben der Zeil hinein passte.

Recht auffallend ist es, dass in den anderen Werken, auf die wir hinweisen, immer — so, wie im Hermes, aber im Gegensatz zur Eirene — eine männliche


1 lieber den plastischen Stil und die Behandlung dieser Figur wird weiter unten eingehender die Rede sein.



- 19 -


(Jestalt im Verhältnis zu dem kleinen Kinde dargestellt wird. Dem Hermes des Praxiteles in bezug auf die Komposition ziemlich nahe, in der Ausführung aber weit hinter ihm zurückbleibend, steht die Gruppe des Herakles mit dem kleinen Telephos auf dem Arm, im Vatikan. Ein so feines seelisches Verhältnis nK. i. wie in Praxiteles' Werk finden wir hier freilich nicht, obwohl Herakles' gutmütige Verwunderung über den kleinen Jungen, der ihm gegenüber die Gefühle eines Sohnes geltend macht, sehr amüsant zum Ausdruck gelangt. Aber der Kontrast zwischen der athletischen Kraft und der Zartheit und Weichheit des Kindes übt schon an und für sich seine Wirkung aus. Man stellte auch den hünenhaften Herakles zusammen mit den Pygmäen dar: obwohl diese keine Kinder sind, ist das Motiv doch verwandt mit den übrigen. Endlich sieht man den kleinen Eros zusammen mit dem grossen Herakles. Auf einer prächtigen Gemme im Museum zu Berlin ist dargestellt, wie sich der Liebesgott fest an den Rücken des Hünen klammert, als sein Ueberwinder ; Herakles ist in die Kniee gesunken. Ks ist ein Motiv, das auf die Legende des Christentums von dem heiligen Christo- pherus, dem grossen Riesen, hinweist, der das kleine Christuskind über das Wasser tragen sollte, aber von dem schweren Gewicht niedergedrückt wurde. Auch in dem antiken Motiv liegt ein Sirin, der bis zu einem gewissen Grad spiritualistisch genannt werden muss, oder den man auf alle Fälle a n t i a t h 1 e l i s c h nennen muss: Die seelische Macht, die durch Eros vertreten wird, hat in Wirklichkeit die l'ebermacht über die grosse, massiv entwickelte Körperkraft.

Das Verhältnis zwischen dem Erwachsenen und dem Kinde wird ausserdem auf die Satyrwelt übertragen, die in bezug auf das natürliche Gemütsleben weniger liebens- würdig ist als die Menschen oder Götterwelt. Da ist der junge, fröhliche Satyr, der mit dem kleinen Dionysos auf dem Rücken dahin wandert (Marmor, Museum zu Neapel), oder der tanzende Satyr, der einen ganz kleinen Bruder in beiden Händen hält und ihn auf seinem vorgestreckten Fuss balancieren lässt (Gemme im Thorwaldsen Museum i u. s. w. Vor allem aber ist da , der alte S i 1 e n, der an den Baumstamm gelehnt steht und seinen kleinen Pflege- söhn Dionysos auf beiden Händen vor sich hin hält, indem er liebevoll und fröhlich mit dem Kinde plaudert, das auch seinerseits das hässliche und joviale Ge- sicht des Alten sehr lieb hat. Es dürfte dies wohl das gemütlichste, jovialste, viK. %. gemütswärmstc Bild sein, das wir aus dem ganzen Altertum besitzen : es ist ja auch kein vorübergehendes Verhältnis zwischen dem Erwachsenen und dem Kinde, das hier dargestellt ist: Der Alte ist Vater, Mutter, Amme und Spielkamerad auf einmal. Die Gruppe muss sehr beliebt gewesen sein, da sie in mehreren Exemplaren existiert, und das beste (im Louvre) ist in bezug auf die naturalistische Behandlung der Können so vortrefflich, duss es auf ein Original eines phantasiereichen Meisters, vermutlich aus der Zeit um das Jahr 300 hindeutet.

Endlich soll hier noch an die Gruppe des Nilgottes im Vatikan und das v\k.  ». entsprechende Gemälde, das Philostratos der Aellere beschrieben hat, erinnert werden : Der ehrwürdige Flussgott liegt auf der Erde, umgeben von einer Menge



- 20 -


kleiner Kinder, die munter auf seinen Schultern, Beinen u. s. w. uoiherkrabbeln. Es sollen < Ellenmesser» sein, die das Steigen und also auch die Segnungen bedeuten, die er über das Land Aegypten ausgoss, aber in Wirklichkeil stellt das Bild eineu gutmütigen Grossvater dar, der mit seinen Enkeln scherzt. Man kann annehmen, dass die ursprüngliche Idee zu der Gruppe aus dem Anfang der griechischen Herr- schaft über Aegypten nach Alexander dem Grossen herrührt.


Nur ausnahmsweise kommen auf den Familienbildern der Grabreliefs Darstel- lungen von Säuglingen vor, und da sind sie dann nach der im Leben herrschenden Sitte ganz in Windeln gewickelt. Wo das Kind dargestellt wird, ist die Mutter zu- gegen: aber das mütterliche Verhältnis erhält keinen wirklich künstlerischen Aus- druck. Auf einem grossen und sehr stattlichen athenischen Grabrelief aus dem Anfang des vierten Jahrhunderts, im Campo Santo in Pisa, sieht man die Mutter in einer für verheiratete griechische Frauen gebräuchlichen, edlen und vornehmen Haltung dasitzen, die eine Hand im Schoss, indem sie mit der anderen den Rand des vom Scheitel herabwallenden Schleiers hält. Ihr gerade gegenüber steht ein Kindermädchen oder eine Amme, die einen Säugling in den Armen trägt, ungefähr so wie man ein Packet oder irgend einen leblosen Gegenstand halten würde. Von der Mutter wird das Kind gar nicht beachtet. Einen ähnlichen Zug finden wir auf einem grossen, ziemlich figurenreichen Relief in Athen. Das macht für moderne Augen einen fast zu wenig sentimentalen Eindruck. Auf anderen Reliefs ist das Kind ein wenig mehr herangewachsen und tritt dann nackend auf. Es kann auch recht leb- haft und zärtlich sein, ohne das«  die Muller deswegen seine Gefühle sichtlich er- widert oder wirklich auf das Verhältnis eingeht. Auf einer Marmor-Grabvase in der Glyptothek zu München sieht man einen kleinen, nackten Knaben, der zu Füssen seiner sitzenden Mutler steht, sich an sie herandrängt und die Hand nach ihr aus- streckt — die Mutter beachtet ihn nicht. Ein grosses, athenisches oder btiotisches Helief (Abguss in Berlin ; geht doch ein klein wenig mehr auf die Sache ein: das Kind steht auf dem Schoss der Mutter, von ihrer Hand unterstützt, und der Vater steht vor ihnen und reicht dem Kinde irgend etwas hinab. Dieses aber isl nicht mehr ganz klein.

Wir berühren hier einen Punkt, dem man mit Rücksicht auf den Charakter der antiken Kunst grosse Bedeutung zuschreiben muss. Wir haben gesehen, dass die griechische Kunst wohl in die Tiefe des Familienlebens eindringt > wo sie sich aber dem wärmsten Herde desselben, dem innersten Herzblatt, dem weichsten, lebendigsten Keim nähert, - dem Verhäl tnis der Mutter zu dem Säugling, da bleibt sie gewöhnlich in einiger Entfernung stehen. Nichts bezeichnet deutlicher den Gegensatz zwischen antiker und christlicher Kunst : Jedermann weiss ja, dass die Vorstellung von Mutter und Kind, ideal uufgefusst und in religiöser Bedeutung, unter dem



- 21 —


Christentum die künstlerische Phantasie fast mehr als irgend etwas anderes erfüllt, hat, und dass die christliehe Kunst von Bildern dieses Themas wimmelt, worunter sich eine Menge entzückender und auT der ganzen Welt populärer Bilder der grösslen Maler und Bildhauer hefinden. Und was die christliche Kunst anbetrifft, kann man nicht umhin zu bemerken, dass dies Thema dieselbe unendlich mehr ausfüllt, als man dies von dem historischen und dogmatischen Inhalt des Christentums erwarten sollte: Im neuen Testament ist ja nicht weiter die Rede von Maria mit dem Kinde auf dem Sehoss oder in den Armen. Es ist ein Grundzug des Menschenlebens, den die Kunst unter dem Einfluss des Christentums hervorgeholt, idealisiert, apolheotisierl hat. Aber dies Thema, das in der christlichen Kunst eine so zentrale Stellung einnimmt, liegt für die antike an der äusserslen Grenze des Kunslgebietes. Natürlich hat das Ver- hältnis zwischen der Mutter und ihrem Säugling eine so grosse Bedeutung in dem wirklichen Menschenleben, dass die Kunst es nicht ganz übersehen oder ausschliessen kann: man findet es hier oder da gleichsam der Vollständigkeit halber mitgenommen. Die Auffassung der antiken Kunst kann in Gefahr geraten, in diesem Punkt ein wenig irre geführt zu werden, weil Bilder vorhanden sind, — und eines davon ist sogar sehr berühmt und bekannt — die wirklich die Frau mit dem Säugling darstellen. Aber mit ihnen hat es seine ganz eigene Bewandtnis, die einer eingehenderen Unter- suchung wert ist auf Grund menschlicher und zugleich kunsthistorischer Bedeutung des Themas, namentlich für die Entwicklungsstufe der griechischen Kunst, die wir hier vor Augen haben.

Das älteste Werk, das in diesem Zusammenhang besondere Aufmerksamkeit verdient, ist wohl das ziemlich grosse Marmor-Relief der Villa Albani, das aus alter Zeil her «das Ueukothea-Relief» genannt wird. Der Stil ist, wie man ki*. io. auch allgemein annimmt, wirklich und nicht nachgeahmt archaisch, weist jedoch auf keine sehr alte Zeit hin, ungefähr auf die ersten Jahrzehnte des fünften Jahrhunderts. Der Fundort ist nicht bekannt. Eine ansehnliche thronende Frau empfängt mit beiden Händen holdselig und freundlich eine Gestalt, in kleinem Mass- stab dargestellt wie ein Mädchen in langen Kleidern, das auf ihrem Schosse steht und die Hand mit kindlicher Sehnsucht nach ihr ausstreckt. Vor dem Throne steht eine erwachsene Frau, die hinter dem Rücken des Kindes eine Taenie oder eine Binde hält: und in gleicher Beihe mit ihr erblickt man zwei andere weibliche Ge- stalten, sonderbarerweise in abnehmender Grösse nach dem Zimmer hinein, was sich wie eine perspektivische Darstellung ausnimmt, aber doch vielleicht nicht so beabsichtigt ist. Es ist heutzutage die allgemeine Auffassung ja eine ganz abgemachte Sache — das Relief als Grabmal zu betrachten, ähnlich wie die Kamilicnszenen auf den bekannten attischen Grabreliefs. Aber es ist doch hundert Jahre älter als die Grub- mäler, die man hier hauptsächlich im Auge hat; und als Darstellung des mensch- lichen Familienlebens, des intimen Verhältnisses zwischen Mutler und Kind würde es Kir seine Zeit zweifelsohne einzig dastehen und nicht in die Entwicklung hineinpassen. Ist es denn gewiss, isl es sogar nur wahrscheinlich, dass die thronende Frau eine menschliche Mutler darstellen soll? Und ist es sicher, dass die kleine



- 22 -


Gestalt in ihren Händen ihr Kind sein soll? Ist es denn überhaupt ein Kind? Dass es keine naturgetreue Darstellung einer kindlichen Gestalt ist, widerlegt ja die Annahme nieht, dass hier an ein Kind gedacht sein kann, weil die Kunst damals überhaupt nicht in der rechten Charakteristik des Kindes bewandert war; weit eher könnten die Kleidung und die Haartracht dagegen sprechen: sie passen mehr für eitie Erwachsene Es erscheint mir nicht unmöglich, dass uns das l.ild in Wirklichkeit eine Göttin der Unterwelt zeigt, die die heimgegangene Soele einer Verstorbenen in Empfang nimmt, in halb kindlicher Gestalt dargestellt wie auf dem ungefähr gleichzeitigen Harpvien- Monumenl aus Xanthos. Die drei erwachsenen Frauengestalten könnten untergeordnete göttliche Personen sein, die zu der Unterwelt gehören : auch auf dem Harpyien-Monument linden wir solche, ebenfalls drei an der Zahl. Das Motiv, dass eine Göttin eine Taenie oder ein ähnliches religiöses Einweihungsattribut für denjenigen in Bereitschaft hält, dem der Hauptgott seine Gnade erweist, kennen wir von dem grossen Ein- weihungsrelief in Eleusis, das ebenfalls auf die Unterwelt hindeutet. Indem wir also weniger zu der Annahme neigen, dass die Darstellung hier das rein menschliche Verhältnis zwischen Mutter und Kind betrifft, müssen wir einräumen, dass der Künstler, selbst wenn er das Göttliche dargestellt hat, doch das menschliche Ver- hältnis als sein reales Vorbild im Sinne gehabt hat, und dass er einen Blick für die Innigkeil und Schönheit dieses Verhältnisses verrät, was in einer so frühen Zeit schon ein kunsthistorisdics Phänomen genannt werden muss.

Es ist sonst unerkannt, dass dergleichen Verhüll nisse in der Kunst erst vom Jahre 400 an aufzutauchen beginnen. Und dies steht augenscheinlich damit in Be- ziehung und hängt davon ab, dass die Kunst in der neuen Periode überhaupt ihre Fähigkeit, die menschliche Gestalt zu individualisieren, erweitert und dass ihr namentlich die Augen für die verschiedenen Altersstufen der Menschen aufgehen. Jetzt erst gelangt man zu einer wirklich naturgetreuen Darstellung des Säuglings, früher in Windeln, jetzt nackend, mit seinem weichen Körper und seinen rundlichen Gliedern, seiner naiven Munterkeil, seinen tastenden Bewegungen, seinen dicken Wangen und kleinen Gesichtszügen, die so recht das Gegenteil von den strengen und grossgebauten Masken der älteren Kunst sind. Bisher halte man sich eigentlich nur für den Menschen interessiert, wenn er ein gewisses politisches Aller erreicht und die erste Schulung in der Herrschaft über seinen Körper erlangt hatte. Jetzt fängt man an, Freude an dem Anblick des kleinen menschlichen Körpers zu linden, der so reiche Möglichkeiten in sich schliesst, die noch keine feste Form oder Haltung angenommen haben. Sieht man weiter vorwärts in der Geschichte, so wird es einem klar, dass hierin etwas liegt, was mit Kecht 'epochemachend» genannt werden kann, wenn es auch vorläufig noch längere Zeil hindurch einen sehr bescheidenen Platz in der Kunst eingenommen hat.

Zeuxis malte seine berühmte K e n t a u re n f a m i I i e mit den Jungen - oder Füllen, wie man sie nun nennen will — die an der Mutler säugen : das eine an ihrer Menschenbrust, das andere an ihrem Pferdeeuter, und die erschrecken, als der Vater von der Jagd heimkehrt und ihnen mit erhobener Hand den gefangenen jungen



23 -


Löwen zeigt. Dies ist ja gerade ein Zug aus dem seelischen Wesen des kleinen Kindes; und obwohl wir hier halbwegs ausserhalb des menschliehen Gebietes sieben, kann man mit Sicherheit annehmen, dass der grosse Meister es verstanden hat, in den Menschenkörpern und Köpfen dieser Füllen den kindlichen Charakter /.um Ausdruck zu bringen. Ks ist ein Familienleben auf Grund der Natur, ohne den geringsten Anklang an die ethischen Forderungen des menschlichen Lebens. In dem Kentauren- kampf des Ph i galiaf rieses ungefähr gleichzeitig mit Zeuxis' Gemälde sieht man an ein paar Stellen menschliche Mütter (die Gattinnen der griechischen Helden», ihre Säuglinge auf den Armen, vor den Ungeheuern fliehen: das Motiv ist gewiss neu in diesem sonst so oft behandelten Thema (es findet sich weder auf den erhaltenen Metopen am Parthenon, noch auf dein Friese des Theseus- tenipels, noch im Westgiebel von Olympia, wohl auch nicht auf den älteren Vasen- gemälden).

Zwei athenische Künstler aus dem Anfang des vierten Jahrhunderts führten ansehnliche Gruppen der erwachsenen Frau mit dem Säugling aus. Xenopbon schuf für das Heiligtum der Tyche (des Glückes) in Theben eine Statue dieser Göttin, die PI u tos (den Gott des Reichtums) in Gestalt eines kleinen Kindes1 hielt, und Kephisodotos führte in Athen das Bild der Eirene des Friedens) aus, die den kleinen P I u t o s trägt. (WTic bereits oben erwähnt, nimmt man an, dass die letztere Gruppe nach einem vorteilhaften Frieden ausgeführt wurde, den Athen im Jahre 375 mit Sparta geschlossen hatte.) Es war eine gute Idee — sagt Pausanias — den Göll des Reichtums in den Armen des Glückes als seiner Mutter oder Amme anzu- bringen; aber — fügt er hinzu — es war ein nicht weniger guter Gedanke von Kephisodotos, es den Frieden sein zu lassen, der den Reichtum trägt.* Diese Worte bestätigen, was nach jeder Richtung wahrscheinlich ist, dass die Aufgaben für diese Gruppen nicht eigentlich in einer volkstümlichen Mythologie wurzelten, nicht auf dem Dogma beruhten, dass entweder Tyche oder Eirene Plutos' Mutter waren, — und beide konnten sie es doch nicht sein. Es waren allegorische Ideen, die hier zu- grunde lagen, Ideen, die in den Gehirnen geistreicher Künstler ausgebrütet waren, kleine Stücke verständiger politischer Oekonomie, in die bildende Kunst umgesetzt. LTnd nach Pausanias' Worten zu schliessen war es sogar sehr gleichgültig und un- gewiss, ob die weiblichen Figuren hier als Mutter des Kindes oder nur als dessen Amme zu denken waren. Dies hat in diesem Zusammenhang eine grosse Bedeutung : Von dem eigentlichen mütterlichen Verhältnis ist hier nicht die Rede, es ist keine

» Pausanias (IX, 16. 2) teilt mit, dass Xenophon die nackten Partien, Hände und Gesicht - nämlich der Göttin und vermutlich auch die kleine nackte Kinderfigur - ausführte, während «in thebanischer Künstler das übrige machte l'a die Komposition als Gan/.ca das Werk eines einzelnen Künstlers gewesen sein inuss, ist es wohl anzunehmen, dass aic auf Xenophon zurückzuführen ist. Pausanias nennt ihn an einer andern Stelle zusammen mit Kephisodotos : Sie führten jeder eine der .Scitcnfiguren zu dem Bildo des thronenden Zeus Soter in Jfiegalopolis aus.

f v0^w jtgv j|j xa; to-jtoe- (w.; Br^a;«;) tö r^fj:Avj\ia. izftv.w. ID/^tov e; tü; y^pa; ä" !ir(-pi r, tjws-w tt( Ttj/Yr ave/vv 5i vr/ rpyr* K.Ttv.yJtizvj. w. fao '/jv/; tt(; E;.pV,vr,; ~.ö *yxi.\ia 'A^vaw.; HXcOtov r///.>3av r:-'/!r(z£v.



- 24


wirkliche und menschliche Multor mit ihrem Kinde  ; und es war den Griechen sogar zweifelhaft, ob es eine Göllin mit ihrem Kinde genannt werden kann.

Dies muss mun vor Augen haben bei der Betrachtung der Darstellung der Frau mit dem Säugling, die auf alle Fälle die bedeutendste ist, die uns das Altertum hinterlassen hat, und zugleich jedenfalls eine dor schönsten, nämlich der Marmor- Fi»r. " gruppe in der Glyptothek zu München, der man im Laufe der Zeiten verschie- dene Namen gegeben hat Ino Leukolhea, Demeter, Cuiia Kurotrophos, Korn, die aber jetzt ganz allgemein und aus wirklich triftigen Gründen für eino Wiedergabe von Kephisodotos' Gruppe Eirene und Plutos 1 angesehen wird. (F. W. I.MO.) Gleich- zeilig muss hier aber auch daran erinnert u erdi n, dass die bildende Kunst, mag nun ihre Aufgabe allegorisch oder mythologisch, ideal oder real sein, jedenfalls auf das Leben und die Wirklichkeit angewiesen ist, wenn der Gedanke künstlerische Form haben soll, und dass die neue Richtung in der Kunst, die Aufgaben wie diese einführte, bei Lichte besehen, nichls weiter bedeutet, als dass die damalige Generation das Bedürfnis empfand, ihre Aufmerksamkeil der Art von Lebenswert und Schönheit, die in dem Verhältnis von Mutter — oder Pflegemutter - und Kind liegt, etwas mehr zuzuwenden. Wie nahe sie diesem Ziel gekommen ist, sieht man bei der näheren Betrachtung des Kunstwerkes selber.

An der weiblichen Figur spürt man noch sehr deutlich eine Nachwirkung des statuarischen Kultbiides, so wie dieses von der Plastik des fünften Jahrhunderts ausgebildet war, einzeln dargestellt und ohne Verhältnis zu einer andern Figur. Sie gehl noch nicht recht auf in dem Verhältnis zu dem Kinde: Das Schönste an ihr ist gerade die echt antike Festigkeit, Würde, Selbständigkeit, womit sie sich häll und auf ihren Beinen steht.* Die rechte Hand umfasst das lange, goldene Szepter, das auf die Erde gestützt isl, während die Gültin auf dem linken Arm und der Hand das Kind trägt. Ihr seelisches Verhältnis zu diesem ist nur in der seitlichen Neig- ung des Gesichts zu ihm herab angedeutet und in der Miene, die bei allem Ernst und aller Ruhe doch wohl ein wenig milder ist als in der älteren Kunst. Aber ein eigenllicher Ausdruck für das Mütterliche oder pflegemütterlicbe Verhältnis, so wie es in manch einer schönen Madonna der italienischen Renaissance wiedergegeben ist, liegt doch noch sehr fern; und wenn man vor dem antiken Werk an die christ- liche Madonna erinnert wurde, so hat man sicher ein gutes Stück seiner eigenen Phantasie dabei zu Hilfe genommen. Es isl auch sehr begreiflich, dass die erwachsene Gestalt, und namentlich eine Göttergeslull, anfänglich schwieriger in das neue Ver

1 Glyptothek Nr. %. Venrl. Brunns Katalog 1*0* oder seine Abhandlung von 1*17 (über die sog. Leulot hea  ; ferner F. Imhoof Blumer und Perey Gardner: A numismatic fonimcntary on Tan- sanias IHK.".- 87. p. 147 PI. DD, X. XI.

  • Auf den Stil und die Verhältnisse in dieser Figur wollen wir später einen Blick werfen

im Zusammenhang mit den übrigen weiblichen Figuren aus dieser Periode. (Der Verfasser hat, da dieser Abschnitt r.u dem letzten gehört, was er geschrieben hat, die beabsichtigte vollständige Be- handlung der weiblichen Gestalten dieser Periode, in die sicher auch die aus der hellenistischen Zeit mit aufgenommen werden sollten, nicht abgeschlossen  ; so ist denn die melischc Aphrodite ganz unerwähnt geblieben.)



- 25 -


liällnis einzureihen war, weil ihr von der früheren Kunst schon eine so lesle Form und eine so souveräne Haltung gegeben war, wohingegen die kindliche Figur, die die eigene Entdeckung der neuen Zeit war, sich ungleich freier und lehhalter be- wegt. Das ist gerade hier der Kall : Das Kind1 ist das Aktive in dem Verhältnis. Es streckt seine rechte Hand liebevoll und munter nach dem Antlitz der Frau aus und sieht zu ihm hinauf. Mit der linken Hand hat es sicher das Füllhorn berührt, dessen spitzes Ende Eirene in der Hand hält, in derselben, mit der sie das Kind trägt: der allegorische Sinn ist klar: es ist der Reichtum, der dein Frieden den Segen in die Hand gibt zum Lohn für die liebevolle Pflege.

Eine andere grössere plastische Darstellung der Frau mit dem Säugling n. haben wir in einer Marmorgruppe im Vatikan (Museo Chiaramonli) : hier sitzt die Frau und lässt das nackte Kind, das sie auf dem Arm hat, aus ihrer Brust trinken. Sie fasst es liebevoll mit der Hand um den Hinterkopf, und das Kind legi die eine Hand auf ihr Handgelenk und streckt die andere nach ihrer Schulter aus. Die Frau beugt den Kopf milde über das Kind, ohne es jedoch anzusehen. Das ist, in idealer Form, eine sehr getreue Beobachtung der Wirklichkeit.

Die Gruppe ist zweifelsohne die Kopie eines älteren Werkes, gehört aber in der Gestalt, in der sie auf uns überkommen ist, nicht zu den hervorragenden Ueber- resten antiker Kunst. Die Ausführung zeigt auf die römische Kaiserzeit hin und bietet kein sonderliches Interesse  ; obendrein ist eine so wichtige Partie wie der Kopf der Frau in neuerer Zeil überarbeitet und abgeglättet. Dessen ungeachtet liegt in dem Grundzug und Kern der Komposition etwas, das in all seiner Einfachheit gross und gut und der besten antiken Kunst würdig ist; und es ist sowohl in der Figur der Frau und des Kindes — selbst in dem Gesicht der Frau, wie abgeglättet es auch ist — ein gewisses Etwas erhalten, das im Charakter an die Gruppe von Eirene und Plutos erinnert und darauf hindeutet, dass die Original-Kompositionen, die hier wiederholt sind, ungefähr demselben Zeitalter angehört haben. Dass die Gruppe im Vatikan eine späte und unmittelbare Wiederholung von Xenophons Gruppe in Theben, Tyche und der kleine Plutos, sein sollte, ist doch wohl kaum anzu- nehmen, da das Kind in dieser Gruppe wie in der andern wahrscheinlich ein Füllhorn als Attribut gehabt hat, was hier nicht der Fall ist.

Auch hier stehen wir vor der vorläufig noch offenen Frage, oh die Gruppe eine Mutter mit ihrem eigenen Kinde oder eine kinderpfle- g e n d e Göttin darstellt. Auf den Grund des Götlerlebens ist die Vorstel- lung wohl auf alle Fälle zurückzuführen  : darauf deutet auch der hohe Kopfschmuck Stephane» hin, den die Frau über dem Scheitel trägt. Aber die antike Kunstmytho-

' Die Gestalt des Kinde» kann nach der Gruppe in München nicht so recht beurteilt werden; sie ist stark restauriert und der Kopf des Kindes, der übrigens antik ist, hat ursprünglich nicht ku dieser Gruppe gdiört. Aber man hat zwei Mittel für eine richtigere Auffassung, teils in einer athenischen Kupfermünze (in dem oben angerührten Werke von Inihoof Blumcr und l'crcy Gardner abgebildet), auf der dio Gruppe dargestellt ist, teils in einer im Piräus gefundenen Kinderfigur von Marmor (F \V 1211), die zu einer andern Wiederholung derselben Gruppe gehört hat.



- 26 -

Ingie scheint mehr Aufmerksamkeit auf das Verhältnis der Pflegemutter als auf das der Mutler zu dem kleinen Kinde gelegt zu hahen.

Wir kommen der Beantwortung der Frage kaum näher durch den eigentüm- lichen ( instand, dass das in der Gruppe dargestellte Motiv mit einer gewissen Sicherheit mit einer Reihe von Bildwerken in Verbindung gesetzt werden kann, die wir von anderwärts her kennen. Aus Gegenden in Italien, namentlich Campanien, kennen wir einen Bildertypus, der in einer Menge von Exemplaren vertreten ist ' und eine thronende weibliche Figur — sicher eine Göttin, mit mehreren Kindern auf dem Schosse darslelll. Die ältesten Exemplare sind noch von rein barbarischer Kunst, die ebensosehr an l'cru oder Mexiko wie an Griechenland oder Italien erinnert ; aber während der Grundzug des Typus — namentlich die frontale Hallung der Haupt- figur - und dessen Bestandteile dieselben bleiben, bemerkt man allmählich in der Behandlung der Formen einen offenbaren Einfluss der grossen Entwicklung der Plastik, die ursprünglich in Griechenland vor sich ging und von dort nach Italien hinübergetragen wurde Sogar der Stil des vierten Jahrhunderts und der Stil noch späterer Zeiten liisst sich hier spüren und zwar, obwohl keine der Gruppen — so weit wir gesehen haben — sonst den Namen eines Kunstwerkes in der höheren Bedeutung des Wortes verdient. Wir sprechen hier hauptsächlich von den g r ö s s e r e n , aus einfachem Porös ausgeführten Gruppen. Es ist in ihnen absolut kein seelisches Verhältnis zwischen der Frau und dem Kinde ausgedrückt: die Frau neigt dem Kleineu nicht einmal den Kopr zu und dieses ist ganz eingehüllt wie ein steifes kleines Ding, das auf ihrem Schosse ruht, gegen den einen oder den anderen ihrer Arme gelegt. Ausnahmsweise kommt es auch wohl vor, duss das Kind an der linken Brust der Frau saugt, jedoch ohne dass hierdurch mehr lieben oder Bewegung erzeugt wird, oder dass die Frau ihre Hand um ein neben ihr stehendes, ein wenig grösseres Kind legt.

Sehr auffallend ist der Unterschied zwischen der Zahl der Wickelkinder auf dem Schosse der Frau und die Verteilung derselben auf den einen oder den andern hb. is. ihrer Arme. Zuweilen hat sie nur ein, zuweilen zwei Kinder, und so wechselt die Zahl ganz unregelmässig ab bis zu zwölfen (drei auf der einen, neun auf der andern Seite): je mehr sich in einer Reihe befinden, um so abgekürzter ist die Darstellung jedes einzelnen. Ganz willkürlich kann dieser Unterschied wohl kaum gewesen sein, aber worauf er hindeutet, das muss ganz unentschieden bleiben. (Man könnte z. B. daraus schliessen, dass die Gruppen Votivbilder an eine kinderpllegeude Göttin sind, von wirklichen Müttern aufgestellt, so dass die Zahl der Kinder der Zahl erdspräche, die die Stifterin selber zur Welt gebracht hat.)

Aber es existieren auch — gerade aus derselben Gegend und in demselben Museum eine Menge kleiner Terrakotta-Figuren, die Frau mit dem Kinde dar- stellend. Dass sie dieselbe Idee wiedergeben wie die grösseren Steingruppen hat ja die grösste Wahrscheinlichkeit für sich; aber ein Teil davon ist in künstlerischer

1 Die sich beinahe alle im Museum zu Capua befinden



- 27 -


Hinsicht sehr verschieden von jenen. Es liegt weit mehr wirklich künstlerische Fein- heit, Lehen und Abwechslung in ihnen. Das Kind ist nackend und bewegt sich frei, und in der weiblichen Figur ist die alte frontale Haltung verlassen. Das Motiv kommt bei den einzelnen Terrakotten mit einer gewissen Verschiedenheil zum Aus- druck: aber sicher ist es, dass es in einigen Exemplaren der oben besprochenen Marmorgruppe im Museo Chiaramontini ganz nahe kommt, so nahe, dass man sagen kann, dass diese Gruppe nichts anderes ist als ein in grossem Massstab und in Marmor ausgeführtes Exemplar derselben Gruppe, die durch die kleinen Terrakotten in Capua repräsentiert wird; diese repräsentieren ja wieder in bezug auf die Idee und das Thema dasselbe wie die grösseren Steinfiguren, die uns in Zeiten zurück- führen, die jedenfalls in bezug auf die Kunst ganz primitiv waren. Es ist interessant zu sehen, wie sich das uralte Motiv im Laufe der Zeiten zu wirklich lebendiger Kunst entwickelt hat. Wir haben hier jetzt die kleinen Terrakotten in Capua als Bindeglied zwischen den alten Steinfiguren und der Marmorgruppe anführen müssen : fragen wir aber nach dem wirklich historischen Entwicklungsgang, so können die Terrakotten vermutlich nicht als Voraussetzungen für eine Gruppe wie die im Vatikan betrachtet werden  : sie sind weit eher Folgen derselben. Die Entwicklung ist wahrscheinlich so vor sich gegangen, dass irgend ein bedeutender Künstler aus den guten Zeiten sich einmal des allen Motivs bemächtigt und es im Geiste der neuen Zeit behandelt hat, indem er voll und frei den menschlichen Inhalt von Leben und Gefühl, der darin liegt, zum Ausdruck brachte, und dass so die kleinere Kunst, die die Provinz mit kleinen Votivbildern versorgte, mit Freuden auf die neue Spur eingegangen ist, die die grössere Kunst angewiesen hat. Es ist sogar möglich, dass das alte italische Motiv durch Nachahmung irgend eines griechischen Kunstwerks entstanden ist, das allerdings die das Kind pflegende Frau darstellte, aber nicht gerade den be- sonderen campanischen Kultus dieser Idee vor Augen hatte.

Es gibt in der griechischen Mythologie gleichsam einen aus verschiedenen Stricken zusammengcllochlcnen Knoten, in dem auch das Verhältnis zwischen Mutter oder Pflegemutter und dem kleinen Kinde mehrmals vorkommt und Anlass zu Kunstwerken gegeben hat. In Korinth und auf dem Isthmus verschlingt sich dieser Sagenknoten aus Fäden., die aus verschiedenen Orten kommen.

Sage und Kunst haben eine ganze Menge von der Pflege des kleinen Dionysos zu erzählen. Man sieht ihn z. R. auf dem Schosse einer Nymphe, die sich anschickt, ihm die Brust zu geben, auf einem römischen Grabgemälde im Thermen- museum in Rom ; auch auf pompejanischen Gemälden findet man dergleichen Motive. Aber es ging auch die Sage, dass Dionysos als Säugling von Hermes zu Ino gebracht sei, um grossgezogen zu werden. Dies ist auf einem vorzüglichen vatikanischen Puteal-Relief dargestellt; und es gibt Münzbilder und hat wohl auch Statuen gegeben die — sowie jenes Puteal — Hermes in schnellem Gang, ein kleines Kind auf dem Arm auf dem Weg zu Ino darstellten. Der kleine Dionysos war über- haupt ein Liebling der Erwachsenen, und natürlich in erster Linie seiner Mutter, von der man nicht überall und zu allen Zeiten glaubte, dass sie bei der Geburl des



— 28 -


Kindes umgekommen sei. Auf Her entzückend schönen gravierten ( mrisszeichnung eines elruskischen Bronzespiegels fdes Gerhardscheii Spiegels in Berlin, sicher nach einer griechischen Originalzeichnung aus dem vierten Jahrhundert i 1 sieht man Dionysos — hier jedoch als Knaben von 10 — 12 Jahren dargestellt — vor seiner Mutter Semele stehen, den Rücken ihr zugewendet : da beugt er sich plötzlich hintenüber und schlingt beide Atme um den Hals der Mutter mit kindlichem Verlangen nach einem Fig i«. Kuss, das auch erfüllt wird.

Aber von Ino wird erzählt, dass sie nicht nur Dionysos' Pflegemutter, sondern auch wirklich Muller von Söhnen, namentlich die Mutter des Melikerles war: und sie ist auch von der Kunst mit dem kleinen Kinde Melikertes auf den Armen dar- gestellt worden. Hier war ein Berührungspunkt zwischen einer heroischen Sage und einem Naturmvlhos, denn Ino und Melikertes wurden auf dem Isthmus unter dem Namen Leukolhea und Palaimon als Halbgötter verehrt. Palaimon wird als Kind auf einem Delphin dargestellt.

Ausser bei den verschiedenen kinderpflegenden Göttinnen tritt uns in der an- tiken Mythologie in einzelnen Punkten das Verhältnis zwischen Mutler und Kind in einer so eigenartigen und interessanten Form entgegen, dass die Kunsl es nicht gut umgehen konnte. Dies ist der Fall mit Aphrodite und Eros oder den Eroten; da ist z. B. unter den pompejanischen Wandgemälden die häusliche Szene mit Aphrodite und den Eroten, wo die Göttin einem Eros, der unartig gewesen ist, die Hute verordnet. In andern Darstellungen scheint der Eros die Uebermacht zu haben und seine würdige Mutter zu bestricken, wohingegen man kaum eine Gruppe von Aphrodite und Eros linden wird, wo gerade auf das eigentlich charakteristische und für Göllinnen und sterbliche Frauen in gleicher Weise geltende Verhältnis zwischen der Mutter und dem kleinen Kinde hingewiesen ist. Zu diesem Kreis gehört indessen in erster Linie ein prächtiges pompejanisches Wandgemälde, das unbedingt zu den schönsten Darstellungen der Frau mit dem kleinen Kinde gehört, die uns aus dem Altertum überliefert sind. Eine bekränzte weibliche Figur (in grossem Mass- stab, aber nur als Brustbild erhalten; trägt auf den Armen einen ge- flügelten kleinen Knaben, der wohl ein Eros sein muss, während die Frau sicher nicht Aphrodite ist, sondern vielleicht eine Nymphe, die des Eroten Mutler ist (Philoslr. major I, <>. h. Die Nymphe muss stehend gedacht werden, sie Irägl das Kind auf ihrem rechten Arm und umschlingt es auch mit dem linken Ann. Das Kind sitzt ganz frei und beweglich, legi den linken Ann um den Nacken der Mutter, ohne ihr jedoch das Antlitz zuzuwenden; es betrachtet eine schöne Blume, die es in der herabhängenden linken Hand hält. Die Nymphe sieht stolz und sorglos geradeaus; in der Haltung des Kindes und der Art und Weise, wie es sich an die Mutier schmiegt, liegt ein zärtlicherer Ausdruck. Es ist nicht nur ein herrlich gemaltes Bild, sondern auch ein kostbares Zeugnis dafür, in welchem Geiste die künstlerische Phantasie des Altertums das Verhältnis zwischen Midier und

' Monom, dctl' Inst I , Gerhard, Etrnsk. Spiegel I.



- 29 -


Kind zu schildern vermochte. Ein glückliches Dasein auf einer blumigen Wiese, wo Mütter Kinder gebären, freie Mädchen Blumen pllikken und Schmetterlinge fangen ! '


DIE JUGENDLICHE MÄNNLICHE GESTALT.

Sucht man auf diesem Gebiete Werke, die mit von aussen gegebener Sicherheit oder überwiegender Wahrscheinlichkeit als Stützpunkt für die Auffassung des vierten Jahrhunderts dienen können, so muss man gleich einen kleinen Sprung vorwärts machen, aus der Zeit weg, wo Sokrales seine Gedanken darlegte. Doch sind wir in der glücklichen Lage, dass wir zur Kenntnis der drei berühmtesten Meister der Plastik  : Skopas, Praxiteles und L y s i p p o s, bestimmte Werke besitzen, an die wir uns halten können.

In erster Linie zu nennen sind die beiden im Zentralmuseum zu Athen aufbe- wahrten, ziemlich kleinen Marmorköpfe, die aus der Giebelgruppe in Athena Aleas Tempel zu Tegeain Arkadien herrühren. Dadurch werden diese Köpfe mit Skopas in Verbindung gebracht, den Pausanias (VIII, 15, 5) als den Baumeister des Tempels erwähnt ; und da Skopas auch sonst als Bildhauer berühmt war, ist es ja sehr natürlich, die plastische Ausstattung des Tempels auf ihn oder auf seine Schule zurückzuführen. Doch ist die Ausführung der Köpfe so flüchtig, man möchte fast sagen so roh, dass sie unmöglich als Originalwerke eines Meisters von seiner Bedeutung angesehen werden können. Aber es sind kik.u.-i.-.. geistvolle Arbeiten, und ihr stark angespannter Ausdruck illustriert gleich auf ganz auffallende Weise Sokrales' neue Forderung an die Bildhauerkunst, dass sie «den drohenden Blick des Kämpfenden» darstellen soll. Das Auge ist verhältnis- mässig gross und offen und liegt in dem kräftigen Schallen des stark modellierten St irnk nochens. Die ganze Kopfform ist eckig, mit breiten Schläfen und unterscheidet sich in jeder Beziehung deutlich und bestimmt von dem Typus des vorhergehenden Jahrhunderls. — Einen etwas ähnlichen Typus wie in den Köpfen von Tegea — doch jugendlicher und sanfter im Charakter — linden wir in den recht schlanken und eleganten RelieHiguren des den Kampf der Amazonen mit den Griechen

1 Einen weit pathetischeren Charakter, wo die harte und kalte Hand des Unglücks and des Leidens die Mutter mit ihrem Kinde gepackt und ihr Gefühl inniger, wachsamer und bewusster gemacht hat, ist in verschiedenen Bildern von Dauae mit dein kleinen Perscus erhallen <Simonidet>' Gedicht, pompejanische Gemälde, namentlich in der Casa del Orso). Besonders tragisch ist das Ver- hältnis in ein paar berühmten Werken aus dem 4. Jhdt. dargestellt: Die Gruppe der Niobe, die bemüht ist, eine halberwachsene Tochter gegen den Zorn der Götter in Schutz zu nehmen ; das Gemälde von Aristiilcs aus Theben, wo man das kleine Kind hinkricchen sah, um aus der Brnst der verwundeten, sterbenden Mutter zu saugen, und in ihrem Ausdruck die Angst las, dass das Kind Schaden nehmen könne, wenn es Blut statt Milch einsog (Plin. .V>, IW). Ein späterer Bildhauer, Epigonos, führte eine rührende .Szene von einem kleinen Kind«' aus, das die getötete Mutter liebkost. Plin. M, MT).



— 30 —


darstellenden Frieses am Mausoleum zu Halikarnass, ungefähr um das Jahr .350 oder kurz darauf ausgeführt (jetzt im British Museum'. Vier von den bekanntesten Künstlern der Periode: Skopas, Bryaxis, Leochares und Timolheos führten die plastische Dokoration des Gebäudes aus, also auch den Fries, indem jeder von ihnen eine der vier Seiten des Gebäudes übernahm (Plin. iiG, 30).

Weit wichtiger ist jedoch, was wir von Praxiteles besitzen Nachdem am 8. Mai 1877 die schöne Hermesstalue aus parischem Marmor im Heratempel in Olympia gefunden war — übereinstimmend mit Pausanias' Nachricht ( V, 17, 3), dass gerade in diesem Tempel eine Statue des Hermes mit dem kleinen Dionysos auf dem Arm stand, aus Marmor und von der Kunst des Praxiteles, — verging einige Zeit, ehe die Wissenschaft sich so recht dahin einigte, anzuerkennen, dass man in dem gefundenen Werk wirklich eine eigenhändige Arbeit von Praxiteles selber besitze. Ks war ein Zug von Gewissenhaftigkeit, dass man nicht an sein eigenes Glück glauben wollte, sondern allerlei Einwendungen erhob. Aber diese waren ganz sicher ungültig und sind, soweit ich weiss, allmählich auch ganz ver- stummt: wir haben hier wirklieh wie sonst nirgendwo in der erhaltenen Kunst des Altertums die Gewissheit, eine Originalarbeit von einem der allerberühmlesten Kl*, s. Künstler zu besitzen. Und obwohl die Glieder der Hennesfigur zum Teil fehlen, muss auch das Motiv als sicher betrachtet werden : Der Gott steht, mit dem linken Ellenbogen leicht auf einen Baumstamm zur Seite gestützt : auf dem linken Arm trägt er den kleinen Bruder, und die Hechte hält er mit einer Weintraube, die er dem kleinen Weingott zum Ergötzen zeigt, in die Höhe, während dieser die Hand jubelnd nach dem herrlichen Wunder ausstreckt. Von dieser Seile haben wir oben bereits einen Blick auf die Gruppe geworfen im Zusammenhang mit verwandten Kunstwerken. Hier betrachten wir den Stil in der Herinesfigur als Glied in der Entwicklung des jugendlichen männlichen Ideals. Man muss sich erinnern, dass die Vorstellung von Hermes — wo er nicht als das kleine Kind gedacht wird — für die Griechen immer einen entwickelten, athletischen Charakter erforderte: er war ja die beschützende Gottheit und das Vorbild der gymnastischen Hebungen. Und dies hat Praxiteles auch bei der Charakteristik seines Hermes, der bei weitem nicht jugend- lichste und knabenhafteste, den man kennt, unverkennbar vor Augen gehabt. Es ist ein völlig ausgebildeter und kräftig entwickelter junger Mann, nicht ohne eine gewisse Grös>e aufgefassl, und deshalb eines der gültigsten Zeugnisse von der Entwicklung des Ideals vom jugendlichen Manne, um so mehr, als die plastische Behandlung der Gruppe wirklich eine üusserliche Meisterschaft zeigt, die des Meisseis eines Künstlers ersten Banges würdig ist. Ausserdem ist die Oberlläche ungewöhnlich schön erhalten.

Nichtsdestoweniger wird es schwer, die mehr körperliche Seite der Figur zu beobachten, weil diese so völlig von seelischem Leben durchdrungen ist. Was wir überhaupt von Praxiteles' Repertoire wissen, freilich aus zerstreuten Nachrichten, von deren grosser UnVollständigkeit wir vollkommen überzeugt sein können — deutet auch auf alles andere als auf eine Vorliebe für Aufgaben athletischer Natur hin: es waren jedenfalls nicht Gestalten wie der erwachsene Hermes, denen der Künstler



— 31 —


seinen Ruhm zu verdanken hatte. Der seelische Inhalt der gefundenen Gruppe liegt ja so fern wie möglich von eigentlichem männlichem Treiben. Dies wird schon durch die Stellung des Hermes angedeutet : er steht nicht wie die athletischen Gestalten der früheren Kunst allein auf seine Füssc gestützt, sondern sucht auch Stütze von der Seite, was eine weiche und bequeme Beugung des Körpers zur Folge hat. Während der Geist voll in Anspruch genommen ist, ruht der Körper.

Wie fühlt man nicht dieses olympische Schwelgen in seinem eigenen voll- kommenen Wohlbefinden, dieses glückselige Somnierferien-Dascin, aus allen Formen des Körpers des Gottes heraus! Alles ist so schön und blühend und gleitet so leicht durch die Glieder, jeder Atemzug ist Glück. Die prächtige Entwicklung des Körpers ist mehr wie ein olympisches Privilegium als — auf menschliche Weise — eine Frucht anstrengender L'ebungen. Hier ist nicht der feste, stramme, bestimmt be- grenzte Muskel wie bei den athletischen Jünglingen des Parthenon : alle Formen Iiiessen leichter und milder in einander über unter der glatten Haut ; es ist nicht der trockene Schwamm der Stärke der die Muskeln hervorgetrieben hat, sondern der Klumenzweig der Schönheit, der sie milderte und verband. Diese verschwommene Behandlung der Oberfläche, die jedem Kontur die Schärfe nimmt und an das geist- reich Duftige («sfumato») in Leonardo da Vincis oder Andrea del Sartos Pinsel erinnert, können wir mehrfach in der griechischen Kunst uus dieser Periode bewundern, nirgends aber so wie hier, wo wir sie von Praxiteles" eigenem Meissel haben.1 Dies ist ganz herrlich, — aber jetzt haben wir auch ein Gefühl, dass ein Schritt weiter hinaus in Gewiss und Verfeinerung uns zu viel von dem Guten geben und uns in eine schwüle und unfrische Atmosphäre führen würde. Wir nähern uns hier schon jener Art Glattheit, mit der Canova seine Zeitgenossen bezauberte, die die Nachwelt aber nicht in so hohem Grade anerkannt hat. Doch ist hier nur die Bede von einer Annäherung, einer Gefahr, und noch befinden wir uns auf der Höhe.

Ich habe die Gruppe oben ein Genrebild genannt ; und wenn ein solches noch so ideal und olympisch ist, so führt es doch näher zu dem Niveau der Wirklichkeil herab als die AufTassung früherer Zeiten von dem Leben der Gölter und der Menschen. Ks ist intimer, der menschlichen Vertraulichkeit zugänglicher: dies ist auch in der körperlichen Gharakteristik der Hermesfigur ausgedrückt, deren Stil im Vergleich zu den älteren Idealen offenbar eine Annäherung an die Wirklichkeit bezeichnet. 3 Wir sehen das schon an dem (einzeln gefundenen) rechten Fuss des Hermes, der völlig aussieht wie ein ausgesucht schönes Stück Wirklichkeit : die Adern treten unter der Haut hervor, alle Linien und Formen sind weniger stramm als bei den früheren Typen des menschlichen Fusses ; die ungleiche Länge der Zehen und ihre schräge Stellung

' Der Autor hat hier einen Zusatz über «circumlitio» machen wollen.

  • Was wir hier entwickeln, kann als richtige Verdolmetschnng der Stelle bei Quintilian

(Inst. Orat. XII, 10, Ö) scheinen .- — «ad veritatem Lysippum et Praxitelcm accessissc optinte affir- mant». Nach Quintilian stehen Lysippos und Praxiteles in der Mitte zwischen den Idealisten Phidias und Polyklet auf der einen, und dem Realisten Dcmetrios (nimius in veritate) auf der anderu Seite.



- 32


zueinander sind hier ganz naturgetreu beobachtet. Und so der ganze Körper: alle Linien scheinen dein Vorbilde der Natur so zu folgen, wie die Wirklichkeit es gibt, kik i7. nicht wie die Kunst es will. Und vor allem der Kopf. Myrons, Phidias' und Polyklels Ideal-Köpfen merkt man es doch deutlich an, das«  so kein wirklicher Kopf ausgesehen hat; es ist die Grundform für einen Kopf, zu einer gewissen abstrakten und architektonischen Schönheit entwickelt. Bei Praxiteles stossen wir nicht mehr auf jenen strengen Zuschnitt von Stirn und Nase mit geraden Linien und strammen Flächen  ; man erhält den Eindruck, dass der Künstler mehr aus seiner Erfahrung über den wirklichen attischen Nationaltypus geschöpft hat. Deshalb muss man sieb hüten, die Genealogie dieses Typus von älteren Typen abzulenken : das Charakteristi- sche an ihm sind gerade neue Nuturstudien.

Während der Formenkern in diesem Kopf kaum so sicher konstruiert ist wie bei den älteren, sind die einzelnen Formen auf der Oberfläche stärker hervorgehoben. Dies ist besonders bei der Behandlung des Haares in die Augen lallend. Es wird jetzt nicht mehr wie eine gesammelte Masse mit einer verhältnismässig ebenen Ober- fläche ausgeführt: die kleinen Löckchen des stark gekräuselten wolligen Haares stehen direkt vom Kopf ab, sie stehen in einem dichten Wald, jede mit ihrem bestimmten Vor- sprung. Dies ist eigentümlich für den Stil des Zeilalters überhaupt. Aber ganz besonders charakteristisch für den Hermes des Praxiteles und, so weit ich weiss, eine Ausnahme in der ganzen griechischen Kunst ist es, dass die Haarlocken eigentlich nicht plastisch durchgebildet sind, sondern mit der rohen und rauhen Obertläche des Steins zusammen- fallen. Sonst ist die Statue gerade sehr vollendet und sorgfältig gearbeitet, ausgenommen auf der Rückseite, wo die Meisselschläge sich frisch, mit scharfen Kanten abheben, wahrscheinlich in Anbetracht dessen, dass die Figur an ihrem Platz im Tempel nicht vom Rücken aus gesehen werden konnte oder sollte. Aber das Haar sollte gesehen werden, und sein jetziger Zustand kann weder durch Versäumnis oder schlechte Aufbewahrung erklärt werden, wenn es auch einen leichten Ueberzug von Farbe oder Vergoldung verloren hat. Praxiteles scheint der Ansicht gewesen zu sein, dass eine rauhe und unbearbeitete Oberfläche dem natürlichen Haarwuchs näher kam als eine sorgfältige Ausmeisselung. Es ist dies ein Fall, wo ein Meister es ver- sucht, Zufälligkeiten zu benutzen, so wie Apelles, nachdem er viele vergebliche Versuche gemacht hatte, den Schaum um das Maul eines Pferdes zu malen, schliess- lich ungeduldig den Schwamm gegen die Tafel warf und nun entdeckte, dass seine Spuren am besten den Charakter des Schaumes wiedergaben, oder wie Goethe, als mau ihn einmal aüf einen siebenlüssigen Hexameter unter seinen Versen aufmerksam machte, eine Zeitlang darauf hinstarrte und dann sein Urteil abgab : Die Bestie soll stehen bleiben. Aber dergleichen gewagte Züge setzen voraus, dass sich der Meister im Besitz gewisser Autorität fühlt, und hier deutet es wohl daraur hin, dass Praxi- teles bei der Ausführung seines Hermes kein junger Künstler mehr war.

Auch die Behandlung der Gesichtszüge zeugt von einer neuen Zeit. Das Auge liegt tiefer zwischen stark modellierten Knochenparlien, nach aussen, nach der Schläfe zu, wölbt sich der Sliriiknochen mehr darüber; inwendig, nach der Nase



-- 33 —


zu, liegt es in stärkerem Schallen. Das Auge selber ist verhältnismässig klein und weniger offen als in der alleren Kunst, der Blick mikle, ein wenig lächelnd. Der oberste Teil der Stirn ist zurüc kgezogen, der unterste hervortretend, mit vorstehenden Knoten zu beiden Seiten über der Nasenwurzel. Der ganze Gehirnkasten ist unge wohnlich gross, mit breiten, eckigen Schläfen. Die Nase, die nach oben zu einen sehr breiten Kücken hat, läuft nach unten spitzer zu als bei den älteren Typen, ihre mittlere Partie ist dicker und das Profil fein gekrümmt. Der Mund ist klein mit ziemlich vollen Lippen, das Kinn kräftig abgerundet mit einem Grübchen. Einige von diesen Zügen, wie die starke Modellierung der Stirnfläche, sind wohl schon in dem fünften Jahrhundert vorbereitet, aber als Ganzes ist das Resultat neu und sehr be- zeichnend für das vierte Jahrhundert. Die beiden erhaltenen Krieger- ((»der Jäger-) Köpfe aus den Giebelgruppen in Tegea haben in den gröberen Uauptzügen eine ge- wisse Aehnlichkeit mit dem Hermes-Typus; der eckige Kopf mit den breiten Schläfen, die starke Modellierung des Auges, das jedoch in den Köpfen von Tegea grösser ist und — der Situation entsprechend — auch weiter geöffnet.

Au dem Hermes des Praxiteles wird der Kopf im Verhältnis zu dem übrigen Körper immer mehr die Aufmerksamkeit auf sich lenken als dies bei der älteren Kunst der Fall ist. Er ist die entfaltete, stark duftende Blüte des lieblichen Hosenzweiges. Der Duft ist das Seelenleben, der Ausdruck, und dazu wird der Genuss dieses Werkes beständig zurückkehren. Während im übrigen in den Verhältnissen des schlanken und schönen Wuchses nichts Ungewöhnliches oder Abstechendes liegl, muss der Kopf, namentlich für eine athletische Gestalt, eher gross genannt werden, und namentlich gill dies von der Gehirnhöhle des Kopfes. Dorl muss auch Platz für mehr Gehirn Windungen sein, als wofür die athletische Jugend sonst Verwendung hat ; denn dieser Hermes ist «der beste Kopf» in der ganzen griechischen Kunst. Man muss bis zu Leonardo da Vinci hinaufgehen, um etwas Aehuliches au Klugheit, Feinheit und He- wusstheit zu finden, wie sie in diesem Ausdruck liegen. Dieser Hermes — oder auf alle Fälle sein Meisler Praxiteles — sind ja auch in Athen, dem edlen Heim geistiger Bildung und philosophischer Schulen zu Hause, dort, wo die Luft mit der Elektrizität der Dialektik geschwängert war; und schliesslich scheint er sich trotz seines gött- lichen Amtes als der Beschützer körperlicher Gymnastik mehr für das Geistige zu interessieren.

Die andere Figur, die uns als kunstgeschichtlicher Stützpunkt dienen muss, ist ki*. i*. die vortrefflich durchgeführte und fast völlig erhaltene Marmorstatue, die im Jahre 1845) in Horn (Trasteverei gefunden, dann am Ende des Braccio nuovo im Vatikan aufgestellt und bald als Kopie von L y s i p p o s' Apoxyoraenos (Schaben erkannt wurde, d. h. als Kopie seiner Bronzestatue eines jungen Athleten, der sich nach beendeter Gymnastik Gel, Schweiss und Schmutz mit der Hautschabe abkratzt. Lysippos' Original-Figur war von Markus Agrippa vor seinen Thermen iu Horn aur- gestellt worden, wo sie unendlich populär wurde. (Plin. 34, 62i.

Es verhält sich mit dieser Statue des Lysippos so wie mit Polyklets Doryphoros: man findet in der Geschichte des Altertums nichts weiter zur Beschreibung derselben,



- 34 —


als was in der Benennung Apoxyüinenus («destringens se») liegl; und da es mehrere, zweifelsohne viele Statuen gab, auf welche diese Benennung passen konnte, würde sie uns an und für sich lange nicht genügen, um in der gefundenen Marmorstatue gerade eine Kopie von Lysippos" Werk zu erblicken. Wenn dies Resultat trotzdem als historisch sicher betrachtet werden muss, so beruht das im wesentlichen auf andern Gründen.

Erstens hat der Kopf der Figur eine ganz auffallende Aehnlichkeit mit der Herme im Louvre, die durch eine antike Inschrift als Alexander der Grosse bezeichnet ist ; und da Lysippos bekanntlich Alexanders Hofbildhauer war, der sogar das Privilegium gehabt haben soll, sein Porträt in plastischer Kunst auszuführen, liegt die Annahme nahe, dass die Herme die Wiederholung eines Werkes von ihm ist. Wie sich die Aehnlichkeit des Apoxyomenos mit dem Makedonerkönig erklären lässt, ist übrigens schwer zu sagen. In jedes grossen Künstlers Menschendar- slellung herrscht ja ein gewisses gemeinsames Gepräge, das wohl deutlich in seinen idealen Bildern hervortritt, aber auch, freilich weniger in die Augen lallend, in seinen Porträts zum Ausdruck gelangt. Die Alexanderherme macht allerdings den Eindruck eines wirklichen Portrats, aber dieses ist doch sicher ein wenig idealisiert und hat sich dadurch Lysippos' Idealbildern genähert. Da die Aehnlichkeit zwischen den beiden Köpfen so gross ist, könnte man sich denken, dass auch der Apoxyomenos auf seine Weise wirklieh ein Porträt Alexanders gewesen ist, nämlich aus seinen Jugendjahren, oder dass der Hofkünstler in einem Werke idealerer Natur den Gesichts- typus des grossen Königs in verjüngter Erscheinung wiedergegeben hat.

Der zweite und triftigere Grund, die Marmorstatue für eine Kopie nach Lysippos zu halten, ist der Umstand, dass sie in bezug auf Proportionen und Kürperstil auf- fallend genau der allgemeinen Charakteristik von Lysippos' Kunst entspricht, die Plinius (34, CT)) nach älterer Quelle mitteilt, sowie dem Platz in der kunstgeschichl- lichen Eulwicklung, der Lysippos dadurch angewiesen wird. Es heisst nämlich, dass er einen grossen Beitrag zu der Eulwicklung der plastischen Kunst (<statuaria ars, wobei namentlich die Plastik in Bronze ins Auge gefasst war,) lieferte, indem er das Haar ausbildete, indem er die Köpfe kleiner machte, als die früheren Bildhauer und die Körper schlanker und trockener, wodurch die Slaluen einen grösseren Ein- druck machten. Er hatte seine Aufmerksamkeit hauptsächlich auf die Proportionalität des Körpers gelenkt (auf das, was die Griechen «Symmetrie» nennen) indem er nach einem ganz neuen System die vierschrötige Statur der älteren Figuren (statura quadratai1 veränderte; und er pflegte zu sagen, die älteren Künstler hätten die Menschen so dargestellt, wie sie waren, er, wie sie zu sein schienen. Unter den älteren Künstlern versteht er hier zweifelsohne den Polykletischen Kanon. Es war — sonderbarerweise — ein allgemein bekanntes Wort des Lysippos, dass Polyklets Doryphoros sein «Lehrmeister» gewesen sei, was darauf hindeutet, dass der Polykle- tische Figurenstil noch in seiner Jugend in der grossen Bronzegiessereischule im

1 Vergl in bezog anf statura quadrata des Verfassen «Darstellung des Menschen» S. 20f».



- 35


nordöstlichen Peloponnes die Uebermacht gehabt hatte. Wenn er auch nicht absolute Autorität besessen hat, so war er doch auch durch keinen andern, mit theoretischer Sicherheil durchgeführten Typus ersetzt. Lysippos selber schuf einen neuen Stil, aber ilas hat natürlich nur allmählich geschehen können, nachdem er seine künst- lerische Selbständigkeit entwickelt hatte. Daraus folgt, dass Jugendwerke von Lysippos in bezug auf Proportionen und Statur grössere Aehnlichkeit mit den Poly- kletischen Figuren gehabt haben können als mit Lysippos" eigenen, späteren. Man darf nichl seine ganze Kunst nach dem Apoxyomenos beurteilen, in dem uns ganz sicher seine Eigentümlichkeit voll entwickelt entgegentritt.

Im Gegensatz zu Polyklet hat er hier die Beine lang gemacht und den Körper im Verhältnis zu ihnen kleiner, mit starken Schultern und Armen, aber mit einer schmalen und feinen Taille  ; auch die Gelenke, Knöchel und Kniee — namentlich die Knöchel, sind fein gebaut. Die Küsse sind lang, schmal, elastisch und sehr elegant. Der Kopf ist verhältnismässig noch kleiner als der Körper. Darin unterscheidet sich der Typus des Lysippos nicht allein von dem des fünften Jahrhunderts, sondern auch — wie wir gesehen haben — von dem seines eigenen älteren Zeitgenossen, des Praxi- teles. Der feine, kleine Kopf dos Apoxyomenos mit dem schmalen Gehirnkasten passt auch besser zu einem rein athletischen Ideal als das grosse Kranium des geistreichen athenischen Hermes, überhaupt hat Lysippos' Figur einen weit ausgeprägter männlichen, körperlich tüchtigeren und schlagfertigeren Charakter als der Athletengott des Praxiteles; und das athletische Gebiet, zu dem er gehört, halle überhaupt weit mehr Bedeutung für Lysippos und die Schule auf dem Peloponnes als für Praxiteles und die Athener.

Durch einen solchen Aufbau der Figur, durch diese Masse, die von unten nach oben betrachtet, sich verjüngten, erreichte Lysippos die Illusion, dass die Figur grösser aussah, als sie in Wirklichkeit war — abermals im Gegensatz zu Polyklet, der sich an die durchschnittlichen Proportionen der menschlichen Gestalt gehalten hatte; und man kann nicht umhin zu bemerken, dass diese Veränderung in der Konstruktion der Statue dem entspricht, was sich in der zeitgenössischen Ar- chitektur, im Gegensatz zu der des fünften Jahrhunderts, geltend macht. Zu jeder Zeil entwickelt sich eine enge Verwandtschaft zwischen dem Stil der Statue und der Säule. Die neue Zeit hatte die schlanke, elegante und prächtige korinthische Säule geschaffen in deren schmalem Kapital das gefaltete und gezackte Akanthusblatt zu einem brillierenden Spiel mit Licht und Schatten verwendet war, und benützte sie mit immer grösserer Vorliebe statt der älteren, breiteren und einfacheren dorischen. Diese Parallele hat auch ihre Bedeutung in bezug auf die Behandlung des Haares der Figur. Wenn Plinius zu den Neuerungen, die Lysippos einführte, die Ausbildung des Haares (capillos exprimere) rechnet, d. h. eine stärkere Hervorhebung und eine naturalistischere Behandlung der einzelnen Locken, wodurch ja auch ein reicheres Lichtspiel erzielt wird, so stimmt das vollkommen zu der Kopie des Apoxyomenos. Aber wir haben oben gesehen, dass dies — auf dem Gebiete der Marmorskulptur — ebenfalls zu dem Hermes des Praxiteles stimmt und überhaupt vou dem plastischen Stil des Zeilalters in weiterem Umfange gilt.



- 30 -


Lysippos war also für seine Zeit ein Mann des Fortschritts, der den Weg einer modernen Entwicklung schritt. Doch scheint mir die Annahme nahe zu liegen, dass er bei der Darstellung seines neuen Typus mit nicht geringer Sympathie auf die Kunst zurückgesehen hat, die vor Polyklet lag, auf jene archaischen Gestalten und Wespentypen, die für uns durch Statuen wie die Teneatische in München oder die Strangfordsche in London vertreten sind : er hat durch seine Kunst praktisch be- weisen wollen, dass an diesen Figuren mit den kleinen Köpfen, den feineu Taillen und Gelenken etwas war, das eigentlich besser für ein athletisches Ideal passte, als die schwerfällige und breite Polykletische Statur. Es ist nicht unnatürlich zu denken, dass eine solche kunslhistorische Reflexion schon um die Zeit auftauchte, für die die Athletik wohl schon mehr Gegenstand des Kunstinteresses als des Lebensinteresses war. Aber auf alle Fälle hat Lysippos' Anerkennung der alten Statuen nur den Proportionen und der Statur gegolten; im übrigen hat er sein Resultat durch neue Natursludien und einen stärkeren Wirklichkeilssinn erreicht. Die wenigen historischen Andeutungen über seinen künstlerischen Entwicklungsgang widersprechen scheinbar einander. Bald soll Polyklets Doryphoros sein Lehrmeister gewesen sein, bald heisst es, dass er sich in seiner Jugend, als er nur erst die Bronzearbeit als Handwerk ausüble, ein ermahnendes Wort des Malers Eupompos zu Herzen genommen habe: als Lysippos diesen fragte, wen von den Künstlern der Vergangenheit er sich zum Vorbilde wählen solle, verwies ihn Eupompos auf die Mannigfaltigkeit der wirk- lichen Menschen und sagte, er solle der Natur selber folgen und keinem Künstler (Plinius 3t, (>1, mit Duris als Gewährsmann;. Ein eifriges Naturstudium, wie das, auf das er hier hingewiesen wurde, hat ihn noch weiter als Polyklet in bezug auf die Durchbildung der Figur, Stück für Stück, in allen einzelnen Formen, geführt. Er hat nichts von der strengen und regelmässigen Einteilung der Form, die man aus der älteren Kunst kennt, die die Natur aber gar nicht anerkennt ; er hat weil mehr Auge als Polyklet für die feinen, fliessenden Uebergänge und lässt Linien und Flächen in runderen Bogen schwellen, vielleicht mit ein wenig üebertreibung in den Partien, die er namentlich hat hervorheben wollen (z. B. bei den Schultern). In dieser Beziehung ist er am allerweitesten von dem archaischen Slil entfernt; auch im Verhältnis zu dem des fünften Jahrhunderts tritt sein Apoxyomenos mit einem auf Illusion be- rechneten Gepräge von Wirklichkeit auf.

Auch in bezug auf Stellung und Haltung bedeutet er einen Fortschritt. Trotz allem, was Polyklet in der Durchführung des Motives uno crure insistere' erreicht halte, hat man doch bei dem Vergleich mit dem Apoxyomenos ein wenig zu sehr den Eindruck, dass das lotrecht aufgestützte Bein in den Boden gepflanzt ist, und dass alle Gelenk- ansätze sich ein wenig stramm drehen. Der letzte Rest hiervon ist in der Figur des Lysippos überwunden, die so leicht und frei auf ihren langen Beinen balanciert, und bei


1 «Der durchgeführte unsymmetrische Gegensat?, «wischen den beiden Seiten des Körpers.» (Eine früher vom Verfasser gegebene Definition des Ausdruckea.) Siehe Julius Lange «Darstellung des Menschen».



J7 -


dem jedes Gelenk wie geölt ist. Die Stellung ist die eines etwas nachlässig schreitenden : er ruht auf dem linken Fuss und setzt den rechten ziemlich weit nach der Seite hin, sich nur mit der Unlerfläche der innersten Zehen auf die Krde stützend. Kr wiegt sich leicht in den Hüften; die linke ist nicht nur in die Höhe, sondern auch ein wenig vorgeschoben, so dass die vordere Fläche des Oberkörpers etwas zurück- weicht, nach innen zu, indem er auch die Arme vorstreckt und den Rücken rund macht. Das alles nur um seiner eigenen Bequemlichkeit willen  : das Motiv bedeutet ja Ruhe nach der starken Anstrengung; aber noch ist die Schlaffheit nicht eingetreten, das Blut rollt nur frischer, und der Körper wird mit vollendeter Leichtigkeit und Elastizität getragen. Der Blick ist geradeaus gerichtet, ohne die geringste Beugung oder Wendung des Kopfes — also wie bei den archaischen Figuren, aber im Gegensatz zu denen des fünften Jahrhunderts.

Es fehlt nicht viel daran, dass man den Apoxyomenos als Gipfelpunkt der ganzen Entwicklung betrachten kann. Aber in dem Verhältnis zwischen dem Körperlichen und dem Seelischen, das sieh in der Haltung der Figur ausdrückt, liegt doch etwas, was sie auf einen niedrigeren Platz hinabzieht und ihr sogar einen gewissen Cha- rakter eines Dekadenz-Phänomens verleiht.

Während Polyklets Doryphoros und seine übrigen Figuren sowie jeder einzelne von den jungen Männern auf dem Parthenonfries und überhaupt die Gestallen des fünften Jahrhunderts vollkommen naiv sind und nicht daran denken, sich in den Augen des Publikums zu spiegeln, ist Apoxyomenos alles andere als naiv : in der Art und Weise wie der junge Mann auftritt, wie er den rechten Arm ausstreckt und den Schaber mit der linken Hand an deren unterster Fläche hinführt, liegt eine Ostentation, Tür die man vielleicht keinen Beweis beibringen kann, die aber deswegen nicht weniger deutlich ist. Die gymnastischen Uebungen sind hier offenbar von einer weniger be- deutungsvollen Seite aufgefasst wie früher; sie werden nicht mehr mit heiliger Ehr- furcht als Gegenstand nationalen Interesses aufgefasst oder als Mittel zur Entwicklung von Menschen, mit denen dem Staate am besten gedient ist. Sie sind hier ein Mittel zu rein persönlicher Erfrischung und zum Genuss, oder zu einer Kraflenlwicklung, mit der man sich brüsten und Staat machen kann. Die Gestalt des Lysippos ist ein Ideal des jungen, eleganten Grosstadt-Dandys, der seine Toilette zwischen der Fehling und dem Bade macht, die behagliche Nachwirkung der hinter ihm liegenden Anstrengung gemessend, und zugleich sich selbst geniessend, indem er — wie die Schlussligur in einer Komödie — das Publikum auffordert, ihm Beifall zu schenken. Die alte Scham und saneta simplicitas scheinen jetzt ein überwundenes Stadium.

Nun ja, — darf denn das zu strenge genommen werden? So bezaubernd schön und liebenswürdig, wie er ist, hat er doch etwas, worauf er eitel sein kann — mehr als der moderne Dandy in den Strassen von London oder Paris, der sich mit setnen feinen Kleidern brüstet. Die Eleganz des griechischen Apoxyomenos ist seinem eigenen Körper einverleibt. Diese feinen, lebendigen Kurven, die seinen jugendkräftigen, herrlich entwickelten Körper und alle seine Formen umschreiben, sind wie ein weiches und elastisches Gewand von bezaubernder Schönheit.



- 38 -


Dessen ungeuchtet hal die griechische Kunst hier doch ein wenig Schaden an ihrer ästhetischen Unschuld genommen und ist auf einen verhängnisvollen Weg geraten.


Dass Meister wie Skopas, Praxiteles und Lysippos jeder für sich eine kräftige Künstlerindividualität in ihrer ganzen Produktion geltend gemacht hahen, darüher kann kein Zweifel herrschen. Aber wenn wir — nachdem wir die eben besprochenen Figuren dieser Künstler studiert haben, — die Probe machen sollten, wie weit unsere Kenntnis ihrer Individualitäten wirklich reicht, so machen wir die Erfahrung, dass sie trotzdem so vor unserm Blick zusammenfliessen, dass wir nicht imstande sind, zwischen ihnen zu unterscheiden, geschweige denn zwischen ihren Schulen und be- sonderen Richtungen. Man kann eine ganze Reihe von Antiken aufzählen, die einzeln, lange ehe man den Apoxyomenos, Hermes oder die Skopas-Köpfe fand, wohl bekannt — ja, zum Teil sogar sehr berühmt — gewesen sind und die, nach dem Funde dieser Werke, eine so offenbare Verwandtschaft mit ihnen verraten, dass wir sie dicht um jene gruppieren mussten, als Erzeugnisse derselben Periode. Aber eine nähere kunst- historischc Bestimmung zu machen, ist unmöglich: die mannigfaltigen Versuche, die gemacht sind, diese Werke einzeln «lern oder jenem Meister zuzusehreiben, sind, meiner Meinung nach ganz fruchtlos gewesen, die Ansichten der Forseher stehen sich auch widersprechend gegenüber. Bei einer Statue erinnert z. R. eine Schulter so auffallend an den Apoxyomenos, während der Kopf dem Hermes oder den Skopas- Köpfen verwandter erscheint. Man darf ja auch nicht ausser Acht lassen, dass, ein wie grosser Vorteil es auch für die Kunstgeschichte ist, jeden der Hauplmeister durch sichere Werke zu kennen, dennoch eine vereinzelte junge männliche Figur von einem jeden derselben nicht hinreichend ist, wo es darauf ankommt, ihren durchgehenden Charakter bei der Behandlung solcher Aufgaben festzustellen. Ausserdem liegen die übrigen Werke dieser Gruppe — ebenso wie der Apoxyomenos — nur in späteren antiken Kopien vor uns.

Wir wollen zunächst die wichtigsten von den Werken dieser Gruppe durch- nehmen, die in bezug auf ihren ursprünglichen künstlerischen Wert kaum niedriger zu stellen sind als jene sichern W erke der grossen Künstler ... 1


' Hier halt dieser Abschnitt des Manuskriptes inne. Fig. 1*>-2I sind Abbildungen von .Sta- tuen, die der Verfasser möglicherweise in diesem Zusammenhang hat besprechen wollen. (Anm. des Herausgebers)



DIE HELLENISTISCHE KUNST.


DIE ANATOMIE UND IHK EINFLUSS AUF DIK SKULPTUR.

Gleich zu Anfang der neuen Periode wurde dem Studium der Kunst, die sich mit dem menschlichen Körper beschäftigte, eine gauz neue und bisher unbekannte Quelle erschlossen, nämlich die Anatomie, die Sektion des toten Körpers. Es war jedoch ganz überwiegend nur ein einzelner Teil der Anatomie, der Redeutung als Studium für die bildende Kunst gewinnen konnte, nämlich die Myologie, die Analyse des Muskelbaus. Das Skelett, das ja freilich die Grundlage für den Hau des ganzen Körpers bildet, aber in der Form der Oberfläche weit weniger in die Erscheinung tritt, kennen zu lernen, dazu hat man — auf dem Wege des Zufalls — viel leichler Gelegenheit, wenn dies auch keineswegs zu einer vollständigen und systematischen Kenntnis ausreichend ist; das Aderngystem hat nur eine untergeordnete Redeutung für die Kunst; und ganze Partien der Anatomie, das Studium der Einge- weide, des Nervensystems u. s. w., die so wichtig für die medizinische Wissenschaft sind, interessieren die Rildnerei durchaus nicht direkt.

Was man früher von den Muskeln kannte, ihre Formen und Funktionen, kannte man allein durch die Reobachtung der Oberfläche des gesunden und lebenden nackten Körpers während der Ruhe und der Rewegung. Der männliche Körper wurde in dem gymnastischen und athletischen Leben studiert, der weibliche mehr durch Modell- sludien ähnlicher Art, wie auch die Jetztzeit sie anstellt. Ein Lehrer in gymnastischem Sport hat zweifelsohne sehr genau darüber Descheid gewusst, wie Vorsprünge und Vertiefungen bei der Rewegung auf der Oberfläche des Körpers entstunden  ; in den Schulen der Rildhauer und Maler wurde diese Kenntnis gesammelt, eingeübt, vererbt : und es ist anzunehmen, dass ein gelehrter Anatom unserer Zeil Respekt haben würde vor den Kenntnissen, die man auf diese Weise erworben hatte und zu jeder Zeit auswendig wusste. wenn sich die Gelegenheit, sie zu erproben, bot. Und diese Kenntnisse waren nicht allein das Eigentum des Fachmannes  : das griechische Pub- likum, die breite Volksschicht, war in einem Umfang daran beteiligt, dass es der Gegenwart schwer werden würde, dies zu verstehen; «man kannte den nackten Körper,



40 -


wie man seine Muttersprache kennt*. Aber niemand halte klare Vorstellungen von den Ursachen der Wirkungen  ; man wussle nicht, was es war, das unter der Haut vor sich ging und diese Vorsprünge und Vertiefungen hervorbrachte. Deshalb wird die moderne Wissenschaft ihrerseits auf keine Weise zugeben können, dass diese empirischen Kenntnisse der < Aussenlehre • den Namen Wissenschaft verdienen. Aber was, wissenschaftlich betrachtet, nur eine niedrigere Stufe in der Kniwicklung ist, muss von künstlerischem Standpunkt aus nicht allein als genügend angeschen werden, sondern als viel besser und glücklicher als die eigentliche wissenschaftliche Gelehr- samkeit. Der Charakter der Form, auf dem die Illusion und die Stimmung beruhen, die eigentümliche Krümmung der strammen und gespannten Muskeloberfläche und die Schlaffheit in der ruhenden. — davon erhält man eine weit schärfere Auffassung, dafür hat man ein feineres tiefühl, wenn man sie nur aus dem frischen, lebenden und beweglichen Leben kennt, selbst wenn man nicht recht weiss, was ein Muskel ist.

Die ganze Auffassung des Altertums von der Natur war von Anfang an über- wiegend unmittelbar und künstlerisch, nicht analytisch und wissenschaftlich

Aber die Periode, die jetzt begann, und die durch Aristoteles eingeweiht wurde, ist vor allen andern in der Geschichte des Altertums die gelehrte. .letzt konnte man sieh nicht länger an dem Gonuss, den das unmittelbare Anschauen der mensch- lichen Gestalt gewährte, genügen lassen  ; man wollte wissen, was da drinnen war. wie der Mechanismus arbeitete. Dass es so lange währte, bis dies Verlangen gänzlich zum Durchbruch gelangte, ist nicht schwer zu verstehen, denn es gehörte schon ein entwickelter, fester Glaube dazu, um alle die Hindernisse zu überwinden, die von ererbten Sitten und Gebräuchen, von der tiefeingewurzelten öffentlichen Meinung, und von allen ästhetischen Gefühlen geschaffen wurden. Dies Interesse zu wecken und hervorzurufen, daran nahm die Kunst sicher nicht Teil, so wie das in der Zeil der früheren italienischen Renaissance der Fall war, wo Künstler und Analomen von Anfang an in enger Verbindung mit einander arbeiteten: unter den Griechen des Altertums konnte die Kunst kaum um ihrer selbst willen dtis Verlangen nach Anatomie empfinden, da sie jetzt wie auch zuvor freien Zutritt zum Studium des Nackten halte. Die medizinische Wissenschaft und die Nulurforschung setzte die Sache ins Werk. Und da diese bei der Sektion des menschlichen Körpers in der Regel ganz andere Zwecke vor Augen hatten als die bildende Kunst, so währt es noch eine ganze Weile, ehe die Sache anfängt, die Kunst zu interessieren.

Trotz dem, was schon die älteren Acrzte, Hippokrates und seine Schule, eben- falls an der Hand der Sektion, entdeckt hatten, geschah es erst in der Zeit um das .lahr 300, dass die Muskulatur gründlich untersucht wurde. Das geschah namentlich — jedoch nicht ausschliesslich — in dem neuen Museum- Alexandrias zur Zeit der ersten Plolomüer; und die Forscher, die vor allen andern durch ihre anatomischen Untersuchungen Ruhin erlangten, waren die grossen Lehrer Herophilos und Erasistratos. Damals war Feuer und Leben in dem Studium : man erzählte in späteren Zeilen von Herophilos, dass er (KM) Leichen seciert habe  ! Die Könige nahmen sich der Sache an, überliessen den Anatomen Leichen, ja beteiligten sich selber an der Sektion,



41 -


teils um sich mit dem Studium der Krankheiten hekannt zu machen, teils um die Aerzte gegen den Abscheu zu schützen, den ihre unästhetische Beschäftigung ihnen zuziehen konnte. Man soll sogar — nach einem Bericht, der jedoch unverbürgt ist — Vivisektionen an zum Tode verurteilten Verbrechern vorgenommen haben. •Der Teil der Anatomie, der in dieser Periode namentlich begründet und mit starken Schritten g e l'ö r d e r t wurde, w ar d i e M y o 1 o g i e , die bisher unbekannt gewesen war; sie wurde jetzt derartig entwickelt, dass der grösste Teil der Muskeln von den Aerzten der Alexandrinischen Sihule er kannt wurde.»' Die medizinische und anatomische Schule in Alexandrien wurde durch eine Reihe von .Jahrhunderten bis zum Verfall der allen Kultur fortgesetzt und bewahrte ihre Autorität in der ganzen antiken Welt. Die Präparate, die dort gesammelt waren, scheinen hervorragender gewesen zu sein als die, welche man anderswo zu sehen be- kam : Galenos, der selber ein paar Skelette besass, weist trotzdem seine Schüler an, nach Alexandrien zu reisen, um dort das menschliche Skelett zu sehen und zu studieren. Aber nach jenem energischen Anfang scheint man in bezug auf wirkliche Nalur- studien nicht weiter gegangen zu sein : die späteren Generationen Hessen sich st» ziemlich au dem genügen, was einmal erreicht war, und man disputierte mehr als man secierte. Doch kamen Sektionen in dem ganzen späteren Teil des Altertums vor, nicht nur in Alexandrien : Galenos secierte Tiere, namentlich Affen, aber gelegentlich auch Menschen. Ausserdem wurden Bücher über Anatomie und nament- lich über Myologie geschrieben  : Herophilos war auch in dieser Hinsicht vorausgegangen, doch eine ganze Reihe von Schriftstellern folgte ihm nach.

Wie haben sich die Künstler die Krgebnisse der wissenschaftlichen Forschungen angeeignet — aus Huchem und Abbildungen? — indem sie den anatomischen Studien beiwohnten? — indem sie selber an Sektionen teilnahmen? — Darüber wissen wir nichts Genaueres. Aber dass sie es getan haben, geht deutlich aus vielen späteren Werken antiker Kunst hervor. Die Anatomie wurde in erster Linie ein Mittel zu einer mehr analytischen und gelehrten Behandlung der Oberfläche, auf der die Kinzelheiten der Muskulatur stärker hervorgehoben werden. Dadurch wurde in vielen Fällen etwas hervorragend tüchtiges geleistet, aber die gesunde, lebende Naturfrische in allen Werken wie in dem Flussgott des Parthenon oder die feine Blume in der Behandlung des Hermes von Praxiteles war jetzt verloren und kehrte nie wieder zurück. Die Statue des Laokoon in der berühmten Gruppe ist eine glänzende Arbeil: aber es sieht ein wenig zu sehr aus, als sei die Figur geschunden. Ks ver- hält sich mit der Anatomie wie mit der Grammatik, die ja auch mit Nachdruck in Alexandria und auf den andern gelehrten Schulen gelrieben wurde. Früher halten Dichter und Prosaiker die Sprache nach ihrer lebenden Anwendung benutzt, und diese war durch die Literatur immer feiner entwickelt worden, ebenso wie Bild- bauer und Maler ihre Vorkenntnisse aus der lehenden, nackten Gestult geschöpft hatten, die sie in dem hellen Tageslicht sahen, und aus der schönen Kunst, die sich


' Thomas Lauth: Hhtoirc de lAnatomic, I. StrMsbur* 1*1'», H. ItHff.



- 42 -


daraus entwickelt halle, .letzt zog die Wissenschaft Literatur und Kunst in die Studien der verborgenen Dinge mit hinein, die von der Lampe des Denkens erleuchtet werden sollten. So konnte sieh die Kunst mit dem neuen Wissen des Zeitalters auf der Höhe halten und die Probe davor bestehen, aber es war ein Verlust für ihre unmittelbar hinreissende Macht.

Infolge der Bedeutung, die die Anatomie für die Kunst hatte, interessierte man sich weniger für die ganz jungen und verhältnismässig glatten Körner als für die etwas älteren, stark durchgearbeiteten, ja sogar ein wenig trockenen, in denen das Detail der Form am reichsten hervortrat. Es macht sieh auch zuweilen eine gewisse Rücksichtslosigkeit gegen die Eurythmie und die Naturtreue in der Stellung des Körpers geltend, die gezwungen, angespannt und unschön in den Linien werden kann, wenn sie nur Gelegenheit zu einem reichen Formenspiel auf der Oberfläche gibt. Die Antike ging hierin freilich nicht soweit wie die Renaissance, namentlich wie Michel Angelo, der der Komposition der ganzen Figur anatomische Probleme zu Grunde legen konnte; aber in mehreren Fällen merkt man doch, wie die Stellung nur ein Mittel, die anatomische Behandlung aber das Ziel ist. Das gilt z. B. von einer der Figuren aus der hellenistischen Zeit, die in mehreren Wiederholungen erhallen ist, und von der man deswegen annehmen muss, dass sie sehr angesehen und belieb! gewesen ist, nämlich vom Marsyas, dargestellt als alternde, magere Gestalt, die KiK «f. am Baum aufgehängt ist, um nach dem Weltkampf mit Apollon geschunden zu werden. Die Antike geht freilieh nicht so weit in ihrer Rücksichtslosigkeit gegen alle ästhetischen Empfindungen wie die neuere Kunsl aus dem 16. und 17. Jahr- hundert, die Marsyas oder den heiligen Bartholomäus ganz — oder was beinahe schlimmer ist — halb geschunden darstellt: aber der gelehrte Genuss an den Einzel- heiten der Form in den gespannten Muskeln des senkrecht herabhängenden Körpers tritt doch sehr sichtbar hervor.

Bis zu einem gewissen Grade mussle das anatomische Interesse mit dem athleti- schen zusammenfallen und zu einer Neubelebung athletischer Vorwürfe in neuer Behandlung führen: die starke, angespannte Bewegung in der durch fleissige Uebungen ausgebildeten Form ist ja die höchste Befriedigung für das myologisch gebildete Auge. Und da die Plaslik zum grossen Teil auf das Gebiet der Gelehrsamkeil und Reflexion übergegangen war, kann es uns nicht Wunder nehmen, wenn wir sie damit beschäftigt finden, künstliche, verwickelte Probleme zu lösen wie in [der Ringer- gruppe in Florenz: ein sinnreich und vorzüglich verschlungener Knoten von zwei athletischen .lünglingsgestalten mit stark angespannten und zusammengezwunge- nen Gliedern, die an einzelnen Stellen fast aus ilen Gelenken gerenkt werden. Das Problem ist übrigens so gut gelöst, nicht nur in der Behandlung der Einzelheiten, sondern auch in der Komposition, dass diese die Grenzen der Naturtreue nicht überschreitet.

Am auffallendsten erscheint das anatomische Interesse in dem berühmten «Bo rghesi sehen Fechter* im Louvre, einer mit dem Namen des sonst unbe- Fi«  ta. kannten Meisters Agasias aus Ephesos gezeichneten Marmorstatue. Es ist im wesent-



— 43 -


liehen der athletische Typus, den Lysippos geschaffen oder ans der archaischen Kunst wieder ins Lehen gerufen hatte, und der die Forderung stellte, dass alle Gelenke fein, aber alle Muskeln kräftig und soweit wie möglich von Fett befreit sein sollten. Auch der kleine Kopf erinnert an den Lysippischen Typus, wenn er auch einen etwas derberen, weniger vornehmen Charakter trägt und der einnehmenden Liebenswürdig- keit des Ausdrucks ermangelt, der den Lysippischen Köpfen eigen ist. Ich kann kik. s«. indessen diesen Kopf keineswegs hässlich finden, wie das so oft behauptet wird, im Gegenteil, er ist schön und eigentümlich national griechisch. Aber die Form ist weit stärker analysiert und in kleinere Partien geleilt, als wir es bei Lysippos und überhaupt in der älteren Kunst finden  : Agasias weiss mehr und ist vorbereitet, mehr auf der Oberfläche einer menschlichen Gestalt zu linden. Fnd er hat die ganze Form Stück für Stück mit erstaunlicher Einsicht und grossem Geschmack behandelt, so dass sie einen vorzüglichen Eindruck von einer Muskulatur gibt, die die strengste Schule durchgemacht hat und so an der Luft und der Sonne getrocknet ist, dass sie zu einer Art Panzer geworden ist ; die Stellung ist so gestreckt und angespannt wie nur möglich und zwar ohne Zweifel, um die Muskelformen spielen zu lassen: man hat auch aus der älteren Kunst Figuren, die an das Motiv erinnern — eine Statuette in der Nationalbibliothek in Paris, Reliefs — aber kaum eine, in der die Angespanntheit so weit getrieben ist. In diesem Fall verbindet das anatomische Interesse sich also mit dem Ausdruck der höchsten Aktivität — im Gegensatz zum Marsyas, für den die ge- spannte und gestreckte Stellung ganz unfreiwillig, nur eine Folge der Schwerkraft ist. Auch in dem Kopf des Fechters hat die Anspannung einen beredten Ausdruck gefunden. Und es muss zugegeben werden, dass, wenn man auch nicht umhin kann, das Interesse für die Einzelheiten zu bemerken, auf die hin die Figur im wesentlichen komponiert ist, sie als Ganzes doch ausserordentlich beherrscht erscheint : es liegt in der Bewegung der Figur eine Schneidigkeit und ein Aplomb, eine Tapferkeit und eine Knergie, wie man sie nur selten findet. Man hat sehr treffend bemerkt, dass die Stelle, an der die Künstlersignalur angebracht ist, darauf hindeutet, dass diese Statue als Werk für sich ausgeführt ist, obwohl sie von Anfang an offenbar als gegen eine andere Figur (einen Reiter) kämpfend gedacht ist, also als Glied einer grösseren Gruppe. Sie scheint also aus der Gruppe herausgenommen und für sich ausgeführt zu sein, als eine Art Muster einer anatomisch-athletischen Gestalt, was mehr nach der Schule als nach dem Leben schmeckt. - - Eine schön ausgeführte, aber unvoll- ständig erhaltene Marmorstatue in Athen, eine nackte, kämpfende Gestalt in einer sehr angespannten Stellung, das eine Knie gegen die Erde gebeugt, schliefst sich im Charakter dem Borghesischen Fechter nahe an.

Wie sich der Einfluss der anatomischen Wissenschaft auf die Kunst vielfach an den Werken dieser Periode durch eine geschulte Regel mässigkeil in der Anlage der Muskulatur, durch ein übertriebenes Relief und eine abstrakte, ein wenig langweilige Behandlung der einzelnen Formen wie auch durch willkürliche und gezwungene Stellungen bemerkbar macht, das können wir hier nur im allgemeinen andeuten. Beispiele hierfür wird man auch finden in dem grossartigen Fries: Kampf der



44 ~


G ö 1 1 e r und Giganten von «lein Zeusallar in l'crgamon 1 lin Berlin i, in den Figuren, Hie man Kraflgeslalten nennen muss, und die nicht zu den besten in diesem eigentümlichen und phantasiereichen Werke gehören. L'eberhaupt ist es eigen- tümlich Tür die Plastik in der hellenistischen und römischen Periode, das» sich, — offenbar in Verbindung mit den anatomischen Studien — Ideale von über- triebener Muskelkraft, Superlative athletischer Kraft, ausbilden. Die Anatomie hindert nicht daran, Uebertreibungen zu erdichten. Ks ist natürlich in erster Linie der Kraftmensch Herakles, der in einer solchen Gestalt dargestellt wird, im Gegensatz zu dem Herakles der älteren Kunst, der eine athletische Gestalt gleicher Art wie die andern war. Bis zu einem gewissen Grad kann man sagen, dass dieser Kraftheros in der späteren Periode individualisiert wird, sodass man ihn cinigermassen sicher erkennen kann, sogar an dem Kopf allein, — was jedoch nicht so aufzufassen ist, als ob ein einzelner Typus als Kanon gilt: denn es gibt in Wirklichkeit eine ganze Galerie von Heraklestypen - sondern vielmehr so, dass die einzelnen Künstler oder Schulen, indem jede von ihnen ihr Heraklesbild frei produziert, darüber einig sind, es durch gewisse leicht erkennbare Züge zu charakterisieren: den gewaltigen Nacken, das ganz kurze, dicht gelockte Haar, den kleinen, verhältnismässig runden Kopf mit kleinen, tiefliegenden Augen, eine starke ein wenig gekrümmte Nase etc. Ueherhlickt man aber die Kunst, so wie sie uns erhalten ist, so wird man doch nicht finden, dass sich die Heraklcsgestallen in bezug auf den Körperbau scharf von den übrigen Kraftgestalten abheben, sondern nur, dass sie in mehreren Fällen die äusserste und übertriebenste Kntwicklung des Athletischen bezeichnen. Ki*. Ob ein Torso ohne Kopf — z. H. der berühmte sog. «Belvederische Herakles • im Vatikan (als ein Werk von Apollonios, dem Sohn des Nestor aus Athen bezeichnet) — wirklich Herakles darstellen soll, ist deshalb weniger unbestritten.


DFB LA0KO0N-KOPF (KXKTBS).

Merkwürdig ist der klecksige Stil in der Behandlung der Oberfläche, — der Hang, so stark wie möglich mit Mehl und Schatten zu modellieren. Der Kopf ist schon, edel, fein in den Formen, prachtvoll in der ganzen Wirkung, — auf ähnliche Weise wie ein korinthisches Kapital mit seiner Abwechslung von tiefen, dunklen Löchern (zwischen den Locken des Ilaares und des Harles, an dem offenen Munde, den Partien um das Angel und starken Lichtflecken. Aber er ist schön in ganz anderer Beziehung als die ältere griechische Kunst, alles ist verzerrt, aus seiner ruhigen Lage heraus- gerissen. Der Künstler hat es in dem Masse auf den leidenden Ausdruck abgesehen, also auf die Fähigkeit der Züge, siel» zu bewegen und umzuformen, dass er dem Knochen- bau (namcnllich an der Stirn und den Wangen), der die Konstruktion des festen,

! Vortfl. de* Verfassers Abhandlung: «Skulpturenfund in Porgaiuon. in «Billedkun&t» 8. 1H ff.



- 45 -


bleibenden Charakters des Kopfes bildet, kaum die nötige Aufmerksamkeit erweist; das Ganze scheint aus einem elastischen Guttapercha zu bestehen, das ungehinderter als das wirkliche menschliche Gesicht Veränderungen unterzogen werden kann.

Die Nase ist im Profil krumm, wie die des neapolitanischen Homer, weniger fein und scharf gebaut, aber sehr schön, — Homer ist ja auch älter. Der Mund hat breite, volle, schöne Lippen, das Kinn ist nicht gross, was dazu beiträgt, dem Kopf etwas Charakterloses zu geben. Die Linie zwischen Nase und Stirn ist stark gebrochen, die Stirn zurückfallend und sich nach obenzu stark verjüngend. Die mittlere Partie der Stirn über der Nase ist stark gewölbt, jedoch mit einer Längenverliefung in der Mitte. Die Schläfenpartie über der äusseren Ecke des Auges ebenfalls ziemlich stark hervortretend, alle Linien des Auges in hohem Grade nach aussen zu gesenkt ; dies würde auch der Fall sein, wenn sich der Kopf in Buhe befände, wird aber noch mehr durch den momentanen Ausdruck verstärkt.

Laokoon ist das Bild eines völlig unmännlichen Charakters — oder der Charakter- losigkeit, die sich im Leiden keineswegs gleich bleibt. Obwohl Haar, Bart und Gesichts- züge auf einen Mann ungefähr zwischen fünfzig und sechzig Jahren hindeuten, ist hier etwas von einem kleinen Kinde, das jammert, und von einem alten Weibe. Kr schiebt den Hals vor und zieht folglich die Brust ein wenig ein, beugt aber den Kopf wieder in den Nacken zurück und legt ihn gleichsam verhätschelt auf die Seite. Kr jammert, bettelt um ein Scherflein von Allcrwelt Mitleid. Er hat ja nichts getan; ist der unschuldig Leidende. Der Mund öffnet sich stöhnend, der Blick ist nach oben gewandt, die Augen scheinen im Schmerz zu beben; man fühlt das scharfe, jagende Zucken in der Umgebung des Auges, wo die vertieften Formen mit scharfen Instrumenten hervorgebracht zu sein scheinen, namentlich über der Augenbraue und über der Nase nach dem Auge zu. Es liegt auch etwas Vorwurfvolles in der Klage — warum soll ich armer Mann all diese Qual erleiden  ? — Aber der Vorwurf ist durchaus nicht so männlich und mutig wie in dem gemalten Medusenhaupt aus Stabiae, das doch so in Palhos aufgelöst ist. Der Laokoon-Kopf ist das Produkt eines weichen, schwachen Geistes, eine gewisse Mitleidskrämerei, die sich stark an das Publikum wendet mit dem An- spruch auf sympathische Gefühle für den Unglücklichen, als wäre er eine Vignette über einem öffentlichen Aufruf zum Besten eines armen Mannes der mit seiner ganzen Familie in unverschuldetes Unglück geraten ist. Die ältere Kunst buhlt nicht in dieser Weise um das Mitgefühl des Beschauers.

Und doch ist der Kopf ausgezeichnet. Stellt man den neapolitanischen Homer neben den Laokoon-Kopf, so erscheint der Homer als eine spätere Kopisten-Arbeit, ver- hältnismässig trocken uud geistlos.



~ 46


DIE GALLIER.

Mit dem Eindringen der halbwilden gallischen Horden in die südeuropüisehen Halbinseln, zuerst in die italienische, .später in die griechische, beginnt eine neue Haupt-Periode in der Geschic hte Europas, wenn man sie in bezug auf das gegen- seitige Verhältnis der Volksstämme betrachtet. Von dieser Zeit an beginnt — ebenso sehr durch kriegerische wie durch friedliche Berührung — die Verschmelzung der frischen Naturkraft der nördlichen Völker mit der bereits voll entwickelten süd- europäischen Kultur, die sich durch die letzte Hälfte des ganzen .Altertums, und die erste Hälfte des ganzen  »Mittelalters, fortsetzt, bis die Völker nördlich von den Alpen und den Pyrenäen dahin gelangten, eigentümliche Formen für ihr Wesen auszuarbeiten. Die südeuropäische, d. h. namentlich die hellenische Kultur stand wie eine Insel in der Welt da, hoch über alle andern aufragend. Die Hellenen hatten bisher Krönt gegen Süden und Osten gemacht; im Kampf gegen die orientalischen Despotien war ihre eigene Kultur gross, stark und echt menschlich geworden. Als nun die nord- europäischen Schwärme mit elementarer Gewalt bis in das Herz des südeuropäischen Lebens eindrangen (der Hrand von Kam 3U0, der Kampf bei Delphi 278j, da sehen die Hellenen sich zum ersten Mal gezwungen, Front gegen den Norden zu machen. Sie bekamen Harbaren ganz anderer Art zu sehen, als sie es sich je hatten (räumen lassen. Als sich die Gallier dem Engpass von Theoniopylae näherten, sank der Mut der Hellenen tief; es war «die Macht der Furcht», die sie zwang, sich zu verleidigen. Sie sahen ein, dass der Kampf jetzt nicht der politischen Freiheit galt, und dass es keim- Garantie bieten würde, wenn sie «Erde und Wasser- geben wollten, wie es der rVrserkönig ehedem verlangt hatte. Die schreckliche Wildheit der Gallier Hess ihnen keine andere Wahl als zu sterben oder zu siegen.' So griffen sie denn tapfer zu den Waffen und siegten.

Das alte Thermopylae, wenn wir es so nennen dürfen, der Kampf gegen die Uehermaclit des Orients, der schliesslich mil Sieg gekrönt wurde, hatte ein erhöhtes Selbstgefühl bei den Griechen wachgerufen, das seinen Ausdruck in einer höheren künstlerischen Verherrlichung der griechischen Nationalität selber fand. Mochte die Kunst Götter oder Heroen oder Menschen darstellen, immer hatte sie die eine Haupt- aufgabe: die ideale Darstellung des hellenischen Typus. Das neue Thermopylae, der Kampf mit den Galliern, führte, soweit wir urteilen können, keine weitere Ent- wicklung dieser künstlerischen Aufgabe herbei: es blieb indes nicht ohne eigen- tümliche künstlerische Resultate, aber diese galten jetzt der Darstellung der Harbaren, einer Aufgabe, die in der ganzen folgenden Zeit des Altertums, so lange es noch künstlerische Fähigkeiten bewahrte, eine Hauptrolle spielt.

Es ist ein Kennzeichen für die Kunst unter der ägyptischen und assyrischen Despotie, dass sie einen empfänglicheren Sinn für das Leben und den Charakter der Ausländer als für die Kinder des eigenen Landes hatte: während sie bei der Dar-

' Pausauiaa X, Ii». \±



- 47 -


Stellung dieser in der Regel einen konventionell feststehenden Typus bis zur Unend- lichkeit wiederholte, ward die Beobachtung Fremden gegenüber zu erhöhtem Leben angestachelt, denn bei ihnen glaubte man das Menschliche durch ungewohnte Formen wiederzuerkennen. Wenn jene alle Kunst fremde Völkerschaften, als Gesandte oder als Kriegsgefangene, vorführt, so geht ein frischerer Lufthauch durch sie hindurch; sie zeichnet die verschiedenen Volkstypen mit charakteristischer Schärfe und Mannig- faltigkeil und bringt manch einen naiven Zug aus dem Leben — alles jedoch na- türlich innerhalb ihrer mangelhaften Darslellungsformcn. Die hellenische Kunst da- gegen interessierte sich von der ältesten Zeit an auffallend wenig für die Barbaren. Dies darf natürlich nicht so aufgefassl werden, als ob sie infolge irgend einer ästhe- tischen Doktrin die Darstellung derselben von der Kunst ausgeschlossen hätte; hier ist nur die Hede von einer halb unbewusslen Geistesrichtung, von einer Neigung, einer Vorliebe. Wohl konnte es vorkommen, dass dem Künstler die Aufgabe zu teil ward, einen Barbaren darzustellen, namentlich einen Asiaten; aber so weit wir aus den uns erhaltenen Werken und literarischen Nachrichten schliessen können, dachte man nicht daran, dieser Aufgabe durch irgend eine durchgeführte Schilderung eines ungriechischen Typus gerecht zu werden ; man liess sich an dem Unterschied der Gewandung oder an äusseren Attributen genügen. Wenn Polygnolos in seinem grossen Gemälde vou der Unterwelt (in Delphi) den mythischen Aethiopenköuig Memnon malt, bringt er als Bezeichnung seiner Nationalität, als reines Attribut, einen Negerknaben -- nach griechischer Sitte in geringerem Massstab als Memnon selber — zu seinen Füssen an: der König selber konnte nur nach der gewöhnlichen, schon bei Homer gegebenen, Vorstellung von einem Helden ' dargestellt werden. Die Hellenen hatten den Barbaren gegenüber, die in ihren Gesichtskreis getreten waren, und mit denen sie zu kämpfen hatten, nicht die Achtung, die die notwendige Grundlage für eine selbständige künstlerische Aufgabe bildet. Agesilaos liess einmal einige per- sische Kriegsgefangene nackend ausziehen und als Sklaven verkaufen, damit seine eigenen Soldaten aus den weissen Körpern der Morgenländer auf ihren Mangel an Tüchtigkeit und Ausdauer als Krieger schliessen sollten. Die Spartaner konnten sich bei diesem Anblick des Lachens nicht enthalten und meinten seit jener Zeil, es komme auf eins heraus, ob sie gegen die Perser oder mit Frauen kämpften. Seit dem vierten Jahrhundert vor Christi, als die griechische Kunst ihre Aufmerksamkeit mehr und mehr der Auffassung der verschiedenen Arten von Menschen und dem individuellen Charakter zuwandte, geriet als notwendige Folge davon auch die be- sondere Charakteristik der Barbaren besser, innerhalb ihrer Grenzen. Davon haben wir namentlich in der Port rätstat ue des Königs Mausolos aus dem Mausoleum im Hali- karnassos einen schlagenden Beweis ; das träumerische Phlegma, das weiche, unmänn- liche Wesen des orientalischen Despoten ist darin meisterhaft charakterisiert, wobei


1 Dies Beispiel ist bereits in demselben Zusammenhang' von H. Brunn in der Geschichte der griechischen Künstler I (Braunachweig l&V») Seite 448 hervorgehoben, wo das ganze Ver- hältnis nach den literarischen Nachrichten über die griechische Kunst richtig dargestellt ist.



— 48 -


jedoch zu bemerken ist, dass «he völlige Bekleidung der Gestalt den griechischen Künstler vor der traurigen Aufgabe bewahrt hat, die Formen eines orientalischen Körpers mit porträtartiger Treue wiederzugeben. Ks ist noch ein grosser Sprung von hier bis zu der Tatsache, dass die Darstellung einer barbarischen Völkerschaft eine besondere Aufgabe für die Kunst werden, geschweige denn, dass sie sich in den Vordergrund ihrer Arbeit drängen sollte. Das scheint nicht vor dem Killfall der Gallier in Griechenland geschehen zu sein.

Unter sämtlichen Bildern von Barharen aus dem Altertum stehen zwei unbedingt am höchsten: die Statue des nackten, jungen, sterbenden Mannes, die sich jetzt im kapitolinischen Museum beiludet, und die Gruppe in der Villa Ludovisi, die einen Mann darstellt, der sich selber tötet, nachdem er seine Frau getötet hat. Diese beiden Werke, die jetzt getrennt sind, gehören nach jeder Bichtung hin eng zu- sammen ; ursprünglich gehörten sie auch beide der Sammlung in der Villa Ludovisi au, in «leren lnventarium von 1(133 sie zuerst genannt werden, und auf deren Grund und Boden sie wahrscheinlich kurz vorher gefunden sind.1 Sowohl im Stil als auch im Material gleichen sie einander in solchem Masse und sind sehr verschieden von allen andern Antiken. Der Marmor, ein edler, feinkörniger Stein von klarer, warmer Farbe, aber an verschiedenen Stellen der Oberlläche ein wenig fleckig und streilig stammt nach Ansicht eines Spezialkenners aus den antiken Brüchen auf Furni, einer kleinen Insel zwischen Sainos und Ikaria, also nicht weit von der Küste Kleinasiens. 3 Dass die Figuren Gallier darstellen, ist seil langem bewiesen durch die Uebereinstimmung ihrer charakteristischen Züge mit den Berichten der alten Schriftsteller über den keltischen Stamm; dieser Vergleich, in dem der Beweis liegt, und der für unsere Betrachtung von grossester Bedeutung ist, soll in dem Folgenden genauer und eingehender geführt werden als anderswo, während wir die früheren irrtümlichen Auslegungen ungestört in ihrem Grabe ruhen lassen wollen.'

Nachdem erkannt war, dass die Figuren Gallier darstellten, war es ganz natür- lich, sie der Bildhauerschule zu l'ergamon ' zuzuweisen. Der Zug der Barbaren in das eigentliche Hellas hinab war ja gehemmt worden; dahingegen hatten sie sich einen Weg nach Kleinasien gebahnt (279 v. Chr.». Sie hatten dies Land zerstört und geplündert und sein Küstengebiet beherrscht, Tribut von allen Völkerschaften diesseits des Taurus fordernd, bis Attalos I. von Pergamon (241 — 197) ungefähr fünfzig Jahre nach ihrer Einwanderung in einer Schlacht bei seiner eigenen Hauptstadt ihre Macht brach, worauf er sich den Königstitel beilegte. Durch seine und seines Nach- folgers Kuinenes II. (197 — 159i Kämpfe gegen sie wurde ihr Gebiet bis auf eine Provinz


> Theodor Schreiber, Die antiken Bildwerke der Villa Ludovisi in Rom, Leipzig 1880,

S. 12.

a Kinkel, Mosaik zur Kunstgeschichte, Berlin 1870, S. 80.

3 Erstens in bezug auf die Figur auf dem Kapitol von Antonio Nibby 1821, dann in bezug auf die Gruppe von Raoul Kochette 18:10 Die ursprünglichen Abhandlungen dieser beiden Schrift- steller sind in Zeitschriften versteckt, die mir unzugänglich gewesen sind.

  • Vergleiche mit dem folgenden des Verfassers Abhaudlung über die pergamen lachen Skulp-

turen in «Die menschliche Gestalt, und jetzt auch Prof. J. L. Usaings «Pergamos».



- 40 -


von Kleinasien ( «Gulatien • i beschränkt. Nun erzähl! Plinius ( Hist. nat. 34, 83) dass mehrere Künstler die Kämpfe des Attalos und Eumenes gegen die Gallier darstellten; er führt die Namen Isigonos, Phyromachos, Slratonikos und Antigonos an; diese Künstler müssen also wahrscheinlich zu einer Schule in Pergamon selbst gehören, was auch sehr wohl mit andern Umständen übereinstimmt. Die Kunst, sowie das ganze geistige Leben, das ehemals in den freien hellenischen Städten entwickelt war, fand nach der Zeil Alexanders des Grossen seine Hauptziifluehtstntte in den Hauptstädten der Diadoehendynaslicn ; und unter diesen luihm IVrganion durch seine Macht wie durch seine Gelehrsamkeit einen hervorragenden Platz ein. Pausanias berichtet, dass Attalos I. auf der Akropolis von Athen an der südlichen Mauer vier Statuengruppen hatte errichten lassen, von denen die eine gerade die Niederlage der Gallier in dem nordwestlichen Kleinasien zum Vorwurf hatte, während die drei andern solche Vor- gänge aus Geschichte, Sage und Mythus behandelten, in denen man nach griechischer Auffassungsweise Vorbilder für den Kampf gegen die neuen Barbaren gesehen hat, nämlich den berühmten Sieg der Athener über die Perser bei Marathon, ihren Kampf in der Vorzeit gegen die Amazonen und endlich den Kampf der Götter gegen die Gi- ganten in Thrakien bei der Landzunge von Pallene. Die Figuren in diesen Gruppen waren ungefähr zwei Ellen hoch. Auch durch ein Gemälde in Pergainon war, wie wir wissen, der Sieg über die Gallier verherrlicht.'

Die plastische Tüchtigkeil, die künstlerische Herrschaft über die menschliche Figur und ihre einzelnen Formen, die sich in den genannten beiden Werken aus römischen Museen offenbar!, steht in bezug auf Feinheit, Geist, Originalität ganz un- bestritten über allem, was wir von der Kunst kennen, die in Horn und für Koni ausgeübt wurde Ja, an plastischer Intelligenz stehen diese Werke so hoch, dass nur die weniger zentrale künstlerische Aufgabe und die daraus folgende eigenartige Hetracbtung des Themas verraten, dass sie nicht in die höchste Blütezeit der Kunst in Griechenland gehören. Jedenfalls können wir sie ja nicht weiter zurückführen als bis in die Zeit, die auf den Einfall der Gallier in Griechenland folgte.

Wohl darf man aus dein Umstand, dass die pergamenisehe Schule die einzige ist, von der ausdrücklich gesagt wird, dass sie sich in dieser besonderen Aufgabe versucht hat, keine zu weit gehende Schlussfolgerungen ziehen: wenn aber die Nachrichten in diesem Fall treffend mit dem übereinstimmen, was man über die Herkunft des Marmors weiss, liegt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlich- keit vor, dass sie in der Tat von pergamenischeii Künstlern herrühren und zwar aus der Zeit um 200 v. Chr. Es darf indessen nicht übersehen werden, dass der Huhm der pergamenischen Schule im Altertum hauptsächlich auf die Arbeiten in Metall

1 Nach Propertius waren die Türen an dem palatinischen Apollo-Tempel in Born mit Elfen- bcinbildern in Relief geschmückt, wahrscheinlich auf einem Ornnd von Bronze und Ebenholz. Auf dem einen Türflügel sah man die Gallier, die von den Zinnen des Parnass herabgestürzt wurden (also der Kampf bei Delphi;; auf dem andern den Tod der Niobiden. Da hier ja also nicht die Rede von den Siegen der pergamenischen Köuige ist, von denen in den Nachrichten über die Gallier- bilder der Pertfanion-Schulo ausschliesslich berichtet wird, so sehe ich keinen Grund dazu, mit Brunn und Andern zu vermuten, dass auch diese Werke aus Pergamon stammen.

4



— 50 —

(namentlich Werke der Toreutik ) begründet war, und dass es daher doch noch möglich ist, dass wir in diesen Monumenten nirht die Blüte der technischen Tüchtigkeit der Schule besitzen.

Wenn man wirklich ihre Bedeutung als Glied in der künstlerischen Darstellung der menschlichen Figur erkennen will, so ist es notwendig, sich darüber klar zu werden, wie die dargestellten Barbaren der Auffassung der Darsteller, der Griechen, erschienen. Hierbei kann mau jedoch unmöglich an den Nachrichten der römischen Literatur, die in mancher Weise die der griechischen ergänzen, vorübergehen.

Ks ist schwer, den Eindruck zu übertreiben, den diese wilden Scharen auf die Griechen und Börner machten.' Als sich die Börner erst einmal an den Anblick der Gallier gewöhnt hallen, betrachteten sie sich als abgehärtet gegen alles, selbst das Fürchterlichste. Stand das kellische Heer dem Feinde gerade gegenüber zur Schlacht aufgestellt, so machten seine zahllosen Hornbläser und Trompeter einen über- wältigenden Lärm, und wenn nun obendrein die Soldaten mit den Schildern klirrten und mit ihren rohen Stimmen Kriegsgesänge sangen oder heulten, indem sie einen kriegerischen Tanz stumpften, so hallten Berg und Tal wider von dem schrecklichen Geräusche und schienen mit zu lärmen. In den ersten Reihen sah man nackte, junge, kräftige, rothaarige Männer mit Halsringen und Armbändern aus Gold ge- schmückt; die weiter zurücksiehenden trugen Wamse und Beinkleider in starken, bunten Farben, in denen das Bot vorherrschend gewesen zu sein scheint; die Waffen waren zuweilen mit Korallen geschmückt. Ihr erster Angriff, der von einer glühenden Heftigkeit und einer blinden Haserei gelragen wurde, war ganz überwältigend: die Börner vergassen niemals jene 'dies Alliensis , als ihr Beer zum ersten Mal am Alliatlns.se mit den Galliern zusammensliess und so schnell und gründlich in die Flucht geschlagen wurde, wie wohl nie vorher oder nachher. Sie lernten dann freilich allmählich, dass in der Art und Weise wie die Gallier Krieg führten, viele • Vanilas» ivicl Humbng) war, wie sich l.ivius ausdrückt, dass die Gallier mit einer gewissen kriegerischen Schlauheit, gepaart mit barbarischer Kilelkeit und Prahlerei, sehr wohl verstanden, den ersten Kindruck, den sie machten, zu verstärken, dass ihre ganze übrige Kriegführung im hohen Grade naiv und unvorsichtig war, dass die Natur überhaupt ihren Körper und ihren Geist weit eher mit Grösse als mit Festig- keit ausgestaltet halte, und dass sie deswegen mehr Schreckliehkeit als Kraft in die Schlacht mitbiächten. Aber es währte eine ganze Weile, bis die Griechen und Römer

' Die folgende Schilderung diese«  Eindrucke» ist aas den griechischen und lateinischen Qnell- schriften zusammengestellt, von denen folgende die wichtigsten sind : Polybios (namentlich II. Ii* ff.), Diodoros V. 27 ff.), Strabon (IV. 4), Tansania* (X, lUff.). Livius (namentlich XXXVIII. 17: des Konsuls Cneius Manlius' Rede au die Legionen, die (regen die Galater in Kleinasien ziehen sollten). Qnintus Claudius Quadri^arius' Bericht über Titus Manlius Torquatos' Zweikampf mit den Galliern, angeführt in Aulus Gellius: Noctes Atticae IX, i:$, Ammianus Marccllinus, z. T. nach Timagenes Kompilation aas älteren griechischen Quellen (namentlich XV. V2). Auf Grund der nahen nationalen Verwandtschaft, jedenfalls in be/.ug auf alle», was Sitten und Gebrauche, und z. T. auch was das Aussehen betrifft, zwischen den Galliern und Germanen, die namentlich von Strabon in Btarken Aus- drücken betont wird, versieht man die Nachrichten von den Galliern oft besser durch einen Blick auf die Schilderung der Germanen, namentlich bei Tacitus.



— 51 —


du» Kehrseite ihrer nordischen Feinde erkannten, und gerade auf jenen ersten Kin- druck muss man bezüglich der künstlerischen Resultate den grossesten Wert legen; die Aufmerksamkeit und Beobaehtungsfähigkeit wurde durch die Erscheinung des schrecklichen neuen Volkes aufgerüttelt: das war es, was die künstlerische Produktion in neue Bahnen geführt hat.

Mann für Mann flössten die Kelten den südeuropäischen Völkern schon allein durch ihre grossen Körper Achtung ein. Als der nackte (iallier vor sein Heer trat und mit Hohn und Spott, unter andenn, indem er die Zunge herausstrecktc, die Römer herausforderte, einen zum Zweikampf gegen ihn zu senden, wagte im Anfang nie- mand, auf Grund seiner Grösse und seines wilden Aussehens, die Forderung anzu- nehmen. Der griechische Dichter nannte sie die Sprösslinge der Titanen und Giganten.1 Fast alle antiken Schriftsteller, die von ihnen reden, heben hervor, dass ihr Wuchs gross und lang war. Cäsar* erzählt, wie die Gallier von der Mauer ihrer Stadl herab sich über die Kömer lustig machten, die einen Belagerungsturm bauten: wie sollten so kleine Leute Kräfte haben, eine so grosse Maschine zu handhaben? Denn im All- gemeinen — fügt Cäsar hinzu — verachteten die (iallier auf Grund ihrer Körper- grösse den niedrigen Wuchs der Kömer; Pausanias spricht es geradezu aus, dass sie an Grösse alle andern Menschen übertreffen ; doch verwechselt er sie vielleicht mit andern europäischen Völkern, denen sie glichen  : nach Strabon waren jedenfalls sowohl die Germanen als auch die Britannier noch grösser. Strabon sah in Rom junge Leute aus Britannien, die einen halben Fuss grösser waren, als die grossesten in der Stadt; aber sie hatten krumme Beine und waren überhaupt nicht wohlgebildet. Bei den Galliern wie bei den Germanen verlieh der höhere Wuchs ausserdem eine ansehnlichere Stellung im Kriege: dass sich der Anführer mit einer Leibgarde von ausgewählten grossen Kerlen umgibt, war, soweit die Nachrichten zurückreichen, eine Eigentüm- lichkeit des Heerwesens der nördlicheren Völkerschaften — uud ist es noch heute, während die Fürsten der romanischen Nationen lange Zeit hindurch die Mannschaft ihrer Garde aus der Schweiz gemietet haben.

Die Frauen waren gross und stark wie die Männer. Bei Ammianus Marcellinus1 findet man eine sehr anschauliche Schilderung des Wesens und Aussehens beider Geschlechter. «Fast alle Gallier sind hoch von Wuchs, haben weisse Hautfarbe und rotes Haar; ihr barscher Blick llösst Furcht ein, sie sind über alle Massen zanksüchtig und übermütig. Fängt einer von ihnen Streit an und wird von seiner blonden Frau unterstützt, die noch viel stärker ist als der Mann, wird es kaum eine ganze Schar Fremder mit ihm aufnehmen können, namentlich wenn sie mit angeschwollenem Hals und Schaum um den Mund die grossen, schneeweissen Arme schwingt und Fäust- schläge und Fusstritte nach Kechts und nach Links auszuteilen beginnt, wie Pfeile oder Steine, die von den Sehnen der Wurfmaschinen geschleudert werden. In der Kegel klingt ihre Stimme fürchterlich und drohend, sie mögen ruhig oder im Zorn

1 s. V. Pingel, de gigantibus fabnlarora Oraecarum disputatio, Hauniae 1804, S. 3G. 47. s De bello Galt. II, 30.

s Vergl. V. UUmanns UeberseUtung, Arendal 1877, S 20, die hier r. T. benutzt ist.



- 52 -


reden. Aber gleich sorgfältig ««'waschen und reinlich sind sie alle, und niemals wird man in ihrem Lande, namentlich nicht in Aquitanien, einen Menschen in schmutzige Lumpen gekleidet finden können, selbst nicht die ärmste Krau. Zum Krieg ist jedes Alter wohl geeignet, und mit gleicher Kraft ziehen der Greis und der Jüngling in den Kampf, denn durch Kälte und anhaltende Arbeit abgehärtet, wie er ist, hat er gelernt, die Gefahren zu verachten, wenn sie auch noch so zahlreich und furchtbar sind. Noch nie hat sich jemand von ihnen aus Furcht vor dem Kriegsdienst den Daumen abgeschnitten, so wie das häufig in Italien geschehen ist, wo man dergleichen . Leute spottweise  »Stümper, nennt. Nach Wein sind die Gallier begehrlich, sie be- reiten deshalb auch mancherlei Getränke, die dem Wein gleichen  : viele der niederen Stände hüben in dem Masse ihre Sinne durch Trunksucht erschlafft, dass sie wie die Tiere umherlaufen, gefühllos für alles.» — Das Unglück für die Gallier war, dass sie den Wein tranken, ohne ihn mit Wasser zu verdünnen: dafür sind sie im ganzen Altertum berüchtigt. Nach der Niederlage bei Delphi soll der Hauplanführer («Bren- nos») sich das Leben genommen haben, nachdem er sich in ungemischtem Wein be- rauscht hatte.1

Lernten die Griechen und Römer die Gallier genauer kennen, so konnten sie wohl ihren von Natur scharfen Versland und ihre Fähigkeit, sich die Zivilisation an- zueignen, anerkennen; aber es war doch ein grosser Gegensatz zwischen den Sitten und Gebräuchen' der Gallier, ihrem Urteil über riecht und Unrecht und dem der Süd- länder. Diese machten durch sie zum eisten Mal die Bekanntschaft mit den Anfängen lies Bitterwesens* und mit dem kitzeligen Khrgefühl, das gepaart mit einein auf- brausenden Temperament umd Unmässigkeit im Trinken) zu häufigen Duellen ohne allen Grund führte. Auf einen interessanten Gegensatz zwischen der Denkart der Griechen und der Gallier ist von Diodor hingewiesen. Ks ist gallische Sitte, erzählt er, den gefallenen Feinden die Köpfe abzuschlagen und sie als Trophäe aus der Schlacht mit sich zu führen: die Köpfe der Vornehmsten bestreichen sie mit Harz, verwahren sie sorgfältig in Kästen und zeigen sie den Fremden, wobei sieh der Be- sitzer in der Begel rühmt, dass einein seiner Vorfahren oder seinem Vater oder ihm selber viel Geld für diesen Kopf geboten sei. dass er es aber nichl habe annehmen wollen. Kinige von ihnen sollen sich sogar rühmen, dass sie einen solchen Kopf nicht für sein ganzes Gewicht in Gold hätten hergeben wollen, womit sie einen barbarischen Kdelsinn zeigen wollen. Aber es ist, fügt der griechische Geschichtsschreiber hinzu — doch wohl nicht sehr edel, wenn man sich weigert, den Beweis seiner Tapferkeit zu verkaufen, sondern vielmehr tierisch, noch im Tode feindlich gegen seinesgleichen zu handeln. Zweifelsohne hat Diodor hier Homers Krzählung von Achilleus im Ge- dächtnis gehabt, der seinen Zorn gegen Hektor fahren lässt und seine Leiche gegen

' Auch wegen eines anderen Laster» waren die Gallier berüchtigt, nämlich wegen der Pac- ileiasiic. die sie schamloser trieben als die Griechen und Romer.

2 So uiuss man wühl auffassen, was Pausanias (X, 1». 10 — 11) von der «Trimarkisia» der Gallier berichtet, wenn man es mit Diodor V, v?i> vergleicht. Der freie Reiter wurde von freien Waffenträgern begleitet.



ein reichliches Lösegeld an seinen allen Valer ausliefert, teils von Mitleid mit dein Vater, leils von Schani vor den Göttern bewogen, also aus gemischten Kcweggrüwleii. Die Griechen setzten ihre Khre in das humane Mitgefühl und betrachteten es nicht als Schande, -ein leicht verwindendes Herz» zu besitzen; die Harbaren setzten ihre Khre darein durch eine Generation nach der andern hartnäckig dasselbe Gefühl rein und ungemischt wie ein heiliges Krbe zu bewahren.'

Zu der Schilderung, die uns die antike Literatur von den Galliern gibt, fügen die Kunstwerke, von denen man annehmen muss, dass sie zu den ältesten Quellen über sie gehören, nicht nur ein unendlich genaueres Hild des Körperlichen, als wie es mit Worten gegeben werden kann, sondern auch sehr wesentliche Züge des see- lischen Wesens hinzu.

Die Statue auf dem Kapitol zeigt uns einen jungen Mann von im- ku.- n. gefähr zwanzig .lahren, der eine tötliehe Stichwunde in der rechten Seite der Hrust zwischen den Hippen bekommen hat. Kr ist auf seinem Schild zu Hoden gesunken, sitzt aber noch halbaufgerichtet, auf die rechte Hand gestützt — doch, der Arm beugt sieb, gibt nach, es wird nicht mehr lang«' währen.* Der Kopf sinkt vornüber, der Mund ist leicht geölfnet und bildet gleichsam den ersten Anfang eines bittern Lächelns. Der Hlick ist unter den schmerzlich zusammengezogenen Augenbrauen zu der dunkel- roten Hlullache herabgesenkt, die sich an der Knie sammelt, und die mit jeder Se- kunde, die verrinnt, mehr von seinem Leben raubt und es ihm schwärzer vor den Augen macht: «Luft, mehr Luft.» In der Miene des Gesichts und in der Art und Weise, wie er die linke Hand mit der vollen Fläche um sein rechtes Knie legt, liegt ein gewisser Ausdruck finsterer Resignation, des Hewusstseins. dass es jetzt aus ist. Kr seheint nicht einmal sonderlichen Trost in «Pythagoras" Lehre von der l'nslcrb- lichkeit der Seele» zu linden, die nach den griechischen Historikern unter den Galliern verbreitet und ein Grund zu ihrer seltenen Todesverachtung gewesen sein soll. Der Tod ist nun einmal der Tod.

Die Gesichtszüge sind ganz ungriechisch. Die Nase ist kurz, vorstehend und von der Stirn durch einen starken Kinschnitl getrennt. Die Augen liegen lief unter den starken, buschigen Krauen. Die Furchen der Stirn zwischen den Augen- brauen und den Zügen über dem rechten Auge rühren olTenhar von «lern augen- blicklichen Schmerz her; aber die tiefe Querrurche über der Mitte der Stirn, die auf

' Was uns Pausinias von der fürchterlichen, unmenschlichen Wildheit der Gallier in Grie- chenland berichtet (dass sie /.. B. Säuglinge töteten, ihr Blul trunken und ihr Fleisch assen). es würde ein sehr wichtiger Beitrag zu ihrer Charakteristik sein. - venu die Erzählung glaubwürdig wäre. Aber es stehen ja so offenbar übertriebene oder sagenhafte Züge in seinem ganzen Bericht über ihren Zug nach Hellas nnd den Kampf bei Delphi, (z. B. von dein Beistand, den die Götlcr und Heroen den Griechen leisteten), dass dns Erwähnte umnöglich als glaubhafte Geschichte anf- gefasst werden kann.

s Das» der rechte Arm keine moderne Ergänzung ist. wie man früher geglaubt und unzählige Male unkritisch wiederholt hat — ich selber habe mich an diesem Irrtum beteiligt — ist von G. Kinkel im Mosaik zur Kunstgeschichte. Berlin IST«-., S. KU nachgewiesen. Wohl ist der Arm ganz abgebrochen gewesen, doch es ist der antike. Die .Statue ist überhaupt ungewöhnlich gut erhalten.



- o4 -


jeder Seite nach den Schläfen zu in einer scharfen Vertiefung endet, ist ein bleibender physiognomischer Zug.' Der Hart ist mit Ausnahme des Schnurrharles iiher der Oberlippe ganz abrasiert, was mit aller griechischen oder römischen Gewohnheit in Widerspruch steht. Ktwas von dem (eigentümlichsten ist jedoch das Haupthaar. Es wächst in langen und dicken Huscheln, ohne die geringste Neigung sich zu locken, und es wächst gleichzeitig auffallend tief in den Nacken hinein. Die eigentümliche Form des Schädels mit der charakteristischen Flachheit des Hinter- kopfes ist ganz deutlich unter dem Haar erkennbar, so lang und dicht es auch ist. Infolge der Senkung des Kopfes fällt das Haar ein wenig nach vorne; trotzdem sieht man aber, dass das ganze Haar immer zurückgestrichen wird. Die Statue ist nicht so im Marmor erhalten, wie man es wohl wünschen könnte, aber es ist ein wahres Meisterwerk charakteristischer Behandlung.

Ausser dem geflochtenen Halsring (Torques -nwipa aus Gold) den der Mann trägt, ist es dieser Charakter des Haares, der den sichersten Beweis liefert, dass es ein Gallier ist. Diodor i V,2Sj teilt folgendes mit: 'Das Haar der Gallier ist nicht nur von Natur hell, sondern sie streben auch, durch künstliche Mittel die natürliche Eigen- tümlichkeit der Farbe zu heben. Sie schmieren nämlich das Haar fortwährend mit Kalklauge ein und streichen es aus der Stirn und dem Scheitel in den Nacken zurück, sodass sie das Aussehen von Satyren und Danen erlangen. Das Haar wird infolge dieser Behandlung so dicht und so struppig, dass es ganz wie eine Pferdemähne wird. Den Hart lassen einige abrasieren, während andere ihn ein wenig wachsen lassen; die Vornehmen lassen den Hackenbarl abrasieren aber den Schnurrbart wachsen, so dass der Mund ganz davon bedeckt wird, und die Speisen, wenn sie essen, darin hängen bleiben, und sie den Trunk wie durch ein Sieb zu sich nehmen.» Wenn der Schnurrbart des Galliers hier ein wenig kürzer ist, hat das wohl den Grund in seinem jungen Alter. An vielen Stellen in der Literatur des Altertums wird das Haar der Gallier ausdrücklich als rot, feuerrot geschildert. Ks gehört wesentlich mit zu dem Charakter der kapitolinischen Figur hinzu, sich Haar, Hart, Augenbrauen und Wimpern in dieser Farbe vorzustellen. Vielleicht könnte man «lies ohne weitere Kenntnis davon nach dem Charakter des ganzen Körpers erraten. Ks scheint sich so verhallen zu haben, dass die Galtier infolge einer nationalen Vor- liebe für die leuchtend rote Farbe eine kaustische Seife oder Pomade benutzten laus Ziegentalg und Buchenasche), um ihr blondes Haar rot zu färben, falls es nicht von Natur diese Farbe besass. Die Börner verschmähten es in der Kaiserzeit nicht, diese Mode von den Barbaren anzunehmen.

Die Figur entspricht ebenfalls völlig den oben erwähnten Berichten von dem hohen, langgestreckten Wuchs der Gallier, und sie zeugt von prächtiger Kraft und Gesundheit, bis der Tod gekommen ist, nber zugleich von einer Kraft, die durchaus keine methodische Schule wie die griechische Gymnastik durchgemacht hat. Im Gegensatz zu den schmalen, feinen I lüften und Taillen und den mächtigen Schullern der griechischen .lünglingskörper sind die Seilenlinien des Körpers des Galliers durch und durch mehr parallel. Kr imponiert nicht durch Schullerbreile. Auch sind die



- 55 -


Muskeln, die eigentlichen Bew egungsorganc, nicht so vorgetrieben und aufgearbeitet wie bei männlich entwickelten, griechischen Figuren: die ganze Anlage der Körper- forni ist weniger klar und regelmässig. Dies beruht keineswegs auf einem Mangel an plastischer Bestimmtheit in der Auffassung des Bildhauers, es ist offenbar eine Kigentümliehkeit des Typus, der hier wiedergegeben werden soll. So fehlt hier die deutliehe Begrenzung des Brustkastens, die bei den (Jriechen einen förmlichen Nahmen um den Unterleib bildet, und die starke Modellierung der Unlerleibinuskeln, die man selbst an ganz jungen griechischen Figuren lindet. Bei diesen hebt sich der stark hervorgehobene, schräge Bauchmuskel an der Hüfte immer sehr bestimmt sowohl nach dem Magen als auch nach dem Becken zu ab, nach unten sogar mit einer scharfen Linie  ; bei dem (jallier verschwimmt der Uebcrgang beinahe gänzlich, und die Falten, die durch die Wendung des Körpers im Magen entstehen, geben deutlich einen feuchteren, sanfteren Stoff au. Diodor's Ausdruck, das» die (iallier schwammig i  »*()•/;' pou im Fleisch sind, passt überhaupt auf die ganze Figur. Slrabop meldet ausserdem, dass sie sich grosse Mühe geben mussten, um keinen Magen zu bekommen ; wenn ein junger Mann stärker wurde, als das gewöhnliehe Mass des (Hirtels angab, wurde er bestraft.1 Ihre Hauptnahrung bestand ja in Schweinefleisch, und sie halten eine gefährliche Neigung für starke und gegorene Getränke. Man sieht hier in weiter Perspektive den belgischen Typus — die Belgier waren ja im Altertum das eigentliche Kernvolk unter den Galliern — , so wie es in Hubens Ge- mälden hervortritt. Den Vorteil der griechischen Gymnastik, dass sie — nach Lukians Aeusserung — so wie die Wurfschaufel die Spreu im Körper ausscheidet und nur die reine Frucht zurücklässt, hat sich der Gallierlypus nicht zu Mutze gemacht. Aber der Charakter des Fleisches stimmt wiederum gut überein mit dem, was so vielen der antiken Schriftsteller aufgefallen ist, dass die Haut der Gallier kalt, feucht und weiss* war; sie wurden ja nicht so von der Sonne des Südens gebräunt und ausgedörrt wie die Griechen, sondern bedeckten meistens Körper wie Beine mit Wams und langen Hosen  ; nur bei einzelnen Gelegenheilen, namentlich zum Kampf fingen sie zuweilen nackend.

Kein Zweifel, dass der Gegensatz zwischen diesem neuen Barbarenl ypus und dem griechischen Jünglings! ypus, der im Lauf von vier Jahrhunderten die vornehmste Aufgabe der griechischen Skulptur gewesen war eine Aurgabe, die sicher auch eine grosse Bolle in der Schul-Ausbildung dieses vorzüglichen Künstlers gespielt hatte — ihm in jedem Punkt bewusst gewesen sein nniss. Kr hat in seinem stillen Sinn während der Arbeil eifrig ihre Bedeutung diskutiert. Kr hat selber gewusst, dass er sich aller idealistischen Vorstellungen von dem schönsten Menschen entüussern müsse: er ist auf eine haarfeine realistische Auffassung dieses grossen und starken Stückes .Menschennatur, geradeso, wie es war. ausgegangen und er hat sein Ziel erreich!. Kr hat sicher genau nach einem einzelnen Modell gearlieilct ; darauf deutet auch die

' Den Leibgiirtcl am den sonst ganz nackten Körper fimlct man an einer ilcr kleinen («allicr- fitfuren in Venedig. Monumcnti doli' Instituto 1X71), Vol. IX, Tavola üo. .(. 2 Vergl. namentlich üalcnns : de temperamenti» II, (>.



- 56 -


Aufmerksamkeit auf allerlei kleinere, aber charakteristische Züge hin: Hie von dem anstrengenden Leben blutgefüllten Adern nach dem Endpunkt der Glieder zu, an den Waden, Füssen, Unterarmen und an den obersten Flächen der breiten, soliden Hände ; die scharfe Hautfalte unter der rechten Schuller, zusammengeklemmtes Fleisch und Haut über dem rechten, gebogenen Handgelenk und der linken Ferse, die rauhe, schwielige Haut an der Fusssohle.

In den antiken Bildern von den nordischen Barbaren macht sich ein auffallender Zug von etwas Melancholischem, ja Tragischem bemerkbar. Es ergab sich ja aus der ganzen Situation, dass die Griechen und Römer von ihnen das Bild der Ueber- wundenen, Gefangenen festhielten; ausserdem lag damals wie noch heute etwas Finsteres, Zurückhaltendes in ihrem Wesen, im Vergleich mit den Bewohnern Süd- europas. Der gefangene und gefesselte Barbar war ein ganz gewöhnlicher Vorwurf für die Skulptur auf den römischen Triumphrnonumenten.

Aber an dem Wesen der Gallier ist den Griechen offenbar auffällig gewesen, dass sie häufig durch Selbstmord dem Tod von Feindeshand oder der Knechtschaft entgingen: sich beugen, sich fügen, das wollten sie nicht, bis zum Aeusserslen wollten sie über sich selbst bestimmen. Davon zeugt sowohl die Literatur als auch die Kunst. Auf den Reliefs an dem sogenannten Amendola-Sarkophag,1 einein Werk aus der römischen Kaiserzeit, das jedoch wahrscheinlich in gewissem Verhältnis zu älteren griechischen Kunstwerken steht, sehen wir ergreifende und eigentümliche Züge aus den Gallierkriegen: sowohl die Schlacht selber als auch Männer und Frauen in der Gefangenschaft. Die Hauptfigur ist ein gallischer Häuptling, dessen Pferd ver- wundet worden, und der selber zu Boden gefallen ist: ein feindlicher griechischer oder römischer Reiter sprengt herbei und will ihn niederslossen; der Barbar kommt ihm aber zuvor und stösst selber den Dolch in seine Brust, indem er mit slolzeni Trotz sein Antlitz dem Feinde zuwendet. Ausserdem scheinen die Gallier etwas von demselben Gefühl besessen zu haben wie die Germanen, von denen Tucitus erzählt, dass sie es für viel schrecklicher ansahen, wenn ihre Weiber und Töchter in die Gewalt der Feinde fielen, als wenn solches den Männern allein begegnete. Wenn diese Barbaren sich auf die Wanderung begaben, war es ja nicht nur ein Heer von Männern, sondern ein ganzes Volk mit Weibern und Kindern im Gefolge. Als sich die Gallier von Delphi zurückziehen musslen, stiessen sie — nach Tansanias" Bericht — selber alle diejenigen nieder, die infolge von Wunden oder Schwäche nicht mit- kommen konnten  : und Polybios erzählt, dass König Aneroeslos nach der Niederlage am Vorgebirge Telamon mit einigen Wenigen au einen entlegenen Ort lloh und seine nächsten Angehörigen und sich selber entleibte.

Die Gruppe in der Villa Ludovisi gibt einen Zug ähnlicher Art wieder. Es ist eine Szene von dem Wahlplatz nach der Niederlage: ein junger Mann — freilich wohl ein wenig älter als der sterbende auf dem Kapitol — . der den letzten freien Augenblick benutzt, um dem Sieger zuvorzukommen und seinem


' Monumcuti dcll' Instituto, I,  :30.



- 57 -


jungen Weihe und dann sich sellier den Todessloss zu gehen.1 Sie hatten heide noch vor einem Augenhlick einen Schritt weiter zurückgestanden, als wo man sie jetzt sieht. Kr hat ihr den Stoss in die rechte Hrust gegeben (man sieht die Blutstropfen am Ann herabrinnen ) und sie sinkt sterbend vornüber auf das Knie. Ihr Körper würde auf die linke Seile zur Krde fallen, wenn ihr Gatte sie nicht unter den linken Arm lässte: sie soll noch einen Augenblick verweilen, bis er sie selber im Tode eingeholt hat. Kr folgt ihr mit grossem, eiligem Schritt und wird sie bald eingeholt haben, denn das kurze Schwert, das seine kräftige Hand über das Schlüsselbein niederstüsst. ist schon auf dem Wege zu seinem Herzen. Den Kopf aber wendet er nach der anderen Seile und aufwärts dem siegreichen Feinde zu: welch verzweifelter Trotz liegt nicht in dieser Miene! .letzt hat er seinen Willen, jetzt hat er dem Feinde die Heute aus der Hand gerissen !

Damals als die Griechen gegen die Gallier kämpften, zeichneten die griechischen gesellschaftlichen Verhältnisse sich nicht durch eine sonderlich hohe' Vorstellung von Seiten des Mannes über die Khre und das Hecht der Frau oder durch festes eheliches Zusammenhalten aus. Selbst in alten Zeiten, wo dies Verhältnis weil inniger und stärker war, und wo viel wildere Sitten herrschten, würde sich ein Grieche kaum so benommen haben. Hektor ider natürlich bei Homer denkt und spricht wie ein Grieche i bangt sich wohl am meisten davor, dass Andromache nach seinem eigenen Tode in Feindes Gewalt fallen könne, und er sagt zum Abschied zu ihr (llliadc VI, 464):

Aber es decke mich Toten der aufgeworfene Hügel,

Ehe von deinem Geschrei ich gehört und deiner Entführung!

Aber in diesen Worten liegt eine Andeutung, dass er lieber taub für ihr Ge- schrei ist, indem er sich selber tötet, als dass er s i e getötet haben würde. Vor einer solchen Handlung würde er sicher zurückgeschreckt sein. Und mit einer Mischung von Grausen und Staunen, man kann wohl sagen Bewunderung, haben die späteren


1 An der Figur des Mannes sind folgende Teile moderne Ergänzungen: Die Nase, der ganze rechte Arm von der Schulter ab, sowie die Hand, der Schwertgriff und das meiste von der Klinge des Schwertes. I»cr untcro Teil der Klinge ist jedoch antik, in Verbindung mit dem Mantel ausgearbeitet, der am Rücken horumHattert und den da& Schwert ein wenig zurückschiebt. Also ist das Motiv (Selbstmord) zweifellos. Ich glaube nach eingehendem Studium des Originals, aber im Gegensatz zu andern, z. B. zu T h e o d o r Schreiber (die antiken Bildwerke der Villa Lodovisi in Rom, Leipzig 1HH0. S. WVi, dass der rechte Arm, der das Schwert führt, im wesent- lichen richtig restauriert ist, namentlich in bezug darauf, dass sich die Hand so dreht, dass der Daumen nach unten kommt. Dur linke Unterarm, vorn etwas über dein Ellenbogen bis zum Hand- gelenk ist neu ; aber auch hier war der gerade Weg dem Restaurator vorgeschrieben, indem die Hand, die den linken Arm der Gattin umfasst. bis auf den Zeigefinger antik ist. Die Beine »ind zerbrochen gewesen und sind etwas geflickt, doch sind sie in allem Wesentlichen antik. — An der weiblichen Figur ist neu  : Die Nase, der linke Arm von der Mitte des Oberarms an, die rechte Hand und das Handgelenk, einige Riiuder und Zipfel des Gewandes. - Die Oberfläche trägt an den meisten Teilen Spuren der Feile und ist nur an wenigen Stellen so blank wie au dem sterbende Gallier auf dem Kapitol. Ich habe keine Veranlassung gesehen, mit Schreiber J a c. Burckhardts Bemerkung abzuschreiben, dass die weibliche Figur «kläglich vermeisselt» iRt. Das Wichtigste ist, dass sowohl der dramatische Inhalt der Gruppe als auch die Charakteristik der männlichen Figor als authentisch betrachtet werden kann.



- 58 -


Griechen diese radikale Entschlossenheil der Verzweiflung bei den Galliern bewundert, diesen grausamen Mut, zu tüten, was einem das Liebste ist, der hier doch so edel- mütig und gross hervortritt: dieser unkluge Trotz, der lieber als auf Zeit und Gelegenheit zu warten und sich danach zu richten, den unmittelbaren Tod wählt  ; dies unüberwindliche Selbstgefühl, dies Freiheitsbedürfnis, das auch da seine Probe besteht, wo nur noch die Freiheit des Sterbens übrig i*' : endlieh dies Gefühl bei dem Manne, eins mit seinem Weibe zu sein im Leben wie im Tode. So ist der erste Schimmer der tragischen Poesie der nordischen Völkerschaften mit ihrem un- endlichen, den Tod besiegenden Freiheitstrotz von der griechischen Kunst selber geschildert worden, während sie noch über alle ihre Talente verfügte und im Besitz einer später nie erreichten plastischen Tüchtigkeit war.

Die weibliche Figur in der Gruppe ist, von der Seite des Gefühls aus, eine der rührendsten und schönsten, die die Kunst hinterlassen hat; aber man kann wohl annehmen, dass der griechische Künstler bei ihrer Behandlung kein gallisches Modell zur Verfügung gehabt hat, und dass er überhaupt keine Gelegenheit zu einem ein- gehenden Studium des gallischen Frauentypus hatte. Sie trägt das ziemlich kurz geschnittene Haar un au Igest eckt, es füllt wie das der Männer in freien Locken, die sich jedoch ein wenig mehr kräuseln wie bei den Männern. Die Züge des Kopfes würde man, wenn man sie für sich betrachtete, kaum für ungriechisch hallen: das Profil ist ziemlich geradlinig (und ist es gewesen, als die Nase noch heil war). Die Wange ist stark und fleischig, der Mund, dessen Ausdruck so wunderbar ist, voll und schmollend, der ganze junge Körper, soweit man ihn unter dem Gewände er- kennen kann, ist üppig. In der Figur des Mannes haben wir jedenfalls wieder eine Schilderung des Galliertypus, durchgeführt mit der seltensten Meisterschaft und dem klaren Bcwusslscin des eigenartigen Charakters. Sie ist ausserdem umso viel wert- voller, als sie individuell ziemlich abweichend von der Figur auf dem Kapitol ist, und folglich einen neuen Ausdruck für den Typus wiedergibt.

Bei der ungewöhnlich kräftigen und aktiven Bewegung spielt die Muskulatur mehr auf der Oherllüche, der Magen ist eingezogen, die Brust hebt sich in einein vollen und starken Atemzug, die Muskeln der Beine sind gespannt und stark vor- tretend, Hüften und Schultern in starker Arbeit, namentlich ist die rechte Schulter in fler Form herrlich entwickelt. Auch abgesehen von dem l'ntersehied in Motiv und Bewegung würde dieser Körper doch einen stärker und bestimmter ausgearbeiteten Muskelbau gehabt haben als der sterbende Gallier. Die ganze Figur ist etwas kürzer und untersetzter in der ganzen Anlage, die Schultern sind breiter, die Beine dicker. Trotzdem ist der ungriechischc Charakter hier nicht weniger deutlich als dort, namentlich in beziig auf die frische, saftige Fleischigkeil des Körpers. Die Kunst hat hier ihre ganze Feinheit auf einen roheren, weniger durcharbeiteten Typus ver- wendet. Die Füsse sind grösser, die Gelenke, namentlich die Kniee stärker, dicker als bei den Griechen. Auch in der Bewegung, in dem Schritt liegt etwas unbe- schreiblich rngriechisches : etwas Wildes, kräftig Baucrnhafles und zugleich etwas herrlich Freies, Männliches, Entschlossenes. Die Gesichtszüge, das Haar und der



— 59 -


Sc hnurrbart trugen ganz dasselbe nationale Gepräge wie bei der Figur auf dem Kapitol. Der wilde Fall des langen, dicken Haares kleidet das prächtige, trotzige Gesicht so vorzüglich.

Die Statue auf dem Kapitol und die Gruppe in der Villa Ludovisi — vereinzelte Reste einer grossen und üppigen künstlerischen Produktion — stehen noch heutigen Tages als die hervorragendsten Beispiele ihrer Art da, als Heispiele des konsequent realistisch durchgeführten Bildes eines Nationaltypus, so wie er dem Künstler nur durch den Gegensatz zu seiner eigenen Nationalität bewusst wird. Die spätere antike Kunst brachte mancherlei Dinge in ähnlicher Richtung hervor, aber nichts, was sich mit diesen Werken messen kann: ihr plastisches Talent war ja in steter Abnahme begriffen. In der neueren Kunst tritt etwas ähnliches z. B. in Raphaels Messe in Bolsena in die Erscheinung. Hier führt er die päpstliche Schweizergarde mit ihren germanisch-gallischen Physiognomien zwischen die Italiener : aber die antike Durch- führung der nackten Körper vom Scheitel bis zur Sohle ist unleugbar eine ungleich strengere Probe für die Fälligkeit der Kunst, einen Typus zu charakterisieren und gibt eine weit genauere anthropologische Aufklärung als die uniformierten Gardisten auf Raphaels Bild. Dasselbe, wie von Raphaels Bild gilt auch von Velasquez" sonst so ausgezeichneter Schilderung der Holländer und Spanier in ihrem Gegensatz zu einander auf seinem Gemälde von der Uebergabe Bredas («la lanzas» ) und von den aller- neusten Bildern der Franzosen aus dem deutsch-französischen Kriege 1870 — 71, wo die germanische Nationalität zuweilen sehr treffend geschildert ist im Gegensatz zu der französisch-romanischen (Neuville s <lc BourgetA Dazu kommt noch, das.s uns die antiken Figuren Bilder einer Rasse gehen, die nicht mehr mit jenem reinen, unver- mischten Gepräge existiert wie im Altertum, ja, dass Kuropa wohl überhaupt kaum mehr Beispiele einer so reinen Rasse darbietet. Dieser Umstand verleiht ihnen einen ungewöhnlichen Weil als ethnographische Dokumente, und er hat sicher einen grossen Anteil an ihrer künstlerischen Vorzüglichkeil, da die besondere Art künstlerischer Aufmerksamkeit, von der hier die Rede ist, ganz anders erregt werden musste, wo die nationalen Gegensätze in der primitiven Reinheit und Schärfe auftraten wie im Altertum, als wo der Gegensatz so unklar und verwischt ist wie heut zu Tage, .letzt hat das südländische Gepräge und das dunkle Haar sich so weit nach Norden hinauf eingebürgert, dass man ganz hoch oben nach Norwegen und Schweden hinauf , reisen muss, um etwas zu finden, was den Germanen des Tacitus gleicht, während die keltische Rasse nirgends ihre Kennzeichen deutlich bewahrt hat.1 .la, sogar im Alter- tum selber wechselte der kellische Stamm schnell sein Gepräge, nachdem er in nähere Berührung mit den Südeuropäern gekommen war, namentlich der Zweig des Stammes, der sich in Kleinasien niederlicss. Livius lässl den Konsul Cnejus Manlius, als er 187 v. Chr. seine römischen Legionen gegen die 'Gallo-Griechen • führen soll, freilich einräumen, dass sie ein wildes und kräftiges Volk sind, das mitten zwischen zahmen und weichlichen Menschen wohnt, gleichzeitig aber auch


' Schiern, Europas Volksstätnmc, S. 41.



..- W) -


hervorheben, dass ein grosser Pnterschied zwischen flieser Misehrassc und den zweifellos echten Galliern hesleht, die ein .lahrhundert zuvor aus ihrer nördlichen Heimat über Italien herabstrümten. Wenn diese Betrachtung nicht weit eher auf des Geschichtsschreibers, des Livius Zeit, zurückgeführt werden muss, als auf die des Konsuls Cnejus Manlius, so könnte man wohl sogar annehmen, dass die perga- menischen Künstler aus der Zeit des Attalos I. und Kumeues" II. die gallische Hasse kaum je in ihrer vollen Reinheit gesehen haben; aber auf alle Falle gibt uns das lebendige Hewusstsein eines Nationalgepräges, das sich in den erwähnten Kunstwerken äussert, die Gewissheil, dass der Künstler seine Vorbilder mit Rücksicht darauf ge- wählt hat, dass sie ihr Gepräge rein und deutlich bewahrt hatten.


Eine ganz eigenartige Stellung in der griechischen Kunst nehmen einige Phä- nomene ein, die von der äussersten Grenzscheide ihres Gebietes herrühren, wo sie also in einer lebhaften Berührung mit den Barbaren stand, mit ihrer Hauptwirksam- keil in dem hellenischen Lande selber aber gar nichts gemein hat. Hie Funde in den Grabhügeln des südlichen Russlands zeigen uns die hellenische Kunst in ihrem höchsten und schönsten Kntwicklungsstadium im vierten .lahrhundert vor Christi im Dienste der skythischen Könige und Häuptlinge. Da sind denn zuweilen Aufgaben an sie herangetreten, die ganz von den Lebcnsintcrcssen der Skythen, höchst ver- schieden von denen der Griechen, diktiert waren, während wiederum die Aufgaben von einer Kunst gelöst sind, die allein die Hellenen entwickelt haben, und in deren Besitz die Skythen nur in ganz äusserlicher Beziehung waren. So ist die Kunst denn auch daz.i gekommen, das Skythenvolk zu schildern, und zwar mit einer vor- züglichen realistischen Beobachtung, die in jener Periode nicht überhaupt ausserhalb ihres Gebietes lag, die aber sonst nur ganz ausnahmsweise der Schilderung von den Barbaren zu Gute kommt. Aber es sind dies nur Figuren in kleinerem Massslalie und — nach skylhischer Sitte — ganz bekleidete Figuren. Ich denke hier hauptsächlich an jene prächtigen Vasen aus Klektron oder aus vergoldetem Silber im Eremitage-Museum in St. Petersburg, deren Form und Ornamentik rein griechisch ist, während die bildliche Ausschmückung von skylhischer Sitte und Gehrauch zeugt. Auf einer derselben, in der Nähe von Nikopol gefunden, stellt der Fries ganz oben auf der Vase die Beschäftigung der Skythen mit Pferden dar: wie sie sie einfangen, zähmen, ihnen Zeichen einbrennen u. s. w.. — ein Thema, das sehr viel mehr Aehrdichkeit mit dem hat, worin sich die Ninivilische Kunst bewegt, als mit der gewöhnlich griechischen Kunst.1

Sowohl Pferde- wie Menschenliguren sind hier ganz vorzüglich ausgeführt, aber ein wenig kleinlich, realistisch, beinahe wie von einem französischen Künstler der Meissonierschen Richtung.

1 Compte rendu de la CvmmisMon imperiale arclißuluKitiuc, tsr.t, PI. 1 —III.



DIE ANTIKE MALEREI.


die Entwicklung der färbe.1

Was die Malkunst zu dem Bilde des Menschen hinzufügt, ist ja in erster Linie die Farbe, die Körperfarbe. Die Gemälde aus Pompeji und Herkulanum sind die ältesten, die man überhaupt kennt, in denen die Farben auf wirklich maler- ische Wei.se behandelt sind. Als Abfall der griechischen Malkunst in ihrer reichsten Entwicklung zeigen uns diese Gemälde die Wiedergabe der Körperfarben als fertiges Resultat langer Fehling, als gelöstes Problem. Wie das Resultat erreicht wurde, wie die Mittel entwickelt wurden, das lernen wir hier keineswegs. Feberbaupt sind alle die Kunstwerke, durch die der eigentliche Strom der Entwicklung gegangen ist, spurlos verloren. Wenn wir uns eine Vorstellung von den Hauptzügen in dieser Entwicklung bilden wollen, die zu den eigenartigsten gehört, die sich in der ganzen Geschichte der Kunst zugetragen haben, so müssen wir uns auf andere Weise helfen. Wir müssen erwägen, was notwendigerweise dazu gehört haben muss, damit ein solches Resultat erreicht werden konnte. Wir müssen ferner beachten, was uns die antike Literatur von dieser Sache lehrt, wobei wir uns doch davor hüten müssen, alles, was gesagt wird, für geschichtlich bewiesen aufzufassen, da es nachgewiesen ist, dass man sich "im Altertum selber zum Teil seine Vorstellungen über die Entwicklung auf dem Wege der Reflexion gebildet hat; dies gilt namentlich davon, was Plinius im 35. Buch über den Anfang der Malkunst berichtet. Endlich können wir bemerken, dass Gemälde, die man in etrurischen und andern italienischen Gräbern gefunden hat, nur einen schwachen und lernen Wiederschein von den verschiedenen Stadien der Entwicklung geben.

Der grosse Umschwung in clor Malerei hat sich im Laufe des fünften Jahr- hunderts vollzogen, in engem Zusammenhang mit jenem grossen Umschwung in der Skulptur, der diese zu einer ganz neuen Kunst gestaltete. Man muss annehmen, dass die Entwicklung der Statue zur vollkommenen plastischen Freiheit vorangegangen


• Verjfl. «Daritelloug des Menschen» I, S. 102- 10H.



und dass die Umbildung der Beliefs dann gefolgt ist. An die Entwicklung der Plastik selber bat sieb dann, wie wir bereits berührt haben, zunächst das plastische Moment in der Mulerei, die Zeichnung angeschlossen. Zu allerletzt, uls Vollendung des Ganzen ist dann die neue Behandlung der Farbe gefolgt ; und nicht wir allein heben unserer Betrachtung halber die Farbe des menschlichen Körpers besonders hervor: sie ist auch für das Kolorit der Griechen die Hauptaufgabe gewesen. Dies alles hat sich Schlag auf Schlag vollzogen, als konsequente Kniwicklung der Dar- stellung des Menschen, soweit dieselbe innerhalb der Grenzen der bildenden Kunst lag.

Vor dieser Revolution in der Kunst stellte die Malerei die Farbe des Körpers wie die aller anderen Dinge'durch eine einzelne, unabgetönte Farbenschicht dar, also flach, ohne Ausdruck für die Rundung des Körpers und der Glieder. So ist es auf den Vasenbildern, und so ist es auf den Gemälden gewesen, bei denen mehrere und lebhaftere Farben angewendet wurden, die sich mehr denen der Natur näherten.

Dann hat man einmal im fünften Jahrhundert gewagt zu sehen, und seinen Augen zu trauen. Man fand alsdann, dass der Schatten, oder vielmehr: die Ueber- gänge von Licht zu Schatten auf der krummen Oberfläche der Körpers eine not- wendige Bedingung waren, wenn sich die Figur dem Auge als freier, runder, selbst- ständiger Körper darstellen sollte. Man hatte früher die Darstellung des Schattens gescheut — wir denken hier nicht allein an den Schlagschatten, sondern an den beschatteten Teil der Fläche des Körpers selber. Man hatte ihn natürlich gekannt und gewusst, dass er existierte: das Bewusslsein, dass man die Natur nicht so malte, wie man sie sah, muss bei der traditionell ererbten Ausübung der Kunst häufiger erwacht sein; aber es muss eine hartnäckige, tief eingewurzelte Ansicht bestanden haben, dass der Schalten ja nicht eigentlich Farbe, sondern eine Art Verunstaltung der Farbe sei. Die neue Entwicklung bestand hier, wie so oft, darin, dass man ein bisher mit Geringschätzung betrachtetes Element in die Kunst aufnahm. Dieses durchzuführen, ist natürlich nicht die Sache eines einzelnen Künstlers gewesen: wer aber so recht damit durchdrang, warder • Schattenmaler* Apollodoros aus Athen, der — gegen Ende des fünften Jahrhunderts — die Mulkunst erst auf eine «illusionis- tische» Wirkung hin entwickelt zu haben scheint.'

Früher hatte man in dem, was man die höhere Malkunst nennen konnte, die Oberfläche des ganzen Körpers innerhalb seines Umrisses in einem einzigen Farbenton dargestellt, der die Lokalfarbe des Körpers, so wie sie sich voll be- leuchtet zeigt, nachahmen sollte. Jetzt brach man die Farbe, indem die Lokal- farbe im Lichte nur ein schmälerer Teil. der ganzen Oberfläche wurde: da galt es denn, anderer Farbentöne für die Teile zu finden, die mehr oder ganz vom Licht abgewandt waren. Diese Töne sollten alle verschieden sein, infolge der verschiedenen Stellung der Fläche zum Licht ; sie sollten aber trotzdem alle in gleichem Masse den Eindruck machen, dass die Flächen, aus der Beschattung ins lacht gerückt, sich mit der Lokalfarbe


' Vcrgl. Brunn, Geschichte der Griechischen Künste. II, 71. Overbeck, Schriftqaellen,

S. 310.



63 -


zeigen würden. Es .sollte also nicht die Lokalfarbe sein, und doch sollte sie es sein. Ks ge- nügte hierbei nic ht, dieselbe Lokalfarbe in verschiedenen Graden mit einem dunklen Ton zu vermischen, um den Uebergang hervorzubringen  : die Wiedergabe des eigenartigen Stoffes des Körpers forderte, dass die Brechung im L i eh t gleichzeitig eine Brechung in ver- schiedenen Farbennuancen wurde: rötlich, gelblich, bräunlich, abwechselnd kälter und wärmer. Man bemerkte, dass das höchste Licht ein Glanzlicht war, das in der beleuchte- ten Lokalfarbe schwamm, dass diese sich wiederum durch einen Mittelton von dem eigent- lichen Schatten trennte, und wohl auch, dass der Schatten ein reflektiertes Licht aufnahm.

Auf das, was wir hier entwickelt haben, deutet offenbar Plinius ' hin, wenn er in unmittelbarer Verbindung mit dem Begriff Neogram m ata, «Gemälde nach der neuen Art», sich folgen derinassen über die Uebergänge der Farben im Verhältnis zu der Beleuchtung äussert: «Kndlich gelangte die Kunst (d. h. die Kunst des Kolorits) zu einem wesentlichen Unterschied in ihrer Ausdrucksweise und erfand die Wieder- gabe von Licht und Schatten, indem die verschiedenen Nuancen der Farben von selber entstanden durch die wechselnde Stellung (des Körpers zum Licht). Hin- zugefügt wurde später das Glanzlichl, das nicht mit dem Lieht verwechselt werden darf. Was dazwischen und zwischen den Schatten lag, nannte man Tonos; die Verbindungen und Uebergänge der Farben untereinander nannte man Har- moge-.* Möglich, dass einzelne Ausdrücke hier verschieden aufgefasst werden können, aber vom künstlerischen Standpunkt aus kann die Reihenfolge im Uebergänge, die der Verfasser unverkennbar aufstellt, nur der malerischen Tonfolge in dem mensch- lichen Körper gelten: das Glanzlicht Isplendor), die Lokalfarbe im Licht (lumeni, der Mittelton (tonos) und der Schalten lunthral, so wie die moderne Malkunst die Ton- folge nennt, und wie sie die antike gekannt haben muss.3

Obwohl es im Ganzen ausserhalb unseres Bereiches liegt, die materielle Technik der Malerei (Anwendung von Farbstoffen) zu untersuchen, liegt die Lösung eines alten Problems auf diesem Gebiet doch hier so nahe, und steht in einem so eigenartigen Verhältnis zu unserer Aufgabe, dass wir ihr hier eine kurze Betrachtung widmen müssen.

Wir denken hier an die Ueberlieferung, dass die älteren griechischen Maler nur vier Pigmente anwandten. Die eingehendste Aufklärung hierüber gibL Plinius in seiner Naturgeschichte Buch 35, Kap. 32,* wo er sagt, dass die berühmtesten


> Hiet. nat. 35, II.

2 Tandem se ars ipsa distinxit et invenit tarnen atque nmbras. differentia ooloram alterna %-ice sesc excitante, postoa deinde adjectus est splendor. alias hic quam turnen, quod inter haec et nmbras esset, appellarunt tonon, commissuras vero roloram et transitus harniogen.

s Dies wird nachdrücklicher durch einen einzigen Umstand bei dem Glanzlichl (splendor) be- stätigt, der hier später erwähnt werden soll.

4 Quatuor coloribns sotis immortalia Uta opera fecere, ex albis Mclino. ex sitaeeis Attiea, ex rubris Sinopide Pontica. ex nigris atramento, Apcllcs. Echion, Melanthius. Nicomachus, clarissimi pictores, cum tabnlae eornm singulae oppidornin venirent opibus. Nunc et pnrpuri«  in parietes mi- grantibus et India conferentc flumiunm suorum limnm, draconnm elcphantorninqae sanicm. nulla nobilis pictura est ümnia ergo ineliora tnnc fuere, cum minor copia. Ita est, quoniam, ut supra diximus, rcrum non animi pretiis cxcubatnr.



- 64 —

Maler — AjH'lles, Echion, Melanthios, Nikomaclios — , Künstler, deren Werke ein- zeln mit dein Keiehturn ganzer Städte bezalilt wurden, nur vier Farben anwendeten, und er benutzt diesen eigentümlichen Zug, um eine kleine Philippika gegen die ver- schwenderischen Kunstinittel seiner eigenen Zeit zu halten, die in einem so inisslichen Verhältnis zu den geringen künstlerischen Resultaten stehen, die dadurch erzielt werden. Heutzutage taxiert man alles nach den Stoffen, nicht nach dem Geisl.> Kr nennt einzeln die vier Farben, nämlich:

I i unter den weissen Melinum, melische Krde (Vergl. Hin. 35, 19);

2) unter den Ockerfarben die attische (Vergl. 33, 50 1;

3i unter den roten Krde ans Sinope in Pontus t Vergl. 35, 13);

4> unter den schwarzen ein nicht genauer bezeichnetes atramentum (Wichse ) (Vergl. .35, 25).

indem IMinius in einem andern Kapitel (Ol desselben Buches alle Malfarben in die ernsten oder strengen, laustem und die blühenden ifloridii einteilt, welche letztere den Malern von den Auftraggehern geliefert wurden, geht aus seiner genaueren Entwicklung dieser Sonderung hervor, dass alle die vier obengenannten Farben zu den strengen gehören.1

Ausser von Plinius wird diese Sache von (licero (Brutus 18> erwähnt, der eine Parallele zwischen der älteren Entwicklung der Skulptur und der Malkunst zieht: er unterscheidet zwischen einer älteren Generation von Malern, die durch die Namen Zeuxis, Polygnotos und Thimanthcs bezeichnet werden zugleich mit den übrigen, die nicht mehr als vier Farben angewandt haben und deswegen nur wegen ihrer Form und Zeichnung geloht werden können, — und einer jüngeren Generation  : Aition. Nikomaclios, Protogenes und Apelles, bei denen alle Kuustmittel schon zur Voll- kommenheit entwickelt sind. Die beiden Kiiiisllcrgenerationen, die Cicero hier an- führt, können ungefähr als Maler aus dem fünften und Maler aus dem vierten Jahrhundert vor Chr. bezeichnet werden.

Die beiden Gewährsmänner sind sich also darin einig, dass es Maler gibt, die nur vier Farben angewendet haben. Sie sind sich dahingegen uneinig darüber, welche Maler es gewesen sind, indem Cicero die vier Farben den berühmten Malern aus dem fünften Jahrhundert zuschreibt. Plinius hingegen denen aus dem vierten (indem man doch wohl die Meinung bei ihm voraussetzen kann, dass die Sache auch von den Aelteren gilt).

Was die Uneinigkeit betrifft, so muss man wohl annehmen, dass Cicero Plinius gegenüber im Hecht ist, da bei diesem Aeusserungen vorkommen, die seinen eigenen Aussagen, dass Apelles und die übrigen grossen Maler aus dem vierten Jahrhundert


1 Plinius beruft Eich noch einmal. (:!.*>.  :ki) auf seine Mitteilung von den vier Farben, indem er, nachdem er die malerische Wirkung von Apelles' Portrait Alexander«  mit dem Blitz, in der Hand hervorgehoben  : «Die Finger scheinen aus dem Gemälde hervorzuragen, und der Blitz, ganz, ausserhalb desselben zu sein», die Bemerkung einschiebt: «legentes meininerint omnia ex quatuor coloribus facta». Diese Worte sind entweder eine Interpellation oder ein Beweis, dass Plinius selber kaum Bescheid über die Sache gewusst hat.



- 65 -


nur Hie von ihm genannten vier Farben benutzt haben sollen, geradezu widerstreiten. Denn in dein Kapitel 5(5 1 in dein er vorzugsweise über die Ockerfarben (sill spricht, sagt er, es seien Folygnotos und Mikon — also ältere Maler ans dem fünften Jahrhundert — gewesen, die sie zuerst in die Malerei einführten, wenigstens den attischen Ucker. Die folgender Generation, -- fährt er fort — beschränkte den Gebrauch des attischen Ockers auf die Lichtpartien, benutzte zu den Schattenpartien aber Orker aus Syrien und Lydien.1 Da mm die Maler, die sich nach Flinius selber auf den Gebrauch der vier Farben beschränkt haben, zweifelsohne zu der 'folgenden Generation«  oder wohl vielmehr zu der nächstfolgenden gerechnet werden müssen, so muss man annehmen, dass sie nicht nur den attischen, sondern wenigstens noch eine von den Ockerfarben, also mindestens doch fünf Farben benutzt haben. Kine andere Stelle ist noch überzeugender. Flinius sagt nämlich i.-S:{,  :><>, 18) von Apelles, dass er einen leicht nachdunkelnden Firnis oder eine Lasur erfand, um durch ein solches in der Entfernung unsichtbares Mittel seinen zu blühenden Farben eine ernste Haltung zu verleihen. Also weit davon entfernt, dass sich Apelles auf die vier genannten colores austeri beschränkt haben sollte, ist sein Kolorit derartig blühend gewesen, dass er selber ein Mittel erlinden musste, um seine Wirkung zu mildern und zu dämpfen.

Diese Selbst widerspräche bei Flinius sind nicht zu unterschätzen bei der Be- urteilung seiner kunsthistorischen Kompilationen. Unter allen Schriftstellern des Alter- tums ist er ja eigentlich der einzige, der etwas mitteilt, was sich für zusammen- hängende Kunstgeschichte ausgibt. Aber leider zeigt es sich in allen Funkten, dass er sich selber nicht so recht klar ist über den Zusammenhang seiner Mitteilungen, sondern seine O'^Hen stückweise kompiliert. Wenn tu- in seinem Kapitel über die vier Farben diese auf Apelles und seine Zeitgenossen zurückführt, so hat er sicher nur der rhetorischen Wirkung halber aufs Geratewohl die klangvollsten und populärsten Namen der berühmten Maler der Vergangenheit gewählt.

Die grossen Maler aus dem fünften Jahrhundert — es gilt vielleicht sogar weit eher von der älteren Generalion unter ihnen, von Künstlern wie Folygnotos und Mikon, als von den späteren wie Zenxis und Thimanlhes — haben sich also auf den Gebrauch der vier Farben beschränkt. Flinius" genauere Angabe, welch»' dies waren, in Zweifel zu ziehen, liegt eigentlich kein triftiger Grund vor: da ist nichts, was darauf hindeutet, dass er hier seine Ouelleu nicht genau abgeschrieben hatte, — wenn er sie auch vielleicht kaum ganz klar verstanden hat. Man ist nicht berechtigt, eine so |Kisitive und ins Einzelne gehende Mitteilung als Geschwätz oder doch als figürliche Kedensart aufzufassen, die nur im allgemeinen die grössere Einfachheit in der Verwendung von Farbeniniltelu habe bezeichnen sollen.

Wie aber konnte mau sich doch in irgend einem Stadium der Entwicklung der


1 Site pingere institoere primi Polygnotus et Micun, AUico dumtaxat. Hoc secuta netas sul lumina usa est, ad umbras autein Syrieo vi Lydio.



- 66 —


Malkunst mit vier Pigmenten, einem weissen, einem gelben, einein roten und einem schwarzen behelfen, die also nur zwei wirkliche Farben, eine gelbe und eine rote, enthalten, oder zwei warme Farben und gar keine kalte? Wo ist die kalte Hälfte des Farbenzirkels geblieben, und namentlich die blaue Farbe? Man hat darauf hingedeutet, dass mit der vierten Farbe, die mit einem ziemlich allgemeinen Ausdruck atramentum benannt wird, eine bläuliche Nuance von Schwarz gemeint sein kann, was sehr wohl möglich ist, da gerade Flinius von Polygnotos und Mikon an- führt, dass ihr atramentum das sogenannte Tryginon war, eine Farbe, die aus ge- brannten Weintraubenkernen oder Weinmost gemacht wurde und, wenn sie von guten Trauben bereitet war, einen Schein von Indicum annahm. Doch weiss man nicht, ob hier mit Indicum das gemeint ist, was wir Indigo nennen würden ; dagegen spricht, dass Apelles statt dieses Tryginon Elfenbeinschwarz (gebranntes Elfenbein), eine ganz rein schwarze Farbe, als atramentum benutzte. Ausserdem nennt Plinius nicht  ?ohnc weiteres das atramentum als vierte Farbe; er sagt ausdrücklich, dies atramentum sei diejenige von den schwarzen Farben, die man anwandte. Selbst wenn man nun mit dem Atrament, das benutzt wurde, der Farbe einen bläulichen und einen kühlen Anstrich hat geben und durch Einmischung von Gelb etwas hat erzielen können, was sich dem Grün näherte, so ist dies keineswegs dasselbe, als wenn man wirkliches Blau und grüne Pigmente benutzt, die kräftige Lokalfarben geben können. Hat man darauf gänzlich verzichtet? Warum sollte man sich eine solche Entsagung, eine solche Amputation des ganzen Farbenzirkels auferlegen, wenn doch nachgewiesen ist, dass man aus einer weit früheren Zeit ganz genau kräftige blaue Pigmente kannte, die man in Architektur, Dekoration und Skulptur anwendete?

Die Sache verhält sich ganz einfach so, dass unter den vier Farben nicht alle die Farben verslanden sind, die in einem Gemälde zur Verwendung gelangten, sondern in qualifizierter Bedeutung alle die, die zur K a r n a l i o n , der nackten Farbe des mens c blichen Körpers angewandt wurden. Ks ist eine Redefigur (pars pro toto), die hier benutzt ist. So hat man sich auch in der modernen Zeit ausgedrückt, wenn man z. B. Tizians «Lokalfarbe» gerühmt hat; in neun von zehn Fällen versteht man darunter nicht seine Lokalfarbe bei Bäumen, Steinen, Gewändern oder dergleichen, sondern die wunderbare Schönheit in der Behandlung der Lokalfarbe des menschlichen Körpers. Bei einer genaueren Analyse der geltenden Kunstsprache wird man überhaupt sehen, du.ss viele Ausdrücke (Form, Zeichnung, Llmriss u. s. w.) in der Kunst in qualilizierler Bedeutung gebraucht werden, gerade da, wo sie die Figur zum Gegenstand hat. Und eine solche Aus- drucksweise wird um so natürlicher, wo von der älteren antiken Kunst die Rede ist, weil die Behandlung des nackten menschlichen Körpers in derselben eine so ausserordentlich hervorragende Rolle gespielt hat. Man hat gewiss sogar vorzugsweise an den nackten männlichen Körper gedacht aus dem einfachen Grunde, weil die nackte weibliche Figur in jener älteren Malkunst (Polygnotos, Mikon), die diese vier Farben ausschliesslich anwandle, eine äußerst seltene Ausnahme gewesen sein



- c: -


muss;1 doch braucht man in diesem Funkte kaum einen bestimmten Unterschied zu machen, da man auch zu dem Kolorit des weiblichen Körpers nur dieser genunnten Farben bedarf.

Kinen schlagenden Beweis für die Richtigkeit dieser Auslegung liefert Plinius" Mitteilung über die Anwendung der rolen Farbe, die man 'Sinopische Krde> nannte. Kr sagt, diese Farbe sei in alter Zeit zur Krzeugung «des Glanzes, benutzt. Ks ist klar, dass man nicht von Glanzliehl im Allgemeinen als von etwas sprechen kann, das in allen Fällen durch dieselbe Farbe dargestellt wird. Dass hier aber eigentlich das Glanzlieht auf der nackten Haut gemeint ist, wird durch das bestätigt, was wir später in Hinsicht auf die erhaltenen antiken Gemälde anführen, wo es gerade durch eine hellrote Farbe, eine Mischung von Rot und Weiss ausgedrückt ist.*

Der sicherste Beweis für unsere Auslegung aber ist, dass die vier Farben  : Weiss, Gelb, Rot und Schwarz infolge der Natur der Sache immer die Grundelemente der Karnation sind und waren. Auch ein moderner Maler, dein alle Hilfsmittel unserer Zeit zu Gebote stünden, würde sich mit vier Pigmenten dieser Art behelfen können. Ich will noch auf Plinius' Ausdrucksweise hinweisen, die vermutlich aus einer älteren Quelle abgeschrieben ist. Wenn man sie genauer beachtet, so wird man sehen, dass er es als selbstverständlich betrachtet, dass die vier Farben eine weisse, eine ocker- gelbe, eine rote und eine schwarze sein müssen ; bei dieser Gelegenheit weist er nach, dass für jede dieser Farben nur ein einzelnes Pigment b e u u t z t wurde und teilt mit, welches es war. Ks muss auch noch bemerkt werden, dass, wahrend die neueren Schriftsteller, die antike Kunstgeschichte behandelt haben, in Unklarheit bezüglich der Bedeutung seiner Mitteilung sind, diese von einem älteren Schriftsteller, nämlich dem Venetiancr Carlo Ridolli im 17. Jahrhundert in dem eben entwickeilen Sinne ganz richtig verstanden wurde. Hidolfi lässl sich nicht auf eine Diskussion seiner Auslegung ein, son lern setzt seine Auffassung ganz einfach wie eine Uebersetzung hin. Kr nennt (nach Plinius) «Apelles, Kchion, Melanthios und Nikomachos» und fügt hinzu: non usando eglino che quattro colori nel comporre le carni, indem er Giorgione wegen einer ähnlichen Kitifachheit in der Behandlung der Farbe lobt. Ks ist recht interessant, das natürliche Verständnis für die Sache gerade bei einem Venetianer zu linden, der mit den Grundsätzen der Malkunst in der berühmten Schule seiner Stadt vertraut war, dieser Schule, die unter allen modernen den grössten Ruhm in der Behandlung des menschlichen Kolorits geerntet hat. »


1 PlinioB 3T>,  :K) nennt eine eigene Farbe, die bei weiblichen Figuren angewendet wird : anulare quod vocant candidum est, quo muliebres picturae illuiuinantur ; es steht uiclits darüber da. in welche Zeit der Kunst sie zurückzuführen ist.

  • Dies bestätigt also auf das Bestimmteste — was übrigens kaum ein denkender Leser leugnen

wird oder geleugnet hat — dass in der eigentümlichen, oben filierten Stelle bei Plinius 11) wo die Bede von den Uebergängen in der Farbe ist, unter denen «splendor» ein bestimmtes Glied bildet, auch der Uebergang in den Farben des menschlichen Korpers mit einbegriffen ist.

» Was bedeutet eigentlich das Wort «monochrom», jicvr//p<.»|i.oTo;. das von dem ersten Sta- dium au in der Technik der Malkunst angewendet wird? Man mus* einräumen, dass die Antwort



APOLLODOROS UND ZEL1XIS.


Apollodoros' wird der «Sehattenmaler genannt». Früher hatte man den Schatten wohl gekannt, hatte aber diese Kenntnis nicht anwenden wollen oder können. Jetzt wurde die Wahrheit an ihren Platz gesetzt, «die Abtönung und das Abnehmen des Schattens» auf der runden Oberfläche wurde dargestellt, nicht nur die ungebrochene Lokalfarbe allein. Es ist das Phänomenale, was der Künstler zur Darstellung bringt, aber es dient dem Eindruck von Dingen. Es ist eine Illusion, etwas, das den Blick fesselt und festhält. Der Fortschritt ist epochemachend ge- wesen ; Apollodoros hat hierdurch die Grundlage für die ganze höhere Malkunst geschafTen. Er sagt selber: «Durch die Tür, die ich geöffnet habe, sind Andere ein- getreten»; und sogleich trieben es Zeuxis und Parrhasios aus Klein-Asien noch weiter mit der Illusion.

Es erhob sich eine Opposition gegen sie, und der Ausdruck «Schattenmaler» konnte in herabsetzender Bedeutung gebraucht werden. Diese jüngeren Künstler traten ein wenig herausfordernd auf, auch in dein rein äussern Habitus  ; sie trugen den hohen Perserhul und man hai sich lustig über sie gemacht, wie man sich über die französischen Romantiker von 1H30 lustig machte.

Selbst Piaton ist — oder wurde allmählich — ein Gegner aller nachahmenden Kunst, die bei den Griechen so üppig emporgesprosst war, namentlich aber der jüngst


hierauf ziemlich unsicher ist, und dass die Stellen, ans denen wir die besten Aufschlösse erwarten dürften (Plin. 3r>, fi ; .'IT», 34) mehr Verwirrung als Klarheit schaffen. Meistens bedeutet es Bilder in der Art der Vasenmalereien. (So auch in K. O. Müller, Archäol. § .'UH : «einfarbige Bilder auf einem verschiedenfarbigen Grand».) Aber in gewisser Weise würde es ja nicht ganz korrekt sein, der- gleichen Bilder Monochrome zu nennen, da dann ja das Bild z w e i Farben enthielte, eine für den Grund, eine andere für die Figuren. Wenn man troUdcm, ohne weiteres das Wort monochrom für dergl. Bilder anwendet, so liegt darin ein Zugeständnis, dass die Farbe, von der man spricht, nur die Farbe der Fignr ist. In Wirklichkeit hat es ganz sicher im Altertum niemals eine Periode gegeben, wo man z. B. auf Wandgemälden wie auf Vasenmalereien die Figuren mit derselben Farbe malte wie ihre Kleider, ihr Haar, ihre Schmucksachen  ; es sind seit undenklichen Zeiten mehrere Farben benutzt worden  ; die Malerei ist p o 1 y chrom gewesen (wie in den ägyptischen und etnirischen Gräbern). Nichts desto weniger ist dor Ausdrnck jiovj/piona vielleicht auch für diese Malereien angowandt worden, wohl zu bemerken in einer späteren Zeit, wo man eine neuere, entwickeltere Malkunst besass, a I s Ausdruck für das, wofür man früher nur eine Farbe benutzte, während man jetzt mehrere anwendete, nämlich die Abtönung von I-icht zu Schatten. Als man angefangen hatte, den menschlichen Körper mit mehreren Farben, namentlich mit vieren, zu malen (Polygnot und Mikon) konnte man, wenn man auf die Vergangenheit zurückblickte, deren Malkunsl, obwohl sie alles in allem verschiedene Farben benutzte, als monochrom bezeichnen. — Brunn, Künstler- goschichte II, S. «1, bezieht Pliniu»' Aeusserung (:l*>. .'SU) über Zeuxis: pinxit et monochromata ex albo auf die Art Malereien, die die Italiener mit cliiaroscuro. (französisch: en cnmoyen, deutsch: Grau in Gran) bezeichnen, d. h. Bilder mit vollständiger Durchführung des Uebcrganges zwischen Luft und Schatten in einem und demselben Farbenton; aber die Ausdrucksweisc scheint sich doch vielmehr auf einfarbige Figuren auf weissem Grunde zu beziehen. «Grau in Grau  »-Malereien scheinen im Altertum keine bedeutende Rolle gespielt zu haben. Sic sind eine Art künstlerischer Abstrakta. von denen man annehmen kann, dass sie erst nach der vollen Entwicklung der Farben- Abtönung entstanden sind.

' Vergl. «Julius Lange  : Darstellung des Men.schen», S. lOi f.


- 69 -


entstandenen, auf Illusion berechneten Malerei. Er betrachtfit sie als trauriges Zeichen der Zeit und fuhrt Krieg dagegen, wie mau heutzutage Krieg gegen den Impressio- nismus geführt hat. Es ist nichts Einstes, meint er, es ist Humbug, Taschenspieler- künste, um die Augen der Kinder und Unmündigen aus der Entfernung durch .Sinnestäuschung zu betrügen. Schon die wirklichen Dinge in der Welt sind irreal im Vergleich mit den ewigen Ideen der Dinge, ihren Urbildern und Begriffen; aber statt sich von den wirklichen Dingen zu Ideen aufzuschwingen, schlügt man gerade den entgegengesetzten Weg ein und sinkt zu den Phänomenen, dem Nichtexisticren- den herab. Jeder anständige Mann, meint Piaton, wird doch, wenn er die Wahl hat, ein wirkliches Ding zu schalTen — wie der Handwerker — oder ein täuschendes Bild davon, jenes vorziehen. Die Maler sind Leute, die wie die Sophisten bei äusserst geringer Kenntnis über alles mitreden können; sie stellen Himmel und Erde und Unterwelt und alles, was darinnen ist, dar, k ö n n e n aber doch nichts. Ihre Kunst hält sich an den schlechten Teil der Seele, wo alles Widerspruch ist. Durch Per- spektive machen sie das Grosse klein und das Kleine gross ; Dinge, die gleich gross sind, machen sie verschieden gross, das Krumme machen sie flach und das Flache krumm, diese «Schattenmaler».

Es war eine warnende Stimme, und es stand ein bedeutender, ja ein grosser Mann hinler dieser Stimme. Aber die Welt liess sich nicht warnen, sie fuhr fort mit ihrer illusionistischen Malkunst und entwickelte sie mit Riesenschritten. Es würde Zeitvergeudung sein, hier darüber zu reden, inwiefern Piaton ursprüng- lich Hecht gehabt hat  : der Keim, den er hat ersticken wollen, ist zu einem mäch- tigen Baum, einer ungeheuren Tatsache in der Welt angewachsen, und der Philosoph ist so weit zurückgeblieben, dass man alle Mittel der Geschichte anwenden muss, um zu sehen, dass ursprünglich Sinn in dieser Rede gewesen ist, die jetzt einen so schrecklich bornierten Eindruck macht.

Es ist nicht das einzige Mal in der Well, dass ein grosser Fortschritt der Mitwelt wie eine gewisse Erniedrigung, eine Degradation erschienen ist im Ver- hältnis zu dem früheren Zustand  ; es ging hiermit wie mit der Entdeckung des Köpern ikus.

Und doch war das Mass von Impressionismus, das Platou hier beklagt, so unendlich gering im Verhältnis zu dem, das wir jetzt kennen. Aber es liegt auf dem- selben Wege. Ich will mit so wenig Worten wie möglich die folgenden Hauptpunkte desselben Fadens, der Entwicklung des Malerischen, nachweisen, um sicherer zu sehen, wo der Faden in unserer Zeit mündet. Wir erhalten eine klarere Auffassung der Gegenwart, wenn wir sie als Endpunkt der ganzen Entwicklung betrachten. Der Fortschritt kann namentlich von zwei Gesichtspunkten aus gesehen werden; es ist teils das Perspektivische, teils Licht und Schatten in Verbindung mit Farben (Agatha rebus und Apollodoros).

Die grosse antike Mulkunst machte sicher nur einen massigen Gebrauch von der Perspektive und dem Schatten.  »Das Licht» in den Bildern trat unter einer gewissen abstrakten Form auf: mau sah die Gegenstände in dem südlichen, klaren


- 70 —


Tageslicht. Das Gewicht wurde nur auf Hie Dinge, d. h. nur auf die Figuren gelegt, — wobei wir auch an das nahe Verhältnis der Malerei zur Plastik erinnern müssen. Nichts, auf dem Bilde durfte die Figuren undeutlich machen. Niemals wurde Sonnen- schein, fast nie Mondschein nachgeahmt : eine gemeinsam fröhliche, kräftige Stimmung herrschte in der Farbe. Die nächtliche Stimmung wurde, wo man sie wünschte, durch mythologische Figuren wie Selene und Endymion hervorgebracht.

Dann wird die Kultur der Antike zerstört. Nur eine gewisse theoretische An- leitung für die Malktinst bleibt zur ück, eine Tradition, die während des grössten Teils des Mittelalters erhallen blieb. Es fand im Mittelalter keineswegs eine neue Ent- wicklung des Malerischen statt; aber man liebte andere Arten von Wirkungen: die magische Pracht des Altars in der katholischen Kirche, den Goldgrund, den Mctallglanz, die goldene Glorie, die hell durchglühte Glasmalerei der Gotik.

Bei dem grossen Aufschwung der Malkunst zu Anfang des vorigen Jahrhunderts hat die Farbe erst recht mit der Wiedergabe der Mannigfaltigkeit der Natur zu tun ; dies macht sich in Italien und namentlich in den Niederlanden geltend  : die Welt erschliesst ihren ganzen Farbenreichtum in der Malerei. Aber die Anwendung der Farben wird doch nicht eigentlich realistisch, die Kunst des Kolorits sucht ihre Ehre darin, die eine Farbe auf der Fläche in ein Schönheitsverhältnis zu der anderen Farbe zu stellen (das Harmonische, das Symphonische) — sie legt mehr Gewicht darauf als auf das Wahrheitsverhältnis zu der wirklichen Farbe des Gegenstandes. Darin erreichen die grossen Koloristen das Ausserordentliche: Tizian, Correggio, später Rubens; siehe z. B. Tizians beide Frauen am Brunnen: hier ist die schönste Farben- harmonie in der späten Nachmittagsbeleuchtung, aber man kann das nicht realistisch nennen. Das Licht ist noch überwiegend das klare, südländische, abstrakte Tageslicht sowie in der Antike. Die Oelmalerei gestattet vielleicht grössere Kraft und Tiefe als die antike Malerei die wir kennen, — die enkauslische kennen wir ja sozusagen gar nicht. Aber es sind abermals die Dinge, d. h. die Figuren, worin die ausserordentliche Bedeutung liegt. Selbst wo das Malerische wenig etil wickelt ist wie bei Fiesole, kann dieser Accent auf die Figur vollauf zur Geltung gelangen; aber auch für Leonardo, Michel Angclo, Tizian, die van Kyks und Holhein hat das, was die Figur undeutlich machen kann, eine ganz untergeordnete Bedeutung: Petrus Befreiung, die heilige Nacht (bei Correggio), das Gebet in Gethsemane werden durchaus nicht realistisch dargestellt. Die höchste Entwicklung des Malerischen ist hier nicht die Bedingung für den höchsten Wert eines Gemäldes.

Die Perspektive, die von neuem zu Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts entdeckt wird, findet jetzt mehr Verwendung als im Altertum: sie hebt weit stärker die Tiefe des Raumes hervor. Eine eigenartige Anwendung der Perspektive machen Mantegna und Correggio durch Gemälde hoch oben im Raum. Das Prinzip ist dasselbe wie bei den modernen Impressionisten : es besteht keine feste Grenze zwischen dem Beschauer und dem, was er sieht, er ist selber mit dabei: al di sotto in sü. Man sieht die Figuren in der Verkürzung und malt sie im wirklichen Lieht. Es ist hier nicht so sehr der Beschauer, der in das, was gemalt ist, hineinversetzt wird, vielmehr rückt



— 71 -


dieses zu dem Beschauer in den wirklichen Raum. Das ist, wenn man will, Im- pressionismus.

Im siebenzehnten Jahrhundert macht sich eine stärkere Verwendung des «Schattens» geltend. Caravaggio und Ribera sind Repräsentanten eines handgreiflichen Realismus ; über ihren Bildern ruht eine düstere Stimmung, aber sie verstehen es auch, die Dinge ins Relief zu bringen. Auf das Weichere, die umströmende Luft wird bei den Spaniern kein Wert gelegt. 1

Aber der grosse «Schatten malet» par excellence ist Rembrandt. Wenn auch nicht zum ersten Mal, so doch mehr als irgend ein anderer giebt er der Lichtwirkung eine gewisse Selbständigkeil ; sie wird eine Macht in der Malkunst neben dem, was durch die Figuren ausgesprochen wird. Reinbrandt ist ein grosser Menschen- maler, vielleicht der grosseste Psycholog, den die bildende Kunst kennt. Und doch gibt es niemand, der es in dem Masse wie er versteht, die menschliche Figur als Ding, als festen Gegenstand und ihre Lokalfarbe in Licht und Schatten aufzulösen Gerade in diesem geheimnisvollen Zusammenklingen zwischen dem Seelischen und der Lichtwirkung, in diesem Vibrieren im Licht und in der Seele, besteht das eigen- tümlich Rembrandtische. Es ist ein gewaltiges Stück Impressionismus in ihm; er ist ge- wissermassen ganz Impressionist. Bei ihm machen sich die Dinge niemals fest und positiv als Dinge geltend : er empfindet nur eine geringe Verpflichtung, ihre eigentliche Bildung darzustellen — um mit Eekersberg zu reden. Die grosse Skala im Licht, das her- einbrechende Sonnenlicht, der starke, glühende Feuerschein bei ihm erinnert an jene magische Wirkung im Innern der alten Kirchen. Dahingegen bildet er den stärksten Gegensatz zur Antike und dem meisten, was die italienische Kunst hervorgebracht hat, — und doch ist er überwiegend «Symphonist*, nicht Realist.* . . .


Zeuxis, der zu Anfang des vierten Jahrhunderts sich vor allen Malern seiner Zeit eines hohen Ruhmes erfreute,' erklärte aus eigenem Antrieb, eine Helena für den Heratempel in Kroton malen zu wollen; die Krotonialen hallen ihn nämlich be- rufen, Bilder für diesen Tempel zu malen. Kr verlangte selber, die schönsten jungen Mädchen zu sehen, die sie in der Stadl hallen, um nach ihnen Studien Tür seine Helena zu machen, die die Summe der Schönheit weiblicher Körperformen enthalten sollte.4

1 In der dänischen Ausgabe steht hier in Klammern das Wort Murillo. Dies ist nur aus dem fragmentarischen Zustand des Manuskripts zu erklären und so aufzufassen, das» Lange hier vorhatte, spater über Murillo etwas hinzuzufügen, da auf ihn die eben gegebene Charakteristik der Spanier nicht paast.

  • Hier endet dies Stück des Manuskriptes mit der Beifügung: — «Louis Davids Anti-Im-

pressionismus - das Trockne und das Positive — •. (Bemerk, des Herausgebers.)

3 Vergl. «Julius Lange: Darstellung des Menschen», 8. M, Anm. 2.

4 Cicero, de Inv. II, I. I: «In früheren Zeiten, wo die Stadt Kroton nach jeder Richtung hin reich und blühend war und als eine der glücklichsten Städte Italiens galt, beschlossen ihre Be- wohner, den Heratempel der Stadt, der Gegenstand grosser Ehrfurcht war, mit ausgezeichneten Gemälden auszustatten. Deswegen boten sie dem Maler Zeuxis aus Heraklea. dessen Ruf damals den aller anderen Maler weit übertraf, einen hohen Lohn und holten ihn in ihre Stadt. Er malte dort mehrere Gemälde, von denen auch ein Teil infolge der Heiligkeit des Heratempels bis auf unsere Zeit bewahrt ist; gleichzeitig sagte er. er wolle eine Helena malen, die in der stummen Gestalt der Kunst die Summe höchster Schönheit der weiblichen Körperform enthalten sollte. Das worden


- 72


Das ist der induktive Weg zur Darstellung der Schönheit  : wie man in der I-i »j?ik aus einer Suiniue einzelner erfahrungsmässig beobachteter Fälle auf die allgemeine; Hegel oder das allgemeine Gesetz schlicsst, so stellt man auch durch Betrachtung einer Menge unmittelbar anziehender Individuen fest, was Schönheit ist. Diesen Weg der Erfah- rung halten die Griechen schon seil längerer Zeit bei der Darstellung der Schönheit des männlichen Körpers eingeschlagen: indem er die ITchuugsplätze der .lugend be- suchte, nahm der Künstler eine Menge schöner Vorstellungen über den Körper und die Bewegung in sich auf, füllte damit seine Seele, und hatte infolgedessen weniger Schwierigkeiten das Schöne in der Köipcrforin darzustellen, wenn seine Aufgabe dies von ihm erheischte. Es ist auch charakteristisch für griechische Sitten, dass die Krotoniaten dem Maler nicht gleich ihre schönen jungen Krauen zeigten, 'natürlich die unverheirateten, nach Ciceros Wort  : Virgines --  ; dass verheiratete Frauen (le- genstand künstlerischen Studiums wurden, davon konnte keine Hede sein); aber sie zeigten ihm die Jünglinge, die Brüder der Schwestern. Krst dann wurde eine Art Schönhcilskonkurrcnz unter den Frauen abgehalten, und fünf wurden auserlesen.

Cicero äussert sich in seiner Erzählung nicht darüber, dass der Maler die Schön- heil der jungen frei geborenen griechischen Mädchen nackend studierte. Ob er es so gemeint hat, kann man meiner Ansicht nach aus diesen seinen Worten weder be- jahen noch verneinen. Hindus i.T>, Gtti sagt dagegen in seinem weit kürzeren Bericht Uber die Sache, dass Zeuxis eine Schau über die jungen Mädchen der Krotonialen, als sie nackt waren, veranstaltete und fünf unter ihnen auswählte, damit er auf dem Gemälde das wiedergehen konnte, was an einer jeder einzelnen von ihnen schön war. Diony- sius aus llalikarnassos ide priseis scripl. cens. I) gehl noch weiter und sagt, seine Aufgabe sei gewesen, Helena nackend zu malen, und deswegen halten die Bürger der Stadl ihm ihre jungen Mädchen gesendet, damit er sie nackend beschauen

die Krotoniaten froh zu erfahren, da sie so oft hatten sagen hören, dass er in der Fähigkeit, den weiblichen Körper zu malen, andere Maler weit übertraf. Sie dachten nämlich so: wen;i er sich richtig Mühe gab bei einer Aufgabe, die zu der Art gehörte, die er im höchsten Grade beherrschte, so würde er ihnen ein ausgezeichnetes Werk zu Bieter Zier ihres Tempels malen. Sie wurden da* mals auch nicht in ihren Erwartungen getauscht. Zeuxis fragte sie nämlich sofort, welche schönen jungen Mädchen sie hatten ; und da rührten sie ihn sogleich in die Palästren und zeigten ihm viele Jünglinge von hervorragender Schönheit — — Und als er in hohem Grade die körperliche Schönheit der jungen Menschen bewunderte, sagten die Bürger Krotons: ihre Schwestern haben wir in unserer Stadt, junge unverheiratete Mädchen, und wie schön sie sind, davon kannst du dir nach den Brüdern eine Vorstellung machen. Da sagte Zeuxis: Dann lasst mich die schönsten der jungen Mädchen sehen, von denen Ihr redet, während ich das Bild male, das ich Euch versprochen habe, damit die Wahrheit des Lebens von dem lebenden Modell auf das stumme Bild überführt werden kann (ut mutuni in simulacrum ex animali exemplo' veritas transfcratiir Da führten die Krotoniaten auf einen gemeinsamen Beschluss hin die jungen Mädchen an einen Ort und erteilten dem Maler die gewünschte Erlaubnis,  »eine Auswahl zu treffen. Er wählte fünf aus, deren Namen viele Dichter der Erinnerung überliefert haben, weil sie durch sein Urteil, das als das beste Urteil über Schön- heit angesehen werden musste, anerkannt waren. Er meinte nämlich, dass sich alles, was er an Liebreiz, verlangte, nicht in einem Körper vereint finden könne, weil die Xatur in keiner Gattung ein einzelnes Individuum so vollständig geschaffen hat, dass es von allen Gesichtspunkten aus voll- kommen ist. Es ist, als fürchte sie. dass ihr nichts für die andern übrig bliebe, wenn sie einem Einzelnen alles gäbe, und sorge deswegen dafür, dass der eine einen Vorzug, der andere einen andern erhielt, und dass der Vorzug allemal mit einem Mangel gepaart ist.»


73 -


solle; indem er aus vielerlei Teilen «einen Sellins* zog, gab seine Kunst das Gesamt- bild der vollendeten Schöne wieder. Die übrigen Schriftsteller, die das Rild besprachen, liefern keinen Beil rag zum Verständnis dieses Punktes.

Aber es ist sonderbar zu denken, dass Helena nackend gemalt werden sollte. Die Satten, die von ihr handeln, scheinen keine Veranlassung dazu zu geben. Auch scheint das nicht mit den Gewohnheiten der griechischen Kunst bei der Darstellung der Helena vereinbar zu sein, und zu Zeuxis' Zeil, jedenfalls nur wenig nach dem Jahre 100 — war überhaupt die nackte Frauengestalt in grösserem Massstab wenn nicht ungesehen, so doch sn selten in der Kunst, dass sie nur dort erschien, wo ein besonderer Anlass dazu vorlag. Ich bin daher der Ansicht, dass man Dionysios hierin nicht glauben darf, sondern dass Zeuxis die Helena bekleidet gemalt h a t. Das binderte freilich den gefeierten Maler, als er seine Wahl unter den jungen Mädchen der Stadt traf, nicht, sie nackend zu sehen, was wohl nicht ganz unverein- bar mit griechischer Denkweise sein würde: aber es macht es weniger wahrscheinlich, dass er die Gestalten der freigeborenen Mädchen so studiert hat, wie ein Künstler nackte Modelle studiert. Ks verleiht überhaupt der ganzen Krzählung einen andern Charakter, als wie die antiken Schriftsteller, die sie uns überliefert haben, ihr haben beilegen wollen, indem sie geneigt sind, daraus eine Theorie zu ziehen. Jene Schön- heitskonkurrenz, bei der ein hochberühmter Künstler als Richter fungiert, mag seiner Zeit Aufsehen genug erregt und die Federn der Dichter in Bewegung gesetzt haben; deswegen brauchen wir uns aber nicht vorzustellen, dass Zeuxis eine Ideal-Gestalt aus fünf Teilen zusammensetzte, von der ein jedes einem von fünf verschiedenen schönen Mädchen angehörte. Er hat Honig gesammelt wie die Biene, die in dem herrlichsten Blumengarten herumllattern darf  ; der Honig ist aber in seinem eigenen Innern gebraut und verarbeitet, und den Staub jeder einzelnen Blüte kann man nicht herausschmecken.


DIE ÜBERRESTE DER ANTIKEN MALKIINST.

Das folgende ist im Wesentlichen eine Studie aus dein Museum in Neapel, wohin bekanntlieh fast alle die besseren Ueberreste der Malkunst aus den vom Vesuv begrabenen Städten gebracht sind. Hier muss man sich jetzt seine Anschauungen über antike Malerei bilden, insofern als sie von einem unmittelbar künstlerischen Eindruck ausgehen sollen. Es zeigt sich auch, dass eine nahe rebereinstimmung im Stil zwischen den kampanischeri Gemälden und denen besteht, die man in römischen Grübern und andern Gebäuden gefunden hat. z. B. die sogenannte Aldobrandinische Hochzeit (jetzt in der vatikanischen Bibliothek), um das wichtigste zu nennen.

Es gilt von diesen I'eberresten antiker Malkunst dasselbe wie von dem, was uns an antiker Skulptur erhalten ist: für die historische Betrachtung hahen sie nicht nur Bedeutung als das, was sie an sich selber sind, sondern auch als Abglanz der höchsten antiken Kunst. Aber auf Grund der eigenartigen Umstände unter denen



- 74 -


sie uns überliefert sind, ist das Verhältnis zwischen ihnen und der grossen Malerei ein weit entfernteres und sehr viel schwieriger klar zu legen, als das entsprechende Verhältnis in der Bildhauerkunst. Während uns in der Skulptur doch etwas von der grossen Kunst erhalten ist, sogar ein Paar Originalwerke von Künstlern, deren hervor- ragende Stellung in der ganzen Entwicklung wir historisch kennen, und während wir an solchen Werken sozusagen die Höhe dessen bemessen können, was die Skulptur zu verschiedenen Zeiten zu bieten vermochte, besitzen wir in der Malkunst — wir sprechen hier nur von der, die mit vollmalerischen Mitteln arbeitet — aus- schliesslich Werke einer späteren Zeit und nicht ein Stück, nicht eine einzige Figur, die uns eine sichere Vorstellung von den Fähigkeiten der grossen und leitenden Künstler geben könnten. Das.s von einzelnen, ganz wenigen, uns erhaltenen Gemälden nachgewiesen werden kann, dass sie eine Art Wiedergabe berühmter Werke oder vielmehr, berühmter Motive sind — namentlich lphigeniens Opferung von Timanthes sowie Medea, die auf den Mord der Söhne sinnt, von Timomachos 1 — stellt das Ver- hältnis nicht anders: es bestätigt nur durch bestimmte Beispiele, was nach jeder Hinsicht wahrscheinlich ist, dass das, was man ausgegraben hat, nicht sich seiher geschaffen hat, sondern von der grossen Malerei getragen wird. Aber das bringt sie ihr nicht näher.

Alles, was wir besitzen, ist von Personen ausgerührt, die für uns namenlos sind, und die — im günstigsten Falle — im Altertum selber kaum mehr als ein ganz vorübergehendes und lokales Ansehen hatten  ; sie standen ungefähr auf dem Niveau von Provinzkünsllern oder Grosstadlkünsllern niedrigeren Ranges.

Unter dem, was uns hinterlassen ist, finden wir, auch wenn es aus derselben Stadt stammt, wie z. B. aus Pompeji, von woher wir ja die bei weitem über- wiegendste Menge besitzen, ausserordentlich grosse Unterschiede in beziig auf den künstlerischen Wert der Arbeit. In Pompeji selber, oder in der Sammlung der antiken Gemälde in Neapel bewegen wir uns ja nicht wie in einer Galerie niederländischer oder italienischer Kunst zwischen lauter Dingen, die, wenn sie auch nicht alle gleich gul sind, doch alle ihre Probe vor der ausson- dernden Kritik der Zeit und der Geschichte bestanden haben. Pompeji wurde wiedergefunden, wie es im Jahre  ?!) von dem Untergang überrascht wurde und präsentiert sich uns mit allen, auch den ganz massigen oder schlechten Kunsterzeug- nissen, die man in jeder Stadt findet, mag sie antik oder modern sein. Ks ist kein

' Das eine erhaltene Gemälde von Merten, das, auf dem sie nilein steht, au» Hcrkulanum, gehört auch durch  »eine Ausführung zu den Westen Gemälden (Fig.  :tl). Ilahingegen gehört das Bild von Iphigenien» Opferung aus der t'asa dcl poeta in Pompeji, das einon Zug von Timanthes. berühmter Komposition, nämlich Agamemnon» verhülltes Antlitz, weitergibt, /u den allcrschlcchtcsten. Wenn Heibig (Wandgemälde der durch den Vesuv verschütteten Städte Campanicns, Leipzig 1**>K, 8. 2s:\) es als ein «durch snubere Ausfuhrung ausgezeichnetes Bild erwähnt», so ist das uur ein Beispiel von vielen dafür, wie gründlich die philologische Kunstgeschichte überschätzen kann, w as ein Werk au sich ist, wenn es nur den alles ersetzenden Vorzug hat. dass auf Grund irgend eines damit in Zusammenhang stehenden Umstände» Kunstgeschichte gemacht werden kann. d h. kunstgeschicht- liche Hypothesen.


- 75 -


Wunder, dass in einer Stadt, die einen so ausgedehnten Gebrauch von der Arbeit des Pinsels machte, viel vorkommt, was roh, flüchtig, ja widerwärtig gemacht ist. Weil eher kann man es ein Wunder nennen, dass uns eine nicht geringe Zahl von Arbeiten überliefert ist, die uns so wie sie sind, genau so viel wert sind wie die hervorragendsten Erzeugnisse der modernen Kunst, und als Abglanz dessen, was zweifelsohne noch hervorragender gewesen ist, von dem allgemeinen Niveau der antiken Malerei in einer Weise Zeugnis ablegen, die für die moderne Kunst beschämend ist. Wenn wir anfangen, diese vorzüglichen Dinge zu stu- dieren, können wir auch in den untergeordneteren Spuren des in ihnen herr- schenden Geistes erkennen und in ihnen einen Beitrag zu einer vollkommeneren Auffassung des ganzen künstlerischen Stils finden.

Viele werden es vielleicht als Uebertreibung bezeichnen, dass man die Ueber- reste der antiken Malerei im Vergleich zu der modernen so hoch stellt. Ja, — würden sie sagen — wenn wir originale Stafleleigemälde von Apelles oder Protogenes be- sessen, da könnte vielleicht die Rede davon sein, dass diese Raphaels oder Tizians Schöpfungen überträfen. Aber alles was wir haben, ist ja doch schliesslich nichts anderes als Dekorationsarbeiten, und wie sollten sich die mit Werken messen können, in die die grössten modernen Genies die Summe ihrer Kunst und ihres Fleisses niedergelegt haben  ?

Es ist auch vollkommen richtig, dass sich die Ausführung nirgends über das Dekorative erhebt. Durchgehend zeugt die antike Malerei von einer ausserordent- lichen Lust am SchalTen, dahingegen unbestreitbar keineswegs von dem Studium, von der tiefen Ehrfurcht für die Aufgabe, die uns in den Werken der grossen modernen Meister so oft mit Ehrerbietung erfüllt. Daher zeigt die Behandlung der menschlichen Gestalt grosse Nachlässigkeiten, namentlich was die Proportionen an- belangt: nur auf wenigen der vorzüglichsten Gemälde sind die Massverhältnisse des Körpers mit Sicherheit aufgelässt. So bewunderungswürdig die praktische Uebung bei diesen Künstlern ist, so schwach ist der theoretische Unterbau ; fast überall, wo man eine Figur in ihre einzelnen Partien auflösen will, um zu untersuchen, wie eine von ihnen gemacht ist, wird man das Leicht- sinnige und Oberflächliche herausfühlen. Nicht einmal auf dem allerbesten der er- haltenen Gemälde, der grossen Komposition «Herakles und Omphale» aus der Casa de Lucrezia in Pompeji' sind z. B. die Hände mit der plastischen Sorgfalt gezeichnet und


1 Museo nazionalc Nr. H'X»2. Heibig, Wandgemälde, Nr. 1140, Die» Gemälde, meinte man. sei auf einer eigenen Stacktafel gemalt und in die Wand eingefügt, was höchst wahrscheinlich bedeuten würde, dass es aus einem andern und bessern Ort in Pompeji eingeführt war. Dies ist nicht allein in populäre Werke wie Rciscbüchcr (auch au» neuerer Zeit) sondern auch in Helbigs Werk aufgenommen. Aber in Otto Donners technischer Einleitung zu diesem Werke Helbigs (S. LXX) wird dieser Angabe auf Grund technischer Untersuchungen bestimmt widersprochen. — Wenn wir hier und an mehreren Stellen Heibig widersprechen, so ist es keineswegs unsere Absicht, sein Werk herab7.uset7.en. In bezug auf alles, was nicht die eigentlich künstlerische Auffassung betrifft, womit er sich auch nur ausnahmsweise befasst, sind seine Beschreibungen durchaus sorgfältig und genau.



geformt wie auf den Originalwerken der grossen Renaissance-Meister. Ueberhaupt sind die Hände auf den antiken Gemälden, mit ihren langen, weichen, an den Enden breiten Fingern in der Regel charakterlos gezeichnet. Man trifft hier auch sicher niemals einen Fuss, der so geformt wäre, wie Raphael es tun könnte. In dem Ausdruck und der Miene und in dem eigentümlichen Stil der Komposition und der Figur als ganzes '(was wir in dem folgenden entwickeln werden) zeigt sich die Lieberlegenheil der antiken Malerei. Zweifelsohne ist die Durchführung aller Einzel- heilen der Figur in den Uriginalarbeiten der grossen antiken Meister von weit höherer Qualität gewesen. Doch darf man nicht ausser Acht lassen, das» die antike Kunst — man kann das aus der Skulptur ersehen, und es würde sich ge- wiss auch in der Malerei bestätigen — immer, auch in ihren hervorragendsten Schöpfungen mehr direkt aufs Ganze geht und weniger Wesens von den Einzel- heiten macht als die Renaissance. Es war dies tiefbegründet in der ver- schiedenen Stellung, die die verschiedenen Epochen zu ihrer Aufgabe einnahmen. Wenn dies Verhältnis so aulfallend in den erhaltenen antiken Gemälden zu Tage tritt, so beruht es also nicht allein auf dem Umstand, das» es Dekorationsar- beiten sind.

Das sind nicht nur Unterschiede in dein künstlerischen Wert, sondern auch in der künstlerischen Art und Richtung. Wir reden hier, wohl zu be- achten, nicht von den antiquarischen Unterschieden in bezog auf religiöse ,oder dekorative Anwendung, wonaeh z. H. Heibig von seinem Standpunkt aus mit vollem Recht die campanischen Gemälde eingeteilt hat.

Einen Platz ganz für sich nimmt das grosse Fussboden-Mosaikbild aus der Casa del fauno in l\)m|>eji ein, das eine der Schlachlen^Alexanders des Grossen gegen die Ferser darstellt. Es ist eine realistisch-historische Schilderung, als solche eines der allerhervorragendsten Werke, die wir aus der bildenden Kunst des Alter- tums, und das einzige, das wir aus der antiken Malerei besitzen. Suchen wir sonst in der antiken Kunst nach etwas, das ihm gleicht, so würden das wohl in erster Linie die Skulplurwerke sein, die die Kämpfe der Griechen und Römer gegen die Rarbaren darstellen, von denen sich jedoch nur die grossen Statuen der Gallier auf dem Kapitol und in der Villa Ludovisi in künstlerischer Beziehung damit messen können. Während diese Statuen einzelne Figuren aus grossen Kom- positionen sind, die als Ganzes verloren gegangen sind, so ist die Alexanderschlacht, obwohl einige Einzelheiten verwischt sind, doch so erhalten, dnss wir uns eine ge- naue und vollkommene Vorstellung von dem Ganzen machen können. Das Interesse knüpft sich hier vorzugsweise an das unvergleichlich dramatische Zusammenspiel, das in dem folgenden genauer entwickelt werden wird  : dahingegen gewährt es, was die Durchführung der körperlichen Charakteristik der Figur anbetrifft, etwas weniger Ausbeute als die Gallierstatuen, teils weil die Figuren hier voll bekleidet sind, teils weil die künstlerische Ausführung dieses Mosaikbildes weniger vor- züglich ist als die Skulptur in den Gallierfiguren : in ihnen haben wir es zweifelsohne mit Uriginalwerken zu tun, das Mosaik dahingegen ist sicher eine


- 77 -


Kopie nach einem vorzüglicheren Vorbilde. Man kann annehmen, dass das Mosaikbild im Laufe des zweiten Jahrhunderts v. Chr. an den Platz gekommen ist, wo es gefunden wurde, und einen Teil einer Dekoration bildet, deren Stil als griechieh-alexandrinisch charakterisiert werden kann.1 Das Originalgemälde, das es wiedergiebt, hat zu den grossen Bildern von der Geschichte Alexanders und seiner Kriege gehört, die von einem Künstler seiner Zeit oder der zunächst darauf folgenden Zeit ausgeführt wurden, und unter denen sich einige der aller- hervorragendsten Maler befanden. Plinius teilt hie und da Notizen über solche Gemälde mit, in denen die griechische Kunst, so unendlich hoch sie auch über der orientalischen stand, doch vielleicht von dem Realismus der orien- talischen Kunst beeinflusst wurde (wie in den Reliefs zu Persepolis), wie sich ja Alexander selbst von dem orientalischen Wesen beeinflussen Hess. Dies Bild ver- hält sich auf ähnliche Weise zu seinem Vorwurf aus Alexanders Geschichte wie Gros' oder Horace Vernets grosse Gemälde in Versailles zu der Napoleons. Ks übertrifft sie sicher weit in künstlerischem Wert und unterscheidet sich auf mancherlei Weise in seinem Charakter von ihnen : doch kann man vom Standpunkt unserer Zeit dies Werk mit Recht als eines von den antiken Schöpfungen charakte- risieren, die am meisten mit dem Geist der modernen Kunst übereinstimmen.

Im übrigen spiegell die campanische Malerei — die Mosaike mit einbe- griffen ganz überwiegend einen leichleren und mehr ästhetisch gesonnenen Geist wieder, eine Neigung, sich mit idealen und künstlerischen Vorstellungen zu beschäf- tigen, oder der Phantasie freien Lauf zu lassen. Es gibt freilich eine ganze Menge kleiner Gemälde, die das Leben der eigenen Mitwelt schildern, — Genrebilder in antikem Verstand — ; aber sie fassendes keineswegs streng realistisch auf und halten sich ausserdem an die Genussseite des Daseins. Ks sind lustige Bilder von Maskenspiel und Mummenschanz, wie die beiden vorzüglichen kleinen Mosaike des Dioskurides; da sind feine, seelenvolle Schilderungen von der Ausübung allerhand edler Künsle  : Musik, Malerei, Dichtkunst, Schauspiel und Theaterspiel hinter den Kulissen  ; Bilder aus dem Gesellschaftsleben und von der Toilette oder von obseönen Vorstellungen. Aber fast alle die grösseren und bedeutenderen Kompositionen und der grosseste Teil der klei- neren bewegen sich auf dem Gebiet der Phantasie, in der Welt der Mythen, der Sagen, der Dichtung, und stellen Vorwürfe dur, die wir aus der tragischen und epischen Poesie kennen. Darunter auch sehr ernste und ergreifende Vorwürfe  : am häutigsten jedoch solche, die leichteren erotischen Sagen oder dem Satyrspiel ent- lehnt sind. Und diese lösen sich dann unmerklich in einen flüchtigen, perlenden künstlerischen Schaum auf, Vorstellungen von einer solchen Ausgelassenheit und Leichtigkeit, dass man fast nicht von einem Vorwurf reden kann, sondern von fröhlichen Figiirenlrüumen, wie sie nur ein dekorativ virtuosenhalter Pinsel um die Wette mit dem eigenen prickelnden Leben der Vorstellungen improvisieren kann.

i

> Nach Aug. Mau'B Untersuchungen in seinem Werk  : Geschichte der dekorativen Wandmalerei in Pompeji. Berlin DSM--». (Die Hauptgruppe des Bildes siehe spitter Fig. 34).



— 78 -


Es ist beinahe etwas Selbstverständliches, das» der Figurenslil in dieser Welt der Bilder im Wesentlichen mit dem zusammenfällt, den wir aus der zeitgenössischen Skulptur kennen. Kr zeigt sich in den meisten Gemälden ganz deutlich als eine Folge der künstlerischen Richtung, die ihren Ursprung in den grossen hellenischen Schulen im vierten Jahrhundert vor Christus hatte. Wir, die wir nicht einen einzigen Ueber- rest aus der grossen griechischen Malkunst jener Zeit kennen, müssen sie in erster Linie mit den Namen der grossen Bildhauer, Praxiteles und Lysippos bezeichnen. Bei einer heroischen Figur auf einem pompejanischen Gemälde, nämlich Orestes auf dem vorzüglichen Bilde «Orestes und Pylades in Tauroi • 1 aus der Casa del eitarista, macht sich eine auffallende Aehnlichkeit mit dem Typus bemerkbar, der in der Skulptur durch den sitzenden Ares aus der Villa Ludovisi und die mit ihm verwandten Stadien vertreten wird, wozu auch Praxiteles' Hermes aus Olympia gerechnet werden kann. Wir fassen eine solche Aehnlichkeit nur als bestimmten Hinweis auf das allgemeine kunsthistorische Gebiet auf, auf dein wir uns hier bewegen, und finden sie hier durch die grosse Menge anderer Figuren bestätigt, wenn auch auf eine Weise, die weniger genau nachgewiesen weiden kann. Es gibt jedoch aus der Periode nach Alexander Skulpturwerke, die sehr von dem Figurenslil in der überlieferten Malkunst abweichen: wir linden hier nichts, was der Gewaltsamkeit in der Ausdrucksweise, der materiellen Schwere in der Form entspricht, die z. B. dem grossen Gigantenfries aus Pergamon eigen- tümlich ist: im Gegenteil sind die gemalten Figuren durchgehend leicht in der Hal- tung, der Bewegung und dem Bau. Diese Leichtigkeit wird sogar häufig übertrieben, wie wir später sehen werden. Aber selbst in Figuren, die ihrem Charakter nach stark oder üppig sein sollen, drückt sich die Malkunst mit grosser Mässigung aus. Man kann das z. B. auf dem obengenannten grossen und vorzüglichen Gemälde von Herakles und Ompliale aus der Casa di Lucrezio in Pompeji sehen: Herakles ist aller- dings eine athletische Gestalt, breit um Schultern und Brust und schmal um die Taille; aher er ist ebenso weil entfernt von der massiven Muskelkraft des «belvederischen Torso» und von der bombastischen Form des • farnesischen Herakles», wie von einer weichlichen Entwicklung von Fett und Wohlbeleiblheit, wie man sie nach seinem Leben bei Omphale wohl erwarten könnte. Und Omphale selber ist allerdings kräftig und solide gebaut, üppig, wenn man will ; doch ist die Form stramm, und die Brüste sind klein, eigentlich jungfräulich: ihre Gestalt ist weit entfernt von der schlaffen, materiellen Fülle, die manch ein moderner Künstler ihr gegeben haben würde, und der sich sogar die antike Skulptur einmal genähert hat. In der antiken Malkunst gibt es so etwas überhaupt nicht.

Einige campanische Gemälde, freilich nur eine geringe Zahl, aber doch nicht so ganz wenige, scheinen darauf hinzudeuten, dass es Künstler gegeben hat, die versucht haben, ihre Typen nach älteren und strenger stilisierten Vorbildern, Phidiasischen oder Polyklelischen könnte man wohl sagen, zu bilden, indem man hier abermals gezwungen ist, die Namen der Bildhauerkunst zu benutzen. Die bedeutendsten Beispiele

' Museo nazionale Nr. 9111  ; Heibig Nr. im (Siehe spater Fig. 32).


— 79 -

hierfür sind die beiden schönen Gemälde aus der Casa dell Aurore punito in Pompeji,1 Ares und Aphrodite und Aphrodite mit dem weinenden Eros. Unter andern fi«. 30. Beispielen kann genannt werden eine Brautszene (?) in kleinem Massstab aus Her- kulanum oder Stabiae, die so strenge im Stil ist wie ein athenisches Grabrelief.* Wir müssen daran erinnern, dass man sowohl in der Literatur als auch in der Bildhauer- kunst Spuren davon findet, dass der Kunslgeschmack in Horn schon zur Zeit des Unterganges der Republik anfing zu Gunsten des älteren, strengeren, einfacheren Stils umzuschlagen.3

Es ist indessen jetzt nicht unsere Aufgabe, den Figurenslil in der Malkunst zu schildern insofern als er mit dein der Skulptur zusammenfällt. Wir wollen aus den Ucberresten der Malerei die Züge hervorheben, die dazu dienen, das Bild der Menschenschilderung in der antiken Kunst auszufüllen.


Was die Malkunst zu der Darstellung der menschlichen Gestalt hinzufügt, ist na- türlich — wie oben erwähnt — in erster Linie die Farbe. Leider hat man bei der Untersuchung der Farbe in den eampanischen Gemälden mit der unvorteilhaften Wirkung des Firnis zu kämpfen, mit dem die früher ausgegrabenen Stücke im Museum zu Neapel überzogen sind.

Es muss jedem Beschauer sofort ins Auge fallen, dass die antike Malkunst einen grösseren Unterschied zwischen dem Kolorit des männlichen und des weiblichen Körpers macht als die moderne: Der weibliche Körper ist sehr hell und zart, der männliche sehr dunkel und braun. Bis zu einein gewissen Grad hat dies der wirklichen Lebensweise der antiken Völkerschaften, namentlich der Griechen entsprochen: Die südländische Sonne, in «leren Strahlen der Mann sich bewegte, in der .lugend häufig nackend oder halb nackend, bräunte die Haut stark, während sich die Frauen mehr im Schatten des Hauses hielten. Das braune männliche Kolorit auf den antiken Gemälden kann man noch heule an den Armen und Beinen der Fischer am Golf von Neapel beobachten. Aber die antike Kunst verschärft doch den Gegensalz, und lässt ihn namentlich wohl allgemeiner als feste Begel durchgehen, als dies in Wirklichkeit der Fall gewesen sein kann.

Dieser Unterschied muss auf einer aus uralter Zeit ererbten und eingeübten künst- lerischen Gewohnheit beruht haben, die wir in ihrer ältesten und schärfsten Gestalt von den archaischen Vasenmalereien kennen, wo das Kolorit der weiblichen Figuren häu- fig einfach und einförmig mit weisser Farbe wiedergegeben ist, das der männlichen immer mit Schwarz auf dem gelblichbraunen Grund des Tons. Das Altertum, das jedes beliebige kulturhistorische Resultat gern als Erfindung irgend eines Individuums betrachtete. — eines Golles oder eines Menschen — führte diese Sitte auf

1 Holbig Nr. 325 und H2G.

  • Heibig Jir. 1435.

a Vergl. Cicero de oratore III, 25, «W und Orator 50, lö».



E umar os von Athen zurück: er soll in der Malkunst zuerst einen Unterschied zwischen Mann und Weih gemacht haben, was natürlich in bezug auf die Farbe zu verstehen ist.1 Bei den Vasenmalereien verschwindet indessen der Unterschied, sobald man, im fünften Jahrhundert, anfangt, die Figuren sich hell von dem schwarzen Grunde abheben zu lassen : bei dieser Art von Vasenmalerei ist das Kolorit der Männer und der Frauen in der Kegel, wenn auch nicht immer, mit derselben Farbe angegeben. Es ist auch möglich und kann nur natürlich erscheinen, dass in der früheren Malkunst, als sie sich erst soweit entwickelte, dass sie die Farben der Natur mit reicheren Mitteln wiedergab, sich hie und da eine Tendenz gellend gemacht hat, den Unterschied auszugleichen und namentlich das männliche Kolorit zarter und heller zu malen. Darauf deutet wahrscheinlich hin, was Euphranor (im vierten Jahrhundert ) von einem Theseus, also einer heroischen Gestalt, seines Vorgängers Parrhasios (aus dem Ende des fünften Jahrhunderts) gesagt haben soll, nämlich, dass er «mit Kosen gefüttert» sei, während Euphranors eigener Thesens «mit Fleisch gefüttert' sei.* Im allgemeinen aher hielt die Malkunst trotzdem den scharfen Gegensutz zwischen dem männlichen und dem weiblichen Kolorit fest  : das gehl auch aus Euphranors oben erwähnter Aeusserung hervor und kann aus den l'eberreslen der späteren Malkunst bewiesen werden. Man fuhr fort, den Mann auf Grundlage ererbter, idealistischer, athletisch-heroischer Vorstellungen, wie ein Mann aussehen sollte, zu malen. Hierin liegt gewiss die Erklärung von dem. was über die Farbe in Apelles" berühmtem Portrait von Alexander dem Grossen mit dem Külz iti der Hand im Arlemistempel zu Ephesos erzählt wird. Es heisst nämlich, der Maler habe die Körperfarbe des Königs nicht naturgetreu wiedergegeben, die in Wirklichkeit hell und weiss und nur an Gesicht und Brust ein wenig rötlich gewesen sei, sondern ihn durchgehend brauner und dunkler gemacht.3 Ganz einfach: Apelles hatte Alexanders Kolorit nach dem Hero- ischen hin idealisiert, ihn mit denselben Farben gemall, mit denen er Götter und Helden malle. Dies war das Gewöhnliche; wurde es aber auf eine historische Per- sönlichkeit wie Alexander übertragen, für deren Kealilät im Kleinen wie im Grossen man so viel Interesse hegte, ward man sich des Gegensatzes zwischen dem Idealen und dem Healen mehr bewusst.

Das weibliche Kolorit ist auf den cainpamschcn Gemälden in sanften Uebergängen von hellen, weisslichen, rosenroten oder fein gräulic hen Tönen verschmolzen ; wir kommen später darauf zurück bei der Schilderung einer bestimmten weiblichen Ge- stalt, die als typisches Beispiel betrachtet werden kann. Eigentümlicher für die Antike ist ilie männliche Farbe, die bei allen Körpern von entwickelt männlichem

' Plin. H. N.  :tr.. .51 et qui primus in pictura raarom a femina discreverit, Euiuarum

Athi'iiicnscin — ■ -

  • Plin. H. X. X\ 40. Ope.a ejuB (Euphranoris) sunt Thesen», in quo dixit cundem apnd

Parrhasium rosa partim esse, suum vero carne.

3 Plotarcli. Alexandr. 4. A~3/j.f(; Yp<*?",v xspaavo^opov oüx ejc.jxirjsaT'.i rr(v /poav, ä'kXd 'fa!VKp',v xai ^;x(vo)|uvf>v izv.rflzv. ry 3s iU'jxöc. o»; ^aoiv. rt os Xsux'vTj;; siU^ofvtsoev aütcii *£pi -Ä TT/;»:; |ta/.!<jTa xai -J, -p'/0(or;v. I>icser Bericht wird häufig auf eine sehr ge- zwungene Art und Weise gedeutet.


Kl -


Charakter durchgeführt ist, dahingegen nicht bei Knabengostalten, auch nicht — oder doch nicht immer — bei ganz jungen Epheben. Achilleus, der als entwickelter Held natürlich immer das dunkle, männliche Kolorit hat, erhält, wo er als kaum entwik- kelter Jüngling auf Skvros in Mädchenklcidern gefunden wird, natürlich die weih- liche, klare, errötende Farbe wie ein Rosenblatt. 1 Der mehr weichliche Jüngling Narkissos hat auf einigen Bildern die dunkle, auf andern die helle Farbe. Die dunkle männ- liche Farbe, die uns hier in erster Linie interessiert, entspricht ganz der Beschreibung der alten Schriftsteller von den Wirkungen, die durch lleissige Uebung des nackten Körpers in freier Luft erreicht wurden. Sie ist dunkel sonnenverbrannt  :'J aber zu- gleich als Folge der blühenden Gesundheit und des ständigen Einreibens mit Salbe frisch und blank mit stark hervorgehobenen Glanzlichtern, die die antike Malkunsl reichlicher anwendet als man dies irgendwo in der modernen Kunst findet. Ks ist jenes bronze- oder kupferfarbene Kolorit, das lür den hellenischen Mann aus aller Zeit Gegen- stand eines wirklichen Nationalstolzes war, im Gegensalz zu der weissen Haut der Bar- baren oder unmännlichen Stubenhocker.1 Der Lokalton, der die Grundlage für die ganze Farbe der Figur bildet, ist mit einem kräftigen und tiefen Braun wiedergegeben, das nach dem verschiedenen, mehr oder weniger guten Geschmack der Maler zwischen einem ockerartigen Gelbbraun,4 einem Rotbraun wie geronnenes Blut* oder einer noch dunkleren, fast schwarzbraunen Schattierung schwankt." An dem obenerwähnten grossen Herakles bei Omphale sieht man deutlich, wie der Lokalton in Herakles' Figur mit einem tiefer errötenden verschmolzen ist, der das Fleisch mit dem durchschimmernden Blut wiedergibt, und einem mehr gelbbraunen, dort wo die Haut das Licht wie eine sonnenverbrannte zarte Haut zurückwirft. Diese Figur ist von unvergleichlicher Klarheit, Saftigkeit und einem Reichtum der Farbe wie eine reife Pflaume; aber das ganze Gemälde gehört ja auch zu den vorzüglichsten. Auf andern Bildern ist das Verfahren viel einfacher, mehr handwerksmässig eingeübt,7 so dass die ganze Körperfarbe nur in drei Töne gebrochen ist  : den ockerbraunen Lokalton, einen mehr dunkelbraunen schraffierten Schatten und helle, rosenrote Glanzlichter. Mit einer solchen blassrosa Farbe sind die Glanzlichter überhaupt überall gegeben  ; sie hebt sich stark von dein dunkleren, braunen Lokation ab und ist frisch und keck aufgesetzt, zuweilen fleck- weise, am häufigsten schraffiert, ohne verschmelzende Uebergänge. Im ganzen ist es


> Masco naz. Nr. 1)110. Heibig Nr. 1297. Aus der Casa dei Dioscuri in Pompeji. Das Bild wird später eingehender als dramatische Komposition besprochen werden (siehe Figur M).

1 Vergl. Lukians Anacharsis 25, von den griechischen Athleten  : s-ji;! U r^in -j-ipuDp:'. =; to juXdrcspov 'jxö r^kiw x£yp<oo|tsvot xct;. wlptwizv. — —

1 Vergl. Aristophanes' «Wolken», wo der junkerlich gesonnene Pheidippides mit Hohn von der bleichen Farbe der Schüler des Sokrates redet.

  • Z. B. Ares auf dem oben erwähnten Bilde von «Ares und Aphrodite» aus der Cosa dcll*

Atnore punito in Pompeji.

» Z. B. das in der Ausführung rohe Gemälde von Fersen», der Andromeda von der Fclsklippe herab hilft, Heibig Nr. 118«, aus der Casa dei Dioscuri.

«  Z. B. Dirkes Strafe, Mus. nax. Nr. 9042. Heibig Nr. 1151.

7 Ein sehr lehrreiches Beispiel hierfür ist infolge seiner vorzüglichen Konservierung ein Bruchstück, eine männliche, halbe Figur, Mus na/.. Nr. HM»j.

Ü



— 82 —

ein besonderes Kennzeichen für die antike Behandlung des menschlichen Kolorits, dass der Uebergang von Licht zum Schatten verhältnismässig sehr offenbar und deutlich in verschiedenen Tönen gebrochen ist, was dem männlichen Körper, im Gegensatz zu dem weiblichen, den Eindruck der ausgeprägten, scharfkantigen Figur verleiht.


Ucberhaupt verbirgt der antike Pinsel seine Bewegungen sehr wenig. Er kann wohl in der Hand der minderwertigeren Dekorateure handwerksmässig frech sein  ; aber in der des begabten Künstlers spielt er mit einem ganz bezaubernden heben, mit einer improvisierenden Frische, die die moderne Kunst wirklich weit hinter sich zurücklägst. In ihm besitzt die Kunst ein Werkzeug, das durch seine leichte, fliessende Schnelligkeit und Geschmeidigkeit dein Leben auf Gebiete folgen kann, wo die Skulptur schwierig einzudringen vermag, und das ganz anders wie diese der augenblicklichen Eingebung des Künstlers dienen kann. Ein flatterndes Gewand z. B. kann auf pompejani sehen Dekorationen zuweilen mit einem ganz unvergleichlichen Instinkt für die Natur- wahrheil und rhythmische Schönheit in der Bewegung gemalt sein, mit einem Gefühl, das in den Fingern und der Pinselspitze des Malers zu leben scheint.

Das Wichtigste aber, was uns der Pinsel vor allen anderen Werkzeugen der Kunst gibt, ist doch die leicht vorübergehende Stimmung oder Laune im Aus- druck, in deY Miene. Kein moderner Maler hat einen genialeren Pinsel geführt, hat die Lichter und Farbentöne mit ausdrucksvoller sprechendem Spiel aufgesetzt als der antike, der das kleine, von einem Zirkel umrahmte Brustbild aus Herkulanuni skizziert hat, das den Silen darstellt, der den vollen Becher vor sich hinhält.1 Die listige, schelmische, gemütliche, epikureische Miene, mit der der Greis vor sich hinsieht und den Augenblick seliger Erwartung verlängert, indem er seinen Kantharos an den Mund setzt, der zersauste Kranz um die hohe dünnbehaarte Stirn, der graue Barl, der silberne Becher — das alles ist mit wenigen leicht hingeworfenen Lokaltönen, einigen dreisten, glitzernden Lichtern und einem flott schraffierten Schatten wieder- gegeben. Dieser Silenkopf kann als Gipfelpunkt komischer Laune gelten; die diametral entgegengesetzte Stimmung, die finstere Verzweiflung, findet man in einzelnen Gemälden des Medusenhaupta* ausgesprochen. Die antike Kunst treibt die Sache

» Museo naz. Nr. 9129, Heibig 414. Ich könnte auf die Abbildung in Farbendruck in Ternites Wandgemälde, II, 8, hinweisen, aber ich ziehe es vor, ein für alle Mal zu bemerken, dass Ternites Abbildungswcrk, ebenso wie die übrigen, (Zahn, Nicolini, die Antichita di Ercolano und das Real Museo Borbonico) durchaus nicht genügen, wo es  »ich darum handelt, durch Abbildungen eine Vor- stellung von dem eigentlichen Charakter der campanischen Malkunst zu gewinnen, oder wirklichen Ge- nuas davon x.u haben. Mit Ausnahme von einzeln vorkommenden Kopien, von hervorragenden Künstlern ausgeführt, die sich mit Liebe in die antiken Gemälde vertieft haben, gibt es keine weiteren Nach- ahmungen, die genauere Beachtung verdienen als die eigentlichen and einfachen Photographien. Aber vieles von dem allerbesten scheint noch jetzt, wo ich dies schreibe, nie Photographien zu sein, wohingegen die Photographie vieles von dem Untergeordneteren vervielfältigt hat. (Dies gilt z. T. noch heute, Bern, des Herausg.).

  • Von dieseu ist wohl das kolossale, Museo naz. Nr. das bemerkenswerteste.



83 -


freilich nicht so auf die Spitze wie Caravaggio, dessen Bild vom Medusenhaupt (in der üallerie der Uffizien in Florenz) nach wirklichen Hinrichtungsstudien gemalt zu sein scheint, indem der Kopf in dem Moment der Köpfung selber gemalt ist, mit aufgesperrtem Munde, wild, aber seelenlos rollenden Augen und einem aus dem Halse quellenden Blutstrom. Aber sie drückt doch auch die Schrecken des Todesaugen- blickes selber aus: der halbgeöffnete Mund scheint den letzten Seufzer auszuhauchen, der Blick geht hoffnungslos aufwärts, die Stirn ist schmerzvoll gerunzelt.

Unter allem, was uns die antike Kunst an tragischem und pathetischem Ausdruck hinterlassen hat, nimmt das herkulanische Gemälde der Medea, die ng. si. über den Mord ihrer Kinder nachsinnt, einen ganz besonderen Platz ein. Hier ist nicht nur die Bede von der Stimmung des Kummers und des Schmerzes, sondern zugleich von ihrer inneren Dialektik, ihrem Kampf mit sich selber. Und dieses ge- brochene, in Zwiespalt geratene Gemüt, diese tiefe, marternde Unschlüssigkeit lindet man, glaube ich, nicht in einem Werke der Plastik ausgedrückt. Ob die Plastik so etwas ausdrücken könnte, darüber zu grübeln hat keinen Zweck, da das Genie die Angewohnheit hat, das zu tun, was man am wenigsten erwartet, und ein Fund im Schosse der Erde die Theorie, die heute aufgestellt wurde, morgen zu Schanden machen könnte. Diese Medea steht ganz in ihre Gedanken vertieft da; sie weiss sehr wohl, dass sie nicht betrachtet oder beobachtet wird ; aber ihre Situation verleiht ihr ein ganz unbewusstes Gefühl, dass sie beobachtet werden könnte ; deshalb wagt sie nicht, dem Kampf, der in ihr rast, Luft zu machen. Ganz ruhig kann sie sich jedoch nicht verhalten: ohne die Füsse zu bewegen, scheint sie sich leise wiegend zu drehen, bald nach der einen, bald nach der andern Seite, wie man es tut, wenn der Sinn unruhig oder gemartert ist. Sie hält beide Hände gesenkt vor sich nieder, die Finger, jeder von seiner Seite, ineinandergeschoben, die Enden der Daumen einander stützend: hültlose Unentschlossenheit! Zwischen den Händen ruht das Heft des Schwertes, das noch in der Scheide steckend gegen ihren Arm lehnt, die Spitze nach oben. Den Kopf wendet sie ein wenig zur Seite und der Blick sieht nach derselben Bichtung nieder, vermutlich in der Bichtung ihrer Gedanken, nach den Knaben ; doch sieht sie wohl kaum etwas ausser sich selbst, dazu ist der Wogengang in ihrem Gemüt zu heftig. Der Blick ist weniger sehend als starrend und gleichsam funkelnd von den grässlichen Feuergluten, die ihre Seele martern. Die Augenbrauen sind nach der Mitte zu schmerzvoll in die Höhe gezogen, der Mund ist leicht schmerzvoll ge- öffnet: sie scheint unverständliche Worte zu murmeln, die nicht gehört werden sollen, die aber nicht zurückgehalten werden können.

Wir sind hier auf ein malerisch dramatisches Gebiet geraten. Die Medeaügur ist ein bildlicher Monolog, — und würde doch jeder tragische Monolog, so wahr und gut gespielt werden wie dieser ! ' Man kann die entsprechende Stelle in Euripides'


1 Otto Donner hat in seiner Abhandlung über die Technik der antiken Wandmalereien, die als Einleitung zu Helbigs oft angeführtem Werk geschrieben wurde, nachgewiesen (S. LXXIX f.) dass die herkulanische Medea als einzelne Figur aus einer Komposition betrachtet werden muss, die vermutlich auch die Kinder und ihre Hofmeister nmfasst haben muss, ähnlich wie die in der


- 84 -


Tragödie (V. 997—1057) als Kommentar zu der Figur lesen, und man wird dennoch der Ansicht sein, dass des Dichteis starke, regelmässige Trimeter mit all ihren wohl- tönenden Aussprüchen über die sich widerstreitenden Gefühle der Mutterliebe und


der Kachsucht einen weniger naturgetreuen Ausdruck für die Medea in dieser Situation geben als jene Gestalt, die nicht den Mut hat, laut zu reden. Verschiedene undere von den campanischen Gemälden haben einen ähnlich dramatischen Charakter, gleichviel ob bei jedem von ihnen ein Verhältnis zwischen ihnen und wirklicher dramatischer Dichtung nachgewiesen werden kann. Es ist hier nicht nur die Kede von Monologen, sondern auch von Dialogen, in denen Wort und Antwort den Personen wirklich auf den Kippen zu liegen scheinen. Es ist von höchster Wichtig- keil für die richtige Auflassung der Menschenschilderung in der antiken Kunst, zu beachten, dass sie dies Talent in ebenso hohem Masse entwickelt hat, wie die moderne Kunst.

Vor allem will ich als Beispiel hierfür das obenerwähnte Gemälde «Orestes pig. 38. und Pylades in Tauroi» aus der Gasa del eitarista in Pompeji anführen. Es stellt die beiden Freunde dar, die, verurteilt, der taurischen Artemis geopfert zu werden, mit auf den Kücken gebundenen Händen von der Wache vor den Altar ge- führt, zuvor aber von dem König des Landes, Thoas, verhört werden, der in einiger Entfernung von ihnen auf der anderen Seite des Altars sitzt. Man merkt an der Stellung des Königs, an der sichern Art und Weise, wie er beide Hände über das Ende des langen Königsslabes legt, seine Gewohnheit zu herrschen, die jedoch in diesem Augenblick fast einem staunenden Forschen weicht, das ihn in unruhige Spannung versetzt: den einen Fuss setzt er auf einen Schemel, zieht den andern unter den Sitz und beugt das Haupt ein wenig zurück, als wolle er fragen: Wer in aller Welt seid Ihr doch nur? Orestes, der ihm gerade gegenüber steht, fast nackend, den Lor beerkranz des delphischen Apollon um den Scheitel, weicht seinem Blicke aus und sieht zu Boden. Ihm ist finster und wehmütig zu Sinn, er hat nur wenig Lust, sich ausforschen zu lassen. Ein gewisser Geist der Scham und Bescheidenheit ist ja ein durchgehendes Kennzeichen der antiken Gestalten, die leichter aufzutreten scheinen als die der modernen Kunst. Bei keiner Figur gelangt dies schöner zum Ausdruck, als hier bei Orestes. Aber diesen schönen, zum Tode geweihten Jüngling mit dem gesenkten Haupt und der ein wenig zusammengesunkenen Haltung beherrscht eine verstärkte Stimmung melancholischer Resignation : er fühlt sich aufgegeben, hat keine Wider- standskraft mehr, macht keinen Versuch, ein Leben zu erhalten, das qualvoll genug war. Pylades ist kecker, trotziger, er wendet dem König die Seite zu, wendet aber das Antlitz kühn nach ihm um mit zornigem, gekränktem Blick: Was gehen wir dich an? Lass uns opfern, wenn du es willst, verschone uns aber mit deinen Fragen.1

Ausführung weit minderwertigere, die in der Casa dei Dioseuri in Pompeji gefunden wurde. Dies raubt ihr jedoch nicht den Charakter eines «bildlichen Monologs».

• Ausser ein paar untergeordneten Figuren iDieuer, Waohe) enthält das Gemälde noch Ueber- reste einer weiblichen Figur, die ein paar Stufen hoher im Hintergrunde steht {Iphigenie? Artemis?). Die Komposition passt nicht in Euripides' Iphigenie hinein, so wie das Gemälde der Medea in die Tragödie gleichen Namens.


- 85 —

Es ist nicht schwer eine ganze Menge anderer fein sprechender dramatischer Ausdrucksweisen, komischer wie ernster, aus den cumpanischen Gemälden hinzuzufügen. So könnte man die gespannte, eifrige Aufmerksamkeit der Thetis anführen, die in der Werk- statt des Hcphästos die Waffen betrachtet, die für Achilleus geschmiedet werden; oder das entzückende, frohe Staunen der Nymphen, die vom Baum herab die Geburt des kleinen Adonis beobachten.1 Raphael hat in seiner Komposition eines verwandten Themas: die ägyptische Königstochter und ihre Mägde, die den kleinen Moses im Nil linden, keinen schöneren oder sprechenderen Ausdruck gefunden. Oder die komische hülllos verwirrte Kopflosigkeit des Herakles, der von dem Gefolge der Omphale verhöhnt wird ; die neckische Frechheit, mit der der kleine Eros an seiner Schulter mit aufgeblasenen Wangen und starren Augen seine oh renzer reissenden Töne auf zwei Flöten gerade in sein Ohr bläst; Omphales eigenes gemächliches und triumphierendes Selbstbewusstsein, oder das schelmische Staunen ihrer Begleiterinnen, dass dieser berühmte Held, ein Sohn des Zeus, sich so entsetzlich biosstellen kann. — Wir wollen aber nicht daran denken, diesen ganzen Reichtum erschöpfen zu wollen!

Für uns moderne Menschen, namentlich die nordischen Nationen, bedeutet das Mienenspiel des Gesichts fast den ganzen Ausdruck : sowohl im Leben wie in der Kunst besteht oft ein gewisser Gegensatz zwischen der ungeschickten Steifheit des Körpers und dem scharfen Ausdruck der Mienen. Unter den Südländern, und namentlich in der Antike, hat die Bewegung der Gestalt als Ganzes weit mehr Teil am Ausdruck: und je weiter wir in der antiken Kunst zurückgehen, um so aus- schliesslicher ist der Ausdruck durch die Bewegung von Körper und Gliedern wieder- gegeben, so dass die Miene dadurch verstanden werden muss und selber keine deut- liche Sprache redet. Wir staunen, wenn wir sehen, wie die ältere griechische Kunst fast allein durch die Bewegung ein rein seelisches Zusammenspiel auszudrücken vermag, und mit wie massvoller und feinen Mitteln sie sich trotzdem behilft. Als Bei- spiel will ich die schöne Reliefkomposition von Orpheus, Kurydike und Hermes Hg. 3s. anführen, die noch in drei Exemplaren un der Villa Albani in Rom, in Neapel und im Louvre) erhallen ist, und deren Stil, der grosse Aehnlichkeit mit dem des Parthenon- frieses hat, sicher auf ein Original aus dem fünften Jahrhundert v. Chr. zurückweist. Orpheus ist vor den andern aus der Unterwelt heraufgestiegen, ihm folgt seine wieder- gewonnene Braut, geleitet von dem Begleiter der Seelen, dem Vollzieher des Willens der Gölter, Hermes. Orpheus kann aber seine Sehnsucht, die Geliebte zu sehen, nicht mehr bezwingen : ehe es ihm erlaubt ist, wendet er sich um und zieht den Sehleier von ihrem Gesicht. Sie legt ihre Hand auf seine Schulter und ihre Blicke begegnen sich einen kurzen Augenblick. Da aber müssen sie sich wieder trennen: Hermes ist stillgestanden und umfasst schon Eurydikes Hand mit der seinen, um sie zurückzuführen. Dies ist ebenfalls, was man in künstlerischem Sinne so recht eine dramatische Komposition nennen muss: das ganze handelt davon, was in einem einzigen verhängnisvollen Atemzug geschehen ist, der seine besonderen Voraus-


1 Befindet Bioh noch an seinem Platz in der Casa di Castore et Polluce in Pompeji.



- 86 —

Setzungen und besonderen Folgen in sich trägt. Wie reich ist nicht dieser Augen- blick, in dem Wiedersehen und Abschied sich unmittelbar begegnen! Was würde nicht ein moderner Künstler oder selbst ein späterer antiker hier im Mienenspiel zu er- zählen haben ; vielleicht glaubt ein moderner Beobachter auch, infolge eines Reflexes von dem, was in der Bewegung ausgedrückt ist, etwas mehr im Mienenspiel zu sehen, als wirklich der Fall ist. Fände man aber die Köpfe einzeln, würde man doch sicher nur eine sehr undeutliche Vorstellung davon haben, was sie ausdrücken : sicher hat der antike Künstler auch die Absicht gehabt, etwas in das Antlitz hineinzulegen; aber das ist, im Vergleich mit der späteren Kunst, innerhalb der engsten Grenzen gehalten. In Wirklichkeit liegt der Ausdruck in der Bewegung des Oberkörpers, der Arme und der Hände sowie in der Senkung des Kopfes.

Ich will ein anderes Beispiel einer älteren griechischen Darstellung von einem rein seelischen Zusammenspiel nennen, weil dieses eine lehrreiche Parallele zu einem pompejanisehen Gemälde bildet. Es ist eine ausgezeichnete Vasenmalerei auf einer Amphora im britischen Museum, ungefähr im Jahre 400 v. Chr. ausgeführt.

Ks stellt die Muse Terpsichore dar, die sitzend auf einem Saitenspiel, einer Art Harfe, spielt, die in ihrem Schosse ruht ; sie rührt die Saiten gleichsam in Gedanken versunken, indem ihr Kopf sich senkt und ihre Augen in die Weite starren. Hinter ihrem Stuhl steht eine andere Muse,' die ein Paar Flöten hält, und neben ihr Musaeos, der seine Lyra in der gesenkten Hand hält und sich auf einen langen Lorbeerzweig stützt, indem er sinnend, vertieft, ihrem Spiel lauscht. In der Schilderung dieses feinen und schönen Zusammenseins ist so gut wie nichts durch die Gesichtszüge aus- gedrückt, alles durch Bewegung und Stellung. Auf einem der kleinen campanischen Genrebilder, die ebenfalls von der Musik und von ihrem Einflus.s auf das Genyit handeln, 8 erblickt man eine Frau, die auf einer Huhebank sitzt, und einen Akkord versucht, indem sie mit den Fingern der einen Hand die Saiten einer Lyra, mit der andern Hand die einer Harfe rührt, die neben ihr liegt. Ihre Umgebung, drei andere Frauen, betrachten sie mit ergriffenen, gespannten, aufmerksamen Mienen, mit jener Aengstlichkeil, mit der man etwas Rätselhaftem lauscht, etwas, worin sich eine Mischung von göttlicher Eingebung und von Wahnsinn zu offenbaren scheint. Hier ist der Ausdruck des Gesichts viel bestimmter zugespitzt, viel eigenartiger und in- dividueller für jede einzelne Figur. Das ganze erhält hierdurch etwas psychologisch interessantes, das nichts mit der älteren Kunst gemein hat ; aber eine so festliche Schönheit und Würde in den Figuren wie auf jener Vasenmalerei finden wir hier nicht.

Wenn nun aber die spätere, pathetische antike Kunst überhaupt etwas einbüsst von der imponierenden ethischen Haltung der einzelnen Figur, so gewinnt sie dafür doch unleugbar reichere und präzisere Ausdrucksmittel: sie vergisst nicht die Mimik der Bewegung, indem sie die des Antlitzes entdeckt. Wie sich diese Ent- deckung in der historischen Entwickclung der Malkunst vollzogen hat, ist nicht mehr


» Nämlich «Meletosa». Die Namen der Personen stehen auf der Va«e beigesehrieben. «  Mus. na*. Nr JK)23; Heibig Nr. 1442.



87 -


klar, da die ganze grosse Malkunst uns verloren gegangen isl ; wir müssen uns unsere Vorstellungen darüber teils durch die parallellaufende Entwicklung der Plastik, teils durch einzelne literarische Ueberlieferungen klar machen. Plinius nennt schon unter Polygnotos" Verdiensten, dass er zuerst damit anfing, eine Figur den Mund öffnen zu lassen, so dass man ihre Zähne sah, und überhaupt die Gesichter ab- wechselnd und verschieden darstellte im Gegensatz zu der früheren Steifheit.1 Jedoch erst Parrhasios scheint gegen Ende des fünften .Jahrhunderts Herr üher das fein Treffende im Ausdruck des Gesichts (argutiae voltus)* zu werden; laut einer Mitteilung des Xenophon' sollten Parrhasios und andere zeitgenössische Künstler gerade in bezug auf den Ausdruck für das subjektive Leben in Bewegung und Miene einer Anregung des Sokrutes, des grossen Entdeckers der Subjektivität, gefolgt sein  : jedenfalls ist das zeitliche Zusammenfallen zwischen Sokrates und jenen Künstlern von grosser Bedeutung. In dieser Periode malte auch Timanthes die von den römischen Oratoren mit Vorliebe besprochene Komposition von Iphigeniens Opferung, bei der beständig der Zug hervorgehoben wurde, dass das Haupt des Vaters, des Agamemnon, in das der Künstler ja den Gipfelpunkt der ganzen Klimax des Ausdrucks des Kummers hätte legen müssen, verhüllt war. Selbst dieser Zug und die Berühmtheit des Bildes beweisen, dass der Ausdruck in den Köpfen hier eine sehr wesentliche Aufgabe für den Künstler gewesen ist; nur unter der Voraussetzung, dass der Ausdruck aller der anderen Gesichter so lebhaft und so stark war, konnte er mit wahrer Wirkung den stärksten Ausdruck einer minder bestimmten Ahnung überlassen, indem er ihn hier nur durch die Bewegung wiedergab.

Aber bis in Alexanders des Grossen Zeit hinein ist die Kunst in der reichen und wirkungsvollen Wiedergabe des Mienenspiels beständig weitergeschritten. Der Nachwelt erschien Apelles' Zeitgenosse, Aristides von Theben, als derjenige, der doch eigentlich zuerst der Seele, dem Gefühl, der Subjektivität und der Leidenschaft ihren vollen Ausdruck verliehen hatte; er verstand es einen Flehenden so zu malen, dass man seine Stimme fast hören konnte.4 Und betrachten wir die Plastik der Diadoehen- Zeit, die Skulpturen von Pergamon, Bhodos und Ephesos, so hat man vielleicht auch noch nach Alexanders Zeit weitergearbeitet, um eine schlagende Wirkung in dem Ausdruck des Antlitzes hervorzurufen.


1 Plin.3T>,.%. fv8. instituit os adaperire, dentes ostendere, voltum ab antiquo rigore variare.

  • Plin. .-IT», t;7. Heber die Absicht, die der Künstler mit diesem Ausdrucke hatte, kann

man sich wohl eine ganz gute Vorstellung bilden, wenn man die auf der ficoronischen Cista einge- grabenen Figuren (den Argonautenzugi betrachtet. Dort ist der Ausdruck des Antlitzes mit ganz wenigen Linien sehr fein angegeben. Siehe Brönsteds Publicalion der ficoronischen CiBta.

» Memorab. Socr III. 10.

  • Plin. •'<•">,  :Ki. Ott - Aristides Thebanus. Is omnium primus animum pinxit et sensu» homi-

nis expressit, quae vocant Oraeci othe, item pertubationes — 09. — pinxit et — supplicantem paene cum voce. — Was hier mit dem Ausdruck ethe gemeint ist, ist wohl schwerlich genauer zu definieren. Aber auf jeden Fall hat er wohl eine ganz andere Bedeutung, als wenn Aristoteles (Poet. cap. tv Polygnotos ah rlfhfod'pi$. im Gegensatz zu Zeuxis, bezeichnet, dessen Haikunst kein jj&*C hatte. Vergl. eine sehr weitläufige Entwicklung bei Bronn, Geschichte der griechischen Künstler II. S. 174 ff.



— 88 -


In dein, was uns von antiker Plastik hinterlassen ist, bildet der Kampf, der rein körperliche und handgreifliche Kampf, ein sehr häufig behandeltes Thema. Für diese Art menschlichen Verkehrs hatte die Plastik von uralter Zeit her eine ausgesprochene Vorliebe, während die rein geistige Berührung zwischen den Per- sonen in ihren Werken seltener vorkommt. Umgekehrt findet man unter den er- haltenen antiken (iemälden äusserst selten Kampfmotive. Dies beruht offenbar darauf, dass sich die Malkunst erst von der Zeit an recht eigentlich entwickelte, wo das Interesse für das Seelische schon die Ueberhand über das Interesse für da«  Körperliche und Handgreifliche gewonnen hatte, und dass uns nur Gemälde aus verhältnismässig später Zeit erhalten sind und darunter hauptsächlich Denkmäler eines genußreichen und verfeinerten Privatlebens.

Aus der Malkunst der campanischen Städte ist uns nur ei ne wirklich bedeutende Kampfszene erhalten, nämlich ein grosses Mosaik von der « Alexanderschlacht • aus der Casa del Fauno in Pompeji, dessen Sonderstellung zwischen der übrigen Bilder- menge ich oben bereits vorläufig hervorgehoben habe. Der Kampf, der hier darge- stellt wird, ist so gewaltsam und so blutig, wie man ihn sich nur denken kann, und der Eindruck des Bildes erhält daher eine unvergleichliche Macht, Schnelligkeit und Schlag- kraft. Und doch ist die körperliche Seite des Kampfes keineswegs die Hauptsache für den Künstler gewesen: die ist nur die Bedingung für die Darstellung, die er unter das rein seelische, tragische Pathos, das das ganze krönt, unterzuordnen gewusst hat. In keinem Werk, das wir aus der Kunst des Altertums, ja vielleicht aus der Kunst der ganzen Welt kennen, gehl der Wogenschlag des Menschenlebens so hoch und stark, in keinem ist die augenblickliche Bewegung des Seelenlebens so ge- waltig gehoben. Der Ausdruck für das Augenblickliche in Handlung und Gefühl zeigt nicht allein die höchste Fähigkeit, durch die Bewegungen der Mienen und der Figuren zu erzählen, sondern auch die klarste Herrschaft über die Komposition; denn das Bild mit den vielen Figuren ist ja wie eine zusammengesetzte Maschine, in der die Mannigfaltigkeit der einzelnen Kräfte in einer bestimmten Bichtung zusammen wirken soll. Obwohl die Mosaikarbeit sicher lange nicht auf der Höhe der Ausführung des wiedergegebenen Originalwerkes steht, ist dies Bild, so wie es ist, doch eins der wichtigsten Dokumente für die Schilderung des Menschlichen im Altertum.

Es ist nicht eigentlich unsere Aulgabe, die historische Erklärung des Bildes zu geben, zu bestimmen, welches historische Ereignis es darstellt: wir betrachten es nur in beziig auf seine k u ns t h i st o ri sch e Bedeutung als malerisch- dramatiische Menschenschilderung. Doch muss es uns erlaubt sein, hervorzuheben, dass eine Betrachtung desselben von diesem Gesichtspunkt aus keineswegs gleich- gültig für das richtige historische Verständnis ist, sondern im Gegenteil eine not- wendige Voraussetzung dafür bildet. Es gilt überall, in erster Linie richtig aufzu- fassen, was ein Kunstwerk über sich selber zeugt, seinen eigenen Text von ihm ab- zulesen. Dies gibt auch in jedem Fall eine Ausbeute, und zwar eine nicht geringe Ausbeute ; und dabei bleiben wir, unserer Aufgabe gemäss, stehen. Dann kann man hinterher die Mittel zur historischen Erklärung anwenden, die man



- 89


anderswo suchen muss, namentlich in der historischen Literatur. Es ist sehr wichtig, dass man vorläufig diese neiden Behandlungsweisen gut auseinander hält, sie nicht durcheinander bringt, sondern sie in der rechten, natürlichen Ordnung folgen lässt. Dies ergibt sich aus der ganz einfachen und leicht fasslichen For- derung, dass man, wenn man etwas verdolmetschen will, erst wissen muss, was es ist, das verdolmetscht werden soll, und dass man das nicht nur ungefähr, sondern genau, nicht nur oberflächlich und flüchtig, sondern durchge- führt und bestimmt wissen muss. Ich hebe dies so stark hervor, weil sich die Wissenschaft gerade in bezug auf die Alexanderschlacht einer Vermischung der beiden Behandlungsweisen schuldig gemacht hat, was nicht nur fatale Konsequenzen für die historische Verdolmetschung, sondern auch ein irrtümliches Ablesen aus dem Bilde selber zur Folge gehabt hat.

Dass das Bild wirklich einen der Kämpfe Alexanders gegen Darius darstellt, halte ich für unnötig zu beweisen. Es kann aus vielen Gründen bewiesen werden und wird von den allermeisten angenommen.

König Darius auf seinem Wagen, unigeben von seiner reitenden Garde, befindet sich auf der Flucht vor der makedonischen Beiterei, in deren ersten Beihen Alexander selber sich befindet. Die Makedonier sind so dicht auf die Perser f(6. «  eingedrungen, dass schon ein vereinzelter Helm von ihnen unter den persischen Mützen, zwischen den hintersten in der Menge, sichtbar wird. Von Darius' hohem Wagen ragt sowohl seines Bosselenkers wie sein eigener mit der hohen Tiara geschmückter Kopf wesentlich über die Häupter der ihn umgebenden Heiter empor und zieht sofort den Blick auf sich. Alexanders Kopf auf der andern Seite hat der Künstler dadurch hervorgehoben, dass er ihn von den übrigen Massen ein wenig isoliert, so dass sich das Profil deutlich von dem weissen Hintergrunde abhebt. Zwischen den beiden Königen rast in Wirklichkeit der Kampf; Alexander aber trifft seinen Gegner nicht unmittelbar.

In Darius' Garde befindet sich ein Jüngling, der ein Pferd von derselben schwarzen Farbe reitet, wie die vor des Königs eigenen Wagen gespannten ; die übrigen persi- schen Heiter haben helle, gelblichrote Pferde. Das Pferd des Jünglings ist unter ihm gestürzt, von einer Lanzenspitze in die Lende getroffen  ; es ist vornüber gefallen und setzt den linken Vorderfuss auf die Erde, indem es das rechte Bein ganz unter sich zusammenbiegt. Das Blut entströmt der Wunde. Die Bichtung, in der das Pferd gestürzt ist, zeigt uns, dass es sich in dem Augenblick, wo es vom Spiess getroffen wurde, auf der Flucht befand. Ueberhaupt ist die Flucht der Perser keine Folge der Begebenheiten, die das Bild erzählt: sie flohen schon, ehe diese eintraten.

Im selben Augenblick, wo das schwarze Pferd stürzt, wird der Jüngling natür- lich selbst herabspringen, er wirft das linke Bein über den Nacken des Tieres. Und im selben Augenblick springt ein anderer junger Perser aus der Leibgarde, der, der ihm zunächst reitet, von seinem Pferde, ohne Zweifel, um es dem Jüngling anzu- bieten und so ein Leben zu retten, das er für teurer hält als das eigene. Er hält es am Zaum, genau so gewendet, dass der verunglückte Beiter es am schnellsten bc-



— 90 —


steigen kann  : das starke, feurige Tier stampft ungeduldig und schlägt mit dem Schweif, man sieht es von hinten in starker Verkürzung, ganz im Vordergrunde des Bildes. Und wiederum im selben Augenblick, wo König Darius sieht, dass das Pferd gestürzt ist, beugt er sich über den Wagenkorb, hält sich mit der Linken, die auch den Bogen umfasst, an dem Bande fest, und streckt eifrig die rechte Hand nach dem Jüngling aus, als riefe er: Beeile dich! Jeder Augenblick kann ja Gefahr für das Leben des Jünglings bringen, und Darius sieht die Gefahr mit schnellen Schritten herannahen.

Da der Wagen des Königs infolge der eingetroffenen Ereignisse an der rechten Seite nach dem Beschauer zu — seine Deckung verloren hat, gerade dort, wo er am meisten bedroht ist, schweift einer der persischen Beiter aus seiner früheren Richtung ab, um sich dazwischen zu drängen und den leeren Baum auszufüllen. Er hält sein Schwert in die Höhe, sein Pferd bäumt sich.

Bisher ist das Unglück jedoch nicht grösser, als dass ein Pferd gestürzt ist, wenn auch vielleicht durch den Stoss des Königs selber. Aber eine oder zwei Sekunden später geschieht das eigentliche Unglück. Alexander ist in unaufhaltsamem Galopp auf seinem Bukephalos, einem grossen, stark gebauten Tier von roter Farbe und mit breiten» Kopf, vorgedrungen. Kr achtel es nicht, dass ihm der Belm vom Kopf ge- fallen ist, so dass das lange, schwarze Haar ihm wild vom Scheitel herabflallert. Kr ist von feurigstem Kampfesgeist beseelt: er atmet schwer und schnell, er schwitzt, sein grosses Auge öffnet sich weil. Jetzt hat er, Vorteil aus dem Unglück der Perser ziehend, sie eingeholt und jagt seine lange Lanze, die er gesenkt an der Hüfte hält, jenem Jüngling, der gerade von seinem gefallenen Pferde springen will, durch den Unterleib. Unwillkürlich umfasste der Unglückliche, ehe der Tod seine Kraft erschöpft, mit seiner vollen, rechten Hand den Schaft der Lanze ; der linke Arm ruht gekrümmt über seinem Haupte  : Vielleicht hat er einen kurzen Augenblick daran gedacht, sich flehend vor den vorwärtssliirzenden Makedonierkönig an die Erde zu werfen. Aber jetzt ist es aus mit ihm. Der fürchterliche Schmerz, das Grausen vor dem sichern Tode spiegelt sich in seinem Blicke ab.

Wie schnell die beiden Ereignisse, der Sturz des Pferdes und der Sturz des Jünglings auf einander gefolgt sind, kann man daran ermessen, dass der Jüngling in- zwischen nicht ganz vom Pferde heruntergelangt ist, obwohl er sich sicher beeilt hat, so sehr er konnte. Es geht derartig Schlag auf Schlag, dass auch die Handlungen, Bewegungen, Stellungen der umgebenden Persunen noch zum grossen Teil von dem zuerst eingetretenen Ereignis, dem Kall des Pferdes, beeinflnsst sind. Und doch fällt der Moment, den der Künstler für seine Darstellung der ganzen Kampfszenc gewählt hat, strenge genommen nicht einmal mit der zuletztcrwähnten Begebenheit, dass der Beiter seine Todeswunde erhält, zusammen, sondern ein paar Augenblicke später. Denn erst in dem Moment, wo die zunächststehenden und die zunächst betreffenden Personen das eingetroffene Unglück gesehen haben, und zu vollem Bewusstsein des- selben gekommen sind, drückt ihr Mienenspiel das ganze Pathos aus: Und das ist der für die Kunst inhaltreiehsle Augenblick.

Wo bisher nur Hast und Eile war, herrscht jetzt tiefer Kummer und Schmerz.


— 91-


Der kecke junge Perser, der von seinem Pferd gesprungen ist, hält es noch immer in Bereitschaft, aber er wendet den Blick über die Schulter und sieht mit Schrecken und tiefem Mitleid, dass es zwecklos ist. In Darius' Antlitz spiegelt sich das Unglück gleichsam in einem Centrum. Er streckt noch die fland aus, um seinen Liebling zur Eile anzutreiben, und öffnet den Mund zum Hufe; aber indem er die Gefahr unauf- haltsam hat herannahen sehen, haben sich der Eifer und die Ungeduld zur der höchsten Angst gesteigert, die sich dann beim Anblick des Todes des Jünglings in hoffnungs- loses Entsetzen verwandelt: Seine Augen stehen starr und aufgesperrt, Jammer und Tränen beherrschen den Ausdruck, und der nächste Augenblick wird seinen Ruf vielleicht in einen wilden Schrei verwandeln. Ich finde nur eine Auslegung für diesen Ausdruck, es ist Herzensschmerz, zweifelsohne Vaterschmerz. Sollte ein so blutiger Kampf dem König gestatten, so über einen jeden Gefallenen seiner treuen Garde zu trauern? Sicher ist der junge Heiter auf dem schwarzen Pferd auf alle Fälle eine vornehme Persönlichkeil in der Leibwache des Königs gewesen, vielleicht ein Heerführer von Rang; aber sein ganz jugendliches Alter, das ihn noch kaum zum Manne gehärtet oder entwickelt hat, widerspricht dem Gedanken, dass sein Tod vom militärischen oder politischen Standpunkt aus ein unersetzlicher Verlust für das Perserreich sein sollte.

Zwischen die fliehenden Perser mischen sich, ganz zur Rechten auf dem Bilde, also am weitesten entfernt von den Makedoniern, einige andere persische Reiter, die in entgegengesetzter Richtung vorsprengen, dem Feinde entgegen. Der Künstler hat ein sehr in die Augen fallendes Mittel benutzt, um auf diese Abweichung von der Richtung der Bewegungen aufmerksam zu machen, nämlich die langen Lanzen, deren Linien sich scharf von dem weissen Hinlergrund abheben: da alle Perser ihre Lanzen quer über der Schuller ruhend tragen, kreuzen sich vor den Augen des Reschauers die der flüchtenden mit denen der Neuangekommenen, unter denen sich auch ein Feldzeichen (vexillum) befindet. Es sind offenbar die Vordersien eines Corps, das zum Entsatz heranrückt; jetzt merken oder erfahren sie, dass es zu spät ist. An der Spitze sprengt ein vornehmer junger Mann, vermutlich der Anführer — er trägt einen gewundenen goldenen Halsring — im Galopp auf seinem schönen Pferd vor: man sieht ihn dicht neben dem Wagen des Königs. Er greift mit der rechten Hand nach dem Scheitel hinauf, den die gelbe Mütze bedeckt, entweder um zu verhindern, dass sie bei dem schnellen Ritt nicht zurückfliegt oder — wahrscheinlicher — mit einer Bewegung der Ueberraschung überall den Kummer und die unrettbare Verwirrung, die er erblickt. Auch die, die ihm folgen, haben schon ein Gefühl davon, dass etwas Trauriges, Entscheidendes eingetreten ist. Einer erhebt die Hand gleichsam mit fragender Bewegung, und einer der Fliehenden streckt als Antwort die Hand in die Höhe, mit einem Zeichen, das den Nachstürmenden abwinkt.

Wo das Ganze hinauswill, das sieht man doch namentlich an einer einzelnen Figur, an dem Bossclenker des Darius. Er steht neben seinem Herrn und schwingt mit aller Macht die Peitsche über den vier schwarzen Pferden, die blitzschnell dahin- stürmen über die Gefallenen und Toten des Wahlplatzes. Jetzt gilt es nur wegzu-



— 92


kommen. Zwischen den Beinen der Pferde erblickt man das mit Grausen erfüllte Gesicht eines unglücklichen Persers, der an der Erde liegt, und im Begriff ist, über- fahren zu werden. Einen anderen gefallenen Mann — einen vornehmen Perser mit reichverziertem Gewand und gewundenem Halsring — sieht man näher nach dem Beschauer zu: er liegt hintenüber, auf seineu linken Ellenbogen gestützt. Die andere Hand hält er gegen die Innenfläche seines aufrechtslehenden Schildes, damit dieser ihm als Wehr gegen den Wagen und Reiter dienen kann: man sieht das Spiegelbild seines Antlitzes — ein Antlitz des Kummers — auf der blanken Fläche des Schildes.'


Unter allen den eigentlichen Wandgemälden gibt es kaum eines, das sich in so hohem Grade wie Achilleus auf Sky ros u n t e r d e n Töchtern des Fi«  as L y k i) m e d e s aus der Gasa dei Dioscuri in Pompeji durch hastig pulsierendes dramatisches Leben auszeichnet; und zwar um einen einzigen inhaltsreichen, fruchtbaren Augenblick gesammelt, üdysseus und Diomcdes sind von dem achaeischen Heer vor Troja ausgesandt, um den jungen, kaum zum Manne herangereiften Achilleus zu holen, der auf Skyros unter den Töchtern des Königs, wie sie in Mädchen- gewänder gekleidet, erzogen wird. Es handelt sich darum, ihn unter den Mädchen ausfindig zu machen. Der schlaue Odysseus lässt nun Waffen, Schwert und Schild unter sie bringen und lüssl vielleicht auch, wie der Bericht der Sage meldet, die Kriegstrompete blasen. Da greift infolge einer verborgenen Anziehungskraft der angehende junge Held unwillkürlich nach den Waffen  : das ist etwas für ihn. Er kennt, ahnt augenblicklich seinen Heruf, und sein Schicksal wendet sich. Indem er die rechte Hand um die Scheide des Sehwertes ballt, streckt er den Arm straff aus, als gewähre ihm das Anspannen der Muskeln ein Gefühl der Wollust: die andere Hand legt er auf den Rand des Schildes, um Besitz davon zu ergreifen ; seine grossen Augen erweitern sich und funkeln, die Nüstern blähen sich, .letzt wissen die beiden Abgesandten, dass er der Gesuchte ist : Diomcdes schlägt von hinten die Arme um seine Schultern und sieht ihm stutzend in das Gesicht : Odysseus tut einen grossen Schritt vor, umfusst sein Handgelenk und flüstert in grösster Spannung, indem er ihm ins Gesicht starrt : Du bist Achilleus. Der junge Held leistet im Gefühl der neu- erwachten Kraft Widerstand und will sich nicht fangen lassen, sie aber halten ihn fest. Eine seiner jungen Pllegeschwestcrn, ein wenig weiter im Hintergrunde, ist so erschrocken über die Entdeckung dieses Geheimnisses - mag sie nun selber eingeweiht gewesen sein oder nicht — dass sie zittert wie beim heftigsten Gewitter. Das Gewand gleitet von ihrem Körper; man sieht, dass doch nicht alle die jungen Mädchen verkleidete Jünglinge sind. Der Vater, König Lvkomedes, erhebt, tief ergriffen von der Begebenheit, den Blick zu Zeus empor.


1 Ucber die historische Erklärung des Bildes siehe den angefügten Exkurs.



93 -


Aus demselben Hause in Pompeji stammt eine andere Komposition, in der Achilleus die Hauptperson bildet ' und die von der gleichen lebensvollen dramatischen Bewegung ist. Eis ist die Szene aus dem ersten Gesänge der Iiiado, wo Achilleus das Schwert gegen Agamemnon ziehen will, aber von Pallus Athene zurückgehalten wird, die von hinten kommt und ihn bei den Locken packt. Aber es ist nur ein Bruchstück dieses Gemäldes erhalten.

Während man in Kompositionen wie diesen den Unterschied zwischen dem Aus- druck der antiken und der modernen Malerei für die dramatische Strömung zwischen den Figuren weniger empfindet, wird man in einem dritten Bilde aus der hegende des Achilleus, nämlich in der Entführung der Bris eis aus der Casa del *s. poeta in Pompeji 1 aufmerksamer hierauf.

Ks ist einer der schönsten Ueberreste, die uns von der antiken Malerei erhalten sind, und zeichnet sich gerade durch mehrere Beispiele dramatischen Ausdrucks aus So Briseis, die ihre Tränen trocknet, aber dabei noch, halb verstohlen, ganz schelmisch zu dem Beschauer hinüberblinzelt, so dass man den Eindruck hat, sie werde ihren Kummer bald verwunden haben — ein echt antikes Misstruuensvotum in bezug auf die Aus- dauer der Gefühle eines weiblichen Gemüts. Vorzüglich ist auch der alte Phoinix, der hinter Achilleus' Thron steht und die eine Hand nachdenklich an das Kinn führt, indem er den Kopf senkt und mit seinem innern Blick die Folgen des verhängnis- vollen Ereignisses vorahnend schaut. Und Achilleus selber ist eine wunderbar schöne Erscheinung, ja sein von krausen — gegen unsere Erwartung nicht blonden — Locken umwogte Huupt mit dem imponierenden Blick und dem kleinen, vollen Mund, der andeutet, dass der Held auch Liebhaber sein kann, ist ein wahres Wunder an Schönheit. Aber es liegt etwas sehr auffallendes in der Art und Weise, wie sein Anteil an dem Ereignis zum Ausdruck gelangt. Er sitzt mitten zwischen den andern auf seinem königlichen Thron, die Küsse auf dem Schemel ; zwischen den Fingern der einen Hand steckt die Lanze oder der Königsstab. Wohl liegt auch in seiner Figur ein Ausdruck, der mit der Situation in Zusammenhang steht, doch beschränkt sich dieser Ausdruck auf eine Wendung des Kopfes nach Patroklos und Briseis hin, auf eine An- deutung von Zornesröte in den Wangen, ein Aufblitzen des Auges und eine leichte Bewegung der rechten Hand, die er offen ausstreckt, gleichsam als Zugeständnis an die Herolde Agamemnons, dass sie jetzt das Mädchen fortführen können. Für unsere moderne Auffassung muss es sich so ausnehmen, als habe der Künstler viel mehr Wert darauf gelegt, dass Achilleus dem Beschauer gegenüber zur Geltung gelangt als der von Göttern stammende König unter geringeren Menschen, statt ihn von dem Pathos dt s Augenblicks ergriffen darzustellen, .lene Andeutung des Pathos reisst die Figur keineswegs aus ihrer ruhigen, imponierenden I'eberlegenheit heraus, beraubt sie nicht einer Hultung, die an ein Götterbild, an den olympischen Zeus in eigener Person erinnert. Ein König ist und bleibt ein König.


■ Mas. nar.. 9104 ; Heibig Nr. 1.(07. «  Mus. naz. Nr. tlltf»; Heibig Nr. KKW.


Dies Eigenartige an der Achilleusfigur, dass sie mitten zwischen den andern, mitten in einer pathetischen Situation eine gewisse Einheit als selbständiger Gegenstand der Bewunderung bewahrt, ist so weit entfernt, ein loser Zufall in der campanischen Malerei zu sein, dass es im Gegenteil, vom Standpunkt der modernen Kunst betrachtet, einen ihrer hervorragendsten Charakterzüge bezeichnet. Wir haben oben die besten der erhaltenen Beispiele der antiken Situalionsmalerei, der drama- tischen Malerei geschildert. Jetzt ist es unsere Aufgabe zu sehen, wie das Interesse für die Situation und das Zusammenspie/ der Figuren mit dem Interesse für die einzelne und allein dastehende Figur kämpft, die der Antike gleichsam im Blute liegt, und wie dieser Kampf durch- gehend s, wenn auch in verschiedenem Grade, der antiken Malerei ein von der modernen ganz verschiedenes Gepräge verleiht.

Zu allererst muss hervorgehoben werden, dass die alte Malerei als Elemente in der Dekoration eine grosse Menge ganz alleinstehender Figuren verwendet, nament- lich stehend oder thronend. Motiv, Stellung und Bewegung in diesen Figuren ist häufig ganz stat u en h a f t, während die Behandlung rein malerisch ist, und der Pinsel malt genau so frisch und fliessend wie sonst oder gehl direkt darauf aus, das Leben, nicht Bronze oder Marmor nachzuahmen. Unter vielen Beispielen mögen angeführt werden die beiden nicht grossen aber ganz wunderschönen thronenden Figuren von Demeter und Dionysos, auf rotem Grund gemalt, aus der Casa del nuviglio in Pompeji oder Castor und Pollux, neben ihren Pferden stehend, aus der Casa dei Dioscuri,* die in den Motiven sehr an die kolossalen Statuen der Dioskuren erinnern, die am Aufgang zum Kapitol in Born aufgestellt sind  ; oder ein paar Fi- guren des thronenden Zeus aus den beiden letztgenannten Häusern in Pom- peji:* sie sind ganz wie Tempelstatuen mit den Farben des Lebens selber gemall. Aber dies Statuarische in der Auffassung der Figur erstreckt sich auch auf historische, erzählende Bilder, wo die Figur nicht allein dasteht. Wir erwähnten als ein Beispiel hier- Ki«. sa. für den Achilleus aus der Entführung der Briseis. Ein anderes Beispiel ist das grosse Gemälde aus Herkulanum, wo man Theseus sieht, dem die Bewohner Kretas huldigen, nachdem er den Minolauros* getötet hat : Dort ist Theseus' Heldengestalt mitten auf dem Bilde für sich dargestellt als Gegenstand der Bewunderung und Ehr- furcht der Beschauer mehr noch als der Krclenser.

Aber diese Auffassungsweise bestimmt auch den Stil in der Anordnung der antiken Malerei. Nicht nur bei gravierten Umrisszeichnungen auf Spiegeln etc., oder bei den Monochromata auf Vasengemälden, oder bei Reliefs, sondern auch bei den voll gefärbten illustrierenden Darstellungen sorgt die antike Kunst dafür, die Figuren verhältnismässig frei auseinander zu halten. Die von Quinctilian ausgesprochene


> Heibig 17.\  :«»2.

  • Heibig im.
  • Heibig 101. 102.
  • Heibig 1>14



- 95


Regel, «dass die Maler, wenn sie ein Bild mit mehreren Figuren komponieren, diese durch einen Zwischenraum trennen, damit der Schatten der einen nicht über den andern fallen soll,»1 schildert wirklich auf treffende Weise das antike Anord- nungsprinzip, obwohl die Kegel nicht überall buchstäblich genommen werden darf.

Die wenigen stark und lebhaft bewegten Situationsgemälde sind auch die, in denen die Figuren einander vor dem Auge des Beschauers am meisten decken und schneiden, wie gerade Achilleus auf Skyros und die Alexanderschlacht. Und  » doch wird man bei genauerer Betrachtung linden, dass auch in ihnen das Interesse der einzelnen Figur mehr als in den meisten entsprechenden modernen Bildern ge- wahrt wird. Dazu kommt noch, dass z. B. bei der Alexandersehlacht alle andern Elemente des Themas, ausser den Figuren selber, und was ganz notwendig zu ihnen gehört, fast ganz aus der Komposition fern gehalten ist. In bezug auf Land- schaft ist da nur ein blattloser (abgestorbener?) Baum, der wohl nur um des Gleichgewichts der Linien willen mitgenommen zu sein scheint.

Hin sehr lebhaft bewegtes mythologisches Thema ist auf mehreren campanischen Gemälden behandelt, nämlich Apollo, der Daphne eingeholt und gefangen hat. Auf einigen davon, aus Stabiae und aus Pompeji,8 ist wirklich die eilige Ge- fangennahme ausgedrückt: Daphne hat sich auf die Kniee geworfen: und als Apollo sich herabbeugt, um sie zu umarmen, biegt sie den Körper heftig zur Seite und er- hebt die eine Hand zum Himmel ; die Finger fangen an als Lorbeerzweige zu sprossen — so wie an der eigenartigen kleinen antiken Marmorstatue in der Villa Borghese. Aber auf mehreren anderen Bildern nimmt sich die Darstellung ganz anders aus, ohne dass man doch sagen könnte, duss in objektiver Bedeutung etwas anders damit be- absichtigt ist, oder dass auf ein anderes Moment in der Legende Bezug genommen ist. Das schlagendste Beispiel hierfür ist wohl ein Gemälde aus dem Vicolo del baleone pensile in Pompeji.1 Dort sitzt oder thront Apollo auf einem Felsblock, den linken Ann auf die Leier gestützt, den Pfeilköcher zur Seite, ungefähr als sähe man eine Statue des Gottes in seinem Tempel. Daphne steht ihm gerade gegenüber, Pig. 37 in einiger Entfernung, an eine Säule gelehnt. Das Gewand gleitet von ihrem Körper herab, und Apollo, in dessen Mienen eine gewisse Begierde liegt, streckt die rechte Hand aus, um es zu entfernen. Sie hält es mit der einen Hand ein wenig zurück und macht mit der andern eine leicht abweisende Bewegung, indem sie den Kopf mit Schamhaftigkeit von dem Gölte abwendet. Hier hat der Maler auf echt antike Weise nur auf die Verwandlung hingedeutet, indem er einen Lorbeerbaum in den Hinter- grund gemalt hat, und hat im übrigen die Begebenheit keineswegs mit der heftigen, augenblicklichen Spannung dargestellt, die sich in der Jungfrau Angstschrei an die Götter Luft macht und gleichsam natürlich in ihre Verwandlung übergehl. Der Aus-


' In»t. or. VIII, f>, 2ti.

  • Mus. naz. Nr. iK>35 und &r>34J; Heibig Nr. 206, 207 u. folg.

' Heibig 212. Noch an seinem Platz in Pompeji.



gangspunkt ist, was man eine statuarische Darstellung jeder Figur für sich nennen könnte ; und diese Darstellungsweise ist nur gedämpft durch leichte, im übrigen sehr beredte Andeutungen von dem, was zwischen ihnen vorgeht, Andeutungen, die auch ein gewisses schönes Spiel der Linien im Gefolge haben. Obwohl dies so ausschliesslich antik ist und der Auffassung unserer Zeit so fern liegt, scheint über die Deutung des Bildes niemals ein Zweifel geherrscht zu haben. Dahingegen ist man sich niemals einig gewesen in bezug auf ein ändert», weit schöneres und geistvolleres, aber sehr ver- blasstes kleines Gemälde aus llerkulamim, indem man durch dasselbe infolge der antiken Darstellungsweise in Verwirrung gebracht zu sein scheint. Am allereinfachsten erscheint es jedoch, auch dieses als Apollo und Daphne 1 zu deuten. Wie soll man sonst die stark hervortretende Müdigkeit und Erschlaffung des sitzenden Mädchens mit dem Lorbeerkranz um das Haupt und dem Lorbeerkranz in der Hand auslegen  ? Apollo steht in einiger Kntfernung an eine Säule gelehnt und starrt vor sich hin, traurig über die getäuschte Hoffnung.

Eigentümlich für die antike Malkunst ist es überhaupt, dass sie mit sehr leichter Hand über das Krotische hinweggleitet. Sogar dies Verhältnis, das vor allen andern die Seele schmilzt und auflöst, bringt die Figur auffallend wenig aus ihrer Haltung. Ich spreche hier nicht von einzelnen Gemälden, die verschiedene Arten von Umar- mungen darstellen und deren obseöne Tendenz ebenso offenbar ist, wie ihr Mangel an künstlerischem Wert : dergleichen würde mau überall finden, wo man eine Stadt ausgrübe. Unter den besser ausgeführten Gemälden ist der Ausdruck leidenschaftlicher Hingebung sehr selten und hält sich mehr an die niedrigeren Kegionen des Lebens und der Vorstellungen, wie das Hild eines Sahrs, der eine Nymphe auf seinem Schoss umfangen hält und sie leidenschaftlich küsst, oder das eines Jünglings und eines Mädchens, die sich auf dem Lager liegend küssen. Wenn es sich um Frauengestalten handelt, die die Darstellung mit grösserer Würde umgibt, geht die Kunst viel mehr auf eine schöne Darstellung der Gestalt als solcher aus, als auf ein naturgetreues Bild der Situation. So ist es sehr auffallend, in den Gemälden von Zeus' Geliebten, die als einzelne Figuren, aber doch in der erotischen Situation dargestellt werden, die weibliche Figur stehend zu finden: Leda, die den Schwan gegen ihren Schoss hält, Danae, die den Goldregen in ihrem Schoss empfängt. In der antiken Skulptur finden wir denselben Zug, so in einer bekannten Statue der Leda, die in mehreren Wieder- holungen erhalten ist (auf dem Kapitol, in der Villa Horghese, in Kerlin aus Pergamon): aber wie grundverschieden das von dem Geist in der modernen Kunst ist, kann durch Heispiele der berühmtesten Meister — Tizian, Michelangelo, Gorreggio, u. s. w. — nachgewiesen werden.


' Mus naz Nr. iKViO. Heibig 203. Vergl. 0. Müller Text zu Tcrnitcs Wandgemälde I. 3a, Die allgemeine Erklärung der sitzenden Figur als Kassandra oder Manto begründet sich auf die infulac. die man am Halse der Figur bemerkt zu haben glaubt. Selbst wenn man glaubt in be- zug auf eine so kleine Einzelheit auf einem kleinen verblassten, von Anfang an leicht und unge- lehrt gemaltem Bilde beharren zu können, so hat doch wohl der Ausdruck der Müdigkeit, der sich iu der ganzen Figur geltend macht, mehr zu sagen.


- 97 —


Die Hauptpersonen in den bedeutenderen erotischen Bildern sind häufig Ares und A p h ro d i t e. Aul' einem bemerkenswerten Gemälde, einem von denen, die in einem strengeren Stil gehalten sind, aus der Ca.su dell* umore punito in Pompeji,1 sieht man Aphrodite im Vonlergrunde thronen, sehr stilig in ein hell violettes Gewand gehüllt. Hinter ihrem Thron steht Ares; er streckt den Arm über die Lehne des Thrones und greift mit der Hand um ihren Busen, der jedoch mit einem leinen, weissen Sehleier bedeckt ist, den die Göttin unter dem Gewände trägt Sie berührt mit der linken Hand seinen Arm, als wolle sie ihn wegschieben. Dies Motiv, dass der Liebende den Busen der Geliebten umfasst, finden wir häufiger (Ares und Aphrodite, ein Satyr und ein Weib), aber es wird immer ziemlich kühl behandelt, mehr als einzelnes verständ- liches Zeichen eines Liebesverhältnisses, denn als Glied in einer Reihe leidenschaft- licher Annäherungen, die das Gleichgewicht in der Haltung der Personen stören könnten.

Das bedeutendste und beste Gemälde von Ares und Aphrodite, über- Fig. s» haupt eines der am besten gemalten in der ganzen pompejanischen Kunst, aus der Casa di Marte e Venere in Pompeji,* zeigt die beiden Liebenden nebeneinander ' sitzend. Sie sitzt jedoch ein wenig weiter nach vorne und isl als Hauptperson hervorgehoben ; sie lehnl sich an ihn, so dass er durch seine Figur halbwegs dem Blick des Beschauers entzogen wird. Indem er mit der Rechten ganz leicht ihre Schulter berührt, zieht er mit der Linken das Gewand von ihrem Körper. So ruhig wie sein Ausdruck ist, scheint er das nicht so sehr um seiner selbstwillen zu tun, wie um dessentwillen, der das Gemälde betrachtet. Wohl wendet er den Kopf ein wenig, um sie anzusehen und er empfindet vielleicht Wohlgefallen daran, den Duft der Salbe ihrer Locken einzuatmen; aber er tritt trotzdem weniger als Liebhaber denn als eine Art Impresario auf, der die nackte Kürperpracht der Göttin andern vorzeigt.

Diese Aphrodite verdient eine nähere Betrachtung, da es kaum eine Figur gibt, die typischer bezeichnend ist für die Darstellungen von weiblicher Schönheit in der campanischen Malerei. Sie gehört auch in der Ausführung zu den schönsten; aber die Stellung ist offengestanden eine reine Attitüde, offenbar von aussen her ange- ordnet, damit sich der Körper mit den schönsten Linien auf der Fläche des Gemäldes entfalten kann. Aber auch dies ist charakteristisch für eine grosse Menge pompeja- nischer Figuren. Diese Stellung isl in hohem Masse leicht und gespreizt und er- mangelt nicht eines gewissen gekünstelten Liebreizes aus der Tanzschule : man be- achte z. B., wie das linke Bein vorgestreckt ist, und der Fuss ein wenig zur Seite gedreht ist, während der andere Fuss, der auf der Zehenfläche ruht, viel weiter unter den SiU gezogen ist : oder wie der rechte Ann in einem graziösen Bogen aufwärts gebogen ist, indem die Hand mit den leicht und weich beweglichen Fingern die feine, ausgespannte Schnur, die eigentlich dazu bestimmt ist, das Gewand zusaminenzu-


i Museo naz. Nr. 9249, llelbig Nr. m

  • Maseo naz. Nr. 924« ; Heibig 320.



- 98 -


halten,1 über den Kopf zieht, eine Bewegung, die keinen anderen Zweck zu haben scheint, als sich selbst mit Anmut zu präsentieren. Es liegt in der Stellung dieser Figur eine wunderbare Vereinigung von etwas Lässigem, Indolentem, alle Aktivität verneinenden, das sich in der Art und Weise zeigt, wie sieh die Göttin halb zurück, halb auf die Seite lehnt und den Unterarm und den Ellenbogen auf Ares' Lende stützt, und einer gewissen hohen und würdigen Haltung, einem göttinnenhaften Selbstgefühl, das selbst in diesem Verhältnis der Figur etwas thronendes verleiht. Während die Eroten mit dem Helm und Schwert des Kriegsgottes spielen, umfasst Aphrodite mit den Fingern der ruhenden Linken seine lange Lanze, als Zeichen, dass er ihr Gefangener ist und seine Waffen in ihre Gewalt gegeben hat. Wenn man bedenkt, dass es sich um Ares* Waffen handelt, so ist diese Lanze ziemlich leicht und wenig ernsthaft; aber ihre lange, schräge Linie, die ungefähr der Hauptrichtung des Körpers der Göttin folgt, ist mit sehr feinem künstlerischen Bewusstsein benutzt, um gleichsam eine feste Grund- linie für das melodisch und frei bewegte Spiel der Linien in dem Körper der Göttin abzugeben.

Der leichten Haltung entspricht ein leichter Körperbau. So frisch auch das Fleisch blüht, sind die Glieder doch sehr fein und laufen nach unten zu schmal aus, Füsse und Hände sind klein. Es gibt überhaupt keine antike Figuren, die den Eindruck machen, weniger Masse zu haben, als diese Frauengcstalten der campanischen Malerei. Aber bei all' dem Schlanken und Leichten in der Gesamtheit der Figur ist die Hüften- und Beckenpartie doch sehr breit angelegt ; bei einigen Figuren von mittelmüssiger Ausführung grenzt dies sogar bis an Karikatur in dieser Hinsicht, und auf einzelnen (obseönen) ist es vollkommen karikiert. Dagegen ist der Oberkörper — von der Taille aufwärts, die Schultern mit einbegriffen — sehr schmal, hoch und schlank, so dass sich ein auffallender Abstand zwischen dem Nabel und den Brüsten, die ganz klein und wenig vortretend sind, geltend macht ; wir haben auf diesen Zug oben bereits bei Omphales Figur aufmerksam gemacht. Diese Vereinigung des breiten Unterkörpers und des schmalen Oberkörpers, der zu der jugendlichen aber doch voll entwickelten weiblichen Gestalt passt, ist zuweilen nachlässig und flüchtig auf kleine Kinder übertragen, zu denen sie am allerwenigsten passt, ja sogar auf kleine Knaben.* Aphrodite s Kopf ist rund und von einem Wald zierlicher aber kurzer Locken um- geben, die niedlich gekräuselt und gesalbt zu sein scheinen und von denen ein gol- denes Diadem halb verdeckt wird. Ausser diesem Schmuck trägt sie Hinge um Knöchel und Handgelenke und grosse Perlen in den Ohren. Trotz all diesem Zuge- ständnis, das der weiblichen Anziehungskraft gemacht wurde, ist das Antlitz nicht lächelnd: in der Miene ist das göttinnenhaft Erhöhte mehr hervorgehoben als die


i Es ist nicht, wie Holbig meint, ein Haarband  : man kann die Linien der Schnur über Brost and Unterleib verfolgen, and sie tragen mit raffiniert berechneter Wirkung zu dem anmutigen Ein- druck der Linien der Figur bei.

  • Z. B. auf dem grossen Gemälde aus Herkulanum von Telephos, der von Herakles gefunden

wird, Heibig Nr. 1143 (ein Bild, das zuweilen zu «ehr gelobt wird), und auf dem Gemälde aus der Casa dei Dioscuri in Pompeji, das Hedea mit den Kindern darstellt. Heibig 1268.



- 99 -


weibliche Hingebung. Der Blick ist gross, offen, ein wenig starrend und für eine moderne Auffassung beinahe ausdruckslos. Diese Eigentümlichkeit des Blickes hat diese Aphrodite mit einer ausserordentlich grossen Menge von Figuren jeglicher Art in der antiken Malerei gemein, natürlich in erster Linie mit denen, die nicht unter dem seelischen Einfluss einer bestimmten Situation stehen. Auch dieser Blick er- scheint zuweilen ein wenig karikiert, wie hei Hera — die «kuhäugige«  Hera — die Zeus auf dem Idagebirge begegnet, auf dem Bilde aus der Casa del poeta in Pompeji, ' wo es freilich die Nebenbedeutung hat, dass die Göttin ein Geheimnis bewahrt und undurchdringlich aussehen will. In der campanischen Kunst trägt es noch das Ge- präge vollkommener seelischer Frische: aber im späteren Altertum man kann das an Gemälden wie an Skulpturen sehen — erhält es oft den Charakter von etwas gespensterhaft Leerem und einen Anstrich von Lebensmüdigkeit und heimlicher Ver- zweiflung. Es folgt auch der Tradition der antiken Kunst bis weil in das christliche Zeitalter hinein, so wenig es sonst mit dem Geiste des Christentums in Einklang zu stehen scheint.

Da das Bild von Ares und Aphrodite seinem ganzen Sinne nach als eine Art Präsentation der weiblichen Schönheit aufzufassen ist wie die antike Malerei über- haupt in so hohem Grade eine Präsentation der einzelnen Figur ist — hat man Aphrodite in vollem Licht dargestellt, so dass ihre Figur namentlich durch die l#o- kalfurbe und durch den Umriss wirkt, während die Körperform mit sehr wenig Schatten modelliert ist. Die Lichter sind weisslich, der Lokalton gesund, blühend, rosenrötlich, und er geht im Schatten in einen feinen, hellen, gräulichen Ton über, der an einzelnen Stellen, nach dem Umriss zu, saftiger und errötender wird. Mit der Körperfarbe harmoniert sehr fein die hellgraue Farbe des Gewandes, die fast das ganze rechte Bein und ein wenig des linken bedeckt. Der spröde Auftrag der Farbe gibt vorzüglich die Weichheit des Körperstoffes wieder, ohne dass sich dies irgendwo materiell geltend macht. Das Licht ist jedoch nicht gleichmässig über die Figur in ihrer ganzen Höhe verteilt, es fällt am stärksten auf die oberen Partien: Stirn, Nase, Schultern, Seite, ist aber sehr fein abgetönt mit abnehmender Stärke über Unterkörper und Beinen. Dies würde gewissermassen selbstverständlich sein, wenn von einem modernen Gemälde die Bede wäre, aber es muss bei der cam- panischen Malerei ausdrücklich bemerkt werden, weil wir es hier zum ersten Mal im Verlauf der Kunstgeschichte nachweisen können.


Je häufiger der Fall eintritt, dass die Figur weniger durch ihre Situation be- stimmt ist als durch die Absicht, sie so würdig und schön wie möglich sich präsen- tieren zu lassen, um so leichter , wird man auch begreifen, dass in der Wahl der Stellungen der Figuren etwas Stereotypes in die Erscheinung treten


> Heibig Nr. 114.



100 -


kann. Dies merkt man auch bald, wenn man die campanisrhe Malerei im Museum zu Neapel einer Prüfung unterwirft. Jeden Moment begegnet das Auge Stellungen, die mit der obenbeschriebenen der Aphrodite verwandt sind. Natürlich ist hier nicht die Rede von genauen Wiederholungen desselben, sondern von einer gewissen Erfindung bezüglich der Entfaltung der Figur, die zu einer Sitte, einer Gewohnheit geworden ist und deshalb auch eine bequeme Zuflucht für weniger be- gabte Künstler wurde, die zweifelsohne aber auch dazu beiträgl, dieser Malerei, als Gesamtheit betrachtel, das Gepräge von etwas Konventionellem zu geben. Am häufigsten und genauesten wiederholt sich die Stellung der Beine, die mehr oder weniger in ein Gewand gehüllt sind. Aber auch in der Art und Weise, wie sich der Körper und die Arme entfalten, stossen wir auf auffallende Aehnlichkeiten  ; ja, man findet sogar mehrmals etwas dem obenerwähnten Zug Entsprechendes, das«  Aphrodite eine Lanze hält, die für die Linie der Figur von Bedeutung ist. Diese Linien der Figuren haben allemal einen gewissen Geist thronender Würde, der aus der älteren und strengeren Kunst stammt, der aber zuweilen — nach modernen Begriffen wunder- sam wenig zu ihnen passt, während auf der andern Seite der Zusatz eines leichten und ein wenig gekünstelten Wesens, das in ihnen zum Ausdruck gelangt, auf ein schwächeres und verfeinertes Zeitalter hindeutet.

Ungefähr so wie jene Aphrodite sitzen nicht nur andere Aphroditen, auch mit Ares gruppiert, und andere schöne weihliche Gestalten, sondern auch männliche Epheben: der schlummernde Endymion, dem sich Silene naht; Ganymed, zu dem der Adler herabschwebt : Narkissos, der sich im Wasser spiegelt ; sogar Götter von etwas ehrwürdigerem Charakter, Apollo, ja sogar Zeus, wie er auf dem Ida-Gebirge Hera empfängt.' Dieser Zeus setzt seine Beine ganz auf dieselbe, ein wenig gezierte Weise wie Aphrodite; die Form der Beine ist ausserdem wie die ganze Figur fein und leicht. Sowie Aphrodite den Spiess des Ares, hält er den langen Königsstab. Nur die Haltung des Kopfes und des einen Armes ist — der Situation entsprechend — anders als die Aphrodite's. Dass Gestalten wie die der Liebesgöttin und des Vaters der Götter und Menschen einander in der Stellung so sehr gleichen können, zeugt allerdings davon, dass der Sinn für das Charakteristische ein wenig verwischt ist, wo so etwas vorkommt. Aber so sitzt Zeus auch nicht immer : in seiner thronenden Figur aus der Casa dei Dioscuri hat die Stellung einen strengeren, gesammelteren Charakter, der wohl mehr der Statue des Phidias in Olympia entsprochen hat.

Jene stereotype Stellung ist selbstverständlich nicht schart abgeschlossen und be- grenzt, sondern geht unmerklich in andere über, die sich eng daran anschliessen und wiederum auf eine gewisse stereotype Weise angewendet werden können. So findet man, dass mehrere aufrecht sitzende weibliehe Figuren sich stützen, indem sie die Hand ausgebreitet auf dieselbe Fläche legen, auf der sie sitzen, indem sie den Arm lotrecht am Körper herunterstrecken, eine Stellung, die so schön zu dem


' Das oben erwähnte Gemälde aus der Casa del Poeta in Pompeji. Heibig Nr. 114.



— 101 —


schmalschulterigen, schlanken Oberkörper passl und der Figur einen eigenen, jung- fräulichen Liebreiz verleiht. In Verbindung damit kommt es bei Figuren aus Pom- peji wie aus den römischen Gräbern vor, dass die jugendliche Frauengestalt mit den Fingern der andern Hand den Rand des klaren, feinen Gewandes, das die Brust bedeckt, von der Schulter entfernt. Die Figur entwickelt sich auf diese Weise mit einer gewissen Würdigkeit, und wirklich findet man etwas ganz entsprechendes auf athe- nischen Grabreliefs. Doch erscheint dies, jedenfalls in der Malerei, wie eine dieser ein wenig koketten, zweideutigen Bewegungen, die ebenso sehr darauf ausgehen zu enthüllen als zu verhüllen.1 Ein anderer Zug, der sowohl bei männlichen wie bei weiblichen Fi- guren vorkommt, besteht darin, dass der eine Unterarm ruhend über den Scheitel gelegt wird ; diesen Zug kennt man aus der Skulptur, sogar aus weit älterer Zeit. Dasselbe gilt von einer andern bis zu gewissem Grade stereotypen Stellung, die man fast aus- schiesslich bei männlichen Figuren angewendet findet, dass nämlich der eine Fuss auf eine ziemlich hohe Erhöhung gesetzt wird, wodurch in der Regel einer der Arme oder auch beide über der horizontalen Lende liegen. Unter den bekannten Musenstatuen im Va- tikan steht Melpomene auf diese Weise, und das verleiht ihrer Gestalt eine gewisse männliche Haltung und Stimmung.


Als eine der Figuren, die in derselben Stellung sitzen wie jene Aphrodite mit Ares nannten wir auch den schlafenden Endymion.* Es ist dies ein neues Beispiel dafür, wie leicht man es mit dem Ausdruck für die Situation nimmt, dass ein Schlafender nicht nur sitzend dargestellt wird, sondern, was die Beine und zum Teil auch die Arme anbetrifft, ganz in derselben Stellung wie eine wachende Gestalt. Er hält zwei leichte Spiesse in der Hand — wie Aphrodite den des Ares hält — ohne Rücksicht darauf, dass ein Schlafender einen Gegenstand nicht ebenso halten kann wie ein Wachender. In der Stellung sind also allgemeine Züge einer schönen und edlen Anmut beibehalten, die nichts mit dem Schlaf zu tun haben, ja sogar im Widerspruch dazu stehen  : und über diesen allgemeinen Kern ist dann gleichsam ein Zusatz von Schlaf ausgegossen: die Schlade Haltung des einen Ar- mes, der über dem Bein ruht, das zur Seite geneigte Haupt, die geschlossenen Augen. Alles in Allem macht der Schlaf mehr den Eindruck der Verstellung als der Wirklichkeit.


• Ein Motiv dieser Art hat Heibig in seiner Auslegung der campanischen Gemälde irre ge- leitet. Er besehreibt (Nr. 115) eine Danae in einer solchen Stellung und fahrt dann fort: Das Motiv der siteenden, den Gewandzipfel haltenden Dnnae ist vielfach als Ornamenttlgur verwendet worden, wobei in der Regel die Bedeutung des Originalmotiv'g vollständig verwischt erscheint. — worauf dann einige Beispiele angeführt werden. Ein sonderbarer Gedankengang! Weil das Motiv irgendwo für eine Danae in Anwendung gebracht ist. wird dies zu seinem Ausgangspunkt gemacht, und die andern Figuren derselben Art sollen auch eine Art Danae sein, nur dass die eigentliche Bedeutung in ihnen verwischt ist. Die Sache verhält sieh natürlich so, dass es ein allgemeines, ein wenig stereotypes Motiv für weibliche Schönheit ist, die gelegentlich einen bestimmten mythologischen Namen und Charakter, wie z. B. Danae. erhalten kann.

  • Bei dem Nachfolgenden habe ich namentlich Nr. i'-JKJ im Musco na*., vor Augen  : Auf andern

Gemälden variiert die Stellung ein wenig, ohne dat* ihr Charakter deswegen sonderlich anders würde.



— 102 —


Hin und wieder einmal hat die Antike wirklich dem Schlaf einen naturgetreuen Ausdruck verliehen, z. B. auf der ficoronisohen Cista : der Jüngling der auf dem Deck des Schiffes Argo auf dem Rücken liegt und so recht gründlich die Mühen und Beschwerden der Seereise ausschläft; oder auf andere Weise der « Barberinische Satyr» in München, der, alle Regeln des Anstandes vergessend, seinen Rausch aus- schläft. Häufiger aber kommt es doch wohl vor, dass die Antike den Schlaf ein wenig ideal schildert, indem sie ihn die ethische Haltung der Figur nicht ganz auf- lösen lässt. So verhält es sich, um das bekannteste Beispiel zu nennen, mit der grossen Figur der ruhenden Ariadne im Vatikan, die mit einer gewissen unnahbaren Vornehmheit schläft.1 In der campanischen Malkunst treten uns Beispiele für diese beiden Auffassungen entgegen. Die schlafende Ariadne auf Naxos, die von Dionysos gefunden wird — man sieht die schlafende Figur vom Rücken — auf einem bekannten Bilde aus Herkulanum,* gehört zu denen, bei denen der Schlaf am natur- getreuesten wiedergegeben ist. Aber abgesehen von jenen Figuren des sitzenden Endymion finden wir auch hier Beispiele dafür, dass bei ruhenden Figuren das Schlafen gerade nicht ganz genau nach dem wirklichen Leben geschildert ist.

Auf einem hervorragend schönen und liebenswürdigen Gemälde aus der Casa del naviglio in Pompeji,3 einer der Ferien unter den Ueberresten antiker Malkunst, sieht man eine Nymphe (Chloris) an der Erde schlummern und ihren Liebhaber Ze- phyms zu ihr herabsehwehen. Dass die Nymphe schläft, gelangt deutlich zum Ausdruck in ihrer ruhenden* Stellung, in den geschlossenen Augen, mit den in der Mitte in die Höhe gezogenen Brauen, dem kleinen, geöffneten Munde: aber es ist doch nicht ausschliesslich auf diese Weise ausgedrückt, es ist zum Teil durch ein ganz anderes Mittel bewirkt, — durch Mythologie, durch Anthropomorphismus. Sie lehnt nämlich den Oberkörper an den hinter ihr sitzenden Gott des Schlafes, Hypnos, der selber wacht, und sie lässt den rechten Ann schlaff über sein Knie herabhängen. Ueberhaupt er- hält diese ganze Szene einen für die Antike eigenartig poetischen Charakter durch die Art und Weise, wie die Personifikationen mit hineinspielen. Eine von ihnen, nämlich Hypnos, der als junger, anmutiger Knabe dargestellt ist, mit Flügeln auf dem Bücken und einem Blumenkorb in der Hand, ist der holde und freundliche Beschützer der schlummernden Jungfrau, scheint aber zugleich im Gefolge des Liebhabers zu stehen. Ein kleiner Eros, der mit dienstbeflissener, eifriger Miene zu Zephyros aufsieht, entschleiert ihm die Schönheil ihres Körpers. Zephyros selber


1 Ein anderes Beispiel derselben Figur in Madrid stimmt sonst in der Stellung mit der Figur in der Galleria delle statue im Vatikan überoin , aber sie ruht anders auf dem Lager, indem sie als Ganzes weniger sitzend und aufrecht, sondern mehr hintenüber liegend aufgefasst ist. Man kann die beiden Figuren in der Abgusssammlung in Berlin, Nr. 1111 und III'», vergleichen. Aber der Faltenwurf des Gewandes beweist, dass die vatikanische Figur so liegt, wie die Antike es gewollt bat. Es sind ohne Zweifel moderne Hände gewesen, die die Figur in Madrid anders hingelegt haben; und der Grund ist gewiss darin zu suchen, dass man von modernem Standpunkt aus die Stellung für eine Schlafende unnatürlich gefunden hat, was sie auch gewissermassen ist.

  • Heibig Nr. 12Xt.

» Museo nar„ Nr. IWtt. Uclbig Nr.  !>71.



- 103 -

naht durch die Luft in dieser ruhigen, der Antike eigentümlichen schwebenden Stellung; das Sehweben einer Figur wird in der Antike niemals durch starke Be- wegungen der Glieder ausgedrückt, sie lässt sie still wie durch eine magnetische Kraft ihrem Ziele zuziehen. Sein grosser, offner, warmer Blick senkt sich auf die Geliebte, von ihr angezogen wie eine schwere, reife Traube von der Erde. Und an jeder Seite hat er einen kleinen Kröten, um dessen Schulter er vertraut seine Arme legt: es sind die entzückendsten, munteren, kleinen Gesichter, die man sich denken kann. Jeder von ihnen hält eine Hand hinter seinem Rücken und führt oder schiebt ihn sanft vorwärts, der eine mehr flatternd, der andere, als ginge er mit eiligen Schritten durch die Luft. Darüber, auf einem Berge thront eine weibliche Figur, vielleicht die Nacht oder auch Aphrodite, oder die Göttin des Ortes, ebenfalls von Eroten umgeben. Unter allen diesen Naturmächten, die als Personen, als Gottheiten auftreten, herrscht gleichsam eine schelmische Verschwörung zu Gunsten des Lieb- habers. Das Ganze ist ein «Sommernachtstraum», jedoch auf antike Weise bei ruhigem Tageslicht dargestellt. 1

Der Reichtum an Personifikationen, den die antike Kunst zu ihrer Verfügung hat, macht sich auch in der Malkunst auf hundert andere Arten geltend, wenn auch meistens mehr zerstreut uls hier. Es ist klar, dass dies Element dazu dienen muss, den Ausdruck der Situation in der einzelnen Figur selber zu dämpfen : es nimmt ihn ja gleichsam aus der Subjektivität heraus und stellt ihn als zweite Person objektiv neben die Figur. Es dient so dazu, die ethische Haltung in der Figur, die sonst im Pathos dargestellt werden müsste, zu retten  ; und das verwandelt gleichzeitig die Naturkraft selber, die die Person in ihrer Gewalt hat, in eine Gottheit und umgibt sie mit der Würde der Gottheit.


Wir haben jetzt die beiden entgegengesetzten Richtungen betrachtet, die in der antiken Malkunst miteinander kämpfen, und deren Kampf in derselben besonders auffallend ist und kaum einer aufmerksameren Betrachtung entgehen kann, wenn- gleich er auch in der übrigen antiken Figurenkunst zu beobachten ist. Auf der einen Seite ein Streben, den vollen Ausdruck für die Hingebung der Person in der im Augenblick gegebenen Situation und ihr ganzes Pathos wiederzugeben; auf der


1 Heibig sagt : Das Kolorit dunkel wie im Dämmerlicht. Dieser Ausdruck ermangelt nicht der Begründung, aber ich glaube trotzdem ganz bestimmt, das» dies von dem modernen und von der Zeit bereits nachgedunkelten Firnis herrührt, den das Bild bekommen hat. Unabhängig von Uelbigs Bemerkung habe ich vor dem Originalgemälde bemerkt, dass kein Versuch gemacht sei, die nächtliche Beleuchtung wiederzugeben. — Ausnahmsweise macht die campanischo Malkunst wirklieh einmal eine Andeutung von nächtlicher Stimmung im Kolorit, so namentlich auf dem oben erwähnten (icmälde von Endymion und Selene. Aber das ist wohl zu beachten nur eine ganz leichte Andeutung, keineswegs eine Darstellung der Schatten der Nacht nach der Art der modernen Malkunst. Dies ist namentlich von Bedeutung in bezug auf das richtige Verständnis einiger Aus- drücke in der antiken Literatur, (z. B. bei Philostrat) über die malerische Wiedergabc der nächt- lichen Beleuchtung.



1


104


andern Seile eine Auflassung der Person wesentlich ausserhalb der bestimmten Situa- tion, oder der Ausdruck Iii r die Situation als leichtere Zufälligkeit aulgefasst, die die ruhige, ethische Haltung der Gestalt unangefochten lässt. In historischer Beziehung muss wohl die erstgenannte dieser Richtungen als Nachwirkung aus der Zeit Alexan- ders und der Kunst der früheren Diadochen-Periode betrachtet werden, die ganz be- sonders auf das Pathetische hinzielte : die letztgenannte ist wohl mehr als durch- brechende Wirkung der ursprünglichen und allgemeinen Grundströmung der ganzen antiken Kunsl aulzufassen, die zu keiner Zeit ganz ausser Kraft gesetzt wurde, und die am Ende der Periode der römischen Republik abermals die Ucbermachl ge- wann.

Am tiefsten in der antiken Kunst liegt nämlich die ethische Auffassung des Menschen. Das, worauf das Altertum bei dem Menschen den grossesten Werl legte, war, dass er sich selbst gleich blieb. Dieser Zusammenhang mit sich selber ist das Zuverlässige im Wesen des Menschen und das, was seine Würde im Ver- hältnis mit andern ausmacht. Der Abglanz davon aber verleiht dem antiken Figuren- stil seine Festigkeil und Erhabenheil. Die Situation hingegen bezeichnet die Verschie- denheit des Menschen von sich selber; sie wechselt mit dem Augenblick, sie zieht sein Wesen nach hundert verschiedenen Seiten, sogar über den Gleichgewichlspunkl hinaus. In der ägyptischen Statue haben wir das Bild eines Menschen, in dem alle Veränderung in der Zeil wesentlich unterschätzt ist, und wo die Gleichheit des Menschen mit sich selber steif, absolut, doktrinär aulgefasst ist. Diese Unnatürlich- keil hoben die Griechen auf, indem sie die freie Bewegung wahrhaft und künstlerisch durchführten und die Gestalt des Menschen in einen inhaltsreichen Verkehr mit anderen Menschen brachten. Aber gerade hierin wollten sie, dass sich der Mensch als der- jenige zeigen sollte, der die Gleichheil mil sich selber bewahrte.

Darin liegt, wie wir an bestimmten Beispielen der Malkunst gesehen haben, doch wieder eine Gefahr, dass der einzelne Mensch mitten im Verkehr als eine halb einsame Gestalt, wenn auch als Gegenstand der Bewunderung, stehen bleibt. Jene Forderung der Identität mit sich selber, der Blick für die rechte Linie, die die Konsequenz des Lebens angibt, ist wohl der Anläng des Ethischen, nichl aber seine Vollendung. Die eigentliche und schwierige « Kunst > im Leben besteht doch darin, dass sich die Person mit voller Kraft in die Situation stürzt, ohne ihr etwas von ihrem Wesen zu entziehen, die Wandelung, die sie mit sich führt, nicht scheut, sondern sich gerade dadurch entwickelt, indem sie in der Entwicklung sich selber treu bleibt, auf eine andere, höhere und schwierigere Weise, als wenn sie sich ganz oder halb ausserhalb des Kampfes hielle. Aber die Schilderung hiervon führt, wie man leicht sehen wird, über die Grenze der bildenden Kunst hinaus, weil es nicht in der Macht dieser Kunst liegt, die Zeilfolge zu schildern. Den Menschen völlig in der Situation des ein- zelnen Augenblickes aufgehend zu schildern — das kann die bildende Kunst erreichen: aber dieser erste Schritt in der Entwicklung führt ja vorläufig, wie das auch die Griechen gefühlt haben, von dem Ethischen fort, in das Pathetische hinein. Die weilere Entwicklung, die zu dem im höheren Sinne Ethischen führen sollte,


-106-


wiirde erst zu ihrer vollen Gültigkeit gelangen, wenn man zeigen könnte, wie die Personen wieder aus der Situation herausgelangen, welche Früchte sie für ihn ge- tragen hat u, s w.; aher das ist etwas, was nur erzählt, nicht gemalt werden kann. Das Ethische, das die Darstellung des .Menschen in der bildenden Kunst enthalten kann, drückten die Griechen ein für allemal mit einer solchen Vollkommenheit aus, dass alle spätere Kunst, die das hat darstellen wollen, es eigentlich von ihnen gelernt hat.

Die Vorliebe der Antike für den Menschen, der sich selbst gleich bleibt, darf nicht als Interesse für das individuelle Sondergepräge des einzelnen Mensehen und sein Bewahren desselben verstanden werden. Wohl spielt das Porträt neben dem Situationsgemälde eine hervorragende und glänzende Rolle in der antiken Kunst vom vierten Jahrhundert an, aber es gehörte nicht zu seiner älteren und ursprünglichen Strömung. Es ist abermals ein Zug von dem Festhalten der campanischen Kunst an dem ursprünglich griechischen Idealismus, dass das Porträt in ihr so völlig zu- rücktritt, was um so aulfallender ist, als wir die Kunst hier ja überwiegend im Dienst des Privatlebens sehen. In der grossen Menge von Wandgemälden kommt nur äusserst selten ein Kopf von so objektiv individuellem Charakter vor, dass man an- nehmen kann, er sei als Porträt gedacht;1 und was die Alexanderschlacht anbetrifft, wo ja ein paar Köpfe jedenfalls als historische Porträts gelten sollen, so haben wir bereits früher nachgewiesen, dass sie keineswegs als Urbild der in Campanien aus- geübten Kunst aufzufassen ist : wahrscheinlich ist es wohl, dass das Mosaikbild fix und fertig anderswoher importiert worden ist.*

Nein, die eigentümlichste künstlerische Arbeit der Antike, so wie sie auch in der noch erhaltenen Malkunst an den Tag tritt, ist gerade die Darstellung des Staats- bürgerideals, das Bild des freigeborenen und hoch und freigestellten Menschen, seine Gestalt, seine Form, sein Tun und sein Auftreten unter anderen Menschen. Trotz allem, was es an Demokratie in der Staatsverfassung gab, war ja die antike Staats- auffassung wesentlich aristokratisch, mit einem übersehenen oder doch nur wenig beachteten Sklavenstand in der untersten Schicht. Das Anschauen dieses Staats- bürgerideals war für die Griechen die eigentliche Religion ; deshalb vollzieht sie sich vorzugsweise im Götterbilde, das nichts weiter ist als der Gipfelpunkt des idealen Menschenbildes, so wie die Gesellschaftsordnung es zu jener Zeit auffasste. Es ist dies Staatsbürgerideal, das man gern aus der Situation befreit, die es in ihre Gewalt bringen und seine Würde verringern könnte; und selbst wo ein idealer Künstler im- stande ist, es ganz der Situation einzuverleiben, geschieht das doch nur unter der Hedingung, dass sein Gepräge sich nicht verwischt. Medea, die sich ihrer Zeit mit den heimlichen verbrecherischen Gedanken trägt, bleibt sich doch in dem Umriss

i Vergl. Heibig Nr. 1  :.•>:! - ir>2t»b.

- Dasselbe gilt in unbekanntem, aber sicher weitem Umfang von den Skulptarwerken in Bronze and Marmor. Ihr künstlerischer Charakter stimmt überhaupt keineswegs genau mit dem der Gemälde überein. Man beachte, das» es Skulpturen gibt, die als monumentale Porträts von rein örtlichem Charakter bezeichnet, aber ganz idealistisch aufgefasst sind, wie die schöne Marmorstatue der Priesterin Enmachia, aus Dankbarkeil von der Walker-Korporation neben den von ihr aulgefrihrten üeschäi'tsgebaudeu errichtet.



106


und der Haltung Her Gestalt gleich uls Frau von edler Abkunft, die als solche im- poniert. Aber wie jede positive Ehrfurcht in einer Gesellschaftsordnung, jede an- dauernde Bewunderung in einer einzelnen Richtung ein Verlangen nach seinem eigenen Gegensatz erzeugt, eine Neigung, der Natur in Ausgelassenheit und Gelächter freien Lauf zu lassen — wie das Satyrspiel auf die Tragödie folgt, so kommt auch das Komische in dem vor, was uns aus der antiken Malkunst bekannt ist, scharf abgesondert von dem Ernsten, teils in den Sah rbildern, teils in solchen Auftritten, wogerdde die göttliche und menschliche Würde dem überwältigenden Naturtriebe gegen- über die Segel streicht, wie in dem Bild von dem betrunkenen Herakles bei Omphale. Und wir haben nachgewiesen, wie sogar hier eine gewisse ethische Haltung in dem Kigurenstil selber bewahrt wird, in der Schilderung des Habitus der Gestalten, der über die gegebene Situation, in der seine Würde verletzt wird, hinausgehend, ihr bleibendes Gepräge ausmacht.

Aber war denn das antike Leben, aus dem die Kunst hervorging, wirklich so ethisch? Man ist kaum geneigt, übertriebene Achtung zu hegen vor dem Leben in den Provinzstädten des üppigen Campaniens unter dem Heidentum, wo die Natur- triebe wie Götter verehrt wurden, wo die Sinnlichkeil keineswegs das Gepräge des Bösen trug, namentlich in dem späteren Teil des Altertums, wo das Gefühl für die Gesellschaftsordnung wohl in der Tat weniger frisch und energisch erhalten war als früher. Natürlich kann die Kunst des Altertums auch nicht direkt als Zeugnis für die Auffassung der historischen Wirklichkeit genommen werden  : sie ist überwiegend idealistisch und drückt in erster Linie den Begriff aus, den sich das Altertum von dem Menschen machte, schildert nicht den Menschen selber. Und je ausgesprochener idealistisch sie gewesen ist, eine um so ausgesprochenere Kehrseite hat sie in Wirklich- keit wohl gehabt. Aber jedenfalls muss man festhalten, dass es in der Kunst nichts gibt, für das es nicht im Leben etwas entsprechendes gegeben hätte. Der subjek- tive Geist in der Auffassung des Menschlichen, den die Kunst zum Ausdruck bringt, kann und soll für die Geschichte der Menschheil verwertet werden, und ist vielleicht sogar von grösserer Bedeutung für dieselbe als es Spiegelbilder des wirklichen Lebens sein würden. Ebenso wenig, wie man übersehen darf, dass die campanischen Städte so gut wie andere ihre unethische Seite, ja, ihre Unsittlichkeit haben, ebenso wenig kann man es übersehen, dass ihre Kunst als Gesamtheit rein und edel ist, ja, dass sie stellenweise eine Frische, eine Unschuld im Blick für das rein menschliche offen- bart, wogegen die moderne Kunst im Grunde erblasst.

Wir wählen hier «las Beste vom Besten aus und vertiefen uns in das kleine Kig. 3.m. Bild eines jungen Mädchens, das Blumen pflückl, ans Stabiae.1 So leicht dies kleine Bild, verblasst, wie es ist, von der Zeit und vergilbt von dem Firnis, im Museum zu Neapel übersehen werden könnte, ist es doch schon viele Male abge- bildet worden: es ist keine willkürliche Laune, wenn wir es hier hervorheben.*

1 Museo nar.. HKV4, Hclbig, Nr. 1*5«;.

  • Die Figur ist in Dänemark recht allgemein bekannt. Als der vorzügliche Maler J. Th

Lundbye ist'.-lt; iu Italien weilte, verfertigte er die hübsche, hier wiedergegebene Zeichnung



- 107 -


Es ist eine Maid im ersten Lenz der .lugend, wie ein frischer Friihlingsmorgen macht sie ihre Wanderung durch den Garten, um Blumen in den Ilachen Korb zu sammeln, den sie über dem Arm trägt. Man geht langsam, wenn man so Blumen pflückt, man schaut nach der einen Seite und man schaut nach der andern Seite, was man wohl wählen könnte. Sie ist jetzt vorübergegangen, aber da sind Bilder, die man nicht so leicht vergisst, namentlich wenn man ein Maler ist. Da geht sie hin, er sieht sie jetzt von der Bückseite. Sie hätte fast eine hohe Pflanze vergessen, die am Wegesrande wächst, dreht aber den Kopf ein wenig um, streckt die Hand aus und pflückt die Spitze ab - mit Daumen und Zeigefinger, sorgfältig; denn sie liebt die Blumen und fasst sie weiblich zart an. Welch schöne Wendung des Nak- kens, welch frischer Umriss der Wange! Welch feine, reine Schultern und welch leichler und ruhiger Gang, während der Morgenwind mit dem Gewände spielt !

So wie die Figur jetzt auf uns gekommen ist, besteht sie fast nur noch aus einem Umriss, aber gerade dieser Umriss, der Klang dieser Körperlinien, ist ein köst- licher Schatz für die Menschheit. Baphael ist schwerfällig und Thorwaldsen ist matt im Vergleich hiermit.

Ideen-Verbindungen knüpfen bekanntlich Gegensätze aneinander. Beim Wieder- sehen dieses Bildes in Neapel musste ich unwillkürlich an eine geniale Schilderung des Gemütes und der Gewohnheiten eines jungen Mädchens aus unserer neueren Literatur denken, — an .1. P. Jakobsens Marie Grubbe, erstes Kapitel. Das ist die moderne Auffassung von der Sache. «Sie ging mit tändelnden, zierlichen Schritten langsam den Gartenpfad entlang; aber nicht geradeaus, sie ging in Windungen; bald war sie nahe daran, auf der einen Seite gegen einen Baum zu stossen, bald zwischen die Bäume auf der andern Seite zu geraten.«  — — Sie geht in die Laube, träumt und phantasiert. «Dann ging sie hinaus, pflückte von den Schlingrosen, je mehr

sfe pflückte, um so eifriger wurde sie, und bald hatte sie den Rock voll. Sie

gehl wieder in die Laube hinein schnell streifte sie ihre Aermel auf und legte

die nackten Arme in die milde, feuchte Kühle der Rosen. Sie drehte sie in den Rosen um, die mit losen Blättern zur Erde flatterten, dann sprang sie auf und fegte mit einem Strich alles weg, was auf dem Tische war, und ging in den Garten hinaus.»

Arme Marie Grubbe; aber es waren ja auch «mehr Gedanken in ihr, als womit sie durchs Leben konnte». Sie war vielleicht schon damals ein wenig hysterisch. Welch Friede, welche Gesundheit liegt nicht im Gegensatz zu ihr über dem Mäd- chen aus Stabiae! Sie weiss jede Blume, die sie auf ihrem Wege trifft zu pflücken und ruhig ihrem Glücke dienstbar zu machen. Es ist in ihr gerade der Sinn, dass sie ihren schönen Gang durchs Leben fortsetzen kann, und weiter keiner.


davon. Die Zeichnung verwandte M. Hammerich mit gewohnter Sorgfalt und grossem Geschmack als Vignette zn Keiner Uebersetzung der Sakuntala. Von dort ist sie dann wieder in weiterem Um- fang so dekorativen Zwecken verwandt worden Man fühlt leicht das Natürliche darin, dass die Nordländer besonderen Gefallen daran finden konnten ; darüber darf man aber nicht vergessen, dass die Südländer sie uns geschenkt haben. Landbyes Zeichnung ist gut, das Original ist aber noch besser.



- 108 —


Wenn diese Mädchengcstnlt in ihrer Ar! vielleicht auch das beste aus der alten Malkunsl sein mag, steht sie jedoch keineswegs allein da. Eine andere Figur eines jungen Mädchens, ebenfalls aus Stabiae, könnte man eine Schwester der ebener- wähnten nennen, obwohl sie nicht eng zusammengehört zu haben scheinen.1 Sie ist sitzend dargestellt, halb von der Seite gesehen  ; sie steckt ihr Haar auf, in- dem sie mit der einen Hand einen kleinen Handspiegel vor sich hinhält : der jung- fräulich schlanke Oberkörper ist ganz nackend, die Beine sind in das Gewand ge- hüllt und die Füsse unter den Sitz gezogen, der eine über der Ferse des andern ruhend. In den einfachen und strenge zusammenhängenden Linien, die diese Stellung verleiht, liegt wieder jener schöne Klang von Reinheit und Frische. Bei andern Figuren kommt dazu noch ein stärker hervorgehobenes seelisches Leben, wie bei dem jungen Mädchen/ das ganz in sein (lewand gehüllt dasitzt, das eine Knie über das andere geschlagen, vornübergebeugt, den Finger auf der Lippe: es ist das Bild des Nachdenkens. Noch stärker betont ist der geistige Ausdruck in dem von einem Bundkreis eingefassten Brust bilde einer Dichterin, die den Griffel an die Lippe hält und sinnend vor sich hin sieht, - ein blasser, nicht voller, aber geistig schöner Kopf.


Je mehr wir von dem psychologisch und dramatisch Interessanten in die Beginnen hinaufsteigen, wo die Figur nur durch die Stimmung ihrer Bewegung und ihrer Linien zum Ausdruck gelangt, um so weniger reicht das Wort aus als Mittel der Schilderung. Es ist zu schwerfällig und zu positiv, um in diesen feinen und flüchtigen Aether hinauf folgen zu können. Es sind Figuren, die man wohl für geeignet halten könnte, in Musik gesetzt zu werden, die sich aber schwerlich mit Worten beschreiben lassen. Das gilt am meisten von dem Reichtum an Vorstellungen, die in der Mal- kunst der campanischen Städte einen gewissen unvergleichlichen Lebens ju bei ausdrücken, — das landläufigere Wort «Lebensfreude«  würde ein wenig zu matt er- scheinen.

Die wunderbare Natur in der Umgegend des Golfes stimmte im Altertum wie auch heute noch den Sinn unwiderstehlich zur Freude, seine furchtbare Treulosig- keit halte man damals erst sellener fühlen müssen, und noch heutigen Tages können alle bitteren Erfahrungen ja nicht die Wirkung der heiteren Stimmung der Natur unterdrücken. Sie gleicht einer wunderschönen, bezaubernden Frau, die nur ihr sanftes Antlitz wieder zu zeigen braucht, um Verzeihung für alle Sünden zu er- langen. Auch in Rom wussle man ja das Landleben mehr und mehr zu schätzen und genoss am liebsten seine Freiheil an der Meeresbucht von Neapel. Das Bewusst- sein der Genüsse, die das Leben in den Villen dem menschlichen Gemüt bereitet, hatte im Laufe der letzten hundert Jahre vor dem grossen Ausbruch des Vesuvs


' Helbig Nr. \h'XI. Uic hier erwähnt«  Fi>rur ist etwas grösser als das Blumenmädchen.

  • Aus Pompeji. Helbig Nr lssfi.



— 109 —


eine Art Landschaftsmalerei entwickelt, die ebenfalls einen nicht geringen Platz in der pompejanischen Dekoration einnimmt. Aber selbst wenn es mit zu unserer Aufgabe gehörte, diese Gemälde zu ergründen, müssten wir doch gleich her- vorheben, dass sie in künstlerischer Beziehung nur wenig Bedeutung haben und nur flüchtig an die äussere Szenerie ländlicher Freuden zu erinnern vermögen. Nicht in ihnen ist die glückseligmachende Einwirkung der Natur auf das Gemüt zu ihrem künstlerischen Ausdruck gelangt; sie ist im Gegenteil auf alte antike Weise durch den Anthropomo rphism us, durch das ideale Menschenbild wiedergegeben.

Wenn dann der Blick während eines seligen, träumerischen far-niente über die sonnenglitzernde Bucht schweifte, gewahrte er da draussen Tri tonen und Nereiden, die auf Tieren, Pferden oder Ochsen lagen, mit langen, krummen, wirbelnden Fisch- schwänzen ; das geht im Tanz, im Galopp, so duss es vor dem Auge zittert, über die Wasserfläche hin, um die Wette mit den tummelnden Delphinen, mit denen die Eroten Pferd spielen. Ein wenig über dem Horizont erblickte man Satyrn, die auf ihren Thyrsus-Stäben Seiltänzerkunststücke üben; sie sind wahre Künstler in ihrem Fach; einer von ihnen benutzt einen zweiten Thyrsus-Stab als Balancierstange, einer lässt während des Seiltanzcns Strahlen aus einem Trinkhorn in den Becher schäumen. Uder man sieht Kentauren durch die Luft dahinfahren. Eine tolle, nackte Mänade ist auf den Rücken eines Kentaur s gesprungen und stemmt ihr Knie da- gegen ; sie hält sich an seinem langen Haar fest, pulft ihn mit dem Ende ihres Thyrsusstabes und spornt ihn an, indem sie ihm ihre Daumenzehe in die Rippen drückt, fi«  a>. Uder das Bild spielt sich ruhiger ab : Ein Kentaurenweib mit einem Jüngling ; sie klimpert mit der einen Hand auf der Lyra und schlägt mit der andern ihr Klang- becken gegen das seine. Oder es sind junge Mädchen, die oben in der Luft tanzen, rhythmisch und taktfest, wie sie auf der Erde tanzen, zierlich den Rand des Ge- wandes mit der einen Hand über die Schulter und mit der andern Hand von der Hüfte abhaltend  ; oder paarweise im Hundlanz mit verschlungenen Händen, indem sie einander mit den Köpfen unter den Armen durchschlüpfen. Die Bacchanten führen ihre Geliebten mit sich in die Luft empor; und dort schwebt eine schöne Bacchantin allein aufwärts feierlich in die Weite schauend, dem leuchtenden Gipfel der Freude m. ' Daraus schliesst man, dass das Rild gerade die Schlacht bei lssos vorstellt. Und da ein späterer alexandrinischer Grammatiker, Plolomaeus Chennos, infolge eines Excerptes bei Photius* erwähnt haben soll, dass die «Malerin Helena, die Tochter des Aegypters Timon, die Schlacht bei lssos malte, von welcher Hegebenheit sie eine Zeitgenossin war», und dass das Ge- mälde unter Vespasian im Tempel des Friedens aufgestellt sei ; und da sonst kein Rild von dieser Schlacht erwähnt wird, so zieht man den Schluss, dass das pompejariische Mosaik wahrscheinlich eine Wiederholung des Gemäldes jener Helena ist. Dies findet man abermals dadurch bestätigt, dass ein breiter Mosaiktisch, der den Fussboden in demselben Raum schmückte, wo sich die Alexanderschlacht befand, eine Dar- stellung aus der Tierwell des Nils gibt: dies leitet den Gedanken nach Aegypten, und Helena soll ja «aus Aegypten» gewesen sein.

Wenn man die Ehre der Erklärungskunsl darin sucht, Kombinationen zwischen einzelnen bestimmten Notizen in der üherlieferlen Literatur und ein- zelnen bestimmten erhaltenen Kunstwerken ausfindig zu machen, so muss die Hypo- these, die nicht nur eine genaue Hestimtnung der dargestellten Regebenheit gibt, sondern dadurch auch eine Reslimmung des Autors des Werkes, als ganz besonders glücklich angesehen werden. Doch könnte man wohl auch von rein literarischem Standpunkt aus ein paar berechtigte Einwendungen dagegen erheben. In der obenan- geführten Stelle Ihm Photius über die Malerin Helena, der einzigen Nachricht, die


1 Q. Cortii Kufi de gestis Alexandri Magni III, -27: Jamque qui Daren m vehebant eqni, con- roasi hastis et dolore etferati, jugum qoatere et regem curru excutcre coeperant : cum ille, veritus no vivus veniret in hostinm potestatem, desilit, et in equum, qui ad hoc ipsuni seqncbatur, imponi- tur : insignibus quoque imperii, nc fugam proderent. indecore abjectis.

  • Phot. Bibl. p. -24S {ed. Hocschel): tu: rt 'E>.:vr, tvi xaTaXv.'S-j st? twtvj (es

ist die Bede von berühmten Franen mit Namen Helena) T'juovo; zvj fr^Kar»;?. rtz:$ tt,/

£v 'los«;»  !wZ'iv sxs-w.i; 'i/.jtaXojsa T'/.; z\{>'i vi. xai £v tw t/|; E;.pr,vij; ts;uvj! iz>.

<



— 113 —


wir über sie haben, steht ja nicht, dass sie aus Aegypten war, sondern dass ihr Vater aus Aegypten war. E^iv/i — — Tiowvo; tou a-yv^tio-j (bYarr'P- f>s darf nicht ganz übersehen werden, das* Helenas eigenes Leben und Wirksamkeit nicht nach Aegypten hingehörte. Wenn ich z. B. schreibe: «Derlei Thorwaldsen, ein Sohn des Isländers Gotskalk Thorwaldsen», so ist dies vollkommen korrekl, gerade weil Hertel Thorwaldsen selbst kein Isländer war: er war in Kopenhagen geboren und hatte Island niemals gesehen. Wenn er selber mit irgendwelcher Berechtigung Isländer genannt werden könnte, würde man sich dieser Umschreibung nicht bedient haben. — Es darf auch nicht übersehen werden, dass Plutarch in seiner Schilderung der Schlacht bei Gaugamela (Alexander Kap. 33) etwas ganz ähnliches erzählt, wie Curlius von der Schlacht bei Issos berichtet, nämlich dass Dariiis in der härtesten Not Wagen und Waffen im Stich liess und zu Pferde flüchtete. In bezug hierauf würde das Bild dann ebenso gut die Schlacht bei Uaugamela wie bei Issos vorstellen können, und der Maler Philoxenos aus Eretria, der Schüler des Nikomachos, der für König Kassandros ein vorzügliches Bild von einer Schlacht zwischen Alexander und Darius' ausgeführt hatte, könnte ebenso gut wie Helena Anspruch darauf erheben, der Autor des Originals von dem Mosaikbilde zu sein. Hiergegen könnte man dann wieder gellend machen, dass Plutarch unleugbar den Darius auf einer Stute entfliehen lässt, die ein Füllen daheim halte, während das ledige Pferd auf dem. Mosaik unbestreitbar männlichen Geschlechts ist. Es ist überhaupt schwierig, eine völlige Uebereinstimmung zwischen den Notizen und den Bildern zustande zu bringen.

Aber ist es denn nicht gar zu naiv, und dürfte es nicht nachgerade ein wenig veraltet sein, sein Vertrauen auf dergleichen Kombinationen zu setzen, falls sie nicht, in ganz wenigen und ganz besonderen Fällen, durch alle vorliegenden Umstünde ge- stützt werden  ? Kein Mensch kann ja der Ansicht sein, dass die Nachrichten, die uns die überlieferte Literatur von den Kunstwerken des Altertums gibt, auch nur einiger- wassen an Vollständigkeit grenzen. Selbst wenn eine durchgreifende Behandlung des Verhältnisses zwischen den erhaltenen Kunstwerken und den überlieferten kunst- historischen Nachrichten noch nicht zu Wege gebracht ist, so kann doch jeder, der ernsthaft über die realen Verhältnisse nachdenkt, sich selbst sagen, dass man in jedem Punkt mit einer Menge von dunklen Möglichkeiten rechnen muss. Von den Schlachtenbildern aus den Kriegen Alexanders besitzen wir höchstens Nachricht über vier — ob es wohl aber nicht wenigstens zehn Mal so viele gegeben haben sollte? Unter solchen Verhältnissen bleiben diese präzisen und daher so blendenden Kombinationen in der Kegel nichts weiter als philologische Spielereien, die keinen wissenschaft- lichen Wert haben und nicht einmal so unschädlich sind, wie sie aussehen.

Die hier erwähnte Kombination ist jedoch nicht nur, infolge dieser allgemeinen


» Plinios HN, HT>. 110: Philoxenus-cuius tabnla nullis postferenda OasRandro regi pieta continuit Alexandri proelium cum Dario. — Brunn scheint geneigt, das Bild dem Philoxenos zu- zuschreiben. (Künstlergeschichte II, 171).

8



- 114 -


Gründe, ganz unzuverlässig; sie ist falsch, weil sie auf einem Missverständnis des Bildes beruht, das mit Müsse abzulesen man sich nicht die Zeit gelassen hat, ehe man schon zu kombinieren begann. Das Bild entspricht nicht der Stelle bei C u r t i u s. Wer es ohne Vorurteil, seinem eigenen Sinne nach betrachtet, kann nie auf den Gedanken kommen, dass das ledige Pferd für Darius bereit gehalten wird: es wird offenbar dem Reiter angeboten, dessen Pferd unter ihm gefallen ist, nämlich dem Jüngling auf dem schwarzen Pferd, natürlich in der Zwischenzeit während des Falles seines Pferdes und seines eigenen. Auch enthält das Bild nichts, was Darius zwingen sollte, seinen Wagen zu verlassen: vor- läufig fährt er noch ungehindert. Und wie sollte es Darius* Kutscher wohl einfallen, mit aller Gewalt die Pferde zu schnellerer Fahrt anzutreiben, wenn es die Absicht seines Herrn wäre, den Wagen zu verlassen  ? Er denkt ja an nichts als an den Tod des Jünglings. Es ist das Fatale bei solchen Kombinationen, dass sie das Verständnis des voll und mächtig ausgesprochenen Inhalts eines Kunstwerkes stören und verrücken.

Wie sich die Darstellung des Gemäldes, die ich oben zu schildern versucht habe, zu der historischen Wirklichkeit verhält, das genauer anzugeben fehlt es mir an Mitteln. Das Bild erzählt etwas, was ohne Zweifel von den historischen Schriften über die Alexander Kriege, die uns überliefert sind (Üiodor, Arrian, Plutarch, Cur- tius) und die übrigens als weit spätere Quellen als dieses selbst betrachtet werden müssen, nicht erzählt wird. Darin ist wohl nichts Auffallendes, um so weniger als die historischen Schriften ja auch untereinander in ihren Einzelheiten nicht geuau übereinstimmen. Es kann wohl angenommen werden, dass Begebenheiten wie die Kriege Alexanders den vielzungigen Gerüchten eine Menge zu erzählen gegeben haben, Wahrheit und Lüge bunt durcheinander, und dass die später überlieferten historischen Schriften hieraus nur sehr magere Auszüge bewahrt haben. Aber selbst wenn das spezielle Ereignis, von dem das Gemälde handelt, nicht deutlich in den literarischen Berichten geschildert wird, so streifen diese Schilderungen der Schlachten bei lssos wie bei Gaugamela, an welcher die beiden Könige persönlich teilnahmen, in vielen Punkten die Darstellung des Bildes so hart, dass wir kaum in Zweifel darüber sein können, dass eine dieser Schlachten gemeint ist. Es fehlt uns so weder an Nachrichten über die Art des Themas wie über die Art des Bildes, zu denen das Mosaik gehört  ; aber eine genauere Uchereinstimmung nachzuweisen, gestattet die Beschaffenheit der Quellen kaum.


Nichts ist lehrreicher in bezug auf die historische Entwicklung der griechischen Menschendarstellung, namentlich nach der psychologischen Seite, als die Bilder von dem 1! urguiien lutupt uus der ältesten Zeit bis zum Schluss der antiken Kultur durchzunehmen. Man sieht den Grundzug der ganzen Geschichte, kurege- fassl und deutlich, indem man die Behandlung der einzelnen Aufgabe verfolgt.


DAS GORGONENHAUPT.



4


- 115 —

Das Gorgonenhaupt ist, namentlich in der älteren Zeit, etwas ganz Eigenartiges, das nicht mit der übrigen griechischen Kunst verschmilzt, sondern sich andauernd von derselben abhebt. Es ist eine Maske, d. h. ein Gesicht, das dem Beschauer direkt zugewandt ist; in der Regel ist es das Gesicht allein, ohne Hals oder Körper. Die Maske ist mehr oder weniger flach oder scheibenförmig, immer aber flacher als andere, gleichzeitige Darstellungen des menschlichen Kopfes; sie ist ausserdem breiter als ein gewöhnliches Gesicht, nähert sich mehr oder weniger der Zirkelform und ist jedenfalls mehr kreisrund als andere Gesichter. So wird die Maske sowohl mit Bart als auch ohne Bart dargestellt, also sowohl männlich als weiblich. Und so wird sie nicht nur für sich, nur als Gesicht, dargestellt, vermutlich der Benennung Gorgo entsprechend, sondern auch als Kopf einer menschlichen Figur in den Bildern des Perseusmythus. Auf dem Metopenrelief des ältesten Tempels auf der Akropolis von Selinunt, das Per seu s, den Kopf der Medusa abschneidend, darstellt, hat «• sie den runden, flachen Maskenkopf, wohingegen die beiden andern Figuren auf dem Relief, Perseus und Athene, Köpfe in einem ganz andern Stil haben, obwohl auch sie sich dem Beschauer gerade zuwenden. Weit häuliger sieht man ja sonst die Köpfe auf alten Reliefs und Vasenmalereien im Profil, und zwischen den Prolil- köpfen ist die Gorgonenmaske noch abstechender. Prolile eignen sich mehr für epische Darstellungen von Personen im Verkehr miteinander; die Maske wendet sich da- gegen an den Beschauer und will direkt on Eindruck auf ihn machen, sie fällt also aus dem Zusammenhang mit dem übrigen heraus, insofern, als sie nicht ganz allein dargestellt ist. Proflle gehören also in die mythologischen Darstellungen des Treibens der Götter und Helden  : die Maske scheint mehr ein rein isoliertes religiöses Verhältnis zwischen dem Beschauer und der Vorstellung von dem Göttlichen zu bedeuten.

Dieser eigenartige Charakter des Gorgonenhauptes lässl sich jedoch keineswegs hinreichend aus dem Mythus von Perseus, der den Kopf der Gorgone abschlägt, er- klären. DadurchCist nichts weiter erklärt, als dass es ein Kopf ohne Körper ist, aber dadurch ist die runde, flache Maskenform nicht motiviert. Ausserdem sollte man dem Mythus nach ja erwarten, dass der Kopf nach der Köpfung tot sein müsste, er ist aber in der älteren Kunst ganz lebend. Nein, offenbar ist der Maskentypus, die Vorstellung von dem runden Gesicht, das den, der es sieht, tötet oder versteinert, das für die Griechen ursprünglich Gegebene, was sie (wie sie auch selber angedeutet haben) von andern Völkerschaften empfangen hatten mit einem Anspruch auf religiöse Bedeutung: eine solche künstlerische Form lässl sich leicht von einem Volk auf ein anderes übertragen, während der eigentliche religiöse Sinn weniger leicht die Sprach- grenze überschreitet. Dann stand man einer eigenartigen Erscheinung gegenüber, die wohl dazu geeignet war, die mythenbildende Kraft bei den Griechen in Bewegung zu setzen. Wie konnte es zugehen, dass sich der menschliche Kopf so allein, ohne Körper, bewegte? Es musste ein Kopf sein, der von einem Kör- per getrennt war. Daraus musste dann eine Sugenbildimg folgen, die eingehender beschrieb, wie diese Köpfung vor sich gegangen war.

Es ist übrigens keineswegs meine Absicht, eine allseitige und erschöpfende Er-



- 116 -

klärung des Mythus zu versuchen. Diese Aufgabe gehört auch gar nicht hierher: die kunstgeschichtliche Entwicklung des Gorgonenhauptes, die unser Thema ist, bedarf keiner Erklärung des historischeu Ursprunges des Typus, sondern kann klar und deutlich ohne eine solche aufgefasst werden. Ich erlaube mir nur in einer Paranthese einige Worte über die Bedeutung des Maskentypus und darüber, was man in bezug auf den ursprünglichen Sinn der Darstellung, den die Mythologen vielleicht nicht hinreichend in Betrachtung gezogen haben, daraus schliessen kann.

Die Erklärungen, die in dem späteren Altertum gegeben sind, gehen weit aus- einander; und in Wirklichkeit kann man von den Griechen selber auch keine sichere Erklärung erwarten. Es ist deswegen kein Wunder, dass auch die neueren Mytho- logen sehr uneinig gewesen sind. In der letzten Zeit jedoch haben sich die Stimmen stark dahin geneigt, das Gorgonenhaupt mehr als ein ursprüngliches Bild der Ge- witterwolke aufzufassen, die den Blitz herabsendet (ntrbes fulminans). Wie aber erklärt das die Vorstellung von dem flachen, runden Gesicht  ? Das Charakte- ristische für die Wirkung des Gorgonenhauptes ist ja ausserdem, dass allein der Anblick tötet ; das passt gar nicht zu dem zündenden Blitz, der wie eine Waffe tötet, indem er aus der Wolke hervorgeht. Eine andere Erklärung, die von einem der Kirchenväter des Altertums (Clemens Alexandrinus) gegeben ist, dass nämlich das Gorgonenhaupt das Mondgesicht vorstellt, kommt der Wahrheit wohl näher. Wenn man scharf festhält, was in dein Typus gegeben ist und sich vorurteilslos und konsequeut davon ableiten lässt, was das einzig richtige wissenschaftliche Verfahren ist, so liegt es allerdings ausserordentlich nahe, die Erklärung für das runde, scheiben- förmige Gesicht, das sich ganz selbständig ohne Körper bewegt, in den beiden grossen Himmelslichtern zu suchen. Es sind ja runde Göttergesichter: ein männliches und ein weibliches und jedenfalls von dem einen, von dem der Sonne, trifft es zu, dass der Mensch es nicht verträgt, hineinzusehen. Ausserdem sind die Bilder von der Sonne als runde Scheibe (und vom Halbmond) ausser- ordentlich häufige Keligionssymbole bei den Phönikiern; und der maskenartige Kopf hat in der altgriechischen Kunst zuweilen Hörner in den Schläfen, das gewöhnliche Symbol der Mondgottheilen. Doch dürfte die Sonne ursprünglich einen grösseren An- teil an der Vorstellung von dem Gorgonenhaupt gehabt haben als der Mond. Darauf deutet auch ein einzelner eigenartiger Umstand hin. In der griechischen Kunst wird die Gorgonenmaske oft mit Flügeln in den Schläfen und zwei grossen, an den Seiten herabhängenden Schlangen dargestellt; diese Züge lassen sich wohl erst in Werken aus einer späteren Zeit nachweisen  ; aber man nahm später auch häufig Züge von uraltem, mythologischen Ursprung auf. Jedenfalls erinnern sie auffallend an die ge- flügelte Sonnenscheibe mit den zu beiden Seiten herabhängenden Uraeusschlangen, die in unzähligen Exemplaren in ganz Aegypten und dann auch im westlichen Asien vor- kommt ; und innerhalb dieses Landgebietes ist sicher der Ort zu suchen, von dem die (j riechen die Maske erhalten haben. Die geflügelte Sonnenscheibe wird von den Aegyptern bald als Sonnengott selber erwähnt, der seine Feinde niederschlägt und sie verfolgt, bald als Waffe und Talisman des Gottes. Sie wird über dem Heiligtum der Götter angebracht,



— 11? —


denn sie «vertreibt das feindliche aus ihrer Nähe> ; und zwar nicht von den Aegyptern allein, sondern auch von den Weslasialen, namentlich den semitischen Fhönikiern.

Und hiermit verbreitet sich die Vorstellung der Aegypter von dem wahren Antlitz des Gottes, das nicht zu schauen war. Für die west- asiatischen Semiten, Phönikier und Juden hat die Vorstellung von dem Antlitz Gottes die allergrösste Bedeutung und dies Antlitz wird als Sonne ausgelegt. Wir kennen diese Vorstellung am besten aus dem alten Testament, das häutig davon redet, d a s s das Antlitz Gottes tötet. Gegen Verbrecher « wird der Herr sein Antlitz erheben und sie aus der Mitte des Volkes ausrotten*. Niemand konnte Jehovas Antlitz sehen und leben ; der Prophet selber bekam ihn von hinten zu sehen, aber den Anblick von Jehova s Antlitz erträgt er nicht. Hier hat die Eigenschaft, die sich ursprünglich an den Sonnengott knüpfte, eine tiefere religiöse Bedeutung er- halten als höchsten Ausdruck für die Ehrfurcht, die Gottes unnahbarer Majestät zu- kommt. Wenn eine Vorstellung dieser Art ihren Weg zu den Griechen gefunden hat, musste sie eigenartig isoliert in ihrer ganzen Mythologie dastehen. Sic stellten ja die Gestalt der Götter dar und waren daran gewöhnt sie in idealen Bildern zu sehen, die wohl Ehrfurcht einflössten, aber doch den Menschen vertraut waren. Das tötende Antlitz konnte für sie seinen Platz nicht auf dem Höhepunkt der Götterwelt finden, es musste im Gegenteil etwas feindliches, etwas Böses darstellen, etwas, das in das Reich der Nacht und der Schatten gehörte.

Für die Griechen ist denn das Gorgonenhaupt ursprünglich eine Darstellung von dem, was im allerhöchsten Grade Schrecken einflösst. Den beredetsten Ausdruck findet dies wohl am Schluss des elften Gesanges der Odyssee. Odysseus hat mit den Toten der Unterwelt geredet, mit einem nach dem andern, und sein wissbegieriger Sinn erregt in ihm den Wunsch, diese Unter- redungen fortzusetzen und noch mehr Helden aus der Vergangenheit zu sehen. Jetzt aber scharen sich die Leichen mit hässlichem Geschrei zu Tausenden um ihn. Da erfasst ihn bleiches Entsetzen, er schaudert bei dem Gedanken, dass Persephone aus der Unterwelt das Haupt Gorgos, des grässlichen Ungeheuers zu ihm herabsenden könnte, und allein dieser Gedanke treibt ihn in die Flucht, auf sein Schiff zurück. Es klingt so, als sei hier die Rede von dem Teufel aus der innersten Hölle, daher die allgemeine Benutzung des Gorgonenhauptes in der Kunst als Schreckbild (Apo- tropaion), als ein «hüte dich», auf Schildern, Tempeltüren u. s. w., vor allem aber auch Zeus' und Athene's Aegis.

Die Kunst erhielt also die Aufgabe, das darzustellen, was dem Menschen ein solches Grausen einflösste, dass man es nicht ansehen konnte. Diese Vorstellung kennen wir noch aus einer grossen Menge von Exemplaren der Werke, die wohl etwas, aber nicht wesentlich verschieden voneinander sind. Das runde, breite Gesicht, das zuweilen ganz von Schlangen umgeben ist, am häufigsten aber ohne Schlangen auftritt, hat ein Paar grosse, weit aufgerissene, glotzende Augen und einen ungeheuer breit gezogenen weit geöffneten Mund; hinter den Lippen erblickt man die ge- fährlichen Zahnreihen und ausserdem die Hauzähne, wie bei einem Wildschwein zu



- 118


jeder Seite des Ober- wie des Unterkiefers; die Zunge hängt lang aus dem Munde heraus. Dass der Zweck von diesem allen darin besteht, Entsetzen und Furcht ein- zuflössen, versteht man wohl unmittelbar, auch ohne den Kommentar des Dichters. Aber es ist trotzdem eine naive und kindliche Furcht, die lunge nicht so beredt ist wie die Ahnung von dem Entsetzen des Gorgonenhauptes, das Homer erweckt, ohne es aus der Tiefe des Hades heraufzurufen. Die künstlerische Phantasie hat noch keinen Ausdruck gefunden oder sich eines solchen erinnert, der in Wirklichkeit die Seele mit dem grossesten Entsetzen packt, wie ihn z. B. Dürer in der Teufeisfigur auf dem Kupferstich: -Ritter, Tod und Teufel» gegeben hat. Sie sammelt nur, gleichsam nach einem Rezept, die Züge, die das Fürchterliche bezeichnen und über- treibt sie so stark, wie es der Platz der Maske gestattet; sie geht davon aus, dass je grösser der aufgerissene Mund ist, um so grösser auch die Angst sein* muss. (Vergl. den Teufel des Mittelalters).

Aber von der archaischen Kunst, zu der die Maske gehört, kann man ja über- haupt keine Beredsamkeit in der Behandlung des Gesichtsausdruckes erwarten. Sie verleiht eigentlich nur einem einzelnen Gefühl Ausdruck : einem gewissen Stolz und Selbstbewusstsein, dem Gefühl obenauf zu sein. Diesen Ausdruck erkennt man auch in der Gorgonenmaskc wieder, nur ist er bis zum Hohn übertrieben und hat einen mehr angreifenden Charakter erhalten. Das allgemeine Kennzeichen für die Köpfe des archaischen Stils, dass sich die Linien des Gesichts, namentlich der Augen und des Mundes schräge nach aussen hin aufwärts ziehen, trifft auch hier zu; aber das ge- wöhnliche Lächeln ist zu einem triumphierenden, gierigen Grinsen geworden, indem die Winkel des breiten Mundes an beiden Seiten stark in die Höhe gezogen sind, wo sie dann mit einem konventionellen, fast ornamentalen Schwung abgerundet sind. Und wie z. B. die Helden in der Giebelgruppe des Aeginalempels lächeln, sie mögen siegen oder fallen, so bewahrt auch die Medusa ihren gierigen, aggressiven Ausdruck ganz unverändert selbst in dem Augenblick, wo ihr der Kopf abgeschnitten wird, wofür abermals die Metope aus Selinunt als Beleg dienen kann. Da ist nicht der ge- ringste Ausdruck von Leiden  : Der Ausdruck hierfür kommt erst Jahrhunderte später.

Wenn man von «einer abweichenden Form der Sage* redet, nach welcher die Medusa nicht hässlich, sondern im Gegenteil sehr schön war, und die erste Spur hiervon bei Pindar findet — < Medusa mit den schönen Wangen» (Pyth. 12, 28) — so muss dies genau genommen nicht so aufgefasst werden, dass eine Zeit kam — und dass es ungefähr die Zeit Pindars, die erste Hälfte des fünften Jahrhunderts gewesen ist, stimmt in jeder Beziehung mit der historischen Entwicklung überein, — wo man sich durchaus nicht mehr an der alten Karikatur genügen lassen wollte. Die Maske, so wie sie von der archaischen Kunst ausgebildet war, ist sicher nicht mit einem Schlage ausser Benutzung gekommen, überhaupt wohl nie: sie ist immer mehr in heraldischer oder ornamentaler Weise angewendet worden, z. B. auch von Phidias auf dem Schild der Athene Parlhenos' : 1 trotzdem aber Hess sie sich zu wenig mit dem Stil


1 Vcrgl. den von Conzc hervorgehobenen MarmorBChild im britischen Museum, der eine Nach-


- 119 -


und Geschmack des neueren plastischen Stils vereinigen, um auf die Dauer als Vor- stellung von einer Frau aus der Welt des Mythus gellen zu können. Man musste sie mit dem Auge des Glaubens sehen, die Phantasie musste das ihre dazu tun, wenn sie Respekt, geschweige denn Entsetzen einflössen sollte; und es lag sehr nahe, dass eine neuere Zeit sie lächerlich fand. Es ist sogar auffallend, wie viel sie mit der komischen Theatermaske gemein hat, wie wir diese aus vielen antiken Monumenten kennen : der grinsende Mund ist auf beiden gleichgebildet : nur die Hauzähne und die ausgestreckte Zunge finden wir natürlich nicht auf der Maske Thaliens. Die Meduse aber gehört ja sehr viel mehr der Tragödie als der Komödie an.

Es unterliegt wohl kaum einem Zweifel, dass spätestens in der Periode um das Jahr 400 die Vorstellung von der Medusa auch in der Kunst in den allgemein herrschenden, sehr einförmigen Idealismus übergegangen ist, obwohl, soweit es mir bekannt ist, keine bestimmten originalen Monumente aus dieser Periode als Beweis hierfür angeführt werden können. Sie ist wohl kaum eine häufig dargestellte Figur gewesen, ebenso wenig wie es der Teufel in der höchsten italienischen Kunst war. Mag es nun etwas früher oder etwas später gewesen sein, eines steht fest, d i e Medusa wurde schön, ward teilhaftig an der höchsten Idealität der Kunst und verharrte darin. Aber damit ist ja eine ganz wesentliche Abweichung von der älteren Auffassung gegeben. Man entwickelte die psychologische Andeutung, die in der alten Maske gegeben war, nicht weiter; die Entwicklung bestand nicht darin, dass man ihrem schreckenerregenden, übermütig höhnischen Charakter einen bessern, wahreren, vollkommeneren Ausdruck gab. Man lenkte von dieser Richtung ab und stellte vielmehr einen feierlichen Ernst in schönen, regelmässigen Formen dar, die naturgetreuer waren als die der alten Maske. Schönheil ver- ursacht keinen Schrecken und stösst nicht ab: sie erregt Verwunderung und sie imponiert, namentlich in der älteren Zeit, wo die Schönheit strenge Formen halte. Naturtreue beruht auf dem vertraulichen Eindringen der Kunst in die Aufgabe; je mehr sie die Vorstellung durchkreuzt, um so mehr setzt sie voraus, dass die Kunst dem was sie darstellen will, ruhig ins Auge sehen, es verstehen und mitempfinden kann. Die Gorgone war kein isoliertes Phänomen mehr. Wenn die entwickelte Kunst wirklich das Grauenerwcekendc in das Bild selber hineinlegen will, so dass es darin eingeschlossen ist und ohne Hille alter Märchen daraus spricht, so muss sie sich mit äussern und innern Erfahrungen und Studien rüsten. Aber es währte sicher noch eine geraume Zeit, ehe man so weit war, einen grausenerweckenden Ausdruck in dieser neuen Bedeutung von der Mediisenmaske zu fordern : vorläufig war der Idea- lismus ruhig und halte einen strengeren, ethischen Charakter.

Eine berühmte antike Marmor-Maske, die «Rondaninische Medusa, (in der Glyptothek in München) scheint wohl in einer weil späteren Zeil ausgeführt zu sein r,g.u. und auch nicht nach einem Vorbilde, das bis in das fünfte Jahrhundert zurück-

bildnng von dem der Athen«  Parthcnos ist. Das Gorgonenhaupt ist dort offenbar in älterem Stil gehalten: eine grossartige plastische Warze in der ganzen Komposition. Abbildung in der Arch. Zeitung 1856, Taf. 1%.



— 120 —


reicht; doch deutet die strenge Idealität der Formen auf ein ursprüngliches Vorbild, das nicht sonderlich jünger ist. Dass diese Maske Medusa darstellt, ist ganz sicher: da sind Flügel aus dem Scheitel heraus, Schlangen im Haar u. s. w. Aber wenn man von diesen Attributen absieht, die den Namen angeben, wenn man seiner Phantasie nicht gestattet, den Vorstellungen zu folgen, die durch den Namen geweckt werden, sondern sich strenge an das hält,, was die Kunst in der Form und dem Ausdruck des Gesichts gegeben hat, so erscheint es mir sehr zweifelhaft, ob darin wirklich etwas für die Medusa besonders Eigentümliches liegt. Es sei denn der halb- geöffnete Mund, zwischen dessen Lippen man die Zähne schimmern sieht, — eine Erinnerung an den weil aufgesperrten Mund der Maske, aber edel und naturgetreu in der Form, ernsthaft im Ausdruck. Ich wage nicht, bestimmt zu bestreiten, ob sich der Künstler den Kopf als den abgehauenen gedacht hat, der das Leben durch die Oeffnung des Mundes aushaucht, und dessen Züge im Tode erstarren, wie das von andern, die diesen Kopf erwähnen, allgemein aufgefasst wird : zuweilen glaube ich auch, etwas derartiges zu sehen, in der Regel aber sage ich mir selber, dass das eine Illusion ist. Jedenfalls hat der allgemeine Idealismus derartig die Oberhand in der Darstellung dieses Kopfes gehabt, dass man in bezug auf das mehr Spezielle niemals eine recht deutliche Antwort von ihm erhält.

Dahingegen hat man in verschiedenen schönen Gemmen, die das Medusenhaupt im Profil (mit dem Halse) darstellen, sichre Zeugnisse von einerneuen Auffassung. Tnler ihnen sind einige, die unverkennbar den abgeschlagenen Kopf mit den Zügen des Todes darstellen: die Flügel hängen schlaff von den Schläfen herab, die Form des Gesichts ist ruhig aber starr und unbeweglich, die Augenlider sind gesenkt und Fig. 4s. eingefallen. Es ist wohl namentlich dieser geschlossene oder halbgeschlossene Bück, der Anlass zu der Profilstellung gegeben hat, die ja sonst eine bedeutende und sonderbare Abweichung von der früheren Maskenform ist. Es ist nicht mehr die Gor- gone: das Gesicht, das sich dem Beschauer gerade zuwendet, Angst und Entsetzen in seine Seele hineinstarrend: es ist die mehr objektive Erzählung des traurigen Mythus von der Medusa.1 Da sind auch Profile der lebenden Medusa, in denen das Tragische oder Dämonische in den rein seelischen Ausdruck übergegangen ist, feine plastische Dichtungen mit Andeutungen einer Seelengeschichte. Dazu gehört vor allem ein Karneol im britischen Museum/ eines der feinsten Kleinodien in der Kunst

1 Diese hier genauer besprochenen Profile befanden sich alle im britischen Museum und sind in vergrösserten Photographien nach Gipsabdrücken in der grossen photographischen Publikation dieses Museums veröffentlicht, die in Mansclls Verlag (British Museum Photographs) erschienen sind abgebildet. Die Photographien gehören leider nicht zu den am schönsten ausgeführten, doch verdienen sie volle Aufmerksamkeit ab Wiedergabc der originalen Kunstwerke, unverfälscht von der menschlichen Hand. Der grossen Lippertechcn Daktyliothek (Sammlung von Gipsabdrücken nach antiken Gemmen) fehlt in bezug auf die Medusenhäupter viel von dem Wesentlichsten ; die Sammlung des deutsch-römischen Instituts «Impronte gemmarie» teilt gar nichts mit, was auf dies Thema Beeng hätte. — Das Kip. 46. bedeutendste Bild der toten Medusa würde der grosse Marmorkopf in der Villa Ludovisi sein, wenn er mit Recht Medusa genannt wird ; aber das ist nicht wahrscheinlich. Vergl. FriederichB- Wolters: Bausteine zur Geschichte der gr. röm. Plastik, Nr. 141'.).

1 Früher in der Blacaschcn Sammlung. Mansells Photographien, Blatt 780, Nr. 2. Er darf



— 121 —


der ganzen Welt, ein entzückendes Wunder. Auch hier hat der Medusenkopf Flügel, es ist an diesem Kopf überhaupt nichts, was von Köpfung und Tod erzählt. Aber Fi*. *t dieses schöne Weib, eine Tochter aus dem Geschlecht der Götter, die mit dem feinsten, festlichsten Liebreiz geschmückt ist, verbirgt in ihrem Innern die Erinnerung an etwas, das ihr widerfahren ist, oder einen Gedanken an etwas, das ihr wider- fahren wird, etwas Bitteres. Kohlschwarzes. Der Kopf ist gesenkt, der Blick ist ge- senkt, ein ganz leichter Zug der Augenbraue, ein schmerzliches Zittern der Mund- winkel — kaum sichtbare Kräusungen auf der vollendeten Oberfläche — verraten den nagenden Wurm gegen ihren Willen; denn sie ist viel zu stolz und vornehm, um das Geheimnis ihrer Seele preiszugeben. Dergleichen scheint aus einer Zeit zu stammen, wo das Leben den Gedanken auf den Gegensatz zwischen einem glänzenden düsteren Dasein auf den Höhen des Lebens und heimlich nagenden Sorgen hinführte. Auf einer andern berühmten Gemme im selben Museum hat der Profilkopf ebenfalls rv. «h. schöne Formen, wie man sie jedoch weit eher im wirklichen Leben finden könnte  ; schon Winckelmann hat eine Vermutung über die Porträt-Aehnlichkeit des Kopfes geäussert. Es liegt sicher irgend eine persönliche A n d e u t u n g, eine Liebes- erfahrung hinter diesem Kunstwerk. Das junge Mädchen, das hier als Medusa dar- gestellt ist, hat, im Gegensatz zu allen den Medusen, von denen wir bisher gesprochen haben, gänzlich aufgelöstes Haar, die Locken schlingen sich frei und wirr um Kopf und Nacken: das passt für Medusa, deren Haar besonders schön gewesen sein soll, und es kleidet sie entzückend. Sie hat gewiss mit diesen verführerischen Locken manch einen Jüngling gefangen, der dann zu spät entdeckt hat, dass jede zweite davon eine giftige Natter ist, die aus ihrem Kopf herauswächst. Doch könnte man sich auch von dem Ausdruck in dem schönen Gesicht warnen lassen : der schlaff herabhängende «Mund und die halb gesenkten Lider sprechen von Lieblosigkeit dfts Gemütes und die ungeduldige Bewegung des Kopfes zur Seite von Grillen und Launen.1

Diese Gemmen legen Zeugnis von einer Kunst ab, die nicht nur eine vollendete Herrschaft über das Köperliche, sondern auch grosses Interesse für das Seelische besitzt : eine psychologisch reflektierte Kunst, wie sie sich in einer verfeinerten Kultur in dichtbevölkerten Städten, Millionenstädten, entwickeln konnte. Das seelische Leben hat hier eine gewisse Selbständigkeit im Verhältuis zu dem körperlichen; es ist nicht mehr die alte, naive Harmonie zwischen Seele und Körper. Und wenn man an den Inhalt des seelischen Ausdrucks denkt : den Kummer, den Lebensüberdruss, die Melancholie — wie viel weiter haben wir uns da nicht von dem ursprünglichen Ausgangspunkt entfernt!

Aus derselben späteren Periode der antiken Kunst hat man wieder eine Menge Darstellungen des Medusenhauples, gerade von vorne gesehen, (in Reliefbildern i oder doch fast ganz von vorne, wenn auch ein wenig von der Seite (in Wandgemälden


nicht verwechselt werden mit einer scheinbar bekannteren aber unendlich geringeren modernen Nachbildung, abgebildot in Uiiller-Wicsclcr : Denkm. d. alt. Kunst II, Nr.  !>I4.

1 Früher in der Stroischen und der Blascaschen Sammlung. Hansells Photographien Bl. TM, Nr. G. Müller- Wieseler, Denkmäler II, Nr.  !KW.



122 -


und einigen Reliefs!. Ks herrsch! wohl ein bedeutender Unterschied zwischen diesen Köpfen ; aber sie haben doch alle etwas Gemeinsames : die Form ist weniger leicht und fein als in den Profilgemmen, zuweilen sogar sehr schwer und massiv; und der pathetische Ausdruck ist viel stärker, viel unvor- be hallener entwickelt. Keiner von ihnen stellt die Medusa mit geschlossenen Augen oder gesenktem Blick dar ; obwohl man den Kopf meistens ohne Hals sieht, als sei er vom Körper abgeschlagen, ist er dennoch lebend, aber ein Bild der (Jual des Todesaugenblickes. Die pathetische Richtung, die so vorherrschend ist in der ganzen Kunst aus der Mitte des vierten Jahrhunderts bis zum Anfang der römischen Kaiserzeit, tritt hier in ihrer äussersten Aeusserlichkeit auf  ; die Züge, die sie in den Köpfen gezeitigt hatte, die bis auf Skopas zurückgeführt werden können, sind in den späteren Medusenhäuptern so stark übertrieben, wie dies nur möglich war, ohne dass die Schönheit und der Ernst darunter litten. Die Stirnhaut ist schmerzlich ver- zerrt, so dass die Braue eine unruhige Linie bildet, am höchsten nach der Nase zu in die Höhe gezogen, dann wieder gesenkt und nach den Schläfen zu wieder in die Höhe gezogen. Das Auge, das tief unter dem Schatten des Stirnbeins liegt, ist gross und offen, sogar weit aufgerissen, hat aber einen Blick, der ebenso dunkel und un- menschlich ist, wie er auf der archaischen Maske glotzend und stechend war. Und im Gegensalz zu der alten Maske sind alle Linien des Gesichts nach den Seiten zu gesenkt, zuweilen sehr übertrieben, wie bei der tragischen Maske. Das Haar um- wogt das Gesicht wild und ungeordnet.

Eine vorzügliche, aber leider nicht ganz erhaltene Gemme aus der Thorwaldscn- schen Sammlung zeigt deutlich alle diese Züge, aber noch mit einer schönen und fein künstlerischen Mässigung. Dahingegen ist das Belief des Gorgonenhauptes, das auf der Aegis angebracht ist, die die untere Seite der präehligen Sardonyxschale im Museum zu Neapel (Tazza Farnesel schmückt, eine Arbeit, die direkt auf den Effekt ausgeht und ihn auch erreicht, wenn auch mit etwas manirierlen Mitteln. Hier ist das Haar ungeheuer stark und wild aufgelöst — eine technische Virtuosen- arbeit ersten Ranges, und ein sehr wirksames Akkompagnement zu dem Ausdruck im Gesieht selber, der das Bild einer grauenerfüllten, verzweifelten Seele gibt, einer Seele in der höchsten Angst und Not. Vom Standpunkt der allen Zeit aus würde man gesagt haben, dies sei kein Medusenhaupt, sondern vielmehr ein Gesicht, das in das Medusen hau pt hineinsieht. Aber die spätere Zeit würde dann ihre Auffassung vertreten haben, indem sie geltend machte, dass das tiefste Ent- setzen weit besser erregt wird durch die menschliche Sympathie bei dem Anblick dessen, das selber von Grauen und Entsetzen erfüllt ist, als durch Bilder von dem Drohenden und Angreifenden: Schreckbilder und schwarze Männer wendet man bei Kindern oder naiven Seelen an, die sich erschrecken lassen  : für den aber, der die Erfahrung des Lebens besitzt, ist das Bild von dem Schrecken des Todes selber das, was den tiefsten Eindruck macht, die bitterste Schale, die das Leben bietet.'

' Real Musoo Borbonico XII, Taf. 47: eine hübsche, nette, aber leider äusserst Haue und matte Abbildung.



— 123 -


Die Medusenköpfe auf den Wandgemälden aus den vom Vesuv begrabenen Städten haben alle dieselbe Auffassung. Die bedeutendsten unter ihnen sind einer aus Pompeji und einer aus Stabiae.1 In bezug auf die plastische Formation gleichen sie sehr der Maske auf der Tazza Farnese; an ihnen allen macht sich der für die Diadochenperiode eigentümliche massive Stil bemerkbar mit vollen Wangen, kleinem Mund, sehr üppigen Lippen und kurzer Nase (lotrecht gemessen). Der Kopf aus Pompeji ist sogar übertrieben massiv im Stil wie ein Herkuleskopf: dem entspricht auch da«  energische Drehen des Blickes, der stark nach der Seite sieht und den Beschauer sicher und fest trifft. Unter den späteren Medusenhäuptern ist dies frei- lich das, was am meisten an die ältere, aggressive Auffassung von Medusa erinnert , doch gehört es ganz der jüngeren an: Der Ausdruck ist finster wie die Nacht, der ganze Stil des Kopfes ist auf das Pathetische angelegt. Weil beachtenswerter ist jedoch der Kopf aus Stabiae, eines der eigentümlichsten und geistvollsten Glieder in der ganzen Reihe, trotz all der leichten, dekorativen Flüchtigkeit des Pinsels ein wirklich geniales Werk. Es mag insofern wohl etwas für die von Heibig angeführte Mutmassung sprechen, dass dieser Typus auf ein Original eines berühmten Malers Timomachos zurückweist, der in seinem Bilde der Gorgo ganz besonders erfolgreich gewesen sein soll, obwohl sich natürlich nichts in bezug auf eine solche Kombination beweisen lässt. Ganz ohne jegliche voraussetzenden mythologischen Ansichten kann man aus diesem Medusenbild selber den Eindruck erhalten, dass die Phantasie des Künstlers durch das melancholische Mondgesicht zwischen dunklen, zerrissenen Wolken inspiriert worden ist, die sich vor seinem Auge in das Antlitz umrahmende Locken und Schlangen verwandelt haben. Es ist wohl als der abgeschlagene, gleichsam hinge- worfene Kopf im letzten Augenblicke vor dem Tode gedacht. Der Blick ist stark auf- wärts gewandt, hoffnungslos und verzweifelt, zugleich aber mit einer gekränkten, strafenden, vorwurfsvollen Anklage gegen die Uebermacht, den Mörder oder die Götter, die ihm den Sieg verliehen haben, diese grausamen, neidischen Plagegeister, die das Leben so finster machen, so finster für die, so auf der Erde wandeln. Hierin liegt eine Verwandtschaft mit dem Ausdruck von andern Werken der späteren antiken Periode : Niobe, Laokoon u. s. w..^überhaupt der Gestalten, die die Ueber- macht der Götter fühlen müssen.

Ein Kückblick auf die ganze künstlerische Entwicklung des Motivcs zeigt also den Fortschritt von einem naiven und eigentlich wenig ausdrucksvollen Zerrbild zu dem (Jefühl für ideale Schönheit, Form und Ausdruck der Natur — und allmählich zu dem feinen, volltönenden, mächtig ergreifenden Ausdruck. Fragt man aber nach dem Inhalt des Ausdruckes, so zeigt der Uebergang sich als eine Drehung, oder viel mehr eine halbe Drehung von dem höchstgestimmten Gefühl in der alten Maske durch ruhi-


1 Der Kopf ans Pompeji (Heibig, Wandgemälde, Nr. 117:t> seheint auf kein bestimmtes Haus zurückzuführen zu sein. Er ist in grossem Massstab in Ternite's Werk : Wandgemälde aus Pompeji und Berkuianum, neue Folge, Heft II, Tat X lithographiert. Der Kopf aus Stabiae (Hclbig Nr. 1172) ist in einem grossen Farbendruck bei Ternitc, Taf. IX wiedergegeben. Sie befinden sich beide in Neapel.



124 -


geren Ernst zu Kummer und Schmerz und binab zu dem am tiefsten gestimmten Gefühl, Verzweiflung und Todesangst, — dem diametralen Gegensatz des Ausgangs- punktes. Und wenn die Rede von dem Eindruck ist, den der Beschauer von dem Bilde erhält, so ist das ein Uebergang von Gespensterfurcht und Angst durch ein befreiendes Lachen zu einem Staunen Aber die Schönheit, woran sich dann allmählich wieder ein erkennendes, ahnendes Interesse für das Seelenleben und ein tief ergriffenes Mitgefühl knüpft. In der alten Zeit empfindet der Beschauer das Gegenteil von dem Kunstwerk, in der späteren Zeit dasselbe wie das Kunstwerk. Dass dies wirklieh eine Geschichte aus der ganzen Entwicklung des antiken Seelenlebens ist, wird nicht nur durch die übrige Kunst, die in allen Punkten Parallelen bietet, sondern auch dadurch bestätigt, dass die Aufgabe, das Programm der Kunst in der Medusen- maske durch den Verlauf der ganzen Geschichte derselbe ist, insoweit als der mytho- logische Name die Kontinuität angibt : auf denselben Platz, an den man ehedem das graueneinflössende Schreckbild setzte, stellt man allmählich die Mitleid erregende Ver- zweiflung. Aber eine Entwicklung, die in ein gemeinsames Gefühl der Verzweiflung und der Anklage gegen die Gölter ausläuft, bedarf der Erneuerung, und diese Er- neuerung kam von dem Sohn des Gottes, der ursprünglich das tötende Antlitz zur Schau gel ragen hatte.



DAS MITTELALTER.


I


DIE ANTIPATHIE DES JÜDISCHEN VOLKES GEGEN BILDER UND IHRE WIRKUNG ALF DIE GESCHICHTE DER KUNST.

Während im übrigen in den Mittelmeerländern — Griechenland, Klein-Asien, Syrien, Aegypten, Italien — sich allmählich im späteren Altertum eine so ungeheure Menge von Darstellungen der menschlichen Gestalt angesammelt hatten, gab es ein einziges Volk, das in seinen Städten und seinem Lande durchaus nicht dergleichen Bilder dulden wollte, nämlich das j ü d i s c h e V o I k. Es duldete ebenso wenig einen Maler oder Bildhauer in seiner eigenen Mitte, wie dass aus andren Ländern irgend ein Menschenbild in das Land eingeführt wurde. Das Eigentümliche hierin besteht mehr darin, was das Volk wollte, als darin, was es faktisch durch die Ueber- macht durchsetzen konnte. Aber es konnte doch viel durchsetzen: wenn ein Rei- sender zu Anfang unserer Zeitrechnung glücklich in die Tore Jerusalems hineinge- langt war, würde er, bei einem Verkehr auf Strassen und Märkten oder in den Häusern der Juden in Erstaunen geraten sein über einen so völligen Mangel an Abbildungen der menschlichen Gestalt : er würde kaum eine Puppe für ein Kind gefunden haben. Die einzigen Menschenbilder, die die Juden in ihrem Verkehr zu dulden gezwungen waren, bestanden in den Kaiserporträts auf den römischen Münzen; aber die ver- ursachten ihnen ja bekanntlich auch grosse Gewissensbisse ; auf den Münzen des eigenen Landes befand sich keine Darstellung des Menschen. Innerhalb der Mauern der Paläste wenig nationalgesinnter Herrscher hätte man z. B. Familienporträts finden können, aber diese waren nicht für die Augen des Volkes bestimmt.

Dies negative Verhältnis zu dem Interesse, dessen Geschichte wir hier durch- nehmen, diese reine Null hat bei all seiner Armut und Einfachheit eine Bedeutung, die dem unendlichen, positiven Reichtum der andren Völker, namentlich der Griechen wohl die Stange hält. Es kam ja nicht von einem Mangel an Talent bei den Juden; wenn sie auch keine besondere Begabung für die bildende Kunst besassen, so hätten sie doch sicher ebenso gut wie andere semitische Völker etwas leisten können, wenn sie nur gewollt hätten. Nein, es handelt sich hier um einen bewussten und ge-



— 128 —

wollten Einspruch gegen die Bilderprodukiion der andern Völker, insofern als das Bild die menschliche Figur darstellte, denn darauf liegt das ganze Gewicht. Der allgemeine Ausdruck, Bilderhass, trifft nicht den Kern der Sache; die Monumente des jüdischen Volkes wie auch die Berichte der Geschichte zeigen, dass man nichts gegen Abbildungen von Pflanzenformen und von toten Gegenständen, mochten sie wirklich oder symbolisch sein, einzuwenden hatte. Dergleichen Abbildungen gab es in Jerusalem in schöner Ausführung. Der Unwille erhob sich erst gegen Bilder von Tieren und Menschen, und ganz unversönlich war er nur gegen das Men- schenbildnis.

Und dieser Punkt war für das jüdische Volk der zugespitztesle Streitpunkt aller ihrer Händel mit den benachbarten Völkern.

Die Juden waren wohl überhaupt Feinde von aller Art Kunst und Leibes- übungen, die darauf ausgingen, den Körper des Menschen zur Schau zu stellen; aber unter andern Formen konnten sie sich doch zur Not dahinein finden, nur nicht in die der Bilder-Kunst. Herodes — der der Grosse genannt wird — . der ja im Ganzen ein Anhänger der weltlichen, griechisch-römischen Kultur war, wollte gern Gefallen an athletischen Kämpfen, Girkusbelustigungen, theatralischem Tanz und Schauspiel in ihnen wecken: es gelang wohl nicht, aber es führte auch nicht zu Zusammenstössen. Selbst die grausamen Spiele des Amphitheaters erregten in ihnen nicht das Aergernis wie der blosse Verdacht, dass er Menschenbilder aufstellen wollte, wenn sie dem Blick auch durch Waffendekorationen verborgen waren — das war für sie ein ganz unüberwindlicher Abscheu.1


i Josephus: Anüqa. Jad. XV X. «Herodes wich mehr und mehr von den guten, von den Vätern ererbten Sitten und Einrichtungen ab. und verrückte allmählich die ganze althergebrachte Ordnung, die unangetastet hatte bestehen müssen. l>a nun so alles, was das Volk in früheren Zeiten r.u Zucht und Frömmigkeit angehalten hatte, allmählich bei Seite gesetzt wurde, so konnte es nicht ermangeln, dass sich böse Dinge in Haufen bei unß eindrängten. Erstens führte Herodes zn Ehren des römischen Kaisers alle fünf Jahre Kampfspielc ein  ; er erbaute in Jerusalem ein Theater und auf der Ebene vor Jerusalem ein grosses Amphitheater; er liess sie beide mit aller Pracht ausführen, aber sie standen in schneidendem Widerspruch zu den Sitten der Juden, die von der Vater Zeiten her nichts vom Schauspiel kannten. Auch die fünfjährigen Spiele liess er mit der grösst- möglichen Pracht foiern ; er liess die Nachbarvölker zur Teilnahme daran einladen und die Zu- schauer aus allen Gegenden herbeirufen. Oelockt durch die HofTnung, die ausgesetzten Preise und Ehrenbezeugungen zu gewinnen, strömten nun Wettkämpfer und Schauspieler von allen Enden herbei, namentlich in Wettkämpfen sehr geübte Virtuosen; auch für Musiker setzte er grosse Preisbelohnnngen ans, um die Ausgezeichnetsten zur Teilnahme an der Konkurrenz zu bewegen  ; ebenso Siegespreise für Wettfahrten mit zwei- und einspännigen Wagen, kurz, er bot alle Mittel auf, um den Spielen Pracht und Glanz zn verleihen.

Auch das Theater selbst war auf das Glänzendste ausgeschmückt mit Inschriften zu Ehren des Kaisers auf den Ringmauern und Trophäen von den Völkern, die er sich im Kriege unterworfen haue, er hatte das alles aus reinem Silber und Gold ausführen lassen. Da waren glänzende Kostüme, die von Edelsteinen strotzten, da waren Löwen und viele andere wilde Tiere, die durch ihre Seltenheit und Stärke Aufsehen erregten: die liess man teils gegen einander, teils mit zum Tode verurteilten Menschen kämpfen. All diese Pracht war wohl ein Gegenstand der Bewun- derung für Fremde, die Gefallen fanden an dem Anblick so prachtvoller Kämpfe ; aber die Kinder des Landes selber konnten in dem, was die andern so hoch schätzten, nur eine Vernichtung aller Sitten und Gebräuche sehen. Es erschien ihnen geradezu als Grausamkeit den Tieren Menschen



- 129 -


Es isl unmöglich, die Vorstellung von ihrem hartnäckigen Fanatismus in diesem Funkt zu übertreiben ; was die Geschichte davon berichtet, scheint bis aufs Acusserste übertrieben, kann aber doch nicht mit Fug bezweifelt werden. Die römischen Landes- häuptlinge und Heerführer, die ja überall Bilder des regierenden Kaisers mit sich führten und sie in verschiedenen Formen in den unterdrückten Ländern und Städten aufstellten, stiessen, wenn sie mil dergleichen nach Palästina kamen, bei dem kleinen und politisch schwachen Volk auf einen Widerstand, der fast den Charakter annahm, als wolle das Volk Selbstmord begehen oder sein eigenes Land zerstören, falls der Machthaber nicht nachgab. Sonst hatten sich die .luden mit dem Gedanken an die römische Überhoheit ausgesöhnt; sie betrachteten nicht einmal das fremde llerrschcr- volk als Feinde ihrer Religion, sie emplingen Gaben für den Tempel von ihnen und opferten zwei Mal täglich Schlachtopfer für den Kaiser und das Gedeihen des rö- mischen Volkes — aber Menschenbilder, niemals! Und wie sehr auch die Horner ihre eigene Uebermacht fühlen mussten, imponierten die geistigen Waffen, der Ein- druck eines unbeugsamen und zu jedem Leiden bereiten Willen der Bezwungenen ihren Beamten derartig, dass sie sich ein Mal über das andere entwaffnen Hessen. '

Mag ein solcher Fanatismus noch so unbegreiflich sein, es zeigt auf alle Fälle, dass es sich hier nicht um etwas handelt, was man als Kleinigkeit ansah, sondern


hinzuwerfen, um dadurch andern Menschen ein angenehme» Schauspiel zu bereiten, und nicht weniger gottlos erschien es ihnen, durch dergleichen fremde Gebräuche die Sitten des Landes er- schüttern xu wollen. Niehls aber verletzte ihre (iefiihle so sehr wie die Trophäen  ; über die waren sie sehr erbost, in dem Glauben, es seien Bilder, die von den Waffen umschlossen würden, da es nämlich nicht mit ihren angestammten Mitten im Einklang stand, dergleichen Dinge zu sehen.

Herodes, der wohl merkte, dass eine Empörung im Schwange war, hielt es jedoch nicht für angebracht, Gewalt zu gebrauchen  ; er versuchte, sie durch Unterredungen milde zu stimmen und ihre religiösen Sorgen zu erleichtern. Aber es gelang ihm nicht. Aus Verdruss über das. worin er sich ihrer Ansicht nach versündigte, riefen sie einstimmig, dass wenn sie auch meinten, alles anderedulden zu müssen, sie doch keine Menschenbilder in d e r S t a d t d u 1 d e n w o l 1 1 e n. xa;. -dvea foxsisv v.otcu h.t( sipstv p.x'Jv«; dvttpmsmv iv TT, xoiut) wobeisiesieh anfdie Trophäen bezogen. Es stimmte nämlich nicht mit ihrer von den Vätern ererbten Sitte überein. Herodes. der sah, wie empört sie waren, und dass sie sich nioht so leicht beruhigen würden, wenn er sie nicht zufrieden stellte, rief die An- gesehensten unter ihnen zu sich, führte sie in das Theater und fragte, indem er auf die Trophäen zeigte, was sie denn meinten, dass dies sei. Sie riefen, es seien Menschenbilder. Da erteilt er Befehl, die Trophäen ihres an ihnen angebrachten Schmuckes zn entkleiden und zeigt ihnen das nackte Holzgestell. Kaum waren sie entkleidet, als das Lachen ihre Besorgnis gänzlich vertrieb, indem sie auch schon früher daran gewöhnt waren, Spott mit künstlich aufgeputzten Bildern zu treiben.»

1 Sehr bemerkenswert ist es. dassder völlig bilderlosc Kultus eines einzigen Gottes offenbar eine gewisse Sympathie beiden Römern erweckte, die ziemlich früh schon der anthropomorphistischen Wirksamkeit, die die Griechen in so überschwenglichem Masse entfaltet hatten, überdrüssig geworden /.n sein scheinen. Au^ustus soll von Bewunderung und Ehrfurcht ergriffen gewesen sein als er von dem Tempel in Jerusalem hörte, «in dem sich kein von Menschenhand ausgeführtes Bildnis, keine sichtbare Abbildung der unsichtbaren Natur befand». (Philo: legatio ad Oajum). Wo Tacitus (Hist. V) über dasselbe Thema redet, klingt eine gewisse unfreiwillige Bewunderung durch seine Worte: «Den .luden gelten alle für gottlos, die Götterbilder in Menschengestalt aus vergänglichem Stoff machen. Ihre Gottheit ist die höchste and ewig und ebenso unveränderlich wie unvergänglich ; deshalb befinden sich in ihren Orten keine Bilder, viel weniger uoch in ihren Tempeln. Keinem König erzeigen sie diese Schmeichelei,


- 130 -


um eine Lebensfrage. Der Abscheu der Juden vor der künstlerischen Darstellung des Menschen wirft ein eigentümliches Licht auf deren ganze Bedeutung für das Altertum. Es ist deswegen von Wichtigkeit, sich klar darüber zu werden, worauf dieser Ab- scheu eigentlich beruhte und worauf er hinausging. Dem kann man auch bis zu einem gewissen Grade auf die Spur kommen, doch wird man beständig daran er- innert, dass es sich schliesslich um eine Volksstimmung handelt, die, wie eingewurzelt sie auch sein mag, sich doch nicht darauf einlässt, eine erschöpfende Erklärung zu geben, um eine Vorstellung, die das Volk nun einmal in sein Fleisch und Blut auf- genommen hatte, und die bewirkte, dass das Menschenbild einen beinahe physischen Widerwillen bei ihm hervorrief. Dies Volk lebte ja damals in einer ewig erregten, lieberhaften Stimmung.

Hier wie überall beriefen sich die Juden auf das Gesetz und die Sitten der Väter. Das Gesetz Mose hatte eine bildliche Darstellung sowohl des Mannes und der Frau als auch der Tiere auf der Erde, der Vögel unter dem Himmel, des Gewürms der Erde und der Fische des Meeres verboten. Mit diesem Verbot bezieht sich das Gesetz ausdrücklich auf Bilder, die zum religiösen Kultus, also zur Ab- götterei aufgestellt werden.1

Man erinnert sich hierbei daran, dass die Juden in der älteren Zeit, als sie sich namentlich von Aegypten und den asiatischen Völkern bedroht fühlten, ebenso gut die Götterbilder in Form von Tieren wie von Menschen kannten. Wenn sie selber ursprünglich Gott ohne bildliche Gestalt gedient hatten, so war das nichts ihnen besonders Eigentümliches; auch in andern Volksreligionen kann eine vorhistorische Entwicklungsstufe nachgewiesen oder geahnt werden, in der man keine Götterbilder kanute. Aber infolge des brennenden Eifers für die Reinheit ihrer nationalen Keligion, die in ihrem Charakter lag — jedenfalls wie er von ihren hervorragendsten Führern


keinem Fürsten diese Ehre.» Auch den bilderlosen Kultus der Germanen erwähnt Tacitus mit Ehr- furcht und Sympathie. Sowohl er als auch Plinius  ;H. N. 12, 3) scheint das Schweigen der Natur in den grossen Wäldern feierlicher und anbetungswürdiger zu linden als Bilder, die von Gold und Elfenbein strahlen.

i (2 Mose 20, 3 ff.) Du sollst keine andern Götter neben mir haben, du sollst dir kein Bildnis noch irgend ein Gleichnis machen, weder des, das oben im Himmel, noch des, das unten auf Erden, oder des. was im Wasser unter der Erde ist. Bete sie nicht an und diene ihnen nicht, denn ich. der Herr dein Gott, bin ein eifriger Gott, der da heimsuchet der Väter MisBetat etc. (3 Mose 2ti, 1) Ihr sollt euch keinen Götzen machen noch Bild und sollt euch keine Säule aufrichten, noch einen Malstein setzen in eurem Lande, dass ihr derer anbetet, denn ich bin der Herr euer Gott.

l"> Mose 4, 15} Moses redet zum Volke : So bewahret nun eure Seelen wohl, denn ihr habt kein Gleichnis gesehen des Tages, da der Herr mit eueh redete aus dem Feuer auf dem Berge Horeb. Auf dass Ihr euch nicht verderbet und machet euch irgend ein Bild, das gleich sei einem Mann oder Weib, oder Vieh auf Erden oder Vogel unter dem Himmel oder Gewfirm auf dem Laude oder Fisch im Wasser unter der Erde. l>ass du auch nicht deine Augen aufhebest gen Himmel and sehest die Sonne und den Mond und die Sterne, das ganze Heer des Himmels und fallest ab and betest sie an und dienest ihnen u. s. w.

(5 Mose 27, 15) verflucht sei, wer einen Götzen oder gegossen Bild macht, einen Greuel des Herrn, ein Werk der Werkmeister Hände uud setzt es verborgen.

(Psalm  !>", 7) Schämen müssen sich alle, die den Bildern dienen und sich der Götzen rühmen Betet ihn an, alle Götter 1



- 131 —

repräsenliert wurde — und von ihrem Schicksal entwickelt wurde, fassten sie ihren (iott als einen eifrigen Gott auf, der keinen andern neben sich duldete. Und trotz häufigen und vielfältigen Abfalls im Einzelnen, trotz einer Menge Götzenbilder in Gestalt von Tieren und Menschen, wurde die Tradition von dem einen, bilderlosen Gott doch als heiliges Erbe bewahrt, das die Selbständigkeit des Volkes schirmen sollte.

Je mehr dies Volk unter den Uebergriffen der Mächtigeren leiden musste, um so höher stiegen ihre Gedanken über sich selbst als das auserkorene Volk des Herrn, das die grossesten Verheissungen hatte. Im selben Verhältnis stieg auch ihr Hass gegen Bilder; aber der Hass wandte nun seinen Stachel ganz überwiegend gegen das Menschenbdd. Was wir von den Juden zu Herodes' Zeit erfahren, zeigt freilich, dass die besonders Gesetzkundigen im Volk die Erinnerung wach hielten, dass auch Tierbildnisse verboten waren ; aber es zeigt zugleich, dass die grosse Masse des Volkes diesen Teil des Verbotes so sehr vergessen hatte, dass Merodes unange- tastet einen grossen Adler von Gold — dun Adler Jupiters — über das Eingangstor des Tempels in Jerusalem setzen konnte, und dass er dort stehen bleiben durfte, bis Herodes im Sterben lag. Dagegen bedurfte das Volk keiner Ermahnung, um sofort im Menschenbilde seinen ärgsten Feind zu sehen, selbst wenn es nicht auf heiligem Boden war; und wer das Volk kannte, bot ihm auch keine Menschenbilder. Dies st i mint damit überein, dass die Juden in dieser Periode faktisch nicht sonderlich von einem Götzendienst mit Tiergestalten von seiten der Völker bedroht wurden, deren Uebermacht sie jetzt fühlen mussten, namentlich von den Griechen und Hörnern. Dahingegen hatten sie ein so entsetzliches Attentat auf das eigentliche Herz in ihrer Keligion erleben müssen, dass ein fremder Herrscher, der syrische Antiochos Epiphanes, das Bild des olympischen Zeus an den Platz des unsichtbaren Jehova im Tempel zu Jerusalem hatte stellen wollen, und das vergassen sie nicht. Allmählich wurde es auch ganz allgemein unter dem Volk des Westens, wirkliche, sogar noch lebende Menschen als Götter anzubeten und ihnen Tempel, Bilder und Altäre zu errichten. Die göttliche Ehre, auf die im entlegeneren Altertum z. B. die Pharaonen Aegyptens Anspruch erhoben hatten, widerfuhr jetzt mancherlei Menschen, namentlich römischen Machthaber!!, ja sogar den Verwandten und Günstlingen.1 Ausserdem nahm man an,

' Wie die Juden namentlich über die Sitte, wirkliche Menschen — lebende oder tote — für Götter zu erklären <consecratio, Apotheose) dachten, kann man aas dem apokryphen Buch der Weisheit Kap. 14, 1~> ersehen, das offenbar hierauf Bezug nimmt. Ein Vater, - so nisonniert der jüdische Schriftsteller — verlor seineu Sohn durch einen plötzlichen Tod. Im Schmerz über Beinen Verlust liess er ein Bild des Sohne«  machen und ehrte nun einen loten Menschen wie einen Goit und gebot seineu Untergebenen heimliche Gebräuche und Opfer zu vollziehen. Die gottlose Sitte, die überhand nahm, wurde allmählich als Oesetz gehalten, und die geschnitzten Bilder wurden auf Befehl des Herrschers angebetet. • Dass hier der Jude wirklich deu Gedankengang des Beiden trifft, ersieht man aus dem, was Cicero, als er seine Tochter Tullia verlor, au Ätticus schreibt (an- geführt von Gastou Bossier, la religion romaiue I, 1*74): «Wenn jemand der göttlichen Elite würdig gewesen ist, so bist du es, Tullia. Diese Belohnung kommt dir zu und ich will sie dir geben. Ich will, dass die beste und gebildetste von allen Frauen, mit der Zustimmung der unsterb- lichen Götter, Platz in ihrer Versammlung nehme, und dass sie nach aller Ansicht als Göttin betrachtet werden soU.» Er will ihr einen Tempel an einem Ort errichten, wohiu viele Leute



132


dass Cäsar und Augustus nach ihrem Tode in die Reihen der Götter aufgenommen waren, und Caligula wollte noch bei Lebzeiten im ganzen Reiche, auch in Jerusalem, als Gott verehrt werden. Dergleichen konnte wohl Jehovas Zorn erregen.

Da so die .luden infolge der Gebote ihrer Religion von Generation zu Gene- ration in bewusstem Gegensatz zu den benachbarten Völkern ohne Bilder gelebt hatten, war dies zu einem Zug ihres ganzen psychischen Wesens geworden. Sie hatten sich mit besonderer Rücksicht auf die Götterbilder an eine ironische Be- trachtung der Bildnerei von ihrer Kehrseite gewöhnt: der tote Stoff, aus dem das Bild besteht, und die mechanische Ausführung desselben, wohingegen sie das schöne Resultat der idealisierenden Wirksamkeit als boshafte Erfindung betrachteten, als Bemäntelung der Wahrheit, als Verlockung der Fleischeslust, aber in allem andern als unwesentlich und unwirklich, tot und machtlos. Sie selber rühmten sich, un- mittelbar auf die Erkenntnis des wirklichen Wesens des Dinges auszugehen. Ja, die Vielgötterei war in ihren Augen nicht einmal das Schlimmste : dass der Mensch wirk- liche Naturkräfte: das Feuer, das Wetter, die Luft, die Sterne, das Wasser, die Sonne, den Mond als Götter anbetete, — das war wohl eine Torheit, indem man den Blick auf die Schönheit und Grösse der erschaffenen Dinge richtete, statt auf den Schöpfer selbst: aber das verdiente doch nur einen geringeren Tadel: das schlimmste Aergernis kam erst durch das Bild, die Arbeit der Menschenhände (Buch der Weisheit. Kap. 13). «Zu dem Leblosen reden, rufet den Schwachen um Gesundheit an, bittet den Toten um Leben, flehet den Untüchtigen um Hilfe an, und den, so, nicht gehen kann um selige Reise, und um seinen Gewinn, Gewerbe und Handtierung bittet er den, so garnichls vermag!»

Was man in künstlerischem Sinne in den Götterbildern der andern Völker das Leben nennen kann, der ideale Ausdruck menschlichen Willens und menschlicher Stimmung, das hat für sie nicht den mindesten Werl gehabt. Sie können sich nicht mit einem ästhetischen Eindruck des Schönen oder des Erhabenen begnügen : wenn ein Götter- bild nicht wirkliche, praktische Wirksamkeit entfalten kann, was war es da anders

kommen, und als Atticus Einwendungen erhebt, antwortet er: «Einen Tempel will ich haben, das redet man mir nicht aus. Ich will jede Aehnlichkeit mit einem Grab vermeiden, am eine wirkliche Apotheose zu erlangen.» — Römische Theologen sprachen auch mit Bezug auf etruskische Ideen von Göttern, die al» Menschen begonnen hatten, indem man durch gewisse Opfer aus einer menschlichen Seele einen Oott machen könne ; unter den Oricchc-n hatte Euhemeros, im vierten Jhdt. v Chr., ja schon gelehrt, dass die Götter als Menschen angefangen hätten. (Bossier fuhrt nach Inschriften eine Reihe von Beispielen an, wo Privatpersonen ihre Angehörigen nach dem Tode konsekrierten.)

Als anderes Motiv dafür, dass die Menschen in die Falle geraten, «Steinen nnd Holz Gottes unübertragbaren Namen beizulegen», nennt das Buch der Weisheit Schmeichelei der Uerrschermacht. Könige und Machthaber will man am liebsten vor ihren Augen ehren ; wohnen sie aber weit ent- fernt, so macht man Bilder von ihnen, um vor dem Abwesenden zu heucheln, als sei er anwesend. Der Künstler, der auch dem Mächtigen schmeicheln will, idealisiert seine Gestalt und verlockt also die unverständliche Menge, mit ihrer Anbetung weiter zu gehen, indem sie, bezaubert vou der .Schönheit der Gestalt, den für einen Gott hält, der noch kurz zuvor nur als Mensch geehrt wurde. Worauf der jüdische Schriftsteller hier anspielt, ist hinreichend bekannt. Die Bevölkerung in den römischen Tributlandeu war auf dem besten Wege, den römischen Beamten und Generaleo Tempel und Altäre zu errichten.


- 133 —


als ein lebloser Gegenstand? Das einzige Verhältnis zu dem Hilde, das zu verstehen sie Voraussetzungen hatten, war das roheste und niedrigste, das einen Aberglauben an das Bild als Ding knüpft, also Fetischismus. Aber darüber waren sie denn doch erhaben, es erfüllte sie mit Abscheu. Auf einem andern Weg als die Griechen waren sie zu einem höheren Gottesbegriff gelangt, ja zu einem viel höheren, als der der Griechen war, zu der Vorstellung von einem absolut und allein herrschenden persön- lichen Willen, der deshalb keinen Raum in einer menschlichen Gestalt hatte und deren Grenzen sprengte. Diese Vorstellung frei von Anthropomorphismus zu halten, ver- mochten sie freilieh nicht, — denn wo ist eigentlich die Grenze zwischen einem persönlichen Gott und einem personifizierten Gott? Schon der Gedanke, dass Gott den Menschen nach seinem Bilde schuf, zeigt ja, dass sie sich Gott in menschlicher Gestalt vorgestellt hatten. Sic sprechen von Gottes Füssen, Gottes Händen, Gottes Mund u. s. w. u. s. w., dass Gott zürnt oder lacht, und bedienen sich überhaupt jedes Mal, wenn sie von Gott reden der Bilder der menschlichen Gestalt. Aber um den Anthropomorphismus ganz auf die Spitze zu treiben, wie es allein die bildende Kunst vermag, ihn zur Ruhe zu bringen und in bestimmten, künstlerisch dargestellten menschlichen Figuren festzuhalten, davor hüten sie sich wohl: das würde bei ihrer Auffassung von dem Wesen des Bildes ein Rückfall in den Fetischismus gewesen sein. Gott halle eine sichtbare Gestalt; wer aber sein Antlitz sah, mussle sterben. Ausserdem ist eine menschliche Gestalt, von der Kunst ausgeführt, infolge der Natur der Sache eine unter vielen; die Kunst kann ihr möglicherweise den Eindruck verleihen, dass sie die höchste und erhabendste, nie aber dass sie die einzige und absoluteste ist. Ihre Macht und Kräfte müssen es sich gefallen lassen, mit mensch- lichem Mass gemessen zu werden; und selbst wenn man den Massslab noch so hoch stellt, — wie es die späteren jüdischen Kabbalisten bei einer Ausmessung von Jehovas Gestalt nach Millionen von Meilen zu tun versuchten, — so kommt man doch nie über das Relative hinaus. Und für die bildende Kunst ist ein solcher Massstab nicht anwendbar.

Deshalb war der Anthropomorphismus — d. h. der künstlerische — eilel Götzen- dienst, Vielgötterei. Den konnte der eifrige, eifersüchtige Nationalgott nicht dulden, ebenso wenig wie der einzige und unendliche, alles umfassende und universelle Gott, in den der Nalionalgott überging.

Aber die Juden verabscheuten nicht nur das Menschenbild als Gottesbild, sondern überhaupt als solches. Das geht sowohl aus ihren Aeusserungen wie aus den Be- richten über sie hervor. Sie betrachteten es nicht nur als verboten, religiöse Ehr- furcht vor einem Menschenbild zu bezeigen oder es anzubeten, sondern auch es an- zufertigen, es zu betrachten, seine Gegenwart auf jüdischem Grund und Hoden zu dulden. Sahen sie ein Menschenbild, so hielten sie sich nicht damit auf, zu fragen, ob es religiöse Ansprüche stelle, --- sie verwarfen es von vornherein. War dies denn nur eine Folge verständigen Misslraucns? Meinten sie nur, dass, wenn man sich wirklich gegen die Einführung einer seltsam gefährlichen Art von Menschenbildern auf ihrem Boden sichern wollte, man am klügsten täte, allem den Einlass zu



verbieten, was damit verwechselt werden und was gefährlich werden könnte, selbst wenn es von Anfang an unschuldig gedacht war?

Den eigentlichen Grund dafür, dass sie so den Krieg auf das weitere Gebiet, auf das Menschenbild im Allgemeinen überführten, findet man mit dem Anspruch auf allgemeine Gültigkeit kaum irgend wo offen ausgesprochen, — es ist ja, wie gesagt, weniger die Rede von einem Gedankengang als von einer eingewurzelten Leiden- schaft, einem Hass. Sicher ist es, dass man Menschenbilder nicht nur aus religiösen sondern auch aus ethischen Gründen verabscheute, weil «sie bei dem Unverständigen Begier erwecken, so dass er Lust an dem toten, leblosen Hilde hat» ; hier ist nament- lich die Rede von gemalten Bildern (Buch der Weisheit 15, 5 ; vergl. Ezekiel 23, Hff.i. Im übrigen kann es aber sehr wohl sein, dass das wesentlichste Motiv wirklich darin zu suchen sein rnuss, dass die Juden als wachsame Polizei oder Zollwesen auf ihrem Posten waren gegen eine Verwechslung zwischen dem Menschen- bilde und dem Götterbilde. Wenn das der Grund war, so kann man nicht leugnen, dass die Kunst der Griechen den Juden allen Anlass zur Vorsicht geben konnte. Die Verwechslung lag wirklich nahe. Bei den Griechen stellte jedes Menschenbildnis die Forderung, geehrt, wenn auch nicht angebetet zu werden, und diese Forderung war sichtbar und deutlich in der Gestalt selber ausgesprochen : sie wollte imponieren, sie wollte bewundert werden ; das Niveau der Kunst lag durchgehends über dem des wirklichen Lebens. In der idealisierenden Kunst war immer ein ganz fliessender I ebergang zwischen dem Menschenbilde und dem Götterbilde: selbst das schärfste Auge vermochte nicht zu sehen, wo das eine aufhörte und das andere anfing. Ks sind Spuren davon vorhanden, dass die Jtülen dies gemerkt haben, dass sie wussten, die Kunst verleihe der Aehnlichkeit mit dem Menschen eine grössere Schönheit, so dass «der Haufe aber, so durch solch fein Gemälde gereizet ward, fing an, den für einen Gott zu halten, welcher kurz zuvor für einen Menschen geehrt ward.» (Weis- heit Sal. 17, 20). In diesen Worten wird auf die Gefahr hingedeutet, dass ein einzelner, bestimmter, wirklicher Mensch zum Gott erhöht werden könne < «apotheosiert»), in Wirklichkeil hat aber diese Auffassung eine weit umfassendere Gültigkeit gehabt, denn die ganze griechische Welt von Göttergestalten war ja nichts anderes als die idealisierte und apotheosierte Menschengestalt.

Die grosse Menge der Juden in Palästina selber kannte wohl aus eigener An- schauung nichts oder nur äusserst wenig von der Kunst des Heidentums  ; aber die Juden, die etwas davon gesehen hatten, konnten ja infolge ihres Gottesbegriffes nicht anerkennen, dass ein Bild des Zeus oder der Aphrodite oder der andern Götter das Bild eines Gottes war, geschweige denn Gottes; für sie kann es nichts weiter gewesen sein als ein verherrlichtes Bild eines Mensehen. Und es war in Wirklich- keit auch nichts weiter. Gleichviel ob die griechische Kunst Götter oder Menschen darstellte, so war sie auf alle Fälle ein Narkissos: der Mensch, der sein eigenes Bild bewunderte, die Selbstvergötterung des Menschen. Dies als Religion anzuerkennen, davon konnte gar keine Rede sein  : da handelte es sich denn darum, ob man sich als eine Verherrlichung der menschlichen Gestalt damit befassen konnte.



— 135 —


Aber die Auffassung der Juden von dem Menschen ging ganz andere Bahnen. Je mehr sich ihr Gottesbegriflf zu dem Absoluten und unendlich Grossen erhob, um so mehr musste ihre Vorstellung von dem Menschen notwendigerweise in das unend- liche Kleine herabgedrückt werden, — was, im Vorübergehen bemerkt, kein Hinder- nis ist, dass sie sehr eingebildet auf die Ueberlegenheit ihrer Lebensanschauung sein konnten. Im Lichte der Auffassung der Juden muss die der Griechen Huma- nismus und die der Juden, ebenfalls im Lichte der Auffassung der Griechen, Antihumanismus genannt werden. Noch standen sich diese beiden Geistes- richtungen fern und fremd gegenüber.


Bei der Betrachtung der antiken Kunst haben wir schon gesehen, wie die Auffassung der Griechen von dem Menschen ihren eigentümlichen Charakter durch die Reaktion gegen den Uebermut der grossen orientalischen Monarchien erhielt. Bei den Griechen, die aus diesen Kämpfen gegen die Orientalen siegreich hervorgingen, äusserte sich diese Reaktion nur als ein gedämpftes Element, eine Erkenntnis der Begrenzung des menschlichen Wesens, die ihre Darstellung des Menschen wahrhaft menschlich machte : die Grundlage dafür blieb doch positiv und humanistisch. Sic wollten, dass der Mensch nicht den Kopf in den Nacken werfen, aber sich stolz und frei führen und sich nicht in den Staub werfen sollte.

Auch die Juden zogen ihre Lehre aus dem Anschauen des schnellen Steigens und plötzlichen Fallens von Königen und Reichen; und ihre Gedanken wie ihre Werke konnten auffallend mit denen der Griechen zusammenfallen. Herodot sagt (7, 10; 1,5; 1,32): «Siehst du, wie Zeus seine Donnerkeile gegen die höchsten Ge- bäude und die grossesten Bäume schleudert, denn er liebt es, alles abzuschlagen, was in die Höhe aufragt;» er erinnert daran, «dass die meisten von denen, die früher gross waren, jetzt klein geworden sind, und die, die zu meiner Zeit gross waren, waren ehedem klein;» er findet deshalb die Gottheit nicht nur missgiinstig, sondern überwältigend, unruhebringend. Und der Prophet Ezekiel sagt: «lind sollen alle Feldbäume erfahren, dass ich, der Herr, den hohen Baum geniedriget, und den niedrigen Baum erhübet habe und den grünen Baum ausgedorret und den dürren Baum grünend gemacht habe.» (17, 24): «es wird weder der Hut noch die Krone bleiben; sondern, der sich erhöhet hat, soll erniedriget werden, und der sich er- niedriget, soll erhöbet werden: Ich will die Krone zu nichte, zu nullte, zu niebte machen.» (21, 26) «Mene niene tekel ufursin». Aber die Juden, die im Kampfe gegen die grossen Monarchien vollständig unterlagen, die alles, was ein Volk leiden kann, von ihrem Uebermut erduldeten, und gleichsam durch den Unlergung hindurch wanderten, führten die Reaklion viel weiter, als es die Griechen getan halfen. Sie hielten nicht inne, bis sie die sonst für das ganze Altertum geltende Lebensanschauung vollständig verrückt hatten , es war nicht allein der Wille Gottes des Allmächtigen,



- 136 -

dass die Grossen bei der Umdrehung des Wellenrades die Kleinen werden sollten und die Kleinen dir Grossen, sondern im Reiche der Wahrheit war der Grosse und Starke als solcher der Geringe und Schwache, und der Geringe war der wahrhaft (irosse. Dies wird von Jesus aus Nazareth mit Bezug auf den übrigen politischen Zustand der Welt also ausgedrückt: «Ihr wisset, dass die welllichen Fürsten herrschen, und die Oberherren haben Gewalt. So soll es nicht sein unter euch, sondern so jemand will unter euch gewallig sein, der sei euer Diener. Und wer da will der Vor- nehmste sein, der sei euer Knecht. Gleichwie der Menschensohn nicht ist kommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und gebe sein Leben zu einer Er- lösung für viele.- (Matth. 20, 25). Welcher ist der Grosseste? der zu Tische sitzt oder der da dienet? Ists nicht also, dass der zu Tische sitzt? Ich aber bin unter euch wie ein Diener. (Luk. 22, 27). Wie ein jeder weiss, ist diese Aulfassung nicht nur an einzelnen Stellen im neuen Testament, sondern an vielen zum Ausdruck ge- langt, ja, sie ist einer seiner Grundgedanken.

Dies hatte auch eine völlige Umwälzung der Anschauung über den Wert und die Bedeutung der äusseren Menschengestalt zur Folge.

Ks liegt wohl im Wesen der Schönheit, dass sie zu jeder Zeit und überall unter den Menschen hoch im Preise steht: schon allein das Gefühl das die Geschlechter gegenseitig für ihre Schönheit haben, liegt in den Naturgesetzen des Menschen- geschlechts begründet.  »Die Schönheit einer Frau*macht das Antlitz fröhlich,» sagt Jesus Sirach, «und sie übertrifft alles, was ein Mann begehrt.» Das gilt von dem einfachen Verhältnis zwischen Mensch und Mensch, das durch die ganze Geschichte hindurch dasselbe ist. Aber auf den Höhepunkten des Lebens, wo die Anschauung der Geschlechter und der Zeitalter von den das Leben regierenden Mächten gebildet werden, ist der Wert der Schönheit keineswegs konstant. In seinem Sklavenstande, von den andern Völkern verfolgt und verachtet, träumte das jüdische Volk davon, dass es gerade in dieser Knechtsgestalt der auserwählte Repräsentant der Menschheit, zur Erlösung der Völker ausersehen sei. So hat einer seiner Propheten (Esaias, Kap. 53 KS, 31) es als < Diener des Herrn» geschildert, eine Schilderung, die in der Literatur des Altertums wie eine einsame Blase erscheint, die aus tiefen Strömungen aufsteigt, die später die obersten und vorherrschenden werden sollen  : Er wird er- höhet und sehr hoch erhaben sein. Dass sich viele über ihn ärgern werden, weil seine Gestalt hässlichcr ist denn anderer Leute und sein Ansehen nicht w i e d i e d e r M e n s c h e n k i n d e r. Aber also wird er viel Heiden besprengen, dass auch Könige werden ihren Mund gegen ihn zuhalten. Denn welchen nichts davon verkündiget ist, dieselben Werdens mit Lust sehen, und die nichts davon gehöret haben, die werdens merken. Aber wer glaubt unserer Predigt? Und wann wird der Arm des Herrn olfenbar? Denn er schiesst auf vor ihm wie ein Reis und wie eine Wurzel aus dürrem Erdreich. Er hatte keine Gestalt noch Schöne, wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. Er war der Allervera ch leiste und Un- werteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so



— 137 -


verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg, darum haben wir ihn nichts geachtet. Fürwahr er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen, wir aber hielten ihn für den, der geplaget und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unserer Missetat willen verwundet, und um unserer Sünde willen geschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf das wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilet. — — Da er gestraft und gemartert war, tat er seinen Mund nicht auf, wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführet ward, und wie ein Schaf, das verstummet vor seinem Scherer

und seinen Mund nicht auftut. Er hat sein Leben in den Tod

gegeben und ist den Liebeltätern gleich gerechnet; ja er hat vieler Sünden getragen und für die Uebeltäter gebetet.»

Dies ist eine ganz neue Auffassung von den Grossesten der Menschheit. Wer kann daran zweifeln, dass der Prophet gerade alles das hat ausdrücken wollen, was der Gegensatz zu dem harten, erdrückenden Hochmut, der rohen Selbsterhöhung war, die aus den Worten des Asiatenkönigs herausklingt : Ich bin ein König, ich bin ein Herr, ich bin berühmt, ich bin gross, ich bin mächtig u. s. w.


Die antihumanistische Geislesrichtung wurde im Christentum vom Gedanken in die Wirklichkeit übertragen, denn dieses war vom Judentum in strenger Kongruenz mit dessen Entwicklung ausgegangen und hatte dann Europa erobert, — das ganze Europa, das die neuere Kultur und Kunst hervorgebracht hat, die im Laufe der Zeilen alle andern Völker der Erde überllügelte.

Wir, die wir, durch die Wissenschaft verpflichtet, davon ausgehen, den Zu- sammenhang im Verlauf der Geschichte zu finden, fassen die Religionen und ihren Wechsel als Aeusserungen grosser seelischer Begebenheiten im Menschenleben auf ; und der Hauptnerv hierin erscheint uns gerade das Wechselverhältnis zwischen den beiden Polen : der Selbstbetätigung, Selbsterhöhung, dem Stolze des Menschen und seiner Selbstverleugnung, Selbsterniedrigung, Demut zu sein. Es war ein notwendiges Bedürfnis nach dem Gedanken der vollkommenen Selbstverleugnung; dieser musste kommen als Durchgangspunkt in dem historischen Kreislauf des Menschen- lebens: das Rad musste ganz umgedreht werden.

Wir können zu einem gründlicheren Verständnis unseres speziellen Themas diese grosse und allgemeine Frage nicht umgehen; da aber das Christentum eine so ausser- ordentlich grosse und wichtige Sache ist, können wir nicht erwarten, dass man uns ohne weiteres Recht geben wird, wenn wir behaupten, dass es am erschöpfendsten in dem Begriff Antihumauismus delinierl werden kann. Darauf müssen wir denn antworten, dass es sich für uns nicht darum handelt, das wirkliche Leben und die Lehre Jesu Christi zu ergründen. Von einem historischen Gesichtspunkt aus ist



- 138 -


es klar, dass die Quelle» uns darüber nicht genug berichten ; und doch ist es noch die Frage, ob sie uns nicht zu viel berichten. Hypothesen werden uns keinen nach- haltigen Trost gewähren können  : infolge der Natur der Sache werden sie nie darüber hinausgelangan, Hypothesen zu sein. Wir müssen uns daran genügen lassen, Jesum aus dem Spiegel der Berichte zu kennen, die uns sein Bild nicht ganz oder objektiv wiedergeben, sondern nur einen Auszug seiner Lehre und der Ereignisse seines Lebens, von dein Gesichtspunkt aufgefasst, wie ihn die umgebende Menschheil nach ihren historischen Voraussetzungen sehen musste und sehen wollte. Aber gerade das Bedürfnis und der Wille dieses Zeitalters sind von Bedeutung: es hat viel mehr historische Bedeutung, wofür man ihn hielt, und in welcher Gestalt man ihn der Nachwelt überlieferte, als was er zu seiner Zeit wirklich war. Nun wird man vielleicht sagen, dass in dem, wofür man ihn hielt — so wie es im neuen Testament vorliegt doch mehr enthalten ist als der reine Antihumanismus. Ja, in jeder Re- ligion werden allerlei moralische Elemente aufgenommen, die für alle Zeiten gleich- wertig sind ; aber hier handelt es sich um die historische Eigenart des Christentums in der Reihe der Religionen, — namentlich der abendländischen Religionen. Man machte einen kurzen Auszug von  »lern, was das neue Testament lehrt; denn um eine Ueberlieferung mit vielen Kapiteln und Paragraphen, zwischen denen der Zu- sammenhang nicht immer klar und unanfechtbar ist, schart sich die Menschheit nicht in grossen Haufen : dazu gehör! etwas Einfaches, Schlichtes. Und dieser letzte Aus- zug war das Kreuz, das Kruzifix, der Gedanke — oder die Erinnerung — an Gottes Sohn und den Erben seiner Herrlichkeit, der als elendester Mensch, als «  Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird», leidet und am Kreuz des Verbrechers stirbt.

Hier war der Gedanke, dass der Grosse der Kleine, und der Kleine der Grosse war, in einem unendlichen Massstabe als der Grundgedanke des Universums durch- geführt. Wäre der gekreuzigte Mensch nicht gleich Gottes Sohn und Erbe seiner Herrlichkeit gewesen, so wäre ja das Ganze eine alltägliche Geschichte unter vielen gewesen, — ein unschuldiger Mensch, der hingerichtet wurde; dann hätte das Christentum es nicht mit den anderen Religionen aufnehmen können, die nur von der göttlichen Herrlichkeit redeten. Von der Herrlichkeit war er zu der tiefsten Er- niedrigung herabgestiegen, von dort sollte er wieder zu der höchsten Erhöhung hinaufsteigen  : das Rad mit dem unendlichen Radius war in vollen Schwung gesetzt von dem Augenblick an, wo man in dem wirklich gekreuzigten Manne Gottes Sohn erblickte. Aber man hielt gerade den untersten Punkt der Drehung fest, als eigen- artige Signatur des Christentums, im Gegensatz zu den früheren Religionen, die bei dem obersten, bei der Macht und Herrlichkeit droben verweilten, obwohl sie auch zuweilen etwas vom Leiden geflüstert hatten.

Schon der Wortführer der nächsten Generation, Paulus, hat das Kreuz und den Gekreuzigten als das hervorgehoben, «las allen Menschenstolz, selbst den auf gute Werke, verschlang. Dieses Grundsymbol des Antihumanismus wurde das Einheils- zeichen der Christen, das Banner, unter dem die Christenheit siegte. Noch fünf bis sechs Jahrhunderte lang war es bilderlos ; dann ward aus dem Erinnerungszeichen des


- 139 —


Kreuzes das Bild des Gekreuzigten, das das Christentum an Stelle des heidnischen Götterbildes setzte : der leidende, gemarterte Mensch an Stelle des schonen und seli- gen Gottes. In tausend und abertausend Exemplaren, in allen Stufen der Vollkommen- heit und Unvollkommenheit ausgeführt, von der notdürftigsten Andeutung bis zu der höchsten Kunst, die auch ein grosses Element des Humanismus in ihren Dienst hat nehmen müssen, ist dies Symbol doch in seinem Grundgedanken sich völlig gleich geblieben und hat den Völkern die Lebensanschauung des Antihumanismus eingeprägt, der im Bilde rein und ungemischt, ohne Kommentar auftritt. In der gekreuzigten Gestalt hat die leidende Menschheit ihren Bepräsentanton gefunden, der selber das leiden kannte und Trost dafür wusste, und der deshalb die ganze Menschheit um- schloss,bis in ihre niedrigsten Schichten, die das Altertum verachtet und übersehen hatte.


Ueber Jesu Leben und Lehre hat man doch einige Nachrichten, aber über seine äussere Persönlichkeit wissen wir nichts. Und damit ist auch nicht viel verloren. In Ermangelung des unmittelbaren Eindrucks der wirklichen Person würde < nur ein authentisches Porträt von der Hand eines ausgezeichneten Künstlers von historischem Wert sein; schriftliche Nachrichten hingegen über die Form seiner Nase und seiner Augen, oder schlechte durch zahllose Generationen überlieferte Bilder würden, selbst wenn sie als echt nachgewiesen werden könnten, nur ganz nichtssagende Surrogate zum Besten der Neugier sein. Die grösste Bedeutung hat hier wiederum, was die nachfolgenden Generationen über sein Aussehen dachten, weil nichts deutlicher zeigt, wie die ältesten Christen überhaupt das Aeusserc des Menschen beurteilten, als ihre Ansicht darüber, wie des Menschen Sohn, der Gottes Sohn war, der höchste Beprä- sentant der Menschheit, aussah.

Und hier abermals der reine Antihumanismus. Infolge der ganzen Geistesrichtung, die Busse und Entsagen und die äusserste Demut des natürlich Menschlichen predigte, sind die älteren Kirchenväter, namentlich vor Konstantins Zeil, wie es scheint, ein- stimmig der Ansicht, dass Jesus ohne Ehre und Würde zu schauen, gering und ver- ächtlich im Vergleich mit allen andern Menschen gewesen sei. So sprach Justin der Märtyrer (f 1(J6) und noch Cyrillus von Alexandria (f 444). Tertullian (f ca. 230) scheint recht ein Gefallen daran zu finden, die stärksten Worte nach dieser Hiebt ung hin zu gebrauchen: er spricht von Christi elendem kleinem Körper (corpusculum), sagt, 'dass er nicht einmal wie ein Ehrenmann anzusehen war», ja, er fragt, ob jemand ein Gesicht bespieen haben würde, ohne dass es dazu eingeladen hatte. Man erlwll den Eindruck, dass der christliche Börner förmlich Jagd auf Ausdrücke macht, die so recht die Kehrseite von alledem bezeichnen können, was unter den Hörnern für bürgerliche Würde und menschlichen Anstand galt, wie von jener vornehmen, stolzen, selbstbewussten Haltung, die wir an den Gestalten der antiken Kunst bewundern. Wenn bei der Vorstellung von Christus nicht die geringste Spur von dem übrig- geblieben ist, was an einem antiken Manne imponierte und Vertrauen einflösste, wenn


er inglorius, ignobilis, inhoriurabi Iis war, dann — sagt Terlullian — dann soll er mein Christus sein, — welche paradoxe, leidenschaftliche Inbrunst in diesen Worten  ! Und das ist ja ganz derselbe Geist, den wir schon aus Esajas' Schilderung von «dem Diener des Herrn • kennen; es kann uns deswegen nicht wundern, dass die ältesten Kirchenväter in jener Schilderung eine Prophezeiung auf den Messias sahen und daraus Münze schlugen als Zeugnis der Schrift über Christi Persönlich- keit. Auch den 22. Psalm mit seiner herzzerreissenden Selbsterniedrigung: «Ich bin ein Wurm und kein Mensch, ein Spott der Leute und Verach- tung des Volkes>, betrachteten sie als Hindeutung auf Christus

So etwas musste ja vom Gesichtspunkt der alten Humanität aus ganz unfasslich sein. Der Philosoph Celsus, der nur wenig mehr als hundert .lahre nach, Christi Tode seinen Angriff auf die christliche Sekte schrieb, halte darin geäussert : «wenn der höchste Geist Wohnung in einem irdischen Körper gehabt haben sollte, so musste sich dieser doch jedenfalls vor andern durch Grösse oder Schönheit oder Kraft oder Stimme oder durch grossartiges und gewinnendes Auftreten auszeichnen. Denn der, dem etwas Göttliches in höherem Grad oder Mass als den übrigen zuteil geworden war, konnte unmöglich nach allen Richtungen hin wie ein alltäglicher Mensch sein. Aber Jesu Aeusseres unterschied sich in keiner Hinsicht von dem eines andern Menschen: im Gegenteil war er, wie man sagt, klein und hässlich und missgestaltct,» — woraus dann Celsus die Schlussfolgerung gezogen hatte, dass nichts Göttliches in ihm war. Auch selbst in der Brust der griechisch-römischen Christen müssen not- wendigerweise ähnliche Gedanken aufgetaucht sein; es muss für die meisten von ihnen zu hart gewesen sein, sich den Gottes Sohn, den sie liebten und an den sie glaubten, in einer Gestalt vorzustellen, die hinter denen der Götzen zu schänden werden musste. Origines, der ca. -50 seine grosse Verteidigungsschrift für die Christen gegen Celsus schrieb, sträubt sich schon, offen einzugestehen, dass es eine Tatsache ist, dass Christi Gestalt so elend und gering gewesen sein soll; er tührt Stellen aus dem alten Testa- ment an, die das Gegenteil beweisen sollen; und allmählich trug bekanntermassen die Ansicht den Sieg davon, dass Christus auch in bezug auf das Aeussere schön ge- wesen war, wenn auch in einem andern Stil als die heidnischen Götter. Es muss doch aur alle Fälle, meint Hieronymus, etwas «Sternenhaftes» in seinem Antlitz und Blick gelegen haben.

Aber Tertullian, der die ältere Auffassung am schärfsten und einseitigsten ver- fochten hat, behauptet nicht nur, dass Christi Person menschlich gesprochen hässlich war: er will auch nicht zugeben, dass irgend ein Strahl, der die göttliche Natur verriet, sie verklärt hätte. «Wie hätte er zum Spotl werden und wie hätte er leiden können, wenn auch nur der leiseste Abglanz himmlischen Adels über seiner Person gelegen hätte  ?• Er war ganz wie jeder andere Mensch: ihn hungerte und ihn dürstete, er weinte und zitterte in Todesangst — denn das Fleisch ist schwach — und schliess- lich vergoss er sein Blut: ist das vielleicht ein Zeichen von etwas himmlischem? Erst bei seiner Wiederkehr als Wellenrichter wird sich Christus in seiner himmlischen Herrlichkeit zeigen.



- 141 -


Dass Christus wirklich Mensch war, — darauf liegt gerade der ganze Nachdruck und das ist sein Vorzug vor den heidnischen Phantasiegöttern, Bilder- göttern, Kunstgöttern, die zu nichts weiter gut waren, als still zu stehen und sich als schöne und imponierende Gestalten bewundern zu lassen. Dasselbe gilt von seinen Nachfolgern, von Märtyrern und Heiligen — von allen Mitgliedern <des christlichen Pantheon«  - sie werden auf ganz andere Weise als die antiken Heroen als historisch und wirklich aufgefasst. Es sind alles Menschen aus Fleisch und Blut, die nicht mit jenen Privilegien ewiger .lugend und Frische begabt sind wie die antiken Götter und Heroen. Sehr bezeichnend ist es, dass die Bibel und die Kirchenvater Christus so wie alle andern Menschen von der körperlichen Seile mit dem Namen Fleisch benennen und so das Materielle am Körper hervorheben. Für die Griechen war der Körper eine Gestalt, deren Form von der Wirksamkeit bestimmt war, die sie ausübte, und deren Form deshalb zu der grösstmöglichen Tüchtigkeit erzogen werden musste; für Juden und Christen war dies ein Stoff, ein Erdboden für einen eigenen fleisch- lichen Willen.

Diese Auffassung hat die durchgreifendste Bedeutung für die künstlerische Dar- stellung der christlichen Gestalten in weit späteren Zeiten, denn in der ältesten Zeit war die Wirklichkeit noch so frisch und wurde derartig hervorgehoben im Gegensatz zu dem Bilde, dass man kein Bedürfnis nach demselben empfand. Weit später aber arbeitete die Kunst durch ganze Perioden darauf hin das Elend des Leidens darzu- stellen, und im selben Masse forderte man einen Eindruck von handgreiflicher und fasslicher Wirklichkeit, der sich die Antike selten genähert, die sie nie erreicht halte, und die namentlich ihren Göttergestalten gänzlich fremd war. Und die? Programm, wie es in den ältesten christlichen Grundgedanken ausgedrückt ist, hat nicht nur seine Wirkung auf die Kunst, insofern als sie Christus und die Märtyrer darstellte, ausgeübt, sondern überhaupt einen grossen Einfluss auf die Darstellung der menschlichen Gestalt gehabt, auch bei weltlichen Vorwürfen, ja sogar in humanistischem Geisle. Christen- tum und Realismus sind alliierte Mächte. Die Lehren des Christentums waren einmal in die Welt gesetzt und waren die gemeinsamen Lehrmeister für alle. So ist in die Bilder des Menschen aus dem christlichen Zeitalter etwas mehr Materielles hinein- gekommen : das Fleisch wird mehr hervorgehoben, mag es zu seiner Demütigung oder seiner Verherrlichung geschehen: das eigentlich Ideale wird schwieriger; das Rea- listische und « Illusionistische > liegt näher: allerlei Mittel einen täuschenden Schein von naher, handgreiflicher Wirklichkeit hervorzurufen sind auf eine Art und Weise aus- gebildet, wie das in der Antike niemals der Fall gewesen war.

Doch was hierin lug, gelangte zur wahren Blüte erst in der Kunst über tausend Jahre nach Terlullians Zeit, die noch nichts von dem hatte, was mun mit Recht christliche Kunst inen kann.



142 -


Wie das älteste Christentum über das Aeussere und die Schönheit des Menschen dachte, ersieht man nicht allein aus seiner Auffassung, dass Gottes menschgewordener Sohn vor allen Menschen hässlich gewesen, sondern auch aus andern Aeusserungen.

Wir führen abermals Tertullian an, jedoch keineswegs in der Absicht, seine Anschauung als allgemeingültig hinzustellen. Das kann eine Anschauung, die in dem Masse ins Extreme geht, unmöglich gewesen sein; die grosse Mehrzahl der Menschen besteht nicht aus so starken Geistern, ihre Ansichten sind immer ge- mischt und strömend. Die starken Geister aber soll man studieren, weil sie den eigentümlichen Stoff für die Ansichten des Zeitalters abgeben  : kennt man die reinen Elemente, die ungemischten Flüssigkeiten, so versteht man leicht die ge- mischten, abgeleiteten, verdünnten. Tertullian betrachtet die menschliche Schönheit - namentlich die weibliche bildet hier seinen Ausgangspunkt — als leer und be- deutungslos, wo Schamhaftigkeil vorhanden ist: denn die einzige Frucht der Schön- heit ist eitel Wollust. «Wenn man sich nun aber die Wollust ausgeschlossen denkt und die Keuschheit einräumt, darf man denn dann auch nicht die Ehre des Körpers preisen? Lass ihn sehen, was er tut, der sich des Fleisches rühmt (de earne gloriari vergl. 2 Kor. 11, 18). Wir Christen trachten erstens überhaupt nicht nach Ehre, denn die Ehre ist der Geist der Selbsterhöhung; aber die Selbsterhöhung geziemt sich nicht für die. so da Demut nach Gottes Vorschriften üben. Deshalb, wenn alle Ehre leer und eitel ist, wieviel mehr da nicht die, so ins Fleisch gesetzt wirdV -- — Freilich kann sich ein Geist auch des Fleisches rühmen, aber nur wenn es gelitten hat und um Christi willen misshandelt ist. • — Nichts stimmt besser mit dieser Warnung überein als der Abscheu desselben Kirchenvaters vor dem Be- kränzen des Hauptes, diesem schönen, aus dem primitiven Zusammen- leben mit der Natur ererbten Ausdruck für festlichen Lebensgenuss, für das offene Bekenntnis der Freude am Dasein, — deshalb auch das Symbol des gewonnenen Sieges, die Krone des Humanismus, — die so eigentümlich für das Leben des Alter- tums in allen Verhältnissen gewesen war. Er, der Römer, verwirft den Kranz, weil er nicht der Sitte des Volkes Gottes (d. h. des jüdischen Volkes; entspricht, und ent- wickelt eingehend seine gölzenhafte Bedeutung. Der einzige Kranz, der gellen darf, ist die traurige Parodie des Siegerkranzes, die Dornenkrone, die die römischen Sol- daten auf Christi Haupt setzten.

Der Mensch war der Feind seiner Freude und der Freund seines Kummers ge- worden. Es war eine Spaltung m sein innerstes Wesen gekommen  : das Fleisch be- gehrte gegen den Geist und der Geist gegen das Fleisch, wie Paulus sagt (Gal. 5, 17 ). An der östlichen Grenze der Christenheit, unter den Munichäern in Asien, die den altpersischen Dualismus mit Elementen des Christentums verschmolzen, entwickelte sich die Lehre, dass der Körper des Menschen eine Schöpfung des bösen Geistes sei. Diese Lehre, die eigentlich den allerradikalslen Gegensatz zu dem Humanismus bildet, aus dem sich die Kunst entwickelt hat, wurde von den Kirchenlehrern freilich nicht anerkannt und erhielt keinen Platz in den Dogmen der rechtgläubigen Kirche. Sie lehrten, dass alles, was geboren wird, Gottes



Werk ist. Aber der Einfluss der Manichüer auf Europa wurde doch sehr gross und sehr anhaltend. Ausserdem musste es für den Verstand von Laien schwer zu ver- stehen sein, dass eigentlich ein grosser Unterschied zwischen diesem erklärten Dua- lismus und dem Streit zwischen Fleisch und Geist bestand, von dem der Apostel Paulus gelehrt hatte.

Es ist selbstverständlich, dass eine künstlerische Darstellung der menschlichen Gestalt nicht gedeihen konnte auf Grund- lage einer so völlig antihumanistischen Betrachtung des Wesens des Menschen, 'allen Fleisches». Wie konnte man einen Gegenstand, den man hasste und verachtete, studieren und sich in ihn vertiefen? Dazu kam noch, dass die Christen des ersten Jahrhunderts, die griechischer und römischer Nationalität waren, mit dem Evangelium zugleich das Gesetz, mit dem neuen Testament zugleich das alle empfingen, und dass auf diese Weise die Auffassung des Judentums von dem Menschenbilde geradezu auf sie überführt wurde. Tertullian betrachtet die Ausübung der bildenden Kunst als verwerflich und verboten; er spricht darüber in gleichem Geiste wie ein geborener Jude. Wenn auch das Christentum den menschlichen Körper nicht als Werk des Teufels betrachtete, so war in seinen Augen doch die Kunst, die Statuen und Bilder anfertigte, etwas, das der Teufel in die Welt eingeführt, etwas, das Gott seinen Dienern verboten hatte. Wer Bilder für einen Heiden machte, der machte «Körper für den Teufel», — das war die Auffassung der Christen von der antiken Kunst. Als das Christentum auf heidnischen Boden hinüberdrang, musste der Streit zwischen dem Götzendienst und dem bilderlosen Gottesdienst verschärft werden ; die Ansichten der späteren jüdischen Schriftsteller gehen direkt in die der älteren Christen über. Wie unsinnig, dass das Bild von dem Menschen, das Werk von seinem Meister verehrt wurde! Natürlicher würde es sein, wenn das Bild niedertiel und den Künstler anbetete : Gottes Bild (der Mensch) hat doch Vorzüge vor dem Bilde des Menschen (der Statue). Gott hatte jede bildliche Nachahmung verboten, — wie vielmehr die Nachahmung seines Bildes (des Menschen)! Ueberhaupt wandten die Bilder die Augen der Menschen von Gott ab und fesselten sie an irdische, niedrigere Dinge.

Aber von einer solchen absoluten Ausschliessung des menschlichen Bildes, wie es die Juden auf ihrem Grund und Boden durchzuführen vermocht hatten, solange sie noch im Besitz desselben waren, konnte unter den Christen keine Bede sein. Sie waren ja unter den Heiden zerstreut, sie hatten selber nationale, griechische und römische Traditionen und Gewohnheiten, deren sie sich unmöglich mit eine m Schlage entäussern konntet:. Ausserdem band ja das Evangelium seine Anhänger nicht wie das Gesetz an strengen, sklavischen Gehorsam gegen äussere Gebote oder Verbole.


Mit der griechisch-römischen Altertumsreligion hatte es bald ein Ende, und seine reiche Bilderwell fand nur wenig Zulluehtstätten, wu sie Schutz gegen Mass oder Roheil linden konnte. Dahingegen eroberten die uionollieislisclien und pole-



— 144 —


mischen Religionen, die von dem semitischen Volk ausgegangen waren, allmählich Europa und Westasien, und mit ihnen verband sich der Unwille gegen das Menschen- bild. Wie sich dieser von dem Judentum auf das ältere Christentum vererbt hatte, so vererbte er sich von diesen beiden auf den Islam. Im Christentum ist er erst in viel späteren Zeiten wieder aufgetaucht. Trotz des grossen Abstandes in bezug auf Zeit und Ort, muss dies alles als zusammenhängendes Phä- nomen aufgefasst werden, aus derselben Wurzel entsprungen, nämlich der Situation des jüdischen Volkes im Altertum, seiner polemischen Stellung zu seinen humanistisch gesonnenen und Bilder liebenden Nachbarn, und durch kritiklose Ueberlieferung, die ein für alle Mal auf göttliche Wrbole hinzeigen konnte, weiter verpflanzt. Buchstabenglaube und priesterliche Gewalt sind streng konservative Mächte, die ihre Walten in Bereitschaft gehabt haben, sobald die ursprüngliche Situation : Antihumanismus contra Humanismus, Monotheismus contra Polytheismus, sich er- neuerte.

Nachdem wir nun den Anlihumanismus der ältesten christlichen Kirche, der eine so ausserordentlich grundlegende Bedeutung für das ganze spätere Europa gehabt hat, eingehend besprochen haben, berühren wir nur ganz kurz die wichtigsten Phäno- mene des Widerstandes gegen die Menschenbilder in den andern Beligionen und Kirchen. In ihnen allen finden wir denselben Grundzug in der Polemik, dieselbe Gradation im Unwillen, indem dort e t w a s ist, was sie unter keiner Bedingung dulden wollen und anderes, was sie als erlaubter oder als ganz unschuldig betrachten. Zu einem gewissen Zeitpunkt im älterer) Mittelalter würde man sicher von einem .luden, einem Muhamedaner und einem oslrömisehen Christen eine Antwort in wesentlich derselben Richtung erhalten haben, wenn man sie nach ihrer Meinung über diese Sache befragt hätte. Wohl hätte man auch einen Unterschied zwischen einer strengeren und einer liberaleren Auffassung von dem finden können, was als erlaubt oder verboten betrachtet wurde, und die Meinungsverschiedenheit über alle dazwischenliegenden Fragen konnte zuweilen an Fanatismus grenzen, aber dieser Unterschied würde sich weniger auf die verschiedenen Religionen als auf Individuen und Parteien innerhalb derselben Religion bezogen haben.

Zuerst ein paar Worte über die Juden nach der Zerstörung Jerusalems und der Zerstreuung des Volkes. Wenn auch das Verhältnis des jüdischen Volkes zu der Sache unter diesen Umständen keine Bedeutung hat, die über seine eigene kleine Welt hinausreicht, so wirft es doch auf Grund des zähen Konservatismus des Volkes ein Licht auf die Anschauung des Volkes im Altertum, die eine so grosse und weit verzweigte Bedeutung erhielt. Der berühmte Talmudist Maimonides, der im zwölften Jahrhundert in Spanien lebte, hebt ausdrücklich hervor, dass es erlaubt ist, Bilder von allerhand wilden und zahmen Tieren, Bäumen, Kräutern etc. zu machen, mit der alleinigen Ausnahme von Menschenbildern : die durfte man nicht einmal zu deko- rativen Zwecken oder zur Erinnerung an die Väter wie bei den Griechen und Römern machen. Hier hat die jüdische Theologie das, was wir auf dem künstlerische Gebiet Antihumauismus nennen, so rein und bestimmt definiert, wie mau es nur wünschen


— 145 —


kann. Doch gilt das Verbot namentlich der plastischen Darstellung, in erster Linie der Stutue, überhaupt aber jedem Hilde, das den Hanm ausfüllt, also auch dein Kelief. Ja, man geht so weit in der Spitzfindigkeil, dass man die gravierte, in die Fläche vertiefte Figur für erlaubt erklärt, dahingegen den erhöhten Abdruck derselben Figur für unerlaubt. Wie sehr sich dies auch dem Sinnlosen nähert, versteht man doch den Gedanken, der darin liegt: indem es den Raum auffüllt, indem es im Volumen Platz einnimmt, macht sich das plastische Bild als etwas Positives gel- tend, das grösseren Anspruch darauf macht, anerkannt zu werden und zu existieren als das, was auf die Fläche gemalt oder da hinein vertieft ist. Es Iii II also mit Forderungen in humanistischer Richtung auf. Ausserdem war da ja in der Plastik etwas, das an das aller anstnsserregendsle im Heidentum erinnern mussle, an die grosse Statue der Göttergestalt hinter dem Altar im Tempel ! Sieher ist es, dass die Juden schon im Altertum die Statue als einen grösseren Gegenstand des Aergernisses betrachteten als das Gemälde, wenn sie freilich dieses ebenfalls missbilligten.

Dann die Muhamedaner. Die Bekenner des Islams werden im allgemeinen als ausserhalb der Geschichte der bildenden Künste stehend betrachtet, obwohl ein jeder weiss, dass sie eine nicht geringe Menge Bilder verschiedener Art hervorgebracht haben, jedenfalls genug, um zu zeigen, dass es den betreffenden Nationen, die diese Religion annahmen, ursprünglich weder an Fähigkeil noch an Lust zu dieser Art Kunst gefehlt hatte. Hätte ihnen nicht das strenge Verbot ihrer Religion im Wege gestanden, würden sie sicher auch eine bildende Kunst hervorgebracht haben, die in technischer Entwicklung mit der der Inder oder der andern Ostasiateu oder mit der der Europäer im frühsten Mittelalter auf gleicher Höhe gestanden hätte; darauf deuten einzelne bekannte Heispiele ihrer Bilder hin. Aber eine gegebene Tradition, als Ausspruch des Religions- stifters festgestellt, ist für Völkerschallen, die am Buchstabenglauben hingen, wohl völlig hinreichend, um eine der Lebensäusserungen der Kultur im Wachstum zu hemmen und sie allmählich ganz zu ertöten, und dadurch die psychische Entwicklung der Völker auf eine einseitige Bahn zu drängen. Eine Religion wie die muhamedanisehe ist ein sehr despotischer Herr.

Obwohl sich im Koran selber nur ein einziges Wort über das Verbot gegen Bilder befindet, nämlich Sura V,  : «0, ihr Gläubigen, Wein, Hazardspiel, Loswer- fen mit ITeilen und Statuen sind eine vom Satan erfundene Abscheulichkeil; ent- halte! euch davon, und ihr werdet glücklich werden», und wenn das Verbot deswegen auch von den Schülern idie auch zum grossesten Teil nicht von semitischem sondern von arischem Stamme, — Perser - sind) nicht so streng genommen wurde, können die ortho- doxen Sunniter auf zwei deutliche Aeusserungen des Propheten aus der ursprünglich mündlichen Tradition hinweisen. An einer Stehe heisst es: «Wehe dem, der durch Kunst ein lebendes Wesen nachahmt : am Tage des Gerichts wird das, was dargestellt ist, hervortreten und eine Seele fordern: da wird der Missetäler, der seinem Werke nicht Leben zu geben vermag, die ewige Strafe erleiden >. Aus den angeführten Worten ist nicht ersichtlich, oh der Verfasser den Ausdruck «lebende Wesen- in einer be- schränkten Bedeutung gebraucht hat, die Worte können sich sowohl auf Bilder von

10



- 146 -


Tieren wie, von Menschen beziehen. Eine andere Stelle wird folgendermassen wieder- gegeben : «Gegen dreierlei Menschen ist der Prophet von Golt gesandt worden  : gegen die Stolzen, die Götzendiener und die Maler (Künstler?). Hütet euch wohl, den Herrn oder einen Menschen zu malen (bildlieh durzustellen , sondern malet nur Räume, Früchte, leblose Dinge». Diese Worte gegen die Stolzen, die Götzendiener und die, so da Milder von einem Menschen oder von (Jott in menschlicher Gestalt machen sind gleichsam ein Schlag, gegen das gerichtet, was wir den künstlerischen Huma- nismus nennen, namentlich in seiner religiösen Anwendung, aber auch im allgemeinen.

Es ist zweifelhaft, ob man mit Recht den Grund zu dem muhan.'edanischen Ver- bot gegen Milder in «der Geistesriehtung der Semiten, die nicht wie die der Griechen nach Klarheit innerer Gesetzmässigkeit, Festigkeit in Form und Umriss u. s. w. strebte», zu suchen hat. Liesse sieh die Sache nicht umgekehrt so denken, dass diese Mängel bei den Semiten eine Folge davon waren, dass ihre Religion sie von der Ausübung der bildenden Kunst entwöhnt und ihnen dadurch die beste und wichtigste Schule in sicherer Meobaehtung der objektiven, sichtbaren Welt, in klarer Auffassung von Formen, Umrissen und Verhältnissen entzogen hatte? Wenn man bei den Muhamedanern ebenso wie bei den .luden im ganz allgemeinen den Ausdruck «Verbot gegen Milder» anwendet, so muss hier abermals daran erinnert werden, dass man nicht an den MegrifTRild in dem Umfang denken darf, den er für das moderne Mewusstsein hat. Von dem Propheten Muhamed kann man sicher keine scharfen und systematischen Megriffsbestimmungen erwarten  : seine Worte sind in bezug auf die faktischen Zustände zu seiner Zeit und vor ihm zu verstehen  ; und damals war ja die menschliche Gestalt in überwiegendem Masse Gegenstand der Kunst. Es waren diese Art Milder, denen man zu Leibe wollte, ihnen galt das Verbot, weil sie Götzen- dienst mit dem Menschlichen, Menschenvergötterung bedeuteten. Es war ja nichts Neues, was von Muhameds Seile auftrat. Der Prophet, dessen Glaubensgenossen- schaft ein Kenner in bezug auf ihren Ursprung eine «christliche Sekte- genannt hat, hält sich an die Tradition, die vor ihm liegt, und die wir von Juden und Christen kennen. Sein Standpunkt ist polemisch wie der ihre. Wir erkennen auch die Nach- wirkungen des Gesetzes Mose darin, dass auch die Tierbilder vom streng rechtgläu- bigen Muselmann nicht als erlaubt betrachtet werden  : und abermals sind hier die Statuen — oder in weiterer Medeutung: «Skulpturarbeilen, die Schatten werfen», wie ein Kommentar sich ausdrückt, — das. was am wenigsten geduldet werden konnte.

Als sich die christliche Kirche auf griechischem und römischem Moden mit Mildern von Christus als einer schönen und ehrwürdigen Gestalt und mit Mildern der übrigen heiligen Personen versorgt halte, wurde es ganz allgemein, Milderkultus zu treiben: je roher die Zeilen waren, um so weniger vermochte man die Kunst als Kunst zu betrachten  ; man schrieb dem Milde selbst übernatürliche Kräfte zu und erzeigte ihm eine religiöse Ehrfurcht, die eigentlich der Person zukam, die es vorstellte. Um diesen Mi Id e r k u I t u s dreht»' sich der byzantinische Bilderstreit i'72(i— S-12); und insofern liegt der Streitpunkt ausserhalb der Kunstgeschichte, die danach fragt, wie das Mild ist und wie es so geworden, sich aber nicht dafür interessiert,


- 147 —


welche Vorstellungen die Menschen daran knüpfen, wenn sie sich nicht auf seine künstlerische Qualität beziehen. Trotzdem enthält die Geschichte des Widerstreites und ihr endlicher Ausgang allerlei, das charakteristische Beiträge zu der Sache liefert, von der wir hier reden.

Der Streit scheint im wesenl liehen infolge eines Einflusses aus dem Osten entbrannt zu sein, indem sich die oströmischen Christen gegenüber dem jungen, kräftigen Islam, der die reine Bilderfeindsehaft in seinem Schilde führte, schämten. Man verhielt sich auch ähnlich wie die Muhamedaner zur Sache, sogar die fana- tischsten Ikonoklasteu sahen Bilder von «Bäumen, Früchten und leblosen Dingen* — um Muharneds Worte zu gebrauchen — als ganz erlaubt, selbst auf kirchlichem Grunde an, ja sie liessen gern die Gestalten Christi und der Heiligen mit dergleichen unschuldigen Dingen übermalen. Man war auch nicht bange, Tiere zu malen, am allerwenigsten Vögel, die hier vielleicht weniger als Tiere denn als eine Art (liegender Blumen betrachtet wurden. Aul weltlichem Grunde erlaubten sich die Bilderfeinde ferner Gemälde, die den Verkehr der Menschen untereinander schilderten: Jagd, Krieg, ländliche Szenen, dekorative Momente, Szenen aus dem Theater und dem Cirkus. Porträls wurden geduldet, ja sogar Forlrätstatuen. Wenngleich die Muhamedaner auch in der Praxis allerlei Dinge geduldet hatten, so gingen die Byzantiner — sogar die bilderfeindliche Partei — doch sicher weiter in der Toleranz: das Volk war ja der unmittelbare Erbe der Traditionen der grossen antiken Kunst. Die Bilderfeinde wollten eigentlich nur auf dem Gebiete der Religion die Kunst nicht dulden. Ks endete damit, dass die Bilderfeindc im Kampf unterlagen und dass das Bedürfnis der niederen Volksschichten nach Bildern der heiligen Personen siegte. Schon da* Konzil zu Nicäa 787 bestimmte, dass Christusbilder erlaubt seien, weil sie nur Darstellungen der m e n s c Ii 1 i c Ii e n Gestalt Christi seien, nicht der Gottheit, die unfasslich war — ein Satz, der, richtig verstanden, vollkommen gesund ist, und für den das Konzil sogar von ästhetischer Seite Anerkennung verdient.

Aber trotzdem wurde die Darstellung der menschlichen Gestalt durch den Aus- gang des Bilderstreites gelähmt, indem die Plastik, namentlich die Statue, aus der byzantinischen Kunst ausgewiesen wurde und gleichzeitig auch wirklich aus der welt- lichen byzantinischen Kunst ausgeschieden zu sein scheint. In bezug auf die Idee liegt hierin nichts neues  : auch Juden und Muhamedaner hatten die Plastik in argein Verdacht, und was das Christentum anbetrifft, so bewirkten die Konzilien nichts weiter, als auf dem Gebiet der oströmischen Kirche die Vorliebe für die Malkunst und den Verdacht gegen die Plastik, der bis dahin in der ganzen christlichen Kirche allgemein gültig gewesen war, festzulegen und zu verschärfen. Und doch ist es eine eigenartige Erscheinung, dass die Malkunst innerhalb einer grossen Glaubcnsgenossen- schaft durch mehr als ein Jahrtausend hindurch Gunst und Ehre genossen hat, während die Plastik gänzlich ausgestorben ist.

Zwischen dem Gemälde und der Statue besteht der Unterschied, dass die Statue die Gestalt für sich darstellt und die menschliche Gestalt allein ist, — ohne Zusatz — , weshalb sie auch die autihumanislische Gcistesrichtung mehr herausfordert,


— 148 —


während die Malkunst die Gestalt in andere Umgebungen führt, ihr einen andern — illusorischen — Raum anweist, eine andere Welt, sich darin zu bewegen und sie in der Regel auch mit andern Gestalten in Verbindung setzt, was ablenkend auf das unmittelbare Verhältnis zu dem Beschauer wirkt. Aber gerade weil die ein- zelne Gestalt in der Statue für sich dargestellt und als selbständige und allseitige Raumgrüsse behandelt wird, bleibt sie das eigentliche Cenlrum und der teste Malt in der Darstellung der menschlichen Gestalt: schon die älteste Geschichte der antiken Kunst hat uns gelehrt, wie die statuarische Kunst in erster Linie erzogen und entwickelt werden musste, ehe die andern Darstellungsweisen Schritt halten konnten. Wird die statuarische Darstellung geschwächt, scheidet sie gar ganz aus der Kunst aus, so fühlt man die Schwächung auf der ganzen Linie. Es ist vorbei mit der rechten Durcharbeitung der Form der einzelnen Figur; wenn auch noch etwas durch das Zusammenspiel der Figuren ausgedrückt werden kann, wird doch jede von ihnen, für sich genommen, gleichsam der Schatten eines Körpers. Eine Konstruktion kann sinnreich und wohl- durchdacht sein, sind aber ihre einzelnen Kiemente gebrechlich, so wird das ganze doch nicht haltbar. Indem die Kirche der byzantinischen Kunst diesen Schaden zu- gefügt, hatte sie freilich eine leichtere Herrschaft über sie errungen, ihr zu- gleich aber die Möglichkeil abgeschnitten, durch eine selbständige künstlerische Initiative kräftig verjüngtes Leben zu gewinnen. 1

In der abendländischen Christenheit sind die Bilder der menschlichen Gestalt später gar oft und an verschiedenen Orlen fanalisch angefochten worden. Doch sind es sonst vorübergehende Stürme gewesen  : nur eine einzelne der grossen Kirehen- gemeinschaften, nämlich die reformierte, hat gleich von ihrer Absonderung von der römischen Kirche an, im IG. Jahrhundert als Gesetz aufgestellt, d a s s Wilder in den Kirchen nicht geduldet werden dürfen. Man verhielt sich zu der kirchlichen Kunst und dem Heiligenkultus des Katholizismus wie die Juden im Altertum zu dem griechisch-römischen Humanismus und Poly- theismus. Die schweizerischen Reformatoren beriefen sich auch bestimmt auf Gottes

• Die Ausstattung der grossen Kirchen in St. Petersburg zeigt, dass die abendländische, antik-italienische Tradition hier in hohem Masse auf dem Gebiete der griechisch-katholische«  Kirche Eingang gewonnen hat. Die Kasan-Kirche and namentlich die Isaak-Kathedrale prangen von aussen mit einer reichen Fülle plastischer Arbeiten, Statuen wie Reliefs. Die Isaak-Kirche hat auch im Innern Kreuze-Türen, geschmückt mit Reliefs nach Vorbildern der berühmten Ghibertischen Türen, sehr schöne UDd tüchtige Arbeiten. Die Gemälde im Innern der Kirchen gehören zum Teil der west- europäischen Kunsteulwicklung an. Viele Heiligenbilder, die Gegenstand der Anbetung sind, sogar im Allerheiligsten selber, an der Rilderwaud (Ikonostasis) hinter dem Altar, sind als Relief aus- geführt, beinahe als freistehende Statuen aus Metall (Gold, Silber, vergoldet, versilbern. Hier aber macht sich doch die alte byzantinische Tradition auf die sonderbarste Weise geltend, indem das Nackte an den Figuren, Köpfe und Hände in Malerei ausgeführt sind, Nach, nur mit malerischer Angabe von Licht und Schatten. Während die bekleideten Partien der Figuren im stärksten Metall- bau/, prangen, der um so prächtiger wirkt, als sie in mehr oder weniger erhabener Form ausge führt sind, stehen die Köpfe und die Hände matt und dunkel da und werden sichtbar durch aus- geschnittene Löcher im Metall, was namentlich da eine sonderbare und auf den ersten Blick unver- ständliche und undeutliche Wirkung hervorruft, wo mehrere Personen zu einer Gruppe vereint sind, und wo man eine ganze Menge solcher ausgeschnittener Löcher über die blanke Metallflache ausgebreitet sieht.


- 149 —


im alten Testament gegebenes Gesetz, indem sie das Verbot des Gesetzes Mose gegen die Müder als ein Hauplgebot betrachteten. Doch gehen sie nicht so radikal zu Werke wie die .Inden (oder wie die älteren Kirchenväter): sie erkennen an, dass die Kunst — als») in diesem Fall die Darstellung der menschlichen Gestalt — eine Gabe von Gott ist. Für sie ist eigentlich auch nur der Bilder k u 1 1 u s da» Aergernis Kriegende, und wenn sie überhaupt der Kunst gegenüber auf ihrem Posten sind, so geschieht das, weil sie eine Gefahr für religiösen Missbrauch enthält  : Wer keine Störche auf seinem Hause haben will, sagt Zwingli, tut am klügsten, die Storchennester zu verbrennen. Ein Uild von Gott (Vater» darf unter keiner Bedingung geduldet werden; und was Christus- bilder und Kruzifixe anbetrifft, so stellt Zwingli denselben Gedanken auf wie das Konzil zu Nicäa 7*7: dass im Bild nur das menschliche Wesen Christi dargestellt wird, nicht das göttliche Wesen ; aber — schliesst er — da es umgekehrt nur Christi Gölllichkeil, nicht aber sein menschliches Wesen ist, das uns erlöst hat, darf dieses niemals Gegenstand irgend eines Kultus werden.

In bezug auf das Erlaubtsein der Bilder macht namentlich Calvin einen Unter- schied, der einer grossen künstlerischen Bedeutung nicht crmangelt ; diese erklärt sich aus dem, was wir oben in Anlass des byzantinischen Bilderstreits gesagt haben. Er unterscheidet nämlich zwischen zwei Arten von Bilder: I. diejenigen, die Historien und Begebenheiten darstellen, von denen er zugibt, dass sie eine Anwendung als Lehre und Erinnerung linden könnten, — obwohl Zwingli der Ansicht ist, dass sie uns nur die äusseren Glieder und Gebärden der Historien zeigen, die zu kennen keinen Deut wert ist, — und 2. diejenigen, die «Bilder ii ii d Formen von Körpern darstellen,«  «Menschenkörper» (hnminum corporai, «ohne Angabe der Begebenheiten*; die können nur zu weltlichem, sinn- lichem Vergnügen dienen und sollten deswegen ganz verworfen werden. Der Unter- schied, den er aufstellt, handelt also von Figuren, die in dramatischem Verkehr dargestellt sind im Gegensatz zu Figuren die einzeln dargestellt sind und folglich in direkterem Verhältnis zum Beschauer stehen; und sein Unwille gegen die letzteren wird insofern von der ganzen Geschichte bestätigt, als es immer vorzugsweise diese sind, die die grosseste Freude des Humanismus und das grosseste Aergernis des Antihumanismus sind. Er denkt ohne Zweifel speziell an die einzelnen Figuren von Heiligen, die zu seiner Zeit so allgemein waren, sowohl in plastischer wie in male- rischer Darstellung: nackte Sebastiane, gepulzte oder halbnackte Magdalencn u. s. w.; und er klagt bitter über all die sinnliche Frechheit, die der Künstler dabei an den Tag gelegt hat.

In den Kirchen selber will jedoch Calvin weder Bilder der einen noch der andern Art dulden: in den ersten 500 Jahren des Christentums, seiner reinsten und besten Zeit, war man ja ohne sie fertig geworden, was beweist, dass die Väter der Kirche sie nicht für Nutzen oder Erlösung bringend ansahen. Er weist auf Augustins psychologische Betrachtung der Wirkung des menschlichen Bildes auf den Beschauer hin : wenn den Figuren selber auch Sinn und Leben fehlt, beeinllussten sie dennoch schwache Geisler durch ihre Aehnlichkeit mit lebenden Gliedern und Sinnen, su dass


— 150 -


sie selber zu leben und zu atmen seheinen: - die im Körper wohnende Seele des Beschauers glaubt notwendigerweise ihren Körper mehr zu f ü h 1 e n, weil sie einen sieht, der ganz gleich mit dem ihren ist: — die Menschen- bilder haben mehr Macht, eine unglückliche Seele irre zu führen als sie auf den rechten Weg zu leiten, denn sie haben Mund, Augen, Ohren, Füsse, können aber nicht reden, sehen, hören, gehen, — ein Gedanke, der schon im 1 15. Fsalm aus- gesprochen ist.

Im Gegensalz zu der eitlen und flüchtigen Seelenbewegung, die durch die Ge- stalten der Kunst hervorgerufen wird, ist, nach Ansicht dieser Informatoren, allein das Wort den Christen zur wahren Erleuchtung gegeben, und die Taufe und das Abendmahl sind die wirklichen, vom Herrn selbst geweihten Milder.

So reinigten das Wort und der abstrakte Gedanke die Kirche von den Figuren, nicht nur die reformierte Kirchengemeinschaft, sondern auch zum grossen Teil die lutherische, obwohl der sächsische Reformator die Bilder, wenn auch nicht den Bilder - kullus in Schutz genommen hatte. Der bilderfeindliche Kalkpinsel übte seine Mission unter den Christen des Nordens aus wie unter den Muhamedanern, wenn sie christ- liche Kirchen in Moscheen verwandelten.


Von allem, was über dem rein Materiellen liegt, gibt es wenig oder vielleicht nichts, was eine solche Macht besessen hat, die Menschen in Leidenschaft gegen einander zu versetzen wie diese Frage, ob Menschenbilder oder nicht Menschenbilder. Sie hat historische Stürme aufgewirbelt und wegen dieser Frage hat sich die Menschheit in grosse Parteien geteilt: die Anhänger ganzer Religionen sind von der Darstellung der menschlichen Gestalt abgefallen, die Heiligtümer anderer verschlossen sich ihr, oder sie wurde unter die Aufsicht einer Fricsterschaft gestellt, die ihre Entwicklung hemmte. Und dies alles hat ohne Zweifel einen grossen Anteil an dem psychischen Zustand der Menschheit, wenn man sie in ihren breiten Massen überschaut.

Aber diese grosse Teilung bezeichnet nur eine äussere Grenzlinie für die Ge- schichte des Interesses, das wir hier studieren. Wichtiger für uns ist, was inner- halb des Gebietes vor sich ging, namentlich in dem grössten Teil des christlichen, abendländischen Europas, wo man das unbesclinittene Recht hatte, die menschliche Gestalt darzustellen. Und doch hatte man dort nicht die ungestörte Ruhe, diese Kunst unangefochten zu treiben wie im Altertum in Griechenland Gerade, wenn sie am allerbesten gedieh, konnte sich eine plötzliche Feindschaft gegen sie erheben, sie im Namen der Religion anklagen und sie verdächtig machen. Und noch wichtiger für uns ist es, dass der Geist, der den Wert des menschlichen Aeussern, sein «Fleisch- verleugnete, und der dem Menschen nicht erlauben wollte, Freude an seiner eigenen Gestalt zu empfinden, sich in die Kunst selber eindrängte und einen bestimmenden Einfluss darauf erhielt. Im Gegensatz zum Altertum linden wir in der Kunst des ganzen


- 151 -


ohris! Hohen Zeitalters einen Wogensehlag, eine Abwechslung /.wischen antihumanis- tisehen Richtungen und Perinden, wo die Menschheit nicht einmal mehr zu atmen wagte, und humanistischen, wo man wieder frei aufatmete und sich stolz fühlte, ja, in Kraft des Gegensatzes noch stolzer, schwellender und trotzender als im Altertum.

Aber am allerwich tigslen ist es doch, dass dieser Wellenschlag, dies Vi- brieren zwischen Gegensätzen, in das innerste Mark des einzelnen Künstlers dringt und allen Werken, jeder einzelnen Figur ein eigentümliches Gepräge im Gegensatz zu dem Altertum aufdrückt. Die grosse historische Spaltung der Welt in Bilderfreunde und Hilderfeinde findet man auf seelischem Gebiete wieder, in der einzelnen Mensehen- seele, dje auch ihre Bilderstürme durchleben kann. Kein Künstler ist ein grosser Darsteller des Menschen geworden, ohne eine lebendige Anziehungskraft in seiner Natur und Gestalt empfunden zu haben, — das gilt für die christliche Zeit wie für das Altertum. Aber seit der Einführung des Christentums gibt es auch keinen Künstler, der nicht von der frühesten Kindheit an und aus den das Leben bestim- menden Umgebungen Tropfen des reinen Antihumanismus gesogen hätte: jeder hat von dem leidenden .Sohn Gottes am Kreuze gehört und sein Mild gesehen; jeder hat das Wort von der Entsagung des Fleisches gehört. Dies gibt eine ganz andere psychologische Grundlage für die Darstellung des Menschen als sie für irgend einen Künstler im Altertum vorhanden war. Und darin besteht das wahre Charaktermerk- mal der sogenannten christlichen Kunst. Ks kommt hierbei nicht darauf an. ob der Künstler als ein mehr oder weniger guter Christ anerkannt werden muss, oder welche Ansichten er allmählich im Leben über die Dogmen des Christentums entwickelt, oder ob er heidnische oder christliche Vorwürfe darstellt; das Spiel ist auf alle Fälle in Gang gesetzt  : eine neue und weit stärkere Spannung zwischen Selbstbetätigung und Selbstverleugnung, und kein einzelner Künstler kommt hinaus über die psychologischen Grundbedingungen, die für das ganze Gesohlecht gellen.


DIE ALTCHMSTLICHK BILDENDE KUNST. DAS CHRISTLICHE MITTELALTER.


Oie Zeit nach dem Sturz des Heidentums. Missliche Bedingungen für die bildende Kunst.

Die altchristliche Symbolik kann mannigfaltiges Interesse darbieten, aber das In- teresse ist nicht künstlerischer oder kunsthistorischer Natur. Die künstlerische Betrachtung hat nichts damit zu tun, welche Vorstellungen infolge der l Jeboroinkunfl in die Form oder die Gestalt gelegt werden, sondern nur mit den Vorstellungen, die in ihr einen solchen Ausdruck linden, dass joder Mensch sie ohne besondere Belehrung oder Einweihung sehen kann. Von einem kunsthislorischen Gesichtspunkt aus ist die Kunst, die in den Katakomben von Rom oder Neapel ausgeübt wurde, nur als Abfall derjenigen zu betrachten, die gleichzeitig über der ganzen Welt aus- geübt wurde. Namentlich in bezug aul die Darstellung der menschlichen



- 152 -


Gestalt hat die Kunst der Katakomben keine Bedeutung, die darüber hinausgeht. Dies isl keine willkürliche Betrachtung nach einem einseiligen, vagen Standpunkt : es ist im Gegenteil eine, w ichtige historische Tatsache, dass die ältesten Christen auf dem ursprünglich heidnischen Grund in künstlerischer Beziehung nichts weiter ver- mochten, als auf die bescheidenste Weise die Kunst des Heidentums auszuüben, indem sie ihr christliches Gewissen damit trösteten, dass sie die Figuren, die sie in der Schule des Heidentums gelernt hatten, auf Grundlage von Erzählungen des alten und des neuen Testamentes gruppierten, — oder z. B. an ein Motiv, das in der heid- nischen Welt Hermes als Beschützer des Viehes bedeutete, eine Vorstellung von dem guten Hirten zu knüpfen, der in dem Gleichnis des neuen Testamentes abermals ein Svmbol für Christus isl. Solange Form und Stil nicht umgewandelt werden, ist die Kunst dieselbe, wenn sie nach aussen hin auch in den Dienst von Menschen eines diametral entgegengesetzten Glaubens und heterogener Lebensanschauung getreten ist.

Mit Konstantin dem Grossen trat die Kunst insofern auf neue Weise in den Dienst des Christentums, als dieses nun auf die Erde hinaufgelangt, eine herrschende Beligion geworden war. Aber zu gleicher Zeit war die Kunst auf Grund des Aul- lösungszustandes der ganzen antiken Kultur zu dem äussersten Funkt von Untüehtig- keit und Barbarei gelangt. Die grosse antike Schule in der Darstellung der mensch- lichen Figur wur verloren gegangen, von einer ruhigen Betrachtung und scharfen Auflassung der Gestalt war keine Bede mehr; — nur ein ererbter Anspruch auf bildliche Verherrlichung der Gottheit oder des Kaisers setzt noch Meissel und Pinsel in Bewegung, das Auge aber war stumpf. Dann folgt die Völkerwanderung mit ihrer ferneren Entkräftigung des ganzen antiken Kulturlebens.

Es waren die nördlicheren europäischen Völker, die das römische Beich stürzten, und deren frische Kraft schon seit Jahrhunderten ihren Einlluss auf die Sitten und Gebräuche des alten Herrschervolkes ausgeübt hatten. Eine Folge davon war die durchgehende Veränderung in der K I e i der t rac h t gewesen, die seither und bis auf den heutigen Tag in fast ganz Europa gellend gewesen ist. Es war der Typus der medisch-skythischen Kleidertracht, der auch in Italien die antike verdrängte. Statt des freigefalteten Gewandes, das den nackten Körper lose umschloss, und so leicht von ganzer oder teilweiser Nacktheit abgelöst werden konnte, wurde die eng- anschlicssendc Tracht mit Beinkleidern für Männer und langem Bock für Frauen durchgeführt. Die eigentliche antike Tracht hatte einen republikanischen Charakter gehabt Sic bezeichnete, ebenso wie die Nacktheit selber, im wesentlichen die Gleich- berechtigung der Menschen in der Gesellschaftsordnung. Aber schon unter dem römischen Kaisertum war dies republikanische Gleichheitsgefühl allmählich von einem durchgehenden St an des im t er seh ied, einer Bangordnung, einer Hierarchie, man möge das Wort in welllicher oder in geistlicher Bedeutung aufhissen, abgelöst worden. Diese neue Auffassung der Gesellschaftsordnung wurde jedoch erst im christlichen Mittelalter wirklich durchgeführt und in Liebereinstimmung damit erhielt auch die Kleidertracht — im Gegensalz zu der des Altertums — durchgehends den Charakter einer Standeslracht (Ornat;, indem jeder besondere Stand, jede Stufe in der Bang-



- 153 —


folge ihre deutliche Bezeichnung in der Kleidcrtraeht erhielt. Dies spiegelt sich auch in der Kunst bis zum Schluss des Mittelalters ab: doch hält die Kunst nicht immer ganz Schritt mit der Wirklichkeit des Lebens, insofern, als sie in beza«  auf einzelne Gestalten, die in religiöser Hinsicht besonders wichtig waren i die Person der Gottheit, die Apostel und dergl.) das freiere, plastische Gewand nach der alten Tradition bei- behält.

Nichts bezeichnet deutlicher und klarer, dass es mit dem antiken Interesse fin- den menschlichen Körper ein Knde hatte, als diese Veränderung in der Gewandung. Wenn auch Schönheil und Kraft jetzt wie immer im Kurs waren, herrschte doch keine klare und ruhige Aufmerksamkeit für ihre Aeusserung in den einzelnen Teilen und Formen des Körpers. Sowohl infolge der veränderten Keliginn, wie infolge der veränderten Kleiderlracht musste die Nacktheit eine ganz andere Bedeutung erhalten als im Altertum. Man sah sie weil seltener im Leben  : sie erhielt auch mehr den Charakter einer Ausnahme von der herrschenden Sitte, das Auge scheule sich, sie zu sehen oder sah sie in einem Geiste, der von der Religion als sinnlich und schlecht gestempelt wurde. Die von der Kunst behandelten Vorwürfe wiesen nur ganz aus- nahmsweise Darstellungen des nackten Körpers auf. Er wird in gewissen Vorwürfen neutral aufgefasst, ohne einen Versuch der Verherrlichung oder der Erniedrigung, — so in dei\ Darstellung von Adam und Eva, von Christi Taufe, von den Toten, die aus den Gräbern auferstehen. Im allgemeinen aber wird die Nacktheit im ganzen Mittelalter von der antihumanistisehen Seile betrachtet, als Zustand der Merkwür- digkeit und des Elendes. "Dies gilt namentlich von den Mildern von Christi Leiden und vor allem von Christus am Kreuz; denn die Nacktheil wird wie ein Teil des Leidens aufgefasst, ein Unrecht, das die Menschen dem Erlöser zufügen. Auch die Verdammten in der Hölle werden immer nackend dargestellt, wohingegen die Se- ligen, wenn sie durch die Pforte des Paradieses eingegangen sind, immer völlig be- kleidet erscheinen, ein jeder nach seinem im irdischen Leben innegehabten Stand. Da die Nacktheit ihren besonderen Stachel hat in bezug auf das geschlechtliche Ver- hältnis zwischen Mann und Frau, das das Mittelalter infolge seiner religiösen An- schauung nicht frei und natürlich aufzulassen wagte, kommt es auch sehr häufig vor, dass die Kunst des Mittelalters die Bezeichnung des Geschlechtsunterschicdes ver- meidet oder umgeht, und nur ganz ausnahmsweise widmet sie dem durchgehenden charakteristischen Gegensatz zwischen dem Körperbau der beiden Geschlechter Auf- merksamkeit. Die Kindergestalt wird wie in der ältesten griechischen Kunst im ganzen so behandelt wie die Gestalt eines Erwachsenen in vermindertem Massslabe.

Wenn das Mittelalter sich der nackten Gestalt gegenüber so feindlich erzeigte, ist es ganz selbstverständlich, dass es kein wirklich plastisches oder malerisches Verständnis für die Gestalt überhaupt grossziehen konnte. Infolge der Natur „ unserer Betrachtung lernen wir die bildende Kunst jener Zeit gerade von ihrer schwächsten Seite, der Behandlung der einzelnen Figur kennen. In dieser Richtung bezeichnet das Mittelalter unbestreitbar eine Nacht oder Dämmerung — trotz einzel- ner klarerer Augenblicke. Seine Kunst kann ein ausserordentliches Interesse in bezug



- 154 -


Hilf alias darbieten, was zwischen den Figuren liegt, — an symbolischen und drama- tischen Verhältnissen; die Figur selber wird aber so gut wie nie, sie mag mit den Massen des Altertums oder mit denen der neueren Zeit gemessen werden, vor der Betrachtung unmittelbar Stich halten: sie war nicht als solche tiegenstand des künst- lerischen Interesses des Zeitalters.

Darum Tassen wir uns auch kurz in bezug auf die Darstellung der menschlichen (Jestall im Mittelalter. Wohl liegt eine unendliche Fülle von Monumenten vor, aus allen Ländern Kuropas, sowohl aus der weströmischen wie aus der oströmischen Kirche. Alle diese Monumente haben den berechtigten Anspruch auf gründliches Studium und sind schon in weitem Umfang Gegenstand eines solchen gewesen. Auch ihr Figurstil muss studiert werden  : in dieser Hinsicht ist wohl noch ungeheuer viel zu tun übrig. Der Stil in der Behandlung der menschlichen Figur wie in allem an- dern kann dazu dienen, ein Merkmal für die historischen und geographischen Gruppen von Kunstwerken zu bilden, sodass man mit immer grösserer Schärfe und Sicherheit lernen kann, jedes einzelne Werk auf seine Zeit und seinen Ort zurückzuführen, oder die Verbindung zwischen den verschiedenen Schulen, Beeinflussung des einen Landes auf das andere u. s. w. nachzuweisen. Dies ist natürlich eine sehr wichtige histo- rische Aufgabe. Man richtet hierbei sein Auge auf die eigenartigen Gewohn- heiten, die konventionellen Methoden, die sich überall entwickelten, wo eine Schule gebildet wurde und die den Figurstil in allen den verschiedenen Ländern Europas verschieden machen. Man benutzt diese Gewohnheilen und Methoden zu Grenzscheiden und kann dadurch zu schönen und sicheren Resultaten in bezug auT die Ausbreitung der Kunst und die Verbindungen der Völker gelangen, — wie über- all, wo man es mit fest ausgeprägten Formen für menschliche Kunst und Wirksam- keit zu tun hat. Aber an und für sich haben diese Gewohnheiten und Methoden keinen wirklich künstlerischen Wert; sie gehen aus keinem eigentümlichen und selbst- ständigen Interesse für die menschliche Gestalt als Gegenstand der Kunst hervor; sie finden sich nur auf irgend eine Weise mit ihr ab, die oft einen ganz zufälligen Grund und Ursprung haben kann, während Gedanke und Blick in Wirklichkeit auf andere Seiten der Sache hingewendet sind. Deshalb würde es das wahre Bild von der Entwicklung der Geschichte völlig entstellen, wenn man sich in diese lokalen und temporären Schulmanieren mit derselben Aufmerksamkeit vertiefen wollte, wie z. B. in die Darstellungen der menschlichen Gestalt bei den Griechen oder den späteren Italicnern. In die soll man sich vertiefen, weil die Künstler selber in dies Thema vertieft waren.

Von unserem Gesichtspunkt aus ist sogar der sonst so. wichtige Unterschied zwischen dem Stil der weströmischen und der oströmischen Kirche, dem roma- , nischeu und dem byzantinischen, von keiner wesentlichen Bedeutung. Die Grundlage für sie beide ist noch immer der antike Stil. Im byzantinischen Reich ist die Antike ganz in einen mumienhaften Zustand übergegangen, sodass alles mehr und mehr nach dem Rezept gemacht wird. Das Interesse für die menschliche Figur ist ungefähr gleich Null und hat also keinen positiven Wert für uns. In der abendländischen


- 155 —


Kirche bewegt man sich freier, weniger an die Regel gebunden: aber es kommt vor- läufig nichts vor, das etwas positiv Neues an Stelle der alten Tradition setzen kann. Die Kunst wird grösstenteils in willkürlich festgestellten, schematisierten Formen ge- übt, die nur einzeln von einem frischeren Blick auf die Wirklichkeit durchbrochen werden, doch mehr in bezug auf den seelischen Ausdruck als auf die körperliche Form. An einigen Punkten artet diese Schematisierung ganz in Verwirrungen aus, durch die man kaum die menschliche Gestalt wieder erkennen kann, an andern gehl sie auf Zustände zurück, die der ältesten Periode in der Kunstgeschichte der Menschheil entsprechen.

Frst ungefähr um das Jahr l'JOO fängt ein neuer Figurstil an sich zu äussern. Wenn man die Geschichte der Kunst nach wirklich historischen Grenzinerkmalen ein- teilen will, gelangt man eigentlich zu dem Resultat, dass das Altertum erst mitten in der Periode aufhört, die wir sonst als Mittelalter bezeichnen. Dies gilt — ausser von Literatur und Baukunst — auch von der Bildnerei  ; denn wohl war die antike Tradition schwach und leblos, verkrüppelt und melancholisch geworden, noch aber war sie durch nichts Neues abgelöst. Der Antihumanismus kann wohl den Huma- nismus schwächen und aussaugen, aber einen positiven Stil kann er nicht schaffen:' dazu gehört eine neue Hoffnung.

Die Kunst des älteren Mittelalters hatte doch noch etwas bewahrt, was den Ge- danken auf die Eigentümlichkeil der antiken Kunst in ihrer kräftigen Periode zurückführt : ein gewisses G ep rüge von ti ber lege ne r Ru he u nd Sich erh ei t, z. B in den thronenden Figuren der Gottheit. Sogar der gekreuzigte Christus tritt oft mit einem solchen Gepräge auf; die eigentliche Idee des Leidens hat in dem äl- teren Kruzifix noch keinen Ausdruck gefunden. Das christliche Zeitalter und die antike Heidenschaft dachten beide an eine ideale Welt, die über dem wirklichen Leben lag; Heiden und Christen waTen gleich grosse Idealisten. Das, was den Unterschied zwischen ihnen ausmacht, ist ihre verschiedenartige Auffassung von dem Verhältnis zwischen dem Irdischen und dem Himmlischen, dem Wirklichen und dem Idealen. Die antike Kunst, ebenso wie die Poesie und das Geistesleben der Antike überhaupt, sind von der Vorstellung gestempelt, dass die ideale Welt ihre festen Grenzen hat, über deren Schwelle niemand treten darf, der nicht mit dem idealen Privilegium ge- boren ist. Das olympische Göttergesehlecht wachte eifersüchtig über seinem Privile- gium, und zum Olymp erhielt kein Sterblicher Zutritt. Aber nicht allein in bezug auf Hie Vorstellung von den Göttern galt diese privilegierte Idealität  : die Menschen, z. B. die Bürger und Bürgerinnen Athens traten in der Kunst idealisiert auf wie die Gölter und mit demselben Gepräge, dass die Idealität nichts ist, was sich erwerben oder erlangen Iässt ; sie regt sich frei und echt menschlich, ist aber aristokratisch und vornehm. Wer sie hat, der hat sie, und wer sie nicht hat, kommt gar nicht in Betracht.

Im späteren Altertum hatte man auf verschiedene Weise in der Phantasie eine Brücke zwischen Himmel und Krde gebaut und sich einen Lebergang von dem Realen zu dein Idealen gedacht: dass sich die Menschen zu göttlicher Erkenntnis aufschwingen oder in die Gemeinschaft der Gölter aufgenommen weiden


- 156 —

können. Aber diese Phantasien hallen keine Macht besehen, der Produktion der Antike ein anderes Gepräge zu verleihen als das ursprüngliche. Erst mit dem Christentum kam der (Haube in die Welt, dass es eine Himmelsleiter gäbe, die von dem Erdenlcben zu ewiger Freiheit, Vollkommenheit und Seligkeit führte. Damit wurde der Menschheit eine ganz neue Psychologie eröffnet, eine Skala aufwärtsstre- bender, dem Ideal nachjagender Gefühle, an denen alle teilhaftig waren. Die Ge- stalten der Antike wenden selten den Wiek gen Himmel, höchstens um zu den er- zürnten Göttern um Schonung und zu den gnädigen Göttern um irdisches Glück zu flehen. Aber dieser gen Himmel erhobene Mick, dieses AuTwärtsstreben im Gefühl, das auf die höchste Vollkommenheit ausgeht, wird von der Mitte des Mittelalters an das Hauptmerkmal der höchsten Darstellung der menschlichen Gestalt und blieb es fünf bis sechs Jahrhunderte lang, bis zur Zeit der französischen Revolution. Ks ist im grossen und wesentlichen eine Periode trotz aller grossen Widersprüche und Er- eignisse innerhalb derselben. Was das Mittelalter ängstlich und körperlos ausdrückt, erhält seinen vollen Ausdruck in den starken und körperlichen Gestalten der Renais- sance, und die kräftigen Töne der Renaissance geben ein paar Jahrhunderte später abermals Widerhall.

Und jener Himmelsleiter, auf der die Menschen aufwärtsstreben, entspricht aber- mals die Vorstellung von der Gottheit, die den Menschen durch die Macht der Liebe aufwärts zieht, und ihn als den lange erwarteten Gast empfängt. Diese Vorstellung kleidet sich am liebsten in eine weibliche Gestalt, in die der Mutter Gottes, der Maria — und ihrer Gestalt widmet die Kunst die höchsten Vorstellungen von der Wärme der Liehe und der unendlichen Külle der Gnade. Diese weibliche Gesiult wird die Hauptfigur in der ganzen Periode, die wir oben be- zeichnet haben. Sie tritt nicht nur als diejenige auf, die Gottes Gnade mitteilt, son- dern auch als höchste Repräsentantin der Menschheil, als diejenige, die nach Gnade schmachtet.


DIK SKCLPTIR I ND MALEREI DER KATAKOMBEN.

So währt es denn lange, bis der Grundwall für das Seelenleben des Menschen- geschlechts ganz umgepflügt wird, und noch länger, bis dort Bäume einer neuen Art wachsen. Ks ist möglich, dass die Flamme des neuen Geistes am reinsten und stärk- sten bei ihren frühesten Mekeunern brannte  ; es würde aber sehr verkehrt sein, daraus zu schliessen. dass die früheste -christliche Kunst- die christliche Kunst auch am reinsten repräsentiert hätte. Wenn die einzelne Menschenseele ihre Krisen in einem Jahr durchlebt, so fordert die Kulturgeschichte des Menschengeschlechts ein Jahrlausend.

Von christlichen Gemeinden linden wir die bildende Kunst zum ersten Male unter der Erde ausgeübt, und zwar in den geheimen Grabstätten der Christen in römischen Katakomben aus der Zeil, wo sie über der Erde in Bedrängnis und



— 157 -


Verfolgung lebten, im zweiten, dritten und vierten Jahrhundert. Die Katakomben sind ein Lieblingsgegenstand der frommen historischen Betrachtung und gleichzeitig der christlichen Archäologie geworden: ein grosses Foliowerk nach dem andern hat der Welt gelehrte Untersuchungen über sie und prächtige Wiedergaben ihrer Bilder mitgeteilt, und die Resultate dieser Forschungen sind auch in die allgemeine Kunst- geschichte aufgenommen, wo sie ein ansehnliches Kapitel ausfüllen. Und wohl sind die Katakomben der Aufmerksamkeit wert Was ist rührender als diese Erinnerungen an ein Genieindeleben, das sich in stillem Heldenmut und einträchtiger Liebe um eine neue, unbefleckte geistige Fahne schart und im Verborgenen wie eine klare und milde Lampe brennt, während das Leben oben im Tageslicht sich verwirrt und ver- dunkelt ! Wer würde diesen heiligen Ueberresten einen Vorwurf daraus machen, dass sie gering, arm und bescheiden sind? Im Gegenteil, das macht sie dem Gefühl unendlich viel teurer. Hier erwarten wir alles andere als Pracht, und, wohl zu be- achten, wir erwarten eigentlich nicht einmal Kunst. Künden wir an den Wänden der Katakomben ein wirklich ausgezeichnetes Freskogemälde, das von der Hand eines grossen Malers zeugte, so würde das unsere Stimmung stören, die weit stärker! in Bewegung gerät beim Anblick der leichten, flüchtigen, unbeholfenen Andeutungen von etwas, dessen Bedeutung weit über die Kunst hinausreicht.

Hier ist etwas, das zugleich hoch über und lief unter der künstlerischen Kritik liegt. Verlangt man, dass die eine Seit«' der Sache anerkannt wird, so muss man sich auch zu der andern bekennen. Nicht die Geschichte der Kunst soll den Ruhm der Katakombenbilder verkünden : das müssen wir der Kirchengeschichte überlassen, der Monumeutal-Theologie, oder wie man es nennen will. Laien quälen sich in der Regel wohl nicht darüber, in welches Fach der Wissenschaft die Dinge gehören ; Aufklärung über das, was eigenartig ist. will man gern haben, doch nimmt man es nicht so genau damit, wo man sie lindct. Für die Wissenschaft selber darf dies je- doch nicht gleichgültig sein : nicht ungestraft bringt sie ihre Rahmen in Unordnung oder verrückt sie ihre Gesichtspunkte. Begeht sie einen Missgriff hierin, so tut das auch der allgemeinen Betrachtung Sehaden, die verleilet wird, etwas in den Dingen zu sehen, was nicht da ist, und ihnen eine Art Autorität beizulegen, die sie nicht haben.

Als Kunst betrachtet — und in erster Linie als Darstellungen der menschlichen Gestalt — können die Gemälde und Skulptnrarbeiten der Katakomben nur als der minderwertigste Abfall der gleichzeitigen heidnisch-römischen Kunst betrachtet werden, die oben über der Erde im Licht des Tages ausgeübt wurde, — als armselige Bro- samen vom Tische der Reichen gegen Ende der Mahlzeil. Ks wird sicher eine Zeit kommen, wo die Kunstgeschichte nicht viele Worte" uif sie verschwenden wird ; aber wir, die wir sie weit und breit unter dem Gesichtspunkt einer eigenen, selbstän- digen Art von Kunst behandelt finden, müssen ihnen ein wenig mehr Worte widmen, um Rechenschaft für die Berechtigung unseres Standpunktes abzulegen. Wir finden überhaupt die allgemein angenommene Bezeichnung «a 1 1 c h r i s 1 1 i e he K u n s t » irre- leitend und zu einer falschen Auflassung führend. Sie kann selbstverständlich ganz brauchbar sein als äusserer umfassender Gattungsname für die künstlerischen Hinter-


- 158 -


lassonschaften der Christot) des Altertums: das Unglück isl mir, dass man so leicht da/u kommt, ihr den Sinn unterzulegen, als sei in diesen Ueberreslen etwas, das in künstlerischer Beziehung verschieden von der übrigen Kunst des Altertums isl, ein eigener Stil, eine eigene künstlerische Qualität. Es geht auf keine Weise an. die altchristliche Kunst als Glied in der künstlerischen Kniwicklung zu be- trachten, das in beztig auf Bedeutung auch nur im entferntesten Masse der ägyp- tischen oder griechischen Kunst, der Gotik oder der Renaissance etc. entsprechen könnte. Dass die römischen Christen aus den ersten Jahrhunderten unserer Zeit- rechnung, trotz aller Not und Bedrängnis von aussen, sowie der Scheu vor Bildern, in ihrer eigenen Gemeinschaft, dennoch infolge ihrer nationalen, vom Heidentum er- erbten Gewohnheit Pinsel und Meissel zu Hille nahmen, um ihre Grabstätten würdig auszuschmücken, ist ein für die Geschichte der Kunst äusserst unbedeutendes Phäno- men. In allem, was man vor Augen sehen kann, in allem, wozu eigentliche künst- lerische Wirksamkeit gehört, in Behandlung von Form, Farbe, Gestalt tritt uns nichts neues entgegen, nicht einmal ein Keim zu neuem; wenn hierin aber nichts neues liegt, so ist man in künstlerischer Beziehung ja nicht weiter gelangt. Ks ist sehr wichtig, dass die Geschichte diese Tatsache richtig bucht, und dass sie nicht, ver- leitel durch den Umstand, dass ein neuer und unendlich folgenschwerer Enlwicklungs- wechsel im religiösen Leben begonnen hatte, deshalb von der Voraussetzung ausgeht, dass dies neue Leben auch von Anfang an etwas künstlerisch neues im Gefolge haben musste.

Es geht mit der Darstellung der Figur wie mit der Architektur: ob man in einer Art Baum, den das heidnische Altertum als 'Basilika» bezeichnet, Geschäfte - oder andere weltliche Verrichtungen betreibt, oder ob man Psalmen zu Ehren des dreieinigen Gottes singt, das tut für die Kunst und die Kunstgeschichte nichts zur Sache, so lang*? der Stil des Baumes, der Charakter, die Stimmung sich nicht nach dem Leben verändern, das hier drinnen vor sich geht. Oder wenn man eine korin- thische Säule, die früher zu einem heidnischen Tempel gehört hat, zu einer christ- lichen Kirche verwendet, bekehrt man deshalb die Säule zum Christentum?

Aber — wird man einwenden — das Merkwürdige bei der bildenden Kunst der Katakomben isl ja gerade, dass wir jeden Augenblick uuf christliche Ideen, christ- lichen G e d a n k e n i n h a 1 1 stossen. Soll das denn gar keine Bedeutung haben V Ist die Kunst allein das, was man vor seinen Augen sieht, und geht es die Kunst nichts an, welche Bedeutung dahineingelegt ist?

Wir reden dem künstlerischen Materialismus keineswegs das Wort  : für uns ist das Körperliche und Sichtbare in der Kunst nichts ausser in Verbindung mit etwas Seelischem und Unsichtbarem — Idee, Gedanke, wie man es nennen will. Die Kunst besteht aber darin, das Sichtbare so darzustellen, dass allein das, was man sieht: Farben, Formen, Licht, Schatten, Linien, Gestalten eine ganz bestimmte und gewichtige seelische Wirkung auf jeden Menschen ausübt, der sehen kann und seelisch zu beeinllussen ist: darin liegt die Macht der künstlerischen Fähigkeit und in dieser Richtung liegt ihre Vollkommenheit. Dahingegen gehört nicht die geringste


- 159 -


Kunst dazu, im Voraus gegebenen Formen und Geslallen eine andere Bedeutung unterzuschieben als wie ihre* Darsteller sie eigentlich beabsichtigt haben, eine Be- deutung, die also nicht unmittelbar aus dem Bild entgcgcnlcuchtet und jedem Be- schauer zugänglich ist, sondern auf einer innerhalb einer gewissen Gemeinschaft ge- troffenen Verabredung beruht. Im Gegenteil ist ein solches Unterschieben eigentlich ein Beweis von Bohheit gegen die Kunst, von mangelndem Verständnis für die über- lieferten Formen, die man in verschobener Bedeutung benutzt, und von mangelhafter Fähigkeil, neue Formen darzustellen, die wirklich den neuen Inhalt aussprechen. Wenn die ältesten Christen sieh so gegen die Kunst versündigten, so kann man .sicher die triftigsten Entschuldigungsgriinde dafür anführen, obwohl es strenge ge- nommen unter die Warnung des Meisters, keinen neuen Wein in alte Schläuche zu giessen, fällt. Die Kunst hatte ja für sie verläufig eine so geringe Bedeutung, und was kann man von Bildern erwarten, die ausgeführt sind, ohne dass man eigent- lich künstlerische Kräfte zur Verfügung halte, in flüchtiger Mast beim Schein einer kleinen Oellampe ausgeführt, und kaum dazu bestimmt, gesehen zu werden? Aber davon, duss etwas en tsc huldigt werden kann, bis dahin, dass es eine wirklich künstlerische Eigentümlichkeit, geschweige denn eine künstlerische Vorzüglichkeit haben sollte — ist noch ein grosser Sprung.

Man pflegt gerade dies Sinnbildliche als neuen und eigenartigen Zug der sogenannten altchristlichen Kunst hervorzuheben, obwohl das Sinnbild, künst- lerisch gesehen, eigentlich ein Missbrauch des Bildes'ist und keine wirklich künst- lerische Aufgabe, keinen Baum zu künstlerischer Entwicklung enthält. Wie es ausgeführt ist, wie es die Natur wiedergibt, ist nämlich ganz gleichgültig: seine Bestimmung ist erreicht, wenn es nur das Zeichen für einen Sinn ist, der in keinerlei Verhältnis zu dem Bilde steht. Wenn z. B. ein Fisch oder ein Lamm Christus be- deutet, so ist dieser Sinn für die christliche Gemeinde so gross und so heilig, dass er Absolution für alle künstlerischen Sünden und Mängel an den Figuren, als Tier- bilder betrachtet, erteilt. Dahingegen hat das Sinnbildliche eine ganz andere Eigenschaft, die wohl zu beachten ist, und die es zu einem ausserordentlich dankbaren Gegen- stand für gelehrte Scharfsinnigkeit und literarische Darstellung macht, nämlich die, da.ss der Gedanke und das Wort darin etwas von ihrer eigenen Natur finden, wäh- rend sie ihre ewigen Schwierigkeiten mit dem eigentlich Künstlerischen haben, was sie nie vollkommen beherrschen können. Darin liegt wohl auch zum Teil der Grund dafür, dass die Sinnbilder des ältesten Christentums so willkommen für die Wissen- schaft sind, die sich gern über diesen Stoff ergeht, und ihn abermals der neueren Kunst anempfiehlt, die zuweilen darin die eigentlichen und heiligen Geheimnisse der christlichen Kunst gefunden zu haben glaubt.

Es ist hier nicht der Ort, die ganze Symbolik mit Zeichen, Pflanzen und Tier- gestalten durchzunehmen, über die man Aufklärung in dem ersten besten Handbuch über christliche Archäologie und Kunstgeschichte findet. Aber da sind einzelne von den Sinnbildern, die die menschliche Figur benutzen, und die wir der Deutlichkeit halber ein wenig genauer betrachten müssen.


- 1(10 --


So wird Christus symbolisch als Orpheus, «1er den Tiere n vorspielt, dargestellt, was ja ein ausserordentliches religionshistorisches Interesse hat. indem es einen Berührungspunkt zwischen der orphischen Sekte und den Christen zeigt, während die erwähnten Bilder selhsi als Kunstwerke für nichts weiter gelten können als für minderwertige Wiederholungen heidnischer Darstellungen der thrakischen Sage und der Propheten. Kin anderes Sinnbild für Christus, das liebste für die, die Bilder in den Katakomben auslührten, und für die, die diese wieder aufgefunden haben, ist der gute Mil te, in verschiedenen Situationen dargestellt, namentlich aber mit dem wiedergefundenen Lamm über den Schullern. Wer könnte leugnen, dass dies Sinn- bild schön und lieblich, mihi und trostreich für jeden Gläubigen ist, der in Gefahr schwebt, und höchst eigentümlich für die älteste christliche Gemeinde, die jegliche Darstellung des wirklich historischen Christus scheute, aber in dem, einem eigenen Gleichnis entnommenen Bilde seiner nur als dessen gedenken will, der das Leben für seine Herde einsetzte und dem das eine, «las sich verirrt hatte, wichtiger wur als die neunundneunzig andern, die ihm geblieben waren? .la, sicherlich ist dieser Gedanke schön und erbaulich und derjenige, der der Kunst diese Aufgabe gegeben hat, verdient wohl, gelobt zu werden; aber das Schöne an dem Gedanken ist ja geradt«  nur eine Aufgabe für die Kunst, und wenn wir auch die Kunst rühmen wollen, kommt es darauf an. wie sie die Aulgabe gelöst hat. Maler und Bildhauer grillen hierbei zu einem Motiv, das von der heidnischen antiken Kunst ausgebildet -war, denn das Bild des Jünglings oder Mannes, der das Tier über seinen Schultern trügt, trifft man auch dort. Schon in alter Zeit war die griechische Kunst daran gewöhnt, Hermes, den Beschützer der Herde, mit dem Widder über der Schulter darzustellen, das heisst also: in dem allgemeinen, aus dein Leben des Südens so wohlbekannten Motiv als Hirte, und namentlich als guter Hil le, der Sorge für jedes einzelne seiner Tiere trägt. L'eberall, wo das Hirlenleben dargestellt wird, finden wir dies Motiv (auch unter den Satyrn». Haben die christlichen Künstler etwas von ihrem eigenen — oder von dem Christentum, — namentlich eine gewisse tiefere Innigkeit in dem Verhältnis zu dem Tier, hinzugefügt V Ks kann vielleicht nicht direkt bestritten werden, dass in diesem oder jenem der *guten Hirten», die man in den Katakomben ge- funden hat, namentlich in einer hübschen kleineu Marinorfigur im Lateran-Museum, Fi«. 49. ein Schimmer von etwas liegt, das über die Kunst des Heidentums hinausgeht. Es sind dies jene ausserordentlich feinen Züge, die der eine auf diese, der andere auf jene Weise sieht, und um die zu streiten zwecklos ist. Will man aber darüber urteilen, darf man nicht unterlassen, in Betracht zu ziehen, dass die liebe- volle Fürsorge und Barmherzigkeit, die aus den biblischen Gleichnissen spricht, auch hie und du von gänzlich heidnischen Schriftstellern aus der Zeit um Christi Geburt ausgesprochen ist. So sagt der römische Bitter Tibull (der ungefähr zwanzig Jahre vor Christi Geburt starb), indem er schildert, wie er in seiner ländlichen Stille leben will:


Nicht will vornehm ich scheinen, doch oft zum Spaten ich greife, Treibe mit stachligem .Stuck der Ochsen zögernd Gespan«, Pin Je einmal ich ein Zicklein, ein Lamm, das die Motter vergessen, Hüll ich den Mantel darum, trag es fürsorglich nach Haas.


- 161 -


Ein halbes Jahrhundert später schreibt Calpurnius :

Nicht brauchst zu schämen du dich, wenn du abends die Hürde besuchest, Und dort lieget ein Schaf, das noch krank und schwach vom Gebären, Auf deiner Schulter zu tragen es heim.

Das ist rein menschlich; es liegt hierin nichts von religiösem Charakter wie in den biblischen Gleichnissen. Aber die Kunst kann ja auch nicht über das hinaus- reichen, was menschlich ist. Und überhaupt, wenn sich nicht bei Griechen und Römern, ehe sie das Christentum empfingen, auf dem Wege der menschlichen Ent- wicklung ein Gefühlsleben in ähnlicher Kühlung wie das christliche zu regen be- gonnen hätte, so hätten sie dieses ja gar nicht aufgenommen, so wäre ihm die Tür ver- schlossen gewesen und Europa wäre niemals christlic h geworden.

Wenn aber ein angesehener Repräsentant der christlichen Archäologie (Martignyl findet, dass «das Altert u m nie etwas Sc h ö neres hervorge- bracht hat- als diese kleine Statue von dem guten Hirten im Lateran, so geht er von einem Schönheitsbegriffe aus. der keineswegs der des Altertums war. Man erhält dann auch in dem HegrifT von Schönheit einen Dualismus: eines, das aus- schliesslich das Körperliche preist, ein anderes, das sich gar nichts daraus macht, — denn das Körperliche ist in jener Statue unendlich gering im Vergleich, zum Beispiel, mit den Skulpturen des Parthenon, — sondern nur auf das sieht, was man die schöne Seele nennt, die ihren eigenen, selbständigen Klug über das Körperliche hinaus nimmt. Zweifelsohne würde die obenerwähnte Auffassung mit der der ältesten Christen in Einklang stehen: oder vielmehr: sie würdenden kleinen «guten Hirten, unendlich schöner gefunden haben als die Parthcnonfiguren. Was man nun Schönheit nennen will oder nicht, darüber wollen wir nicht streiten, sondern nur daran festhalten, dass die Art von Schönheit, die ihren vollen Ausdruck in der bildenden Kunst linden kann, und für die diese die richtige Verkündigerin ist. auf alle Fälle eng mit dem Körperlichen in Zusammenhang steht und davon ausgehen muss.


ALLGEMEINE CHARAKTERISTIK DES FIGURENSTILS IM MITTELALTER,

NAMENTLICH IM FRÜHEREN.

Wären nicht nach dem Sturz des Römerreiches zahlreiche Monumente der grossen antiken Kunst stehen geblieben, jeuer Kunst, deren Mcnseheudarslellung schon von Phidias und seinen Zeitgenossen befreit worden war, und wären nicht allerlei Regeln und Vorschriften aus der bildenden Kunst der Antike in den Kunstschulen des christ- liehen Europas von Generation zu Generation überliefert worden, so würden sich die Völker Europas ungefähr bis zum Jahre 1^00 in bezug auf die Darstellung des Menschen auf einer ähnlich primitiven Entwicklungsstufe befunden haben, wie sie für alle Völker bis zu den Perserkriegen galt. Wäre man sich selbst überlassen ge- wesen, würde die Kunst in ihren Entwicklungsformeu ungefähr der Griechenlands

11



- 162 -


im sechsten oder siebten Jahrhundert v. Chr. entsprochen haben: die Statue wäre völlig frontal, das Gemälde völlig flach, die Verkürzung ganz ausgeschlossen von jeglicher Art Darstellung auf der Fläche1 gewesen. Ein wirklich höheres Stadium fand man, strenge genommen, auch im älteren Mittelalter nicht. Aber auf Grund des von der Antike überkommenen Erbes erhielt die Kunst dennoch ein ganz anderes Aussehen. Man merkt auf der einen Seite die Hohheit des Zustande», der sich sehr wohl mit dem rein Primitiven in der Darstellungsweise begnügen kann und sich eigentlich nicht auf das versteht, was darüber hinausgeht: auf der andern Seite den Schulzusammen- hang mit der höheren Entwicklung, die zurückgelegt war — vererbt durch den geistlichen Stand als privilegierten Inhaber der Kultur. Daher kommt es, dass die Kunst des früheren Mittelalters keinen solchen Eindruck klarer, gesetzlicher, nutur- gemässer Entwicklung macht wie die des früheren Altertums in bezug auf die Formen, unter denen die menschliche Gestalt in der Mal- und Bildhauerkunst auftritt. Es geht alles unordentlicher und verwirrter zu. Ererbte höhere Darstellungsformen werden auf niedrigere reduziert und begegnen sich auf diesem Niveau mit andern, die sich von unten her, von der wirklichen Zivilisationssture der Völker aus entwickeln.

Frontale Figuren — silzende und stehende - kommen recht häufig in der Bildhauerkunst vor : das ist der deutlichste Beweis davon, dass man sich in Wirklich- keit nicht die Entwicklung aneignen konnte, die die Antike zurückgelegt hatte. Aber auf der anderen Seite ist es keineswegs so, dass die Frontalität jetzt wie im frühen Altertum als festes Gesetz für alle Statuen gilt : im Gegenteil ist in den meisten etwas von der freieren Haltung der entwickelten antiken Kunst beibehalten; ausser- dem ist die Frontalität nur selten mit der exakten Strenge durchgeführt, wie in der ältesten griechischen, geschweige denn der ägyptischen Kunst. Im Mittelalter findet man ferner nicht nur frontale Statuen, sondern auch Bei ieffiguren, die sich mit der Vorderseite dem Beschauer gerade zuwenden und zu beiden Seiten einer geraden Mittellinie entfallet sind Im Gegensatz zu den Belieffiguren der Antike, die in der ältesten Zeit im Profil dargestellt waren und später mehr oder weniger schräge, aber nur ausnahmsweise ganz dem Auge des Beschauers zugedreht wurden, ist es seit dem Ende des Altertums sehr allgemein, dass die Belieffiguren sich geradeaus wenden. Ueberhaupt hält man Statue und Belief als Kunstformen nicht genau aus- einander: die Belieffigur scheint häufig ursprünglich als Statue gedacht zu sein, die von der runden Form auf eine flachere reduziert ist. Dies gilt nicht ausschliesslich, aber in den meisten Fällen — von Grabfiguren, die oben auf den Sarkophagen liegen. Sie


1 Dies ist etwa«), worauf man nicht nur schliessen kann, sondern wofür man auch ganz sichere Anzeichen hat: «die heidnischen Völker itu älteren Mittelalter Europas, die nicht durch das Christentum ihr Erbteil an antiker Kultur erhalten hatten, z. B. die Skandinavier ungefähr bis zum Jahre 1000 und die Wenden noch weit später, nehmen in künstlerischer Beziehung einen Standpunkt ein, der sich keineswegs über den der «Naturvölker» erhebt. Und sicherlich gab es in dem alteren Mittelalter unter den Völkern Europas nichts. — auch nicht unter denen, die das Christentum erhalten hatten — , was die Höhe der Zivilisation erreicht hatte, wie die Acgyptcr im Altertum, deren Kunst doch noch ganz zu der Einleitungskunst gehört, sodass auch in der Kunst kein Grund vorlag, ein höheres Stadium zu erwarten.



— 103 —


sind zuweilen in ganz runder Figur — in Stein oder Bronze — ausgeführt, also als Statuen, zuweilen aber stärker oder schwächer zum Relief reduziert ; und nicht selten ist der Kopf an diesen und anderen Arten von Relieffiguren mehr rund und statua- risch ausgeführt als das Uebrige. Die liegende Reliefligur ist eigentlich als stehend e, wachende und lebende Gestalt gedacht: das Gewand gravitiert nicht nach dem Sar- kophag hinab, auf dem die Figur ruht, sondern nach den Füssen der Figur selber; ausserdem ist die Gestalt in lebender Aktion dargestellt, segnend, betend oder der- gleichen. Mögen nun diese Grabfiguren als Helief oder als runde Skulptur behandelt sein, so halten sie sich doch alle gerade und frontal, und sie sind in dieser Beziehung die konservativsten von allen Kunstwerken, indem die frontale Haltung in ihnen erst gegen Ende des Mittelalters durch eine freiere abgelöst wird.

Ein anderer Beweis von dem Bückgang ist dies, dass die Wendungen der Relieffiguren wie der gemalten gänzlich unorganisch, gewaltsam und ungeschickt durchgeführt sind, was wiederum damit in Verbindung steht, dass alle Teile der Figur ganz auf der Fläche entfaltet werden, indem die Fälligkeit, sie in teilweiser Verkürzung darzustellen, verloren geht. Dies hat das ältere Mittelalter im allgemeinen mit dem älteren Altertum gemein ; aber im einzelnen sind die Manieren sehr ver- schieden. Namentlich kann hervorgehoben werden, dass die Füsse, die ebenso wenig wie die übrigen Körperteile in Verkürzung dargestellt werden, oft auf der Fläche entfaltet werden, als würden sie von oben gesehen, wären also heruntergestreckt. Dies steht in Verbindung damit, dass die Reliefligur im Mittelalter so häufig gerade von vorne gesehen dargestellt wurde, und es ist daher eine Eigentümlichkeit des Mittelalters im Gegensatz zu dem Altertum. Und von der Flächendarstellung wird diese Eigentümlichkeit sogar auf die Statuen übertragen: auch bei ihnen ist es sehr allgemein, dass die Füsse in den Knöcheln steif ausgestreckt sind, indem sie nicht auf eine horizontale sondern auf eine schräge Basis gestellt sind, was selbstverständ- lich den Eindruck hervorbringt, dass die Figur ganz unsicher und schwach da steht. Das sichere Gefühl, das die Antike für das Gleichgewicht der stehenden Figur gehabt hatte, geht überhaupt völlig verloren  ; sogar bei frontalen Figuren, deren Masse zu beiden Seilen der geraden Mittellinie gleich gross ist, hat man nicht den Eindruck einer ruhigen, statischen Haltung. Die Statue ist auch in der Regel gleichsam an die Architektur festgeklebt, der Figur ist es nicht überlassen, sich selbst zu tragen. Aus- serdem gibt es keine regulierte Auffassung ihrer l'roporlionen ; sie wird namentlich gern so stark in die Länge gezogen, dass man ihre natürliche Statik aus dem Auge verliert.

Ein fernerer Beweis für den Rückschritt ist dies, dass die gemalte Figur die Rundheit und das Relief verliert, das ihr die Antike durch die Abtönung der Farben und den Uebergang zwischen Licht und Schatten gegeben hatte. Wie die Statue oft ganz frontal, wird das Gemälde zuweilen ganz dach. Das ist indessen nicht das häufigste: die Malerschulen bewahrten aus der Kunst des Altertums noch einige Regeln, um die höchsten Lichter im Gegensalz zu dem am wenigsten beleuchteten Teil der Fläche aufzusetzen. Aber mau erzielt kein wirkliches Resultat durch An-


- 164 -

Wendung dieser Regeln; es ist deutlich zu sehen, dass die Kunstler des Mittelalters aus eigenem Antrieb nicht über die flache Umrisszeichnung, mit ungebrochenen Farbentönen gefüllt, hinausgehen wollten.

Wenn auch das Christentum und die Askese den von der Antike ererbten Figuren- stil erschöpft und seine Linien und Formen schematisiert hatten, so war an seine Stelle doch nichts positiv Neues getreten, nichts, was aus einem neuen Blick auf die Natur und die Wirklichkeit oder aus einer freieren, selbständigem Auffassung der Antike hervorgegangen wäre: es war eine gewohnheitsmässige Ueberlieferung von Generation zu Generation. Das Neue zeigt sich erst deutlich im Laufe des 13. Jahrhunderts, was damit zusammenhängt, dass die Ausübung der Kunst jetzt nicht mehr ein Privilegium des geistlichen Standes war: indem sie auf die Laien überging, wurde sie ganz anders auf dein eigenen Erdboden der Völker ausgeführt und konnte ihre Säfte und Kräfte an sich ziehen. Es ist ein ähnlicher Uebergang, wie er sich in der Literatur bemerkbar machte, wo die ererbte Oberhoheit der lateinischen Sprache der Volkssprache selber wich, und in der Baukunst, wo der romanische Stil, der in der Kunst dem Latein des Mittelalters entsprach, von dem gotischen, der eigenen Schöpfung der nordeuropäischen Völker abgelöst wurde. In der Darstellung der menschlichen Gestalt ist die Veränderung wohl weniger deutlich und handgreiflich, an den meisten Stellen geht sie ganz leise vor sich, dessen ungeachtet stehen wir hier aber an einer der allcrwichtigsten Grenzscheiden in der Entwicklung. Hier, mitten in dieser Periode, die wir das Mittelalter nennen, liegt erst die wirkliche kunsthisto- rische Grenze zwischen Antikem und Modernem, der Höhenzug, der die Richtung des Wasserlaufes teilt. In alledem, was von aussen her von der Kunst verlangt wurde, ging seine besondere Veränderung vor sich: sowohl in bezug auf die Vorwürfe wie auf die Anwendung kann es jedoch einerlei sein; aber in der Kunst selber, in der Auffassung des Menschen — sowohl in bezug auf Körper wie auf Seele — wagt sich das Neue, das wirklich Moderne vor, wenn auch im Anfang noch zaghaft genug.

Indem der Laienstand die Berechtigung erhält, seine künstlerischen Kräfte zu erproben, erwacht die Aufmerksamkeit für die wirklichen Menschen, die man um sich her sieht, sodass der ererbte antike Typus in den Bildwerken von der natio- nalen Physiognomie abgelöst wird. Bis zu einem gewissen Grad kann man wohl sogar sagen : von der individuellen Physiognomie; es kommt schon vieles vor, was man als ganz porlrätartig anerkennen muss. Gleichviel dauerte es noch anderthalb- oder zweihundert Jahre, bis zu der Zeit um das Jahr 1400, ehe man sich so recht in die wirkliche, individuelle Physiognomie vertiefte; vorläufig ist im dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert gewöhnlich noch etwas mehr Abstraktes in der Auflassung, das auf den festen Seliulzusainmenhang hindeutet : wenn auch der Blick das Wirkliche suchte und also auch gleich dem Individuellen begegnete, folgte er doch nur der Bewegung seiner Hauptlinien; im Vergleich zu den Porträts der späteren Zeil scheinen die Köpfe des Mittelalters noch ziemlich lose und leere Umrisse des Individuellen zu sein. Von einem fortgeschritteneren Studium des Nackten ist — mit Ausnahme von einzelnen Erscheinungen in Italien — noch keine Bede: aber wie man



165 -


doch Wirte für da.«  Wirklichkeils-Gepräge in beziig auf das Arillii/. bekommt, so auch in beziig auf die K I c i d e rl r n c h I  : die allen Schemata der romanischen Kunsl für die Zeichnung der Kalten wurden abgelöst von einem Studium des Faltenwurfs nach der Natur; auch hierin folgt das Auge den grossen Hauptlinien und accentuierl sie stark, sogar übertrieben, um die Plastik des ganzen Körpers hervorzuheben. In dem Verhältnis zwischen den Hauptlinien und den untergeordneten Formen sucht man mehr eine rhythmische Wirkung als eine genauere Wiedergabe der Wirk- lichkeit.

Dass die Aufmerksamkeit so der Wirklichkeit näher rückt, l>edeutet offenbar, dass man mehr Geschmack am Leben bekommen hat. Ks ist aus mit dem finstern, asketischen, lebensverachtenden Gepräge, das über dem Menschen- bildnis lag  : das dreizehnte Jahrhundert zeigt in der Kunst ein ganz glückliches, hie und da sogar stolzes Gesicht; es ist ein Wellenschlag, niedrig und klein im Vergleich mit dem, der sich später erheben sollte, aber doch in etwas ähnlicher Richtung. Ks guckt zuweilen eine Lebensfreude hervor, wie eine der ersten Wumen im Lenz, rein und keusch, aber noch zart und schmächtig. Das Antlitz wird milder, freund- licher, es hat eine gewisse treuherzige Schlichtheit, ohne Ansprüche und Maniriertheit ; hie und da etwas Schwerfälliges, eine Folge einfacher, anspruchsloser Sitten. Aber man geht noch weiter, man will den Funken aus dem Antlitz schlagen, die Vor- stellung von seelischem Glück erwecken und zugleich von gesellschaftlichen Formen für das Lehen, wie sie auf den Höhen der Gesellschaft herrschten. Das Lächeln breitet sich über das Gesicht aus, zuweilen stiller, zurückhaltender, zuweilen mehr zündend, munter und liebenswürdig; es wird sogar ein wenig zur Manier, die Madonna und die Heiligen lächelnd darzustellen. Aus den Mildern von heiligen Frauen kann man zuweilen die Bewunderung des Künstlers für die anmutige Frau herausfühlen und der Ritter tritt in der Kunst hie und da mit einem Hauch weltlicher Kitelkeit über seinen Manieren auf. Namentlich in der französischen Kunst findet man Beispiele davon, dass der Verkehr zwischen den heiligen Personen ein etwas civiliertes, zuvorkommendes Gepräge, einen gewandten Weltton erhält. Der Kngel, der Maria verkündet, dass sie den Krlöser der Welt gebären soll, lächelt gratulierend, und man kann sich keine angenehmeren Leute vorstellen als es diese Heiligen und Apostel zuweilen sind.

Gerade das Gefühl für den Verkehr trägt dazu bei, die Plastik der ein- zelnen Gestalt zu entwickeln  ; insofern ging es im Mittelalter zu wie in Griechen- land im Altertum — nur dass der Verkehr einen ganz andern, einen mehr seelischen Charakter hat. An den Seiten der Kirchenportale brachte man Statuen an  ; sie standen in der älteren Zeit einzeln, die eine unbekümmert um die andere und deshalb gerade- aus gerichtet  : nichts verbot hier die ganz frontale Haltung, die man auch zuwei- len rindet. Aber im Laufe des dreizehnten Jahrhunderts hat man einen neuen Blick für die Sache bekommen  ; man hat gefühlt, dass das nicht mit den Gesetzen der menschlichen Gesellschaft übereinstimmte, dass Personen, die in einer Kntfernung von einer Elle von einander standen, sich gegenseitig nicht beachteten  : man sieht daher,



- 168 —


dass sie anfangen, sich nach einander umzuwenden und mit einander zu reden. Dieser gesellschaftliche Verkehr — hald oberflächlicher, bald inhaltsreicher, zwischen Gestalten, die ursprünglich als einzelne Personen gedacht sind, indem sich jede ein- zelne infolge ihrer besondern kirchlichen Veranlassung einfindet, und sie also ge- wissermassen zufällig zusammen treffen wie in einem Gcsellschaftssaal, — erhält an- dauernd im Laufe von ein paar Jahrhunderten eine grosse Bedeutung für die Ent- wicklung eines lebenden, dramatischen Ausdrucks; es werden gleichsam Funken zwischen elektrischen Leitungen hcrvorgelockt, die bisher slumin und schweigend nebeneinander hergelaufen sind.

Indem sich die Figuren einander teilweise zuwenden, wird die steife und fron- tale Haltung gebrochen — es kommt ein freieres Leben in die Gestalt, obwohl es noch infolge der mangelhaften Herrschaft der Technik über das Material in vielem gehemmt ist. Aber das ist nur ein einzelnes Heispiel von der grösseren Freiheit und Hührsamkeil in der Hcwegung, die man vom dreizehnten .Jahrhundert an überall auszudrücken bestrebt ist. Daran schliesst sich allmählich, namentlich im vier- zehnten Jahrhundert, eine auffallende Vorliebe für einen stark ausgesprochenen Kontra- post in der Haltung des Körpers. Es wird sehr allgemein, eine stehende Figur ganz auf tlem einen Fuss ruhen zu lassen, so dass sich die Hüfte über diesem Fusse stark nach der Seite hinausschiebt, während sich die Schultern wieder nach der entgegen- gesetzten Seite ziehen. Der Unterleib tritt mehr hervor, die Hrust weicht zurück, der Hals wird vorgestreckt und neigt sich nach der Seite, die von dem Fuss bezeichnet wird, auf dem die Figur ruht. Die Seitenlinien des Körpers bilden auf diese Weise grosse, ganze, zusammenhängende Schwingungen, konvex nach der einen, konkav nach der andern Seite, die noch mehr hervorgehoben und verstärkt werden durch den Faltenwurf des Gewandes in grossen, geschwungenen, rhythmischen Linien. Dieser Geschmack für den grossen Sc hwung durch die ganze Figur beherrscht noch z. T. die vorzügliche italienische Kunst aus dem Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts (z. B. Ghi- berti), sogar noch die deutsche ans dem sechzehnten Jahrhundert (Peter Viseher) Kr beruht teils auf einem eigenen K rischen Gefühl, das mit dein Geist der gotischen Hau- kunst verwandt ist, teils auf einer mangelhaften Einsicht in den Organismus und die natürliche Statik. Diesen Schwung sieht man auch auf Darstellungen des gekreuzigten Christus, dessen Figur nach solchen ganz geschwungenen Linien wie ein gespannter Bogen angelegt wird, und wo die Durchführung der nackten Oberfläche in dieser falschen Stellung offenbare Fehler im Gefolge hat. Ein anderes Heispiel aus dem späteren Mittelaller für das andauernd unsichere Gefühl in bezug auf das Statische in der Figur hat man in einem Phänomen, das jedenfalls ausserhalb Italiens nicht selten ist, dass stehende männliche Figuren, namentlich ritterliche, die Beine kreuzweise setzen, den rechten Fuss nach links hinüber, vor den linken Fuss und umgekehrt. Dass die Linien der Heine sich kreuzen, wird im siebzehnten Jahr- hunderl ein ganz allgemeiner Zug, namentlich bei den germanischen Völkern — den deutschen und Niederländern.

Hei allen Bestrebungen für eine freiere Hallung, die ein Organ für ein subjek-


- 167 -


live* Gefühlsleben in der Figur sein kann, ist und bleibt doch auch bei den Figuren fies späteren Mittelalters etwas nicht wirklieh befreites: es sind grössere oder kleinere — Klötze, die an ihrem Sockel festkleben.


Seil dem Altertum hatte die Figur an Körperfülle abgenommen, sie war dünn geworden und fein gebaut und dieses Verhältnis bleibt auch ferner bis zum Jahre löOO in ganz Europa vorherrschend. Es gibt allerdings, namentlich in der späteren Zeit — gegen das Jahr lötM) — Ausnahmen  ; aber das sind doch seltene Fälle. Wie überaus einseilig die Kunst ist, namentlich in dem älteren Mittelalter, kann man dar- aus ersehen, dass sie mitten zwischen den kräftigsten Völkerstämmen, für die die Körperkraft den höchsten Wert im wirkliehen Leben halle, mitten zwischen Kriegen, Schlägereien und Turnieren, doch im Stil der menschlichen Figur so wenig darauf ausgeht, den kräftigen Körper zu verherrlichen. Es ist ausgesprochen der christliche Antihumanismus, der hier den Ton angibt, und die Dünnheit der Figur, ihr Mangel an Fülle und Masse muss als Kennzeichen dieser Geistesriehtung aufgefasst werden. Dass die Figur schmal und dünn gemacht wird, ist etwas negatives im Gefühl für die körperliche Seite des Menschen ebenso wie die absolute Abneigung, ihn überhaupt darzustellen. Der äusserste Punkt nach dieser Richtung hin fällt — soviel ich ge- sehen habe — in die Mitte des zwölften Jahrhunderls, z. D. bei einem Werk wie die Darstellung des Jüngsten Tages in der Kathedrale zu Antun in Frank- Pig &a reich ersichtlich ist. Diesen Figuren fehlt völlig die Masse, sie sind dünn wie Fäden, ihre ganze Existenz ist ihre Bewegung. Dies verbindet sich nicht nur hier, sondern überall, mit einem mehr oder weniger stark ausgesprochenen Gepräge von Angsl oder Aengstlichkeit in der Hallung: sie stehen und gehen häufig mit krummen Knieen — was nicht allemal ein besonderes Kennzeichen für Demut oder Kummer und Verzweiflung ist, sondern was man bei allen möglichen Figuren finden kann. Die Brust ist nach innen gepresst, der Mals und der Kopf sieben vor. Den Kopf auf einem langen Halse über einer flachen, eingezogenen Brust und ein Paar schmalen Schullern vorzustrecken, ist überhaupt ein durchgehender Zug im ganzen Figurenslil des Mittelalters, nicht nur des älteren. Bei der weiblichen Figur ist die Brust auch in der Regel flach, nicht schwellender um! hervortretender als die männ- liche. Aber die eingezogene Brust ist gerade eines der deutlichsten Kennzeichen dn- für, dass der Mensch das Gefühl seines eigenen Ich aufgegeben hat. Auf der Höhe des Atemzuges, wenn die Lungen am meisten mit Luft gefüllt sind, hat der Mensch das stärkste Gefühl seines Ich, er lässt es fahren, indem er ausatmet, und nachdem er den niedrigsten Punkt passiert hat, gewinnt er es wieder mit der Einatmung. Deshalb ist die gehobene Brust nicht eine willkürliche Bezeichnung, sondern ein natürlicher Ausdruck für Mut und Selbstvertrauen, die eingesunkene Brust für das Gegenteil.

Derselbe Geist wie in der Haltung der ganzen Gestalt äussert sich dann in dem



- 168 —


früheren Mittelalter auch in der M i e n e dos Antlilzes. Sie ist ernst, bewahrt noch in der Regel den grossen, offnen Blick der Antike, aber auf eine steife, starrende Art und Weise. Alles, was sich einem Lächeln nähert, scheint bis zum dreizehnten Jahrhundert aus der Kunst verbannt zu sein. Der seelische Ausdruck bewegt sich innerhalb der engsten Grenzen und gelangt eigentlich erst in den herabgestimmlen, dunkel gefärbten Gefühlen, dem tiefen Kummer, der wilden Verzweiflung, dem gellen- den Schrei zu Freiheit und Wahrheit. Ks ist eigentümlich für das Mittelalter und namentlich für das altere, dass im wesentlichen nur der Ausdruck des Kummers natürlich ist und die Gestalt in freier individueller Bewegung emanzipiert, wohingegen die Freude einförmig und diszipliniert, strenge in Haltung und Miene ist. Die Ver- dammten in der Hölle sind deshalb immer meist ausdrucksvollere, interessantere Figuren als die Seligen im Himmelreich. Es währte sehr lange, bis ganz hinauf in die höchste humanistische Ktinsl des sechzehnten Jahrhunderts (Correggio), ehe der Ausdruck der Freude ebenso frei und emanzipiert wurde wie es der des Kummers bisher gewesen war. Eigentlich liejjt in den christlichen Vorwürfen eine Forderung, die die Antike nicht gekannt hatte, dem Kummer wie der Freude einen Ausdruck zu verleihen, als gelte er für Zeit und Ewigkeit. Dies hat, jedenfalls in der christlichen Kunst, die höchste Potenz im Ausdruck im Gefolge; ob die Kunst in Wirklichkeit einen Unterschied zwischen dem Ausdruck des höchsten irdischen Kummers und der grössten Angst und dem Ausdruck für die Gefühle, die dem ewigen Leben gelten, zu machen imstande ist, das ist eine Frage, die wir unbeantwortet lassen müssen.


DIE SEELE ALS SELBSTÄNDIGE FIGUR.

Dass die Menschenseele ausserhalb des Körpers, als selbständige kleine Figur, also als zweiter Körper dargestellt wird, ist sehr alt. Die A e g y p t e r hatten ein eigenes, leicht verständliches Symbol für die durch den Tod befreite Seele (bai, indem sie sie als Vogel mit Menschenkopf zeichneten  ; die endliche Wiedervereinigung der Seele mit dem Körper stellten sie durch das Flattern des Vogels mit dem Zeichen des Lebens (dem Henkelkreuz) über der liegenden Mumie dar. Die Zusammensetzung von Vogel und Mensch linden wir bei den Griechen in der Sirene wieder; auf den Grabmälern, wo sie so häufig angewendet wird, hat sie gewiss ursprünglich eine ähnliche Bedeutung wie in Aegypten, nämlich die der Seele des Verstorbenen. Aber infolge einer Gedankenverschiebung, die nicht schwer zu verstehen ist, gilt diese zusammengesetzte Figur und ihr Name auch für die Macht des Todes, der die Mensehen raubt oder sie mit lockenden Temen ins Verderben zieht. In dieser Bedeutung kennt schon Homer die gefährlichen Sirenen, an denen Odysseus nur mit genauer Not vorüherschiffte und sie werden auch in der Kunst als Zusammensetzung von Frau und Vogel durgestellt. Auf dem Fries eines alten Grabmals griechischer Kunst in Lykien (ungefähr aus dem Jahre 50t) v. Chr.) sieht



— 169 -


man die Todesgöttinnen als Vögel im I Menschenköpfen und Menschenarmen liier müssen sie wohl den Namen Harpyen tragen -- die mit kleinen, bekleideten Menschen- gestalten in den Annen von dannen fliegen. In diesem Falle sind also die Verslorhenen in rein menschlicher, kindlicher Gestalt dargestellt, und da sie zugleich lebend dar- gestellt sind, muss man hier wohl namentlich an die Seelen gedacht haben, obwohl wir einräumen müssen, dass die Auslegung keineswegs sicher ist. Auf griechischen Vasengemälden aus derselben Periode lindet man auch Beispiele, wo die Seelen von gefallenen Helden, deren Körper zur Erde bestattet sind, als kleine beflügelte Körper- gestalten mit Helm und anderen Waffen durch die Luft dahin eilend dargestellt werden.'

Wenn wir nun in der Kunst des Mittelalters das Bild der Seele als selbständige Figur wiederfinden, brauchen wir kaum anzunehmen, dass dies auf einem Erbe aus dem Altertum beruht ; es ist eine Vorstellung, die auf gewissen einander entsprechenden Entwicklungsstufen der menschlichen Intelligenz leicht von selber entstehen kann.

Die Art und Weise, Marias Tod und Empfang im Himmel so darzustellen, wie das im Mittelalter allgemein gebräuchlich war, scheint sich ur- sprünglich in der griechisch-katholischen Kirche entwickelt zu haben und von dort auf das Abendland übergegangen zu sein. Dieser Vorgang heisst in der Sprache der griechischen Kirche Kimisis (d. h. r^xoiarci; r?,; xavacri'«;, das Entschlafen der heiligen Jungfrau, während die weströmische Kirche mit ihrer Benennung: t. ran si Iiis B. Virginis Mariae mehr den Gedanken auf ihre Aufnahme in das ewige Leben hinleitet). Der Begriff Kimisis spielt eine ausserordentlich grosse Bolle in der byzantinischen Kirche  : eine Menge Kirchen, namentlich Kloslerkirchen,, sind der Kimisis geweiht ; die meisten Begräbniskirchen sind allen Heiligen und dem Tode der heiligen Jungfrau geweiht.* Und dem Begriff entspricht ein bestimmter Bildertypus, den man tausende


1 Auf einer ongcwöhnlich^schöncn Lekythos im Berliner Museum mit farbigen Figuren auf weissem Grunde (altische Kunst aus dem vierten Jhdt v Chr.) sieht mau einen loten Jüngling aus- gestreckt auf dem Bell liegen, von den Hinterbliebenen umgeben und beweint. Darüber kann man ein paar ganz undeutlicheJFarbenspurcn wahrnehmen, die von Furtwangler in der: «Be- schreibung der Vascnsammlung*, im Antiquarium, Berlin isxr>. II, als «Psyche», «emporHattcrnd». «beide Arme vorstreckend» («ganz verblasst», «nur als flüchtige* Silhouette gemalt») beschrieben werden. Diese Erklärung war auch einer kolorierten Zeichnung des Vasengemäldcs zu Grunde gelegt, das im Museum daneben aufgehängt war, und wo die leicTten Spuren ein wenig süffisant wiedergegeben waren, als aufwärtsschwebende, aufwärtsschauende Figur mit ausgebreiteten Armen. Ich vermag nichts an diesen Farbenspuren zu sehen, was zu einer solchen Auslegung berechtigt. In diese Periode gehört das Bild von der Seele als selbständige Figur kaum ; und was sollte der aufwärts gewandte Ausdruck, die aufwärts schwebeude Bewegung hier in dem Bilde von einer befreiten Seele bedeuten? Das miisste ja religiöse Vorstellung von einem Himmel- reich voraussetzen  ; aber dazu war die Zeit noch kaum gelangt. Wir werden weiter unten noch einmal auf diese Verhältnisse zurückkommen. (Ucber das Allegurisehc der Psyche in der spä- teren antiken Kunst und Literatur wollen wir hier nur bemerken, dass sie den Begriff Seele im allgemeinen angeht, nicht die einzelne Menschenseele, und folglich nicht in diesen Zusammenhang hineingehört.)

» Manuel d'iconographie grecque et latinc avec unc introduetion et des notes. par D i d r o n. traduit du manuscrit byzantin. le Guidedc la peinture par Paul Durant. Paris 1845, p 281 ff


— 170 —


von Malpii angewendet und in der Hauptsache wiederholt tindel, und dessen wiehligste Bestandteile die folgenden sind. Die heilige Jungfrau ist als Leiche dargestellt, aus- gestreckt auf ihrem Bett liegend, das von den trauernden Aposteln umgehen ist, von denen einige die Todeszeremonien ausführen, z. B. Käueherfässer schwingen. Und mitten unter ihnen, hinter Marias Lager, sieht Christus, erkennbar an der Kreuzglorie: er hat seinen Himmel verlassen, um am Todeslager der Mutler zugegen zu sein. Kr betrachtet die Verstorbene, und zu gleicher Zeil hält er in dem einen Arm eine kleine, ganz in Kleider gehüllte Gestalt, die mit gekreuzten Bändern umwickelt ist und einen Glorienschein hinter dem Kopf hat. Das ist Maria nach dem Tode, das heissl, ihre Seele.1 Dass sie so eingewickelt ist, wie sie ist, |>edeutet wahrscheinlich, dass sie als neugeborenes Kind, < Wickelkind , gedacht ist, indem sie ja durch den Tod des Körpers zu einem neuen, einem himmlischen und ewigen beben geboren ist, das nun seinen Anfang nehmen soll. Oben drüber schweben erwachsene Engel in langen Gewändern: einer von ihnen hält oft mit beiden Händen eine ähnliche kleine eingewickeile Figur, wie sie Christus auf dem Arme hat, und trägt sie gen Himmel. Man muss sich vorstellen, da.ss Christus die Seele der Muller dem Kugel als dem be- flügelten Bolen zwischen Himmel und Krde übergeben hat. Insofern ist das Bild also auch eine Darstellung von Maria s Himmelfahrt. Aber es ist jedenfalls nicht der geringste Versuch gemacht, in der Figur der Maria selber ein Trachten oder Ver- langen nach aufwärts auszudrücken: sie isl ja als das kleine eingewickelte Kind kaum mehr Herr ihrer Bewegungen als ein willenloser Gegenstand. Sowohl auf Christi Arm wie auf dem des Kogels sieht sie gerade vor sich hin, nicht aufwärts. Christus um! die Engel handeln mit ihr: Maria selber isl ganz passiv in ihren Händen.

Man hat nicht mit Unrecht hervorgehoben, dass das byzantinische Kimisisbild in vieler Beziehung an die Vorstellung von dem Totenbett und dem Schmerz der Hinterbliebenen aus der vorzüglichsten antik-heidnischen Kunst erinnert,* namentlich an griechische Grabvasen (die athenischen Lekythen mit weissem Grund aus dem 4. Jahr- hundert vor Clirislnsi. Was Idee und Inhalt anbetrilTl, so bieten die christlichen Kimisisbilder ganz sicher etwas neues, namentlich in der Gestalt des Erlösers, der die Seele der Toten in Aufbewahrung nimmt, aber in Stil und Stimmung bewahren sie ganz deutlich die Verwandtschaft mit der Antike Das Ganze ist so ruhig, so beherrscht und milde: hier ist kein Ausdruck für starke Gefühle der Sehnsucht bei dem Menschen, nichts droh! mit Cebergrill' oder Selbslanmassung. Insofern, als das Bild schliesslich doch der Ausdruck für die Sehnsucht des Menschen aus den Verhältnissen des Erden- lebens heraus ist, isl diese Sehnsucht nur noch gleichsam ein kleines Kind, das von dem Glauben an die alles beben sehende Führung einer Vorsehung auf den Armen getragen wird.

Ks isl jedoch keineswegs die Seele der Jungfrau Maria allein, die so dargestellt

' .So wird es auch ausdrücklich in dem Malcrbuch aus Athos erklärt, siehe Ditlrons oben angeführte Schrift

2 C. Bayct, l'art by/.iinlin (Bibl. de l'eiibcigneinenl de» llcaux-Arts).



171 -


wird: es gilt von allen Arten von Mcnschensprlcn. vorzugsweise aber von denen der Heiligen und Seligen.

Kin sonderbares Glied in dieser Art von Darstellungen ist das grosse Fei s r e I i ef aus den K x l e r n - 8 t e i ne n bei Horn in Weslphalcn. Das Kelief, das ungefähr ans K.g. m. dem .fahre 11 lü stammt, stellt Christi Leiche dar, die vom Kreuz abgenommen wird. Oben über dem einen Querbalken des Kreuzes, gerade über der Leiche offen- bart sich eine Halbfigur mit Kreuzglorie - also Christus, hier als Herr und Erlöser der Welt gedacht; er streckt seine rechte Haut! segnend über die Leithe aus. Inder linken Hand trägt er die Siegesfahne des Christentums, und auf dem linken Arm hält er eine kleine, bekleidete Kindergestalt. Da diese Halbfigur hier bei Christi Tode uuf ganz gleiche Weise auftritt wie bei .Marias Heimgang, und da diese Darstellungen offenbar untereinander analog sind, gelangt man zu dem Schluss, dass das kleine Kind auf Christi Arm die Seele des hier Verstorbenen, also Christi eigene Seele ist, während die Leiche darunter dargestellt ist. So würde Christus also auf demselben Hilde dreimal dargestellt sein, nämlich als Leiche, als Erlöser und als Seele — sogar so, dass die drei Figuren untereinander zu einem Zusamtnenspiel vereint sind — ein Resultat, das für den modernen Gedankengang zweifelsohne sehr schwer zu fassen ist. Deswegen darf man jedoch nicht behaupten, dass es vom Standpunkt des Mittelalters aus unmöglich so gemeint sein kann: man kann sich als Grund einer solchen Dar- stellung entweder eine zu grosse Spitzfindigkeit vorstellen, ein geistreich dogmatisches Spiel mit den verschiedenen Eigenschaften Christi, oder eine mehr einfältige Ungeschick- lichkeit, die, ohne es selber zu merken, Verwirrung im Gefolge hat, indem sie aus den Bildern von Marias Tode die Figur des Christus als Erlösers der Seele auf Christi eigenen Tod überträgt. Beide Annahmen können sehr wohl mit der geistigen Ent- wicklung des Mittelalters übereinstimmen. Einige haben dieselln* Figur als Gott Vater ausgelegt, in dessen Hände Christus seinen Geist empfiehlt: aber sowohl die Kreuzglorie wie die Fahne und der ganze Typus — und vor allein endlich die Ana- logie aus den Bildern von Marias Tode — scheinen darauf hinzuweisen, dass die Figur am richtigsten als Christus anzusehen ist. Man niuss unwillkürlich auch an die Möglichkeit denken, dass die Kindetiigur im Arm des Erlösers die Seele des guten Schachers sein könnte: aber auch hiergegen spricht die Analogie aus dem Bilde von Marias Tode, mit der das ältere Mittelaller so vertraut war: auch sind die Schacher auT dem Helief gar nicht dargestellt.'

Auf den Bildern des Mittelalters, die das .1 ii n g s t e Gericht darstellen, ist es ganz allgemein, dass die Engel die Seelen in Gestalt kleiner nackter Kinder


1 Allerdings teilt .Schnaasc (Gesch. der bild. Künste, 2. Autt. 4. Band. S. i'h.'i Note) mit, dass er durch eigene Anschauung des Monumentes zu dem Resultat gelangt ist, dass es zweifelhaft ist, ob sich überhaupt eine Kindesgestalt auf dein Arm des Erlösers befindet . er ist vielmehr zu der Annahme geneigt, dass dies auf einem Irrtum seitens derjenigen beruht, die das Monument gesehen und abgebildet haben. Die Halbfigur des Erlösers soll nach Schnaases Auffassung eine Dar- stellung der «Himmelfahrt* sein, im Verein mit der Darstellung der Abnahme vom Kreuze. Schnaases Ansicht erscheint mir jedoch ganz unbegründet. Da ich das Original nicht kenne und keine Gelegenheit gehabt habo, einen Abguss des Monuments genauer zu untersuchen, kaun ich



- 172 -


zu <leri Patriarchen bringet», die sie auf ihrem Schosse sity.cn lassen : Abraham hält zuweilen viele kleine Seelen in einem sackähnlichen Tuch auf dem Schosse. Das schönste Beispiel dieser naiven und liebenswürdigen Darstellung befindet sich, so weil ich gesehen habe, auf dem Relief über dem linken Portal an der Nordseite des Kathedrale zu Reims und stammt aus dem dreizehnten Jahrhundert. Oer Patriarch ist dort dargestellt als guter alter Grossvater für die Menschenscclen, der im Jenseits die artigen Kinder unter ihnen auf seinen Sehoss nimmt. Auf den Mildern vom jüng- sten Gericht (z. B. auf einem Relief am Hauptportal der Kathedrale in Bourgos) fin- det man die Seelen auch als kleine nackte Kinder um den Erzengel Michael ge- schart, der sie auf seiner Wage wägt. 1 Da es aber sonst zu den Bildern des jüng- sten Tages regelmässig mit dazu gehört, dass die Auferstehung der Körper aus den Gräbern dargestellt wird, kann man nicht überall die Gestalten, die dort die Menschheit repräsentieren, gerade für Bilder von den Seelen halten  : wo diese am jüngsten Tage als kleine nackte Kinder auftreten, fühlt man ganz deutlieh, dass es ein eigenes Motiv ist, das nicht so recht mit dem übrigen zusammenpasst, sondern aus einer spezifisch evangelischen Quelle herrührt, natürlich aus der Erzählung hei Lukas (16, 22) von dem armen Mann in Abrahams Schosse.

Auf einem der bekanntesten Bilder des Mittelalters, nämlich auf dem grossen Fresco von dem «T r i u m p h d e s T ode s> faus der ersten Hälfte des vierzehnten Kir. 5s Jahrhunderls) auf dem Catnpo Santo in Pisa erhält man die deutlichste Vor- stellung davon, wie das Verhältnis zwischen Körper und Seele sich der mittelalterlichen Phantasie darstellte. In einem Haufen liegen alle die Menschen, die der Tod — der hier wohl als die Pest, «der schwarze Tod' gedacht ist — mit seiner Sense nieder- gemäht hat; da liegen durcheinander geistliche und weltliche Personen und viele vornehme Leute in den kostbarsten Trachten, die zu ihrem verschiedenen Stand ge- hören. Dann kommen Engel und Teufel eiligst aus der Luft herabgeflogen, als wären es Aasgeier, die von dem Leichengeruch angelockt werden: es gilt für einen jeden, sich in grössler Eile die Seelen der Toten anzueignen, die sie aus dem Munde der Leichen herausziehen; ics erinnert das an «He ursprüngliche Vorstellung der Seele, dass sie ein Ateinhaueh ist . Die Seelen sind auch hier nackend und natürlich lebend im Gegensatz zu den toten Leibern. Hier sieht man ganz handgreiflich den Grund, weshalb sie klein sind: sie sollten ja nämlich als innerer Mensch, im Körper wohnen können; dahingegen sind sie hier nicht wie an vielen Stellen sonst als Kinder charakterisiert, im Gegenteil, zuweilen sehr deutlich als Erwachsene. Engel und Teufel führen so ihre Beute mit sich in die Luft empor und kämpfen dort oben,

freilich keine selbständige Ansicht darüber äussern, inwiefern die. die eine Kindergestalt auf dem Arm des Erlösers gesehen haben, richtig sahen  ; aber ich nehme an, dass die Kindergestalt da ist oder gewesen ist, abermals auf Grand der ganz zweifellosen Analogie zwischen diesem Hilde und der landläufigen Kirnisis, die Schnaase gar nicht beobachtet hat, Dass Christi Bild mit dem abwärts geneigten Gesicht und der ausgestreckten rechten Hand, die die Leiche segnet, der himmclfahrendc (oder auferstandene) Erlöser sein sollte, ist ganz unwahrscheinlich.

1 Ein ähnliches Motiv erblickt man auf einem antiken Vasenbilde (abg. in «Monumenü»)



— 173 —


um sie sieh einander zu entreissen; die Seelen, die die Teufel behalten dürfen, stecken sie in ein Feuer hinein, das sie auf einem Berge angezündet haben (das Fegefeuer?).

Der Kampf der bösen und der guten Mächte um den Besitz der Seele des Ver- storbenen ist auch anderswo dargestellt, z. Ii. auf einem schönen Monument in der Abtei-Kirche in St. Denis, dem Pantheon der französischen Könige  ; das Monument ist im dreizehnten Jahrhundert für den Merovingerkönig Dagobert errichtet, der ungefähr »iOO Jahre früher lebte. Ganz unten sieht mau den Tod Dagoberts: die Teufel haben seine nackte Seele in einem Boot geborgen. Darüber aber ist dargestellt, wie die Diener der Kirche, wahrscheinlich kraft der Messen, die sie für den Verstorbenen gesungen haben, seine Seele aus dem Boote ziehen, trotz der Anstrengungen der Teufel, die sie zurückhalten wollen. Ganz oben endlich sieht man den Sieg des (Juten : Geist- liche Männer halten ein Tuch zwischen sich, in dem die Seele mit gefalteten Händen steht ; Engel schwingen Häueherfässer und Gottes Hand ist aus den Wolken heraus- gesteckt. 1 Die Vorstellung, dass die Seele durch die Luft emporgeführt wird, in einem Tuche knieend oder stehend, dus in der Regel an jeder Seite von einem Engel gehalten wird, kommt recht häufig vor auf Grabmälern von geistlichen Männern p*k. 53. oder auf Bildern, die Märtyrer und Heilige verherrlichen, vom frühesten Mittelalter an bis zu der Zeit um das Jahr 1500. Dann faltet die Seele die Hände über der Brust zusammen, sieht aber gerade vor sich hin und niemals in die Höhe; zuweilen ist sie von einem Glorienschein umgeben : zu oberst sieht man in der Hegel Gott im Himmel, entweder in ganzer Figur oder als Andeutung.* Die Christen des Mittelalters waren mit dergleichen Vorstellungen nicht nur durch die Werk«» der Mal- und Bildhauerkunst, sondern auch durch geistliche Schauspiele (Mysterien), die von dem Tode der Märtyrer und ihrer seligen Auferstehung handelten, vertraut. In einem erhaltenen Bühnenai rangement für die Aufführung eines Mysteriums heisst es, duss die Engel singend nach dem Paradiese gehen und vier kleine, ganz nackte Kinder, die die Seelen der Märtyrer darstellen, mit sich führen. 3

Um die Bedeutung von diesem allen richtig zu schätzen, darf man nie ver- gessen, dass die Beispiele von der Darstellung der Seele als selbständiger Figur, die man aus der Kunst des Mittelalters sammeln könnte, nur Beispiele sind: man muss annehmen, dass die Vorstellung, die sie ausdrückten, überhaupt allen Menschen ge-


1 Vergl. Viollct-lc-Dnc, Dictionnaire de l'arcliitccture. Art. äme.

  • Beispiele: Relief» an der Kathedrale zu Basel (St. Vincents und St. Laurentius' Mar-

tyrien): zwölftes Jhdt. - Der Grabstein des Presbyters Bruno in der Kathedrale r.a Hildesheini, dreizehntes Jhdt.; hier sieht man zu oberst Christus, segnend und mit aufge- schlagenem Buch, auf dem man die Worte: Venitc, benedicti palris mei liest, was eigentlich die Vorstellung auf den jüngsten Tag hinführt - Die Arras-Tapetc im Musee Cluny: Stephanus' Mar- tyrium, gegen das Jahr l.'iOO — .Spanisches Retabel aus derselben Zeit im Cluuy-Museum : Der Tod eines Bischofs: Die Seele wird in einem Glorienschein emporgetragen — Ein reizendes kleines Gemälde von Simon M a r m i 0 n in der National-Galcric in London : The soul of St. Bertin born to leavon. Hier erhielt die Szene eine eigenartige Färbung durch das nächtliche Dunkel, das über der Erde ruht, während die schwebende Gruppe in vollem Licht dargestellt ist. Die Seele ist von einer Lichtglorie umgeben.

» Kr. Nyrop, Martyrium des St Laurentius. Nord. Zeitschr. lst»l, S. 1GG.



— 174 -


gölten hat. In allen Fällen, wo der Gedanke auf das Verhältnis zwischen Seele und Körper hingeführt wurde, erblickte die Phantasie des Mittelalters das Verhältnis so, dass in dem Körper, gleichsam wie die -Seele* in einem Federkiel, eine andere menschliche Figur steckte, die der innere, unsichtbare Mensch war, der unsterbliche Mensch, der befreit wurde, indem der Körper vom Tode getroffen wurde.

In de r c h r i s t I i c h e n Philosophie war auch die Anschauung geltend gemacht worden, dass die Seele eigentlich materieller Natur sei und dass sie, in den Körper eingeschlossen und darin wirksam, notwendigerweise selber Ausdehnung im Raum und körperliches Dasein haben müsse. Diese Lehre wurde im fünften Jahrhundert von einem französischen Hisehof, Faustus von Kiez mit Bezugnahme auf Aeusser- ungen älterer Kirchenväter verkündet, doch wurde er von seinem Landsmann Claudius Mamertus, Presbyter in Vienne 1 bekämpft. Ob ein engerer historischer Zusammenhang zwischen der philosophischen Meinung von der materiellen Natur der Seele und der künstlerischen Darstellung der Seele als köi|H»iliche Gestalt vorhanden sein sollte, ent- zieht sich meiner IJenrteilung. Ich neigt' freilich mehr zu der Annahme, dass die Kunst, oder doch die Phantasie, in diesem Punkt die Philosophie beeintlusst hat und nicht umgekehrt. Das Verhältnis zwischen Seele und Körper wird erst durch eine naive und handgreifliche Vorstellung auTgefasst, ehe ein spekulatives Denken oder eine wirklich wissenschaftliche Untersuchung Macht über das Problem gewinnt. Sowohl die bildliche Darstellungsweise als auch die naive Forschung scheinen Aeusserungen des allgemeinen Hanges des unkultivierten Mensehengeisles zum anthrnpomorphisieren zu sein, d. h. : ulles, woran der Mensch Interesse empfindet, in menschlicher Gestalt zu sehen. Hier hat diese Neigung wohl den wunderlichsten Ausdruck gefunden, indem sie gerade das Unsichtbare, U n s i n n 1 i e h e am Menschen zum Gegen- stand hat; wenn man sich aber zu dem Standpunkt der Naivität herablassen will, so wird die Vorstellung nicht so schwer zu fassen sein, da sie ja das Wesen des Menschen betrifft, ja den Teil davon, den die Religion für den eigentlichen und wesentlichen Menschen erklärt, der ein selbständiges Dasein erlangt, wenn seine vergängliche Hülle abgestreift ist.

Um die Sache auf diese Weise aufzufassen, braucht sich die Phantasie auf keine Ansicht zu stützen, dass die Seele körperlicher oder materieller Natur ist. Jede Auf- fassung der Seele, die ihr ein im Verhältnis zum Körper ganz selbständiges Dasein verleiht, wird der Phantasie anheimfallen, die Seele als eigenen Körper neben dem andern aufzufassen. Wenn auch das Denken noch so sehr jede Vorstellung von der Körperlichkeit, der Seele tötet und sie zu dem reinen Geist macht, so wird eine dualistische Auffassung des Verhältnisses zwischen Seele und Körper der Einbildungs- kraft dennoch das Ditd zweier Körper vorgaukeln, denn die Einbildungskraft verlangt sichtbare und körperliche Form und kann den Gedanken an ein rein geistiges Dasein nicht fassen und illustrieren.


1 Vergl. Hein r. Bitter, Geschichte der christl. Philosophie II, Hamburg 1841, S. ">(i7  ; AdolfKbert, Geschichte der climü. lateinischen Literatur, Leipzig 1874, S. 4öO.


— 175 -


In welchem Sinne kann ilie Kunst sonnt die Seele darstelle n  ? In wahrer Bedeutung sind es Maler wie Lionardo da Vinci oder Heinbrandt — um nur ein Paar von den hervorragendsten zu nennen — , die die rechten Seelen- in a I e r waren. Aber wenn die die Seele anschauten und darstellten, so meinten sie damit alles andere als eine eigene kleine Figur, die aus dem Munde des Körpers herausgezogen werden konnte. Welche Begriffe solche Künstler auch im übrigen, in- folge religiösen Bekenntnisses, ererbter Wissensehart oder eigenen Nachdenkens von dem Verhältnis der Seele zu dem Körper haben mochten, so waren sie sich, sobald sie die Kunst ausübten, ganz klar darüber, dass die Seele Punkt für Punkt den Körper durchdringt und deshalb weder angeschaut noch in einem Verhältnis zu dem selbst- sländigen Dasein des Körpers gedacht weiden kann. Für sie ist die Seele nichts weiter als der Aus d r u e k , durch den wir die Ursache zu jeder Modifikation des Körpers, seiner Haltung als Ganzes, den Bewegungen seiner Glieder, dein Mienen- spiel seines Gesichts oder dem Wechsel der Farbe erkennen, - insofern als diese Ursache in dem eigenen Ich der Person zu suchen ist. In der Wiedergabe durch die Kunst wird eine jede solche Modiiikation monumental und unveränderlich festgestellt : aber die Phantasie des Beschauers führt sie auf ihren Ausgangspunkt und ihre Fnt- stehung zurück, nämlich auf die Bewegung, die Veränderung, die die dargestellte Modifikation mit sieh führt, und durch die Bewegung und die Veränderung begreift dann der Beschauer den Willen, die Eingebung, den Trieb, die Stimmung, das Gefühl, das ihnen voraufgeht. Selbst wenn der dargestellte Körper eine Leiche ist, so ist das, was wir ihren Ausdruck nennen können, ein Abglanz, eine Nachwirkung von den Bewegungen des Lebens.

Die Auferstehung des Körpers, die die Aegypter darstellen, indem sie die Seele als Vogel mit Menschenkopf zu der Mumie zurüc kkehren lassen, d. h. : durch ein Xusammenspiel von zwei an und für sich ausdruckslosen Figuren, drückt Beinbrandl — ich denke namentlich an seine grosse Badierung von Lazarus' Auferweikung — da- durch aus, dass er den Toten den Kopf vom Totenbett erheben, ihn die frische Luft, das Leben einatmen und ein neues Zittern des Lebens über seine erstarrten Gesichtszüge fahren lässl, wie eine Brise, die über die stille Meeresfläche weht. Darin besteht das, was für ihn die Kunst ist, und was auch unmittelbar zu dem Beschauer redet : aber seine Kunst würde tot und machtlos sein, wenn er Seele und Körper in dualistischem (iegensatz aufgefasst oder sie als zwei Figuren nebeneinander betrachtet hätte.

Also: je mehr die Kunst Seele und Körper als eines betrachtet, um so höher steht die künstlerische Entwicklung. Erst dann erhält der Ausdruck sein Leben, seine Spannung, seine ergreifende Macht. Werden Körper und Seele als zwei Figuren gedacht, so kann der Ausdruck in ihnen nie mehr als eine unvollkommene Andeutung werden. Die geistige Entwicklungsstufe, die durch diesen Dualismus bezeichnet wird, ist an und für sich unreif für die künstlerische Darstellung des Menschen. In dem folgenden wird dies Verhältnis stärker beleuchtet werden.



DAS SPÄTERE MITTELALTER IN DEN NORDISCHEN LÄNDERN.


DIK MENSCHLICHE FIGUR IN DEH SKULPTUR DER GOTIK (BIS UNGEFÄHR

ZUM JAHRE 1400).

Um die Mitte des Mittelalters vollziehen sieh, wie oben bereite berührt, sehr grosse und wesentliche Umbildungen im Figurenstil in den Ländern nördlich der Alpen, namentlich in den sächsischen Ländern und in den angrenzenden (legenden Deutsch- lands, in den östlichen, milderen und nordöstlichen Provinzen Frankreichs, zum Teil auch in England und in den Niederlanden: hinzugefügt werden kann noch die pyre- näische Halbinsel, deren Kunst im Mittelalter beständig mehr mit dem Norden als mit Italien zusammengehört. Der neue Stil setzt sich ohne eigentliche Unterbrechung der Richtung fort, wenn auch nicht ohne innere Veränderung, bis etwa zun» Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts: dann gelangt durch den Einfluss niederländischer Künstler ein neues Prinzip mächtig zum Durchbruch und erobert die Zukunft für sich.

Schwieriger ist es, einen bestimmten Zeitpunkt für den Anfang der Periode anzugeben, von der wir hier reden. Im Allgemeinen kann er wohl ungefähr auf das Jahr 1200 angesetzt werden, so dass die Periode also etwa das dreizehnte und vierzehnte Jahrhunderl umfasst ; doch muss man einräumen, dass wesentliche Cha- rakterzüge des neuen Stils sich stellenweise schon sehr früh im zwölften Jahrhundert geltend machen, während sie an andern Stellen bis tief in das dreizehnte Jahrhun- dert hinein auf sich warten hissen. Es versteht sich von selbst, dass die Kunst auf einem so ausgedehnten Terrain, das sich über sehr verschiedene Nationalitäten aus- spannt, nicht im Schritt in schnurgerader Linie vorwärts marschiert, und dass n an keine engere Gleichzeitigkeit zwischen den Bewegungen in der Entwicklung erwärm kann, die doch in beziig auf Inhalt und Bedeutung wirklich einander entsprechen. Trt tz- dem hallen wir es für historisch richtig, dies grosse Terrain in eine gemeinsame historische Betrachtung zusammen zu ziehen. Es ging über alle diese Lande eine grosse Welle des Geisteslebens hin, aus gleichartigen Ursachen veranlasst und zu gleichartigen künstlerischen Resultaten führend, so dass es von dem Gesichtspunkt


i


- 177 -


aus, den wir hier pellend machen, unrichtig sein würde, die Betrachtung zu zerstückeln, indem wir die Kunst jedes einzelnen Landes, oder auch nur die der Hauptländer, einzeln behandelten. Nur erhebt sich die Welle an einzelnen Punkten früher, an an- dern später. Auf Einteilungen kann die historische Wissenschaft nicht verzichten, zieht man die Linien aber zu scharf oder zu gerade, so geben sie falsche Bilder von den wirklichen Verhältnissen. Wir haben es hier mit einer ungewöhnlich gewun- denen Grenzlinie zu tun.

Um System in die Darstellungen zu bringen, legt man in der Regel die grossen Umbildungen in der Architektur zu Grunde, und da das llauptresullat dieser Umbil- dungen der gotische Stil war, könnte man diesen Namen auch eigentlich für den Stil in der Figurenkunst dieser Periode benutzen. Aber doch nicht ganz mit Recht. Der gotische Stil in der Baukunst ist ein eigenartig französisches Produkt, das sich im Laufe des dreizehnten Jahrhunderts von Frankreich aus über die andern römisch- katholischen Länder ausbreitete. Während er sich in Frankreich bildete und dort an einzelnen Stellen voll entwickelt war, herrschte an andern Stellen, namentlich in Deutschland, noch der spätromanische Stil, der sog. Uebergangsstil, der allerdings ver- schiedene Eigentümlichkeiten mit der früheren französischen Gotik gemein hatte, aber doch noch mit Becht romanisch genannt werden muss. Aber in der Figurenkunst spüren wir ganz deutlich dieselben Tendenzen und entsprechenden Umbildungen in den Skulpturen an spätromanischen deutschen Gebäuden (z. B. den Kirchenbauten in Bamberg, Naumburg, Freiberg, Wechselbnrg u. s. w.\ wie an den früheren goti- schen in Frankreich und können sie daher nicht zu dem älteren romanischen Stil rechnen und sie scharf von dem gotischen trennen. Es ist freilich wahr, dass die Figurenkunst, — die Malerei wie die Skulptur — kraft derselben geistigen Bewegungen umgeschalTen wurden, die die Architektur umschufen, und dass die verschiedenen architektonischen Stilarten der bildenden Kunst verschiedene äussere Bedingungen bot . doch ist dies nicht so zu verstehen, als ob die Umbildung der bildenden Kunst überall mit der der Baukunst Schritt gehalten hätte: an einzelnen Stellen war sie voraus, an andern Stellen folgte sie nach. Die bildende Kunst wirkt zusammen mit der Architektur und sucht eine Heimat bei ihr, aber sie ist eine andre Kunst mit einer selbständigen Aufgabe.

Hinter den Veränderungen in der Baukunst wie in der Menschendarstellung liegt - wie oben bereits berührt — die grosse Veränderung in den ganzen sozialen Verhältnissen der Kunst : dass sie aus den Händen der Geistlichkeit in die des Laien- standes überging. Früher waren die Männer der Kirche selbst die ausübenden Künstler gewesen, jetzt waren es meistens weltliche Bürger. Wohl diente die Kunst noch immer überwiegend der Kirche und verlieh ihren Ideen Ausdruck, aber sie schwebte nicht mehr als eines der Organe der Hierarchie über den Völkern. Sie sog ihre Kräfte aus ihrem eigenen breiten Erdboden. Damit waren die alten, aus der Antike stammenden Traditionen in der Darstellung der menschlichen Figur wesentlich ab- getan, die mit der Zeit erstarrten Schemata waren durchbrochen, und die Bedin- gung für ein neues und frisches Leben war gegeben. So wurde die Kunst in den


12


- 178 —


nördlichen Ländern national ; erst seit dieser Zeit kann man von einer wirklichen nor- dischen bildenden Kunst sprechen, wenn auch noch im Dienste des Christentums. Sie wurde insofern mehr rein national und modern als die gleichzeitige Kunst in Italien, da ja im Norden nur wenig oder gar keine Gelegenheit war, sich nach antiken, klassischen Vorbildern zu bilden: der Anblick der wirklichen Menschen musstc zum Quell der Verjüngung werden. Die grosse Veränderung in der Kunst fällt sowohl der Zeit wie der Bedeutung nach zusammen mit dem Uebergang von dem Gebrauch des Lateinischen als Mitteilungs-Mittel zu der literarischen Entwicklung der Volkssprache. Und indem der Laiensland dazu kam, die kirchlichen Ideen auszusprechen, erhielten diese Ausdrücke einen neuen Geist. Die hierarchische Macht der alten romanischen Kunst wurde abgelöst von einer wärmeren, feineren, mehr subjektiven Zueignung, allmählich von einer mystischen Geistesriehtung, sogar von allerhand Bewegungen, die auf der Grenze oder über die Grenze des Ketzerischen hinaus spielten.

Wir haben in dem Vorausgehenden gezeigt, dass die Kunst des älteren Mittel- alters, der eigentliche romanische Stil, zum Teil in die primitiven Darstellungsformen der Einleitungskunst zurückgefallen war und viele Beispiele von frontalen Statuen aufwies. In der Periode, in der wir hier leben, hebt man sich wieder darüber em- por, — allmählich hegt man sogar eine sehr deutliche, ja übertriebene Vorliebe für stark gebeugte und gewundene Stellungen. Es geht also um die Mitte des Mittel- alters ein ähnlicher Vorgang vor sich wie zu Anfang des fünften Jahrhunderts v. Chr. in Griechenland; und der war auch im Mittelalter wirklich die Folge eines inneren Entwicklungsbedürfnisses. Doch ist die Entwicklung in der Menschendarstellung des Mittelalters viel unbedeutender, unbestimmter als in der des Altertums. In der Ein- leitungskunst des Altertums waren alle Statuen frontal, und von einem gewissen Punkt in der Entwicklung an werden alle Statuen frei in der Haltung, und der «Contrapposto»1 wird ihr Grundgesetz. Im Mittelalter waren keineswegs alle Statuen frontal, und deshalb sieht man den Fortschritt nur in einzelnen Punkten recht deut- lich, obwohl das, was die treibende Kraft dahei war, sich wirklich über die ganze Linie geltend machte."

Ebenso wie im Altertum ist der Uebergang eine Folge davon, dass die Statue, die bisher eine Darstellung der einzelnen Menschen, fürsich allein betrachtet, war, eine Wiedergabe des Menschen in seinem Verkehr mit an- dern Menschen wurde. Bei dem Uebergang im Altertum war dieser Verkehr mehr körperlicher Art, namentlich Kampf (wie bei den aeginetischen Statuen); im Mittelalter ist er weniger körperlich bewegt, mehr seelisch: das Ergebnis ist hier in den meisten Fällen eine Unterredung zwischen den als Statuen dargestellten Personen. Und da diese Personen ja in der Hegel Heilige sind, ergibt sieh daraus eine, wie es der Italiener nennt, «santa cunversaziune»3, ein Begriff, den übrigens die Byzantiner

> Siehe Not«  S. 36.

  • Die Grabtitrur bleibt jedoch in der Regel frontal.

> Der Ausdruck wird von den Italienern mit besonderer Rücksicht auf die venezianische Mal- kunst des 16. Jhdts. gebraucht.



- 179 -


schon lange gekannt haben: schon zur Zeit des Bilderstreites kommt der Begriff <hagiai homiliai» vor, aber natürlich auf dem (iebiele des Gemäldes, nicht auf dem der Statue. Ohne näher auf die Betrachtung einzugehen, die hier geltend gemacht wird, hat Viollet-le-Duc in seinem Dietionnaire de l'architecture Transuse (Vol. VIII, Art. Seulp- ture, p. 11.1) ein sehr frühes Beispiel — französischer Kunst — von der Anwendung dieses Motivs hei Statuen hervorgehoben, nämlich die Porlalligurcn der Abtei-Kirche zu Vezelay, die er auf die Periode von 11 00 zurückführt. In diesen Apostel-Statuen, die Seite an Seite rechts und links vom Portal sieben, offenbart sich bereits — wie er ganz richtig sagt — «unc idee dramatique • : die heiligen Männer wenden sich nach einander um und beginnen einen Disput; dieser ist sebr eifrig und handelt natürlich von den ernstesten Dingen, kann aber trotzdem mit Recht eine Konversation genannt werden : wir benutzen diesen Ausdruck ja zur Bezeichnung einer Unterhaltung, die lediglich dadureb veranlasst wird, dass sich zwei Personen in der Nähe voneinander befinden, ohne sich ausdrücklich gesucht zu haben, um über irgend einen bestimmten Gegen- stand zu verhandeln. Und dieser Begriff der heiligen Konversation gelangt allmählich in der Kunst des Mittelalters und der Renaissance zu einer ungeheuer umfassenden Anwendung: im Programm für die Kunstwerke wurde angegeben, welche heiligen Personen dargestellt werden und welche Plätze sie erhalten sollten; den innern Ver- kehr unter ihnen legte dann die Kunst nach eigenem Ermessen zurecht.

Es lässt sich wohl kaum ein deutlicheres und schöneres Beispiel dieses Ueber- ganges von der Statue als einzelne Figur zu der heiligen Konversalion nachweisen, als die Skulpturen an der Kathedrale in C h a r I r e s. An den Portalen der West- Fi$.64.u.56. seite, aus der Mitte des zwölften Jahrhunderts stammend, sind die Statuen in einem eigentümlich feinen, archaiseben Stil ausgeführt, den wir auch in anderen gleichzeitigen Skulpturen aus den mittleren Strichen des nördlichen Frankreichs (namentlich Corbeil) wiederfinden, und der in verschiedener Beziehung — nicht zum mindesten in der Behandlung des Gewatides — ganz auffallend an archaisch griechische oder wohl viel- mehr k y p r i s c h e Kunst erinnert. Ks sind übertrieben schmale, langgestreckte, ziemlich flache Figuren  : die meisten machen auf den ersten Blick einen ganz geraden und frontalen Eindruck  ; sieht man genauer zu, so entdeckt man freilich, dass das eine Knie der Figuren mehr vorgestreckt isl als das andere, ohne dass dies doch eine wesentliche Veränderung der geraden Haltung im Gefolge hätte; zuweilen isl das Vorstrecken des Kniecs auch nur durch den Fallenwurf des Gewandes, das es deckt, angedeutet. Wir befinden uns also hierein einem Stadium künstlerischer Entwick- lung, das die Frontalitäl freilich im allgemeinen nicht ganz ausschliesslich als Gesetz für die Statue anerkennt, aber doch häufig so strenge beibehält, dass die Kunst des Zeitalters unmöglich etwas Gezwungenes, Unnatürliches darin gefunden halben kann. Und es besteht ganz und gar kein innerer Zusammenhang zwischen den Figuren: jede steht für sich und sieht gerade aus. Wenn man dann von den Westportalen auf die Statuen aussen an den schönen, offenen Eingangshallen nach Norden und Süden blickt, die wohl ungefähr ein Jahrhundert später entstanden sind und in jeder Beziehung von einer vorgeschrittenen Kunst Zeugnis ablegen, macht es


- 180 -


in mehreren Fällen ganz den Eindruck, als ob die Figuren, die Seile an Seite an- gebracht sind, es satt gehabt hätten, steif in einer Reihe zu stehen und deshalb angefangen hätten, sich umeinander zu kümmern: sie wenden sich um und machen Konversation miteinander mit feinem Anstand auf Art der guten Gesellschaft ihrer Fi«. 58. Zeit. Da steht z. B. d i e heilige M o d e s t a und wechselt Worte mit einem Bischof, — sie ist vielleicht die liebenswürdigste Figur von der ganzen Kunst des Mittelalters, so weiblich-höfisch in ihrem Wesen und so nordisch frisch und jugendlich mit dem weichen Gesichtsoval, den leicht errötenden Wangen und den klaren Augen.

Dies stand wohl in Verbindung mit einem üebergang aus schwereren, unfreieren Lebensformen zu leichteren, freieren. Aber für die Kunst bedeutet es eine neue Auffassung der Figur, die sie darstellen soll : von einer äusseren Nachahmung der menschlichen Gestalt, die wohl schön und charakteristisch durchgeführt sein kann, aber doch ein willenloser, aufgestellter Gegenstand bleibt, wird sie ein Wesen mit innerem Leben, das die Anziehungskraft des lebenden Menschen für andere utid das Gefühl seiner Stellung zwischen ihnen besitzt. Diese veränderte Auffassung ist über- all, wo ein Fortschritt in der Darstellung des Menschen stattfindet, der innere Nerv dieses Fortschrittes. Das Gefühl für den dramatischen Verkehr hat das Gefühl für Bewegung im Gefolge, für seelische und körperliche Bewegung der einzelnen Figur, den Sinn für das Augenblickliche oder Vorübergehende in der Haltung, den Ausdruck für das Leben, das die alte Steifheit ablöst. Und dies kam dann auch allmählich der mehr allein aufgefassten Figur zu gute. Aber die freiere Bewegung in der Figur mit dem daraus hervorgehenden Kontruposl in der Haltung weiss das Mittelalter nirgends so künstlerisch, mit einer so scharfen Beobachtung der Natur und einer solchen objektiven Folgerichtigkeit in der Haltung aller Teile der Figur durchzuführen wie die antike Kunst in ihrer guten Zeit. Die Auffassung des Statischen, nament- lich des Gleichgewichts der s te h en d en Figur bei der freieren Haltung, ist und bleibt in der Kunst des Mittelalters — im Norden wie in Italien — ein äusserst schwacher Punkt; dies gilt gleichviel in bezug auf Malerei wie auf Plastik, wird am meisten aber natürlich in der Statue empfunden.

In dieser Beziehung hatte die Anwendung der Plastik in der Architektur auch einen ungünstigen Einfluss; schon die romanische Baukunst bot ihr schlechte Be- dingungen, die sich aber unter der gotischen noch verschlechterten. Namentlich an den Portalen werden die Statuen dicht an die langen aufwärtsstrebenden Glieder des architektonischen Hintergrundes geklebt und haben ausserdem nur eine ganz kleine Fläche, auf der sie stehen, so dass es oft fast so aussieht, als hingen sie an einem unsichtbaren, in ihrem Rücken befestigten Haken; nur ganz ausnahmsweise bietet ihnen der Sockel Platz genug, um fest und frei auf den Beinen zu stehen. Die ab- wärtsgestreckten Füsse bleiben noch lange charakteristisch auch für stehende statua- rische Figuren, indem die obere Fläche des Sockels nicht horizontal ist, sondern sich nach vorne zu abschrägt. Aber was kann man in bezug auf die Beobachtung des Gleichgewichts von einer Kunst erwarten, die in den Bogenwölbungen über den Por-



— 181 —


lalcn stellende oder sitzende Figuren nach schrägen, ganz oben in den Bögen fast nach horizontalen Linien darstellt ! Die allerärgsten Beispiele hinsichtlieh des Gleich- gewichts der Figur findet man aber auf den Sockeln unter den stehenden, lotrechten Statuen, indem der Sockel selber aus einer ganzen Figur besteht, oft aus einer Menschenfigur in kleinem Massstab, die von Kopf zu Fuss wage recht aus der architektonischen Fläche dahinter hervorkommt, gewunden und gedreht und zusam- mengekauert und gekrümmt auf die wunderlichste, unmöglichste Weise. Jedes Ver- hältnis zu der Ordnung der Natur ist hier kühn bei Seite gesetzt, sowohl durch die Stellung der Figur als deren Anwendung  : während die Figur selber wagerecht ist, ist die tragende Fläche lotrecht. Die\Statue darüber steht dann — so gut sie; kann — auf dem Bücken der kleinen wagerechten Figur. Das Verhältnis zwischen ihnen hat wohl zuweilen eine symbolische Bedeutung, indem die lotrechte Figur triumphiert, während die wagerechle eine überwundene Macht darstellt ; aber ob das Motiv dieser SymlM)lik seinen künstlerischen Ursprung verdankt, ist eine andere Frage, die zu dis- kutieren hier nicht der Ort ist. Wir begnügen uns damit zu bemerken, dass bei älteren Beispielen die lotrechte Statue unmittelbar auf dem wagerechten Bücken steht (so bei den vorzüglichen Skulpturen am Weslportal der Kathedrale in Senlis), aber bei den meisten — und gewiss bei allen aus dem grösseren und späteren Teil dieser Periode — ist über die wagerechte Figur zur Bequemlichkeit der lotrechtstehen- den ein kleiner Sockel gelegt, .letzt hängt also die Sockelfigur an einer Platte, die darüber gelegt ist.

So etwas ist ein offenbares Spiel mit der menschlichen Figur; und es kommt überhaupt in der Darstellung des Menschen im Mittelalter allerlei vor, was die Grie- chen als ein wenig töricht, unnatürlich, verfehlt verachtet haben würden. Dahin ist auch ein Zug zu rechnen, der zu den nicht ganz seltenen in der besten Plastik des dreizehnten Jahrhunderts gehört, nämlich die Beinstellung der stehenden Figur ; die Linien des einen Beines kreuzen die des andern, so dass z. B. der rechte Fuss mehr nach links gesetzt wird als der linke Fuss. Das ist, wohl zu beachten, nicht die ganz natürliche menschliche Stellung, die auch, wenn gleich selten, in der antiken Kunst vorkommt, dass nämlich das eine Bein mit gebogenem Knie über das andere, das ausgestreckte, geschlagen wird und sich dann allein mit der Zellenfläche auf den Boden stützt: bei den mittelalterlichen Figuren mit gekreuzten Beinen stützen sich beide Fussohlen gleichmüssig auf den Boden, und beide Beine sind ziemlich gestreckt. Beispiele hierfür liefern zwei Prophetenstatuen (Nahuin und Daniel i aus einem der berühmtesten und besten plustischen Werke der früheren Zeit dieser Periode, näm- lich des «Goldenen Tores» id. i. das Südportal) an der Domkirche zu Freiberg in Sachsen (Skulpturen ungefähr aus dem Jahre 1250). Nalium ist in ein langes, antikes Gewand gekleidet mit nackten Füssen und Beinen. Beachtenswerter ist die Figur des Daniel, der als ganz junger, ein wenig stutzerhafter Mensch dargestellt ist, eine K.g. &7 Mütze auf dem lockigen Haar, mit bartlosem Mignongesicht und feinen Beinen; in- dem er die Beine kreuzweise ül>ersehlügt, hebt er mit der einen Hand das Gewand über der Hüfte in die Höhe. Hier wirkt die tänzelnde Stellung ganz deutlich wie



- 182 —


ein Zug der feinen Saloninanieren des Zeitalters, und das isl wohl überhaupt die Absicht mit diesem Motiv, selbst wo es infolge einer allgemein gährenden Lust zu etwas unruhigem in der Haltung der Figur eine weitere Anwendung erfährt. Man wendet es nicht selten, namentlich in der Kunst des englischen Mittelalters, bei liegen- den Grabliguren von Rittern an, und verfolgt hier wohl auch keinen andern Zweck damit — wenn man wohl auch eine s|K?zicllere Hedeutung hat hineinlegen wollen — ; die liegenden Figuren auf den Grabsteinen sind ja stehend gedacht und komponiert.

Einige von den besten Figuren aus dem dreizehnten Jahrhundert, stehende ritterliche Gestalten, namentlich aus den Kathedralen in Chart res und Heims, zeugen ganz deut- lich davon, dass das Motiv, das in der antiken Kunstliteratur «uno crurc insistere»1 benannt wird, und dessen Entwicklung ein Hauptnerv in dem Uebergang von der Steifheit der archaischen griechischen Kunst zu der befreiten natürlichen Haltung war, auch der Kunst des Mittelalters nicht fremd "(gewesen ist. Aber dem Mittelalter fehlten die äusseren und inneren Bedingungen für die Kunst, eine solche Aufgabe mit der plastischen Gründlichkeit und Vollständigkeit durchzuarbeiten, mit der die Griechen das getan haben: und deshalb gelangte es auch nicht zu einem Resultat, das eine solche Bedeutung über die ganze Linie der Kunst erhielt. Im ganzen ging man wohl von der geraden Haltung der Figur zu der mehr krummen über, als Aus- druck einer lebhafteren und unruhigeren Seelenbewegung, eines gewissen Schwunges : da man sich aber nie so recht in Naturstudien vertiefte, wurde die krumme Haltung, wenn sie auch mehr und mehr übertrieben wurde, allmählich ebenso konventionell — man könnte gut sagen : ebenso steif — wie die gerade. Sie wurde zur Gewohnheit und Manier und kommt so häufig in Malerei wie in Skulptur vor, dass sie als eine der charakteristischsten Eigenarten des Figurenstils dieser Periode, namentlich des vier- zehnten Jahrhunderts, gelten kann, ein Symptom sowohl für seinen Willen und seine Empfindung in beziig auf den Menschen als auch für seinen Mangel an Verständnis für den natürlichen Hau und die Statik des Körpers.

Denn bei dieser krummen Haltung wird der Körper in zu naiver Weise so anfgefassl, als wenn er ganz aus einem einzigen Stin k eines gleichartigen, biegsamen aber zähen und festen Stoffes bestände, wie das Stück Holz, aus dem man den Rogen krümmt: man glaubte, der Körper könne eine Stellung einnehmen, die der Krümmung des Rogens entspräche. An diesem Punkt offenbart es sich am deutlichsten, wie sehr die Auffassung der Griechen von der Natur des menschlichen Körpers die des Mittelalters an Sicherheit und Richtigkeit übertraf. Wenn Polyklet oder seine Zeitgenossen und Nachfolger die aufrechte Figur darstellten, hatten sie ein offenes Auge für die Biegung der Mittellinie und der Seitenlinien des Körpers: aber sie sahen auch, dass die Linien eine dop pelle Krümmung hatten. Indem die eine Hüfte mehr in die Höhe und nach der Seite hinausgeschoben wurde als die andere, zieht sich die Linie der Seite über der Hüfte wieder nach innen und bildet. einen nach innen gehenden Winkel mit der Seitenlinie der Brust, indem der Oberkörper des Gleichgewichts halber sich nach


1 Dass eine Figur sich wesentlich auf da» eine Bein stützen soll.


— 183 —


derselben Seite neigt wie die Hüfte. Verfolgt man bei einer griechischen Statue — oder in der Natur — die Seitenlinien der Beine und des Unterkörpers von unten nach oben, so beschreiben diese eine Schwingung; aber die Schwingung nach oben durch die Linien des Oberkörpers setzt sich in entgegengesetzter Richtung fort. Dies natürliche Spiel der Linien begriff die Kunst des Mittelalters überhaupt nicht: die oben angeführten Beispiele einer richtigeren Beobachtung des Motives «uno crure insistere» sind nur reine Ausnahmen, die aus der früheren und besseren Hälfte der Periode stammen. In den allermeisten Fällen Hess man die Linien des Oberkör- pers ganz einfach — aber vom Standpunkt des Natürlichen ganz falsch — den gebo- genen Schwung fortsetzen, der von unten auf mit den Linien durch Bein und Unter- körper begonnen war: der Oberkörper wird nicht nach derselben Seite gebogen wie die vorgeschobene Hüfte, sondern nach der entgegengesetzten. Man lässt die Figur gern mit dem einen Fuss, z. B. mit dem linken, stark nach der SCite austreten — stärker als es die Antike getan haben würde — und zieht auch den rechten Fuss sehr nach dem linken hin; so bildet dann die rechte Hüfte eine stark nach aussen gebogene Linie, und die Schultern ziehen sich nach derselben Seite hin wie die Füsse — dann hat man die ganze Schwingung durch die Figur, auf die man so grossen Wert legte.

Bei nackten Figuren kann man diesen ganzen für das spätere Mittelalter so charakteristischen Fehler namentlich bei Bildern von Christus am Kreuz verfolgen. Als Beispiel will ich das grosse Brändtlers-Kruzifix 1 in der Kirche zu Wechsclburg in rig.  » Sachsen anführen (ca. 1250), das ohne Frage der Gipfelpunkt von dem ist, was das Zeitalter in bezug auf die Darstellung der nackten Figur zu leisten vermochte. Man vermisst dort wie überall den nach innen gezogenen Winkel der Seitenlinie über der Hüfte : der ganze Körper ist nach einer grossen Kurve gebogen. Indem der Künstler auf seine Weise den nackten Körper studiert hat, ist ihm wohl eingefallen, dass man eigentlich eine Gegenwirkung der Linien des Oberkörpers im Verhältnis zu denen des Unterkörpers geben sollte; und er ist hierin so weit gelangt, dass er das Brustbein nach einer lotrechten Linie abwärts gezeichnet hat; da sich aber die Brust sonst nach der Seite zieht — nach der verkehrten Seite — , so kommt das Brustbein zu den übri- gen Linien und Formen schief zu sitzen und steht nicht in richtiger Verbindung mit ihnen.

Dieser Fehler in der Anlage der Figur als Ganzes wird im vierzehnten Jahrhundert mehr und mehr auffallend. Er verbindet sich ausserdem mit einer andern Eigentümlich- keit, die viel dazu beiträgt, diesen mittelalterlichen Figuren ihr eigenes Gepräge zu verleihen, nämlich dass der Unterleib — mag nun die Figur stehen oder wie Christus am Kreuz hängen — mehr vorgeschoben ist als die Brust, die flach, schmal, zurück- gezogen ist, während Hals und Kopf wieder verhältnismässig mehr vorgestreckt werden- Hier ist selbstverständlich die Rede von einem Mehr oder Weniger, zuweilen von etwas fast Unmerklichem, zuweilen von auffallenden Uebertreibungen. Aber im ganzen kann diese Haltung als Ausdruck für den allgemeinen mittelalterlichen, christlichen Antihu-

«  In dem neuen Hauptwerk: «Bau- und Kunstdenkmäler des Königreich«  Sachsen» 13-14 H., S. 122 heisst es, dass «sämtliche Teile de» Kruzifixes aus Eichenholz geschnitzt und nicht in Ton gebrannt sind, wie W. Bode angibt».



- 184 -


manismus betrachtet worden, über dessen Niveau sich die nordische Kunst vor dem sechzehnten .luhrhunderl nie so weit erhob, dass sie einen ganzen Umschwung des Figurenstils bewirkt hätte. Die eingepresste Brust, d. h. die leere Lunge bezeichnet das Aufgeben des Menschen, die Verleugnung seines eigenen Ich, die Demut. Doch kann diesem Ausdruck in der Stellung der Figur wieder etwas durch den Ausdruck in der Miene entgegengewirkt werden.


Ks wird sich überall zeigen, dass durchgehende kunslhistorische Umbildungen der Stellung der Figuren als Ganzes von ebenso vielen durchgehenden Veränderungen im Mienenspiel des Antlitzes begleitet werden. Die Miene ist ja selber eine S t el 1 un g, eine Modalität, nämlich der Gesichtszüge, also gewissernmssen im kleinen, im Verhält- nis zu der Stellung der Hauptteile und Glieder des Körpers. In einer vollendeten Kunst drückt die Miene dasselbe aus wie die Stellung, und immer wird ein wesentlicher Berührungspunkt da sein, obwohl es wohl auch ein gewisser Gegensalz sein kann. Denn da der Ausdruck der Miene, wenn auch in kleineren und feineren Zügen gegeben, doch intensiver ist und stärker auf den Heschauer wirkt — weshalb er auch in psychologischer Hinsicht aufklärender wirkt als die Linien des Körpers und der Glieder — , so kann sich eine schwächere Kunst zuweilen mit dem Ausdruck der Mienen begnügen, ohne die Hauptlinien der Stellung richtig mitzunehmen. So ging es gerade zuweilen im Mittelalter, das seine antihumanistisch-christliche Scheu vor dem Körperlichen nie so recht zu vermeiden vermochte. Das Interesse für den menschlichen Kopf vor dem ül>- rigon Körper, da* man bereits in dem späteren Teil der antiken Kunst verspüren kann, tritt im Mittelalter mit seiner spiritualislischen Lebensanschauung noch krasser hervor.

Der Ausdruck in den Figuren des romanischen Stils war strenge, ernst, sogar barsch gewesen. Das man in der Zeit zwischen dein Jahre 400 und dem Jahre 1150 n. Chr. ein Beispiel für eine lächelnde Miene linden kann, will ich zwar nicht be- streiten: aber ich entsinne mich doch nicht, dass mir ein solches Beispiel je vor Augen gekommen wäre. Für den Kummer, den Schmerz, überhaupt für die negativen, antipathischen Gefühle konnte die Kunst des älteren Mittelalters einen starken, wilden, ergreifenden Ausdruck linden: für die Freude und den Jubel eigentlich keinen.

Aber zugleich mit der neuen Bewegung in der Darstellung des Menschen wird der Ausdruck im ganzen milder, heller, klarer, und der Sonnenschein des L ä c Ii e 1 n s gleitet nicht selten über das ganze Gesicht, zuweilen wird es sogar sehr intensiv. Eine feinere physiognninische Wiedergabe davon können wir allerdings nicht erwarten: zu einer durchgeführten Beobachtung des Spieles auf der Gesichts- lläche, das von den starken, deutlichen Zügen zu einem kaum merkbaren Vibrieren übergeht, war weder die Technik muh das Auge entwickelt genug, und die Köpfe, die frei von allem Steifen und Maskenhaften sind, bilden sehr seltene Ausnahmen. Aber der wesentliche Sinn des Ausdrucks kann auch mit sehr wenig Zügen gegeben weiden, und die des Mittelalters sind sehr deutlich. Das Lächeln hat hier den Cha- rakter einer gewissen seelischen Süsse, Mildheit, Liebe, die allmählich sogar in Sen-



— 185 —


timenlalität übergeht: das sympathische Verhältnis zwischen den Menschen unter- einander, die gegenseitige Anziehung erhöht den Wärmegrad der Seele und ruft Un- ruhe und Leben hervor, was sich auch auf der Gesichtsfläche bemerkbar macht. Kine frohere Stimmung ist wachgerufen, die Menschen dringen mehr in ihr gegen- seitiges Gefühlsleben ein; daraus ergibt sich der Ausdruck eines seelischen Verkehrs in einem neuen Geist und mit einem merklichen Zusatz der Höflichkeit im Verkehr der vornehmeren Gesellschaft. Wenn Gabriel, der Kngel der Verheissung, sich Maria mit der frohen Botschaft nähert, lächelt der Kngel die Frau, die Golt zu seiner Braut auserkoren hat, beglückwünschend an, nicht ohne eine gewisse Schelmerei in der Miene, wie an dem Hauptportal der Kathedrale in Reims aus dem dreizehnten Jahrhundert, kij. «>. Das Lächeln finden wir natürlich meistens auf den Gesichtern jugendlicher Figuren — von Engeln und Frauen — , doch auch auf denen bösartiger Männer. Es bedeutet nicht selten Triumph, Gefühl des eigenen Glückes, so bei der allegorischen Figur der «Kirche, im Gegensatz zu der -Synagoge», bei den «klugen Jungfrauen» des evan- gelischen Gleichnisses, die sich auf die nahende Seeligkeit freuen, bei den Gerechten am jüngsten Gericht u. s. w. Man lindet es auch bei weltlichen Forträtköpfen als allgemeinen Ausdruck für gute Laune, wie z. B. beider Statue der Gräfin Baba» aus k>«  «>. dem Dom zu Naumburg (zweite Hälfte des dreizehnten Jahrhunderls), wo es sehr stark, beinahe als Lachen erscheint. Ein ganz eigentümliches Beispiel für den lächelnden Ausdruck aus dem früheren Teil des vierzehnten Jahrhunderts liefert uns die Szene von -der Verführung» oder «der Weltlichkeit >, die in zwei Statuen an der West- Kig-r>iu <w. fassade des Münsters zu Basel dargestellt ist. Ein fürstlicher Herr macht mit der rechten Hand, deren Handschuh er abgezogen hat und in der Linken hält, eine frivol konvertierende Bewegung an eine Dame gewendet. Ks ist ein Ausdruck wie aus einer Gesellschaft, wo die Stimmung durch Wein und die Nähe schöner Frauen animiert ist. Sein fettes, bartloses Gesiebt ist ein wenig auf die Seile gelegt mit einer schäckernden, liebenswürdigen Miene, die in ihrer Uebertreibung einen etwas lächer- lichen Eindruck macht, im l'ebrigen aber lebhaft wiedergegeben ist. Die Dame ihrer- seits beantwortet seine Kurtoisie mit einem ähnlichen Lächeln und enthüllt frech die Seite ihrer Brust, die ihm zugewendet ist.

Bei Darstellungen der heiligen Jungfrau mit dem Kinde kann diese Periode, na- mentlich das vierzehnte Jahrhundert, schon zu dem Ausdruck einer so holden und süssen und zündenden Liebe gelangen, wie sie die Kunst nur je wiedelgegeben hat, wenn sie auch später den Ausdruck in feineren Zügen und mit grösserer psychologischer Tiefe durchzuführen vermochte. Auch das idyllische Verhältnis zwischen Mutter und Kind tritt bereits hier hervor: das Kind streichelt z. B. liebkosend die Wangen der Mutter mit seinen Fingern und zeigt auf sein lebendes Spielzeug, den kleinen Vogel, der auf seinem Knie sitzt (Gruppe im Museum des Lmivre). Im Vergleich zu der abstrakteren, souveräneren Würde der göttlichen Personen in den älteren Zeiten sehen wir also hier eine Annäherung an das Bein-Menschliche. Ucbcihaupl dürfte es zweifelhaft sein, ob man mit Hecht einen im eigentlichen Sinne religiösen Ausdruck in der Kunst dieser Periode, wo doch die Menschheil zweifelsohne stark



— 186 -


religiös bewegt war, nachweisen kann. Dies ist ja keineswegs nur dadurch gegeben, dass die Themata in den allermeisten Fällen auf das kirchliche und religiöse Gebiet gehören, und dass die Figuren fast ausschliesslich göttliche, heilige oder selige Figuren darstellen. Wohl hat der Figurenstil sein allgemeines Gepräge von dem Spiritualismus und Demutsinn der christlichen Lebensauffassung erhalten : es sind leichte Gestalten, die leicht auftreten und ihre Kechte als Bewohner der Erde nicht geltend machen: aber die eigentlichen charakteristischen Züge des Ausdrucks für das Verhältnis des Menschen zur Gottheit, das in strengerem Sinne religiöse Verhältnis, wird man doch nur äusserst selten, und auch dann nur in wenig bedeutenden Exemplaren finden.

Namentlich ist es von Bedeutung zu beachten, dass die aufwärts ge- wandte Bewegung des Blickes, des Antlitzes, der Hände noch nicht in diese Periode der Entwicklung der Kunst gehört, und dass die Künstler der nordischen Nationen sie eigentlich erst im Laufe des sechzehnten Jahrhunderts aus der italieni- schen Benaissancekunst kennen lernten. Wenn Paul Delaroche auf dem Mittelbilde seines berühmten «Hemicycle» die -gotische Kunst > mit erhobenem Blick und still in die Beschauung des Himmlischen versenkl dargestellt hat, so kann man dies wohl keine verfehlte Charakteristik nennen ; hat es je ein Zeitalter gegeben, das mit von der Erde abgewandlem und gen Himmel gewandtem Blick gelebt hat, so war es ganz sicher das Mittelalter. Davon zeugt in erster Linie die Architektur des Mittelalters: der gotische Stil hat ja keinen andern Willen als den Blick und das Gemül emporzuziehen, und er tut das mit einer unvergleichlichen künstlerischen Macht. Auch die Literatur enthält auf jeden Fall einige — hei genauerer Kenntnis wahrscheinlich zahlreiche — Zeugnisse dafür, dass man sich des Ausdrucks der emporgerichteten Bewegung sehr bewusst war. Aber eine Talsache ist es, dass diese Bewegung in der Plastik und der Malerei des Mittelalters so gut wie niemals vorkommt, d. h.: in den künstlerischen Darstellungen der menschlichen Figur. Das kam gewiss mehr aus Mangel an künstlerischem Können als aus Mangel an Willen. Die Kunst eignet sich innerhalb der Grenzen des Mittelalters noch nicht recht den mimischen Ausdruck an: sie lernte nicht, ihn zu verstehen und ihn in seiner Freiheit und volltönenden Macht wiederzugeben. Während alle Linien der Architektur auf- wärtsstreben, sehen die Figuren geradeaus oder nieder, ehrwürdig, freundlieh, milde, ruhig, als wären sie weil mehr im Besitz des seligen Lebens als teilhaftig an dem Streben, das den Blick der wirklichen Menschen, sobald sie die Kirche betraten, in die Höhe zog.

Man findet wohl ausnahmsweise einmal eine Figur aus dem vierzehnten Jahr- hundert, bei der die mit einer Zirkellinie gezeichnete Iris des Auges sich ein wenig in die Höhe schiebt, indem auch das obere Augenlid mit einer viel stärker geschwungenen Linie gezeichnet ist als das untere, das beinahe gerade ist. Dies bedeutet offenbar einen zum Himmel erhobenen Blick. Und im ganzen ist es ein recht allgemeiner Zug, dass die Linie des unteren Augenlides mehr gerade, die des oberen mehr geschwungen ist. Wenn dies auch möglicherweise als Symptom dafür aufgefasst weiden kann, dass sich in der Kunst ein gewisses Bedürfnis regte, den empor-


- 187 -


gewandten Ausdruck wiederzugeben, und dass man mit solchen kleinen Mitteln vor- läufig dies Bedürfnis befriedigt hat, so ist es doch sicher, dass sie noch weit davon entfernt war, die Macht zu einer durchgreifenden Umwälzung der ganzen Bewegung der Gestalt zu besitzen. Das wissen wir, die wir die italienische Renaissancckunst kennen, besser, als es die Künstler des Mittelalters selber wissen konnten.


Die Darstellung der nackte n Figur gewinnt in diesem Zeitraum keinen grösseren Umfang im früheren Mittelalter. Sie ist auf eine kleine Reihe von Auf- gaben beschränkt. Der Krlöscr am Kreuz, und auf einzelnen Bildern auch die beiden Schacher, sind nackend, doch mit verhüllten Lenden. Nackend sind ferner Adam und Eva sowie — sporadisch — ganz einzelne andere biblische Figuren, wenn die Aufgabe es dringend verlangte, und auf den Bildern vom jüngsten Gericht die Bösen, nament- lich wenn sie schon in der Hölle sind  ; zuweilen auch die Toten, die aus den Gräbern auferstehen. Die Regel ist, dass die Bewohner des Paradieses, des himmlischen Jerusalems, bekleidet dargestellt werden ; zuweilen stehen an der Paradiesespforte Engel, die ihnen Kleider anlegen. Wenn die menschliche Seele als kleines Kind dargestellt wird, ist sie in der Hegel nackend, so auf Grabmälern oder Bildern von Marias Tode, wo die Seele von Engeln gen Himmel getragen wird, oder auf Bildern vom jüngsten Gericht, wo die Seelen in Abrahams Schoss aufgenommen werden. Es gibt Beispiele davon, dass man es wagt, die ganz nackte Frauengestalt unter die architektonischen Figuren hoch oben auf das Gebäude zwischen andere sonderbare, monströse und dämonische Gegenstände als Mündung einer Wasserrinne zu stellen  ; sie ist dann in grossem Massstab ausgeführt und in wenig würdiger Stellung, .kauernd, dargestellt. Dies ganze Repertoire zeigt deutlich, dass das Nackte teils in antihumanisti- schern Geist als Bezeichnung für etwas Böses oder Verächtliches aulgefasst wird, teils mit Aengstlichkeit als etwas betrachtet wird, das wohl bei kleinen Kinderfiguren angehen mag, nie aber bei dem erwachsenen Mann oder der reifen Frau. Hievon bilden jedoch Adam und Eva eine Ausnahme; diese Aulgabe für das Nackte blieb durch alle Zeilen hindurch auf dem Repertoire der christlichen Kunst flehen mit der Forderung, mit einem vollständigen und ernsteren Naturstudium durchgearbeil zu werden. Aber dieses Studium wird im Mittelalter noch nicht begonnen. Namentlich ist man ängstlich darauf bedacht die deutlichsten Zeichen des geschlechtlichen Unter- schiedes nicht wiederzugeben, man lässt sie ganz weg oder deckt sie sorgfältig zu, z. B. mit einem ganz kleinen Feigenbaum, der von unten hetaufwäehst. Die weibliche Form von Evas Busen wird wohl einigermassen deutlich dargestellt, jedoch niemals so, dass man ein gründliches Modellstudium dahinter verspürt, und zuweilen mit einem grossen Mangel an Naturstudium. Adam ist natürlich besser: hin und wieder ist ein Adam auch wohl ganz achtenswert, z. B. eine lebensgrosse Figur aus St. Denis im Clunymuseum zu Paris, aus dem vierzehnten Jahrhundert.

Eine genauere Analvse des gänzlich mangelhaften Begriffes von dem natürlichen Bau des Körpers, den die ganze Behandlung der nackten Form durch das Mittelalter zeigt,



— 188 —


könnte an sich schon Anspruch an grösseres Interesse erheben, insofern, als man nichl nur viele individuelle Fehler und Mängel bei jeder einzelnen Figur an sich nachweisen könnte, was leicht genug ist, sondern auch bestimmte durchgehende Fehler, falsche Doktrinen, die charakteristisch für die Kunst in weiterem Umfange waren. Ob das bewiesen werden kann, müssen wir der Zukunft überlassen. Hier müssen wir uns darauf beschränken zu .sagen, dass die Formgebung des Mittelalter* beständig von der Betrachtung der (jestall von aussen beeinllusst wird, nicht von dem Verständnis der Form von innen. Die Details der Oberfläche sind nicht ausgebildet sondern eingeschrieben oder gleichsam aufgeklebt  : die vortretenden Adern z. B. gleichen Reliefbildern von verzweigten Wurmformen, die sich mit scharfen Konturen von der Oberfläche des Körpers abheben.


DIK DARSTELLUNG DER INDIVIDUALITÄT WÄHREND DES SPÄTEREN

MITTELALTERS.

Gleich von Anfang an tritt in dieser Periode sporadisch ein deutliches Bestreben an den Tag. die menschliche Individualität wiederzugeben — also das zu schaffen, wa* man in künstlerischer Bedeutung ein Porträt nennen muss. Wie wir bereits gesagt haben  : die Kunst wandte ihren Blick der wirklichen Menschheit zu, und da steht sie ja lauter Individualität gegenüber. Damit ist nun freilich nicht gesagt, dass sie überall darauf ausgeht, auch das Individuelle wiederzugeben; aber die er- haltenen Kunstwerke zeugen doch deutlich davon, dass sich mancher Künstler dies Ziel gesteckt hat und mit derbem Willen darauf losgegangen ist. Man findet denn auch aus dem Ki«. ßu. dreizehnten Jahrhundert plastische Köpfe — /.. B. die Reiterstatue im Dom zu Bamberg (Konrad III.), oder die deutsehen Könige Heinrich von Thüringen und Wilhelm von Holland, sowie den Erzbischof Siegfried von Eppstein auf dem Monument des Letztge- nannten im Dom zu Mainz, und andere deutsche, französische, englische, — die voll- kommen den Charakter von Porträts haben und als die ältesten Exemplare des eigen- tümlichen nordischen PorträtstiLs betrachtet werden können, der später eine so grosse Bedeutung erhielt, namentlich in der Malkunst aus dem fünfzehnten und dem Anfang des sechzehnten Jahrhunderts (van Eyck, Memling, Massys, Dürer, Holbein, etc.).

In bezug auf künstlerische Durcharbeitung können sich jene Köpfe aus dem dreizehnten Jahrhundert freilich nichl mit den späteren Werken berühmter Künstler messen  : es ist keine plastische Porlrälkunsl, bestimmt zur Verliefung in alle kleinen Züge; auch fehlt die vollendete plastische Herrschaft über die Auffassung des Volumens des Kopfes. Aber die Irische und gestählte Charakterstärke, die aus ihnen strahlt, ist zuweilen ganz unvergleichlich. Es liegt Mut und männlich zusam- mengedrängter Wille in diesem Blick, der geradeaus gerichtet ist, wie eine scharfe Schwertklinge über dem etwas aufwärtsgebogenen Augenlid. Es ist noch ein Funke des alten Heldengeistes der norden ropäischen Nationen, jener männliche Trotz, das Spielen mit der Gefahr, jener edle, hochherzige Mut, an dem sich weit spätere Zeiten



- 189 —


gelabt haben, wie an einem frischen Quell aus  »Inn Innern des Felsens. Zu jener Zeil, als er noch das Leben beherrschte, stand ihm keine bildende Kunst zu Gebote, die wirklich die Fähigkeit besass, ihn auszudrücken  : die Kunst war damals nicht weiter entwickelt als unter den nordamerikanischen Indianern. Später hatte das Christen- tum ciarauf hingewirkt, dem Geist der nordischen Völker eine andere, entgegengesetzte Richtung zu geben; und doch hatte sich etwas von dein Ursprünglichen durch das Hitlertum vererbt. Dadurch werden diese ersten wirklichen Porträts aus der Kunst der nordischen Völker so bedeutungsvoll für uns, denn sie bewahren den letzten Schimmer des ursprünglichen Sinnens und Trachtens der nordischen Stämme, die uns Nordländern nicht allein durch Blutsverwandtschaft so teuer sind, sondern die überhaupt einen unschätzbaren Beitrag zu der Geschichte der Menschheit liefern.

Doch waren die eigentlichen Porträts im dreizehnten Jahrhundert selten. Viel häufiger ist es, dass Figuren, die bestimmte, mit Namen genannte Individuen dar- stellen, namentlich auf Grabmälern, ein allgemein ideales Gepräge haben, einen Zug, den wir schon aus der griechischen Kunst kennen. Aber auch die Idealität ist hier auf den Eindruck der eigenen Physiognomie der nördlichen Völker aufgebaut  : sie wird deshalb nordisch, national, sogar provinzial, verschieden, je nach den verschie- denen Ländern und Völkern. Soviel kann im allgemeinen gesagt werden, wenn es hier auch natürlich in den Einzelheiten unmöglich sein wird, eine bestimmte und objektiv gültige Grenze zu ziehen, wieviel in einem gegebenen Kunstwerk für individuell angesehen werden kann, und wieviel ideal ist. Ks ist ein Verhältnis, das sich in psychologische Tiefen verliert: es kommt darauf an, wieweit der Künstler nach seiner Erinnerung an eine Mannigfaltigkeit von Eindrücken gearbeitet hat, die in seiner Seele zusammengeschmolzen sind, oder ob er ein einzelnes Individuum heraus- gegriffen hat, das er genau wiederzugeben bemüht ist, indem er, soweit wie möglich, seine Erinnerungen an die übrige Menschheit zurückdrängt.

Aber auf jeden Fall findet man auch unter den ideal aufgefassten Figuren aus dem dreizehnten Jahrhundert Charakterschilderungen, die durch ihre nordische — man ist versucht zu sagen  : altnordische — Frische überraschen. So steht z. B. an der Kathe- drale in Reims (einer der Kreuzarme Fig. Ol ) eine königliche Figur in kolossalem Masstab, Pn? «i. den glatten Jünglingskopf ein wenig zur Seite geneigt, das lange Haar zu beiden Seiten des Gesichts herabhängend, mit jugendlich feinen, ein wenig vollen, flaumigen Wangen, mit halb offnem Blick und leicht geöffnetem Munde — ein herrliches Bild nordischer, träumerischer Jugend, sorglos gegen jede Gefahr. Ich habe eben eine nordische Frauen- geslalt aus derselben Periode besprochen, die schöne Sainte-Modeste aus der Kathe- drale in Chartres, wo man ebenfalls ausgezeichnete Ritterfiguren findet. Die Form dieser Köpfe ist weit davon entfernt, so gut und sicher konstruiert zu sein wie die der Antiken; aber sie haben doch im Verhältnis zu dieser einen ganz selbständigen historischen und künstlerischen Wert.

Allmählich, gegen Ende des dreizehnten und im Laufe des ganzen vierzehnten Jahr- hunderts trennt sich das Ideale und das Reale in der Charakteristik mehr voneinander, doch so, dass das Ideale vorläufig entschieden die Oberhand behält. Es wird mehr und



— 190 -


mehr abstrakt, und der Geist darin wird milder, sanfter, gefühlvoller, erinnert mehr an die Chrislliehkeit und das Christentum als an die Ritterschaft und den Norden, zuweilen süsslieh und sentimental durch seine Vorliebe für das Jugendliche und Weiche. Der Gegensatz dazu ist die Karikatur, die man die Idealisierung des Bösen nennen möchte, wo es sich darum handelt, die Feinde des Christentums so ab- schreckend und dämonisch wie möglich zu schildern: Gesichter mit grossen, krummen Nasen, Mündern, die nach der Seile gezerrt sind u. s. w.

Aber in den Porträts strebt man gleichzeitig mehr und mehr danach, alle Eigentümlichkeiten der Individualität, die man darstellen will, wiederzugeben. Eine einzelne Geschichte aus dem Endo des dreizehnten Jahrhunderts ist in dieser Beziehung sehr belehrend und steht völlig in Einklang mit dem Eindruck, den man von den Kunstwerken selber erhält.

Als der deutsche König Rudolf I. von Habsburg (geb. 1218, f 1291) schon alt geworden war, sollte für ein Grabmal für ihn Sorge getragen werden - es befindet sich noch jetzt in der Krypta des Domes zu Speier. Dass der König einem Künstler «sitzen» könne, wie man es mit dem modernen Ausdruck bezeichnet, daran war nach damaliger Sitte wohl nicht zu denken; aber der Bildhauer halte Gelegenheit, ihn wiederholt zu sehen : er prägte sich das Antlitz des Königs gut ein und lernte jede Runzel auswendig, so dass er die Zahl von allen kannte. Während er nun das Bild ausführt, kommt ein Mann aus dem Elsass zu ihm, wo sich der König damals auf- hielt und behauptet, der König habe, seit ihn der Künstler zuletzt gesehen, noch eine Runzel im Gesicht bekommen. Dies beunruhigt den gewissenhaften Bildhauer so sehr, dass er sofort nach dem Elsass eilt um sich die Sache anzusehen; es gelingt ihm auch, Königs Rudolf ansichtig zu werden, er überzeugt sich davon, dass es sich so verhält, wie sein Freund sagt, und eilt wieder nach Speier zurück, um die neue Beobachtung getreulich in sein Porträtbild einzufügen. Dies schmeckt schon in hohem Masse nach dem, was man Realismus nennt; und studiert man die aus diesem Zeitalter erhaltenen Porträtbilder, so sieht man wirklich den Realismus im Entstehen und in stetem, wenn auch nicht gleiebmässigem Fortschritt. Aber die Monumente zeigen auch, dass, wenn man diese sorgfällig beobachteten Runzeln und Züge ausführen wollte, man doch noch keineswegs zu einem schroff realistischen Stil durchgedrungen war. Man zeichnet und fomit alle Züge im Gesicht auf eine gewisse schematische Weise mit einer Rhythmik in den Linien, als handle es sich mehr um ein Ornament als um eine naturgetreue Darstellung der Wirklichkeit. Die Wölbungen der Stirnfalten z. B. laufen streng parallel miteinander. Dasselbe Prinzip gilt für die Behandlung des Haares, dessen slark gewölbte Locken zu beiden Seiten des Kopfes symmetrisch ge- ordnet und zuweilen sehr künstlich ineinander gezogen sind; ebenso gilt es für den Faltenwurf des Gewandes, der mit ganz konventionellen und rhythmischen Linien wiedergegeben wird, die mit fhessendem und elegantem Schwung ineinander über- gehen und der Natur und Wirklichkeit nur wenig entsprechen. Dieser spezifisch mittel- alterliche Stil macht sich fast überall durch das ganze Jahrhundert geltend, sowohl in der Skulptur wie in der Malerei, und erstreckt sich sogar ein Stück in das



- 191 —


fünfzehnte Jahrhundert hinein. Und gewöhnlich entwickelt er sich mehr und mehr in der Richtung auf geometrische Eleganz zu.

Aber bezeichnend für die Porträts des Zeilalters ist doch diese Aufmerksamkeit auf die Menge der Runzeln. In Wirklichkeit wird man finden, dass das Interesse für die Individualität im Laufe des 14. Jahrhunderts namentlich bei tler Darstellung der alternden Physiognomie zu Tage tritt, im Gegensatz zu der Vorliebe des gleichzeitigen Idealismus für alles Glatte, Weiche, Jugendliche. Das heisst mit andern Worten, dass man sich über die ganze Linie der Kunst, sowohl auf ihrem realistischen wie auf ihrem idealistischen Flügel, von dem eigentlich männlichen Charakter, dem Heldcncharakter, entfernt hatte. Man wird kirchlicher, allmählich bürgerlicher, der Charakter wird mehr und mehr mürbe, weniger frisch. Hievon kann man sich na- mentlich überzeugen, wenn man Gelegenheit hat, grössere zusammenhängende Porträt- reihen zu studieren, die der Entwicklung der Zeit folgen, wie die höchst lehrreiche Reihe von Grabmälern der Kurfürst-Erzbischöfe von Mainz im Dome dieser Stadt.

Das Bild des jugendkräftigen Mannes wird in der Kunst des ganzen späteren Mittelalters in den nördlichen Ländern fast völlig zurückgedrängt. Wohl findet man Porträts von grossen Helden, berühmten Heerführern, wie die gute und ganz realistisch durchgeführte Figur von Bertrand du Guesdin (f LJ80) aufseinein Grab- Fi«, aa. mal zu St. Denis; aber es gehl mit den Gestalten der Kunst wie zuweilen mit denen des Lebens selber, dass man nicht mit Sicherheil den Unterschied zwischen einem grossen General und einem grossen Speckhöker unterscheiden kann. Man findet auch Figuren von ritterlichen Heiligen — das war eine notwendige Folge der kirchlichen Aufgaben -•  ; aber ihr körperlicher Charakter ist dann fein und zartgliedrig und der seelische zuweilen auffallend weich und wenig männlich. In dieser Periode war es ja auch, dass ein junges Mädchen ritterliche Rüstung anlegte und — solange ihr Stern hoch am Himmel stand — ausrichtete, was kein Mann vermocht hülle. Jeanne d'Arc's unvergleichliches Prestige kann unmöglich seinen realen Grund in der überlegenen Körperkraft oder dem militärischen Talent des zwanzigjährigen Bauemmädchens gehabt haben; aber die Sache war die, dass das Zeitalter mehr geneigt war, an einen weiblichen Helden als Auserwählten Gottes oder der Mutter Gottes zu glauben als an einen Mann. — Wie wir später sehen werden, tritt erst im allerletzten Teil des fünfzehnten Jahrhunderts und vom Anfang des sechzehnten an der männliche Held in männlicherem Geist (namentlich St. Georg im Kampf mit dem Drachen) wieder stärker in den Vordergrund als Gegenstand für die Kunst der nordischen Nationen.

Aus den Monumenten aus der Zeit um das Jahr 1400 ersehen wir, dass die Kunst — jedoch freilich ganz überwiegend die niederländische — endlich so von Naturstudium durchdrungen ist, dass uns ihre Menschenbilder ganz anders befriedigen können als die früheren, und zum Teil sogar für alle Zeiten als vollkommene und in ihrer Richtung ausgezeichnete Kunst anerkannt sein werden. Wir haben Grund, schon diese Kunst modern zu nennen, wenn auch noch auf mittelalterlichem Hinter- grund. Deswegen erfordert der letzte Akt des nordischen Mittelalters, das fünfzehnte



- 102 -


und der Anfang des sechzehnten Jahrhunderts, eine eingehendere Betrachtung als die vorhergehenden. Nach unserer Aufgabe und unserem Plan charakterisieren wir nur die Kunstschulen, deren Werke uns am besten zeigen, was das Zeitalter in bezug auf die Menschenschildening wollte und konnte. Wie gewöhnlich lenken wir die Auf- merksamkeit sowohl auf die Maler- als auch auf- die Bildhauerkunst  : wo Tüchtigkeit in der einen vorhanden ist, finden wir auch Tüchtigkeit in der andern. Aber es geht hier wie fast überall, an dem einen Orte tritt die Malerei, an dem andern die Plastik, infolge der Wirksamkeit genialer Künstler, stärker in den Vordergrund und nimmt die leitende Stellung ein. zuweilen auch auf lange Zeit. Darauf müssen wir eben- falls Rücksicht nehmen, da wir allein so die leitenden Mächte der Kunst erforschen können.


In den Kheinlanden, namentlich in Köln erntete die Malerei den grössten Kuhm, namentlich durch die beiden hervorragenden Künstler, Wilhelm von Herle, dessen Blütezeit in den späteren Teil des vierzehnten Jahrhunderts fällt, und Stephan Locher, der um die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts wirkte (gest. 1451 1. Met rächten wir, was man an erhaltenen Kunstwerken aus erster Hand kennt, so hallen wir uns eigentlich nur um des letzteren Meisters, um Stephans willen, bei de!' kölnischen Malerschule auf. Wilhelms Name ist freilich seiner Zeit sehr berühmt gewesen; was wir aber jetzt auf ihn zurückführen können, ist zu wenig und zu unsicher, um in einer Schrift wie diese aufgenommen zu werden; wir betrachten ihn deswegen nur als Vorläufer von Stephan. Dieser kann als Meister einer Reihe von Bildern angesehen werdwi, die, wenn sie auch nicht zahlreich sind, doch Anspruch auf grosses Interesse erheben, weil sie dem Wesen des späteren Mittelalters einen ganz eigentümlichen und bemerkenswerten Ausdruck verleihen. Die wichtigsten und originellsten davon sind: Die sog. «Seminar-Madonna, im Erz-bischöflichen Museum in Köln, «die Darstellung im Tempel» in der Darmstädter Galerie, das berühmte «Dombild«  im Dom zu Köln (ursprünglich Altartafel in der Rathauskapelle) und endlich die Perle von allen, die kleine «Madonna in der Rosenlaube» im Mu- seum der Stadt. Hiermit gelangen wir freilich gleich zu einer Zeit, in der die neue niederländische Kunst, die wir noch nicht besprochen haben und die auch nicht ohne Kinfluss auf Meister Stephan in Köln gewesen ist, in vollem Flor stand. Aber es ist doch richtig, ihn zuerst zu nehmen, da seine Kunst, namentlich in bezug auf die menschliche Gestalt, mehr mittelalterlich ist, mehr als eine Fortsetzung und Vollendung der idealistischen Richtung des vierzehnten Jahrhunderts betrachtet werden muss.

An den weiblichen Figuren, die auf die Schule seines Vorgängers, Meister Wilhelms, oder dessen nächsten Nachfolger zurückgeführt werden können, merkt man Fi«, i». nur wenig von Körper und Gliedern innerhalb der Kleider; die Figuren sind sehr langgestreckt, kümmerlich dünn und oft langweilig geradlinig in der Haltung; die


DIE MALERSCHULE IN KÖLN.


-


- 193 -


Münde sind lang und .«-litiml und ganz mangelhaft in der Form entwickelt. Aber der Typus des Kopfes ist eigentümlicher; und sieht mau ihn auf einem der besten Werke des Meisters oder der Schule. — namentlich in der schönen Komposition Veronica mit fir. m. dem Schweisstuch, von der sich das beste Kxemplar in der National Gallery in London befindet — so muss man ihn entzückend hübsch finden. Ks ist ein recht nordisch- germanisches Gesicht mit einem milden und reinen Oval und mit weichen, halb kindlichen Zügen, einem kleinen Mund mit vollen Lippen, einer weich abgerundeten Nase, grossen Augen, einer runden, klaren Stirn. Wenn man dies schöne Bild in der Krinrierung Hat. wird man vielleicht nicht geneigt sein, bei Meister Stephan besondere Forlschritte in der Kntwicklung des Typus anzuerkennen. Die Figur mag vielleicht ein wenig breiter erscheinen, und die Madonna mag mit einer gewissen Würde thronen: aber die Schultern sind doch so schräge und schmal, es ist auch hier so wenig Körper unter den Kleidern, so wenig Macht und llebcrlegenheit in der I lallung. Die Hände sind besser und recht gut nach der Natur aufgefasst, obwohl der ererbte Typus mit weitgespreizten Fingern beibehalten ist. Und was den Kopf anbetrifft, so ist es eigentümlich, dass Stephan in der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts das sonst in beziig auf die Individualisierung so weit gehen konnte, in der Tendenz der reinen Idealität fast noch weiter gehl als sein Vorgänger. Sein Ausgangs- punkt isl Wilhelm'» blonder, kindlicher Typus; aber, was man auch den «Charakter» darin nennen könnte, verwischt und glättet er aus, gleichsam in heiliger Scheu vor allem, was auch im Entferntesten das Gepräge des Individuellen tragen könnte, das die Eigentümlichkeit alles erschaffenen und zeitlichen Wesens ist. Die grosse, ge- wölbte Stirn wird so abgerundet und abgeglättet in der Form, die Nase so klein und alle Gesichtszüge so wenig hervortretend, dass es fast aussieht, als ob der Idealismus dieser Köpfe in der möglichsten Annäherung an die reine Dillard-Kugelform bestünde. Ich kann wirklich nicht umhin zu glauben, dass sich der Künstler eine Theorie ge- bildet hat, dass die höchsle Schönheil in einer gewissen geometrischen Abstraktion gipfele, eine Theorie, die also von dem Studium der natürlichen, organischen Form ablenkte. Beispiele für diese abstrakte Idealität bilden namentlich die weiblichen Köpfe auf dem grossen * Dombild , die dadurch naturgomüss äusserst einförmig geworden, — die Geometrie lehrt ja, dass alle Kugeln ähnlich sind •— was namentlich in der Gruppe von Ursula und ihren J u n g f r a u e n auffallend ist. Aber Pif. av im Wesentlichen ist der Typus auf allen Bildern Stephans derselbe.

Und doch haben diese heiligen Jungfrauen mit ihrer leichten Neigung des Kopfes, ihren niedergeschlagenen Augenlidern, ihrem ruhigen und gesammelten Ausdruck einen Liebreiz, der eine der grossen Kostbarkeiten der Kunstgeschichte ist. Ausgezeichnete Künstler wie Perugino, Francia oder Baffael in seiner ersten Periode haben etwas Aehnliches ausgedrückt und haben es mit weit mehr plastischer Haltung und Fülle ausdrücken können; aber eine so unschuldige Innigkeit, ein so vollkommen reines, unbeflecktes Gefühl auszudrücken, isl ihnen doch kaum gelungen, es sei denn Raffael in seinem Bilde der Madonna del Granduca. Man spürt in den kölnischen Gemälden noch die mystische Geistesrichtung, die durch lange Zeit hindurch die Seelen namentlich

13



- 194 -


in diesen Gegendon Deutschlands beherrscht hatte. Sie ging darauf au», alle Indivi- dualität, jedes selbständige menschliche Einzel-Dasein in der Einheit mit Gott auf- zulösen und in das unendliche panlheistische Meer ausfliessen zu lassen, in dein nicht einmal Gott selber seine Persönlichkeit behielt, sondern dessen richtiger Name nur «das Wesen» war, zu dem alles zu seiner ursprünglichen Ruhe zurückkehren sollte. Jede Vorstellung von etwas Individuellem, das in die Seele drang, verdrängte gleichzeitig die Vorstellung von Gott, störte die vollkommene Ruhe in ihm und sollte deshalb fern gehalten werden. Dies ist eine Philosophie, die, mit strenger Konsequenz befolgt, eigentlich von jeglicher bildenden Kunst ablenkt, weil die Kunst unmöglich irgend etwas Beliebiges, auch nicht das Göttliche, anders als persönlich und menschlich begrenzt schildern kann. In der reinen Wesenstiefe, «in der sich nichts unterscheidet», ist auch nichts zu schildern. Deshalb gibt die kölnische Malerei nur einen Abglanz der mystischen Philosophie, die ihre beste Zeit schon hinter sich hatte, und daher hat sie selber nur ein kurzes historisches Leben. Aber der Abglanz einer so vollkommen reinen Lebensanschauung verfehlt seine Wirkung auf die Seele nicht: er erzeugt eine gesammelte Stille, etwas von jener mystischen, pantheistischen Ruhe die den Sinn von der zersplitternden Mannigfaltigkeit und Geschäftigkeit der Welt ablenkt. Und deshalb hat er auch in unserem Jahrhundert seine andächtigen Anhänger gefunden, die darin geradezu das höchste in der Kunst erblickt haben.

Nicht nur die weiblichen Gestalten, sondern auch die ganze Schilderung des Men- schen wird von dieser Kunst in die Richtung des Kindheiten gelenkt. Und das Beste sind auch die Kindergestalten selbst, das Christuskind, die Engel. Hier wagt der Maler mehr: er gibt dem Kinde auf der Mutter Schoss die natürliche Fülle der Form und stellt seine Bewegungen mit wirklich plastischer Freiheit dar. Der Stil ist auch hier idealistisch, und das Resultat erinnert sonderbarerweise mehr an Raffaels Kinder- gestalten als an die Niederländer aus der Zeit Stephans: das Höchste in seiner Kunst sind aber meiner Meinung nach doch nicht die Christuskinder, sondern einige seiner kleinen Engel, die nicht nur so rein und unschuldig sind, wie es die Engel im Himmel ja wohl sind, sondern gleichzeitig eine gewisse naive Individualität unverzagt geltend machen. Sie gleichen kleinen und ganz bescheidenen aber strahlend frischen Frühlingsblumen, die aus dem Waldboden hervorlugen. Man kann verstehen, dass ein Gemüt, das so erfüllt, so geblendet war von der absoluten Idealität der Gottheit, erst bei Wesen die in einiger Entfernung von dieser stehen, das Eigentümliche deutlich sehen und wahrhaft menschlich zu Menschen reden konnte. Das Entzückendste, was ich von Stephan kenne, sind die kleinen Engel, die die heilige Jungfrau mit dem Kinde Fi«. «• auf dem Bilde «Maria in der Rosenlaube> umgeben. Sie sitzen an der Erde und spielen auf verschiedenen Instrumenten oder drängen sich bis an die Schranke der Rosenlaube, um den bezaubernden Anblick der Mutter und des Sohnes Gottes zu geniessen. Einer von ihnen traktiert das Christuskind mit Aepfeln aus einer Schale: das Kind hat einen der Aepfel angenommen und erfreut über dies Glück, reicht der kleine Engel ihm gleich noch einen. Aber die Mutter mit den gesenkten Augen scheint die kleine Hand ihres göttlichen Kindes zurückhalten und darüber wachen zu wollen,



I<>5


dass die Grenze zwischen der absoluten Hoheit der Gottheit und der naiven, wechsel- reicheren Welt, in der diese kleinen Kugel heimisch sind, nicht ganz überschritten wird.

Den jugendlichen Rittergestidten, St. Gereon und seiner Kohorte, die auf dem einen Flügel des Dombildes gemalt sind, bat der Künstler auch etwas mehr Abwechslung gegeben als der Ursula mit ihren Jungfrauen auf dem andern Flügel ; im übrigen zeichnen sich diese Kitter mehr durch christliche Sanftmut als durch männlichen Charakter aus : Donatellos St. Georg oder Castagnos gemalte Ritler können sie alle in den Schatten stellen. Hei der Schilderung der heiligen drei Könige Kig. «?. ist Stephan noch einen Schritt weiter auf das Individuelle eingegangen  : der älteste von den Königen halt sogar ausgeprägte Gesichtszüge mit einer grossen, gekrümmten Nase, als könne es ein Kopf von Leonardo da Vinci sein  ; aber der Ausdruck ist ganz sanft und kindlich. Sonst haben die Köpfe von Greisen und entwickelten Männern auf Stephans Bildern nordische weiche Züge mit dicken Nasen und tragen in der Hegel ein ganz naives Wesen wie Hauern oder Handwerker zur Schau. Es ist ein leicht kenntlicher Typus, den wir sogar in Gott Vater wiederfinden, der sich auf mehreren Hildern ganz oben in kleiner Figur zeigt, — ein kindlicher Greisenkopf trotz des grauen Haares und Hartes. Wo die gestellte Aufgabe ausnahmsweise einmal die Schilderung von schrecklichen und blutigen Auftritten im Gefolge hatte (wie beim jüngsten Gericht und bei Märtyrerszenen) gerät diese Schule in leere Grimassen und Uebertreibungen hinein, gerade weil die natürliche Hegabung des Meisters gar nicht für dergleichen Vorwürfe geeignet war.

Die speziell kölnische Malerschule, wie sie namentlich durch Meister Stephan vertreten wird, hat eigentlich sehr wenig gemein mit dem, worin sonst die hervor- ragende Eigentümlichkeit der Kunst des fünfzehnten Jahrhunderts bestand: sie kann aufgefasst werden teils — wie wir bereits gesagt haben — als Nachwirkung des vier- zehnten Jahrhupderts, aber auch teils als eine Art Vorahnung des grossen Idealismus im sechzehnten Jahrhundert. Etwas bei Stephan weist auf Haffael oder Correggio hin. Seine Kunst hat nur einen sehr schwachen Unterbau von Disziplin und Studium des Körperlichen  : was sie so anziehend macht, ist das geniale, naiv liebenswürdige Gefühl. Ausserdem zeigt Stephan in rein malerischer Hinsicht, in der Behandlung der Stoffe, zuweilen ein ausserordentlich feines Auge und grosse künstlerische Entwick- lung; aber diese Seite seines Talents~gehört nicht zu unserer Betrachtung.

Kaum zehn Jahre nach Stephans Tode jedoch war Köln schon künstlerisch erobert von dem Einfluss der gleichzeitigen niederländischen Malerei, die in bezug auf Naturstudium und Kenntnis der Wirklichkeit so weil überlegen war.


. Nicht auf dem Wege des Idealismus machte die nordische Kunst ihre grossen Fortschritte um das Jahr 1400; es geschah lediglich durch Vertiefung der individua- lisierenden und realistischen Richtung. Und fast ausschliesslich durch eine einzelne


DIE NIEDERLÄNDISCHE BILDHAUERSCHULE IN BURGUND.


- 196 -


Nationalität, nämlich durch den Zweig des germanischen Stammes, der in dem nieder- ländischen Flusslande in der Nähe des Meeres ansässig war, wurde diese Hichtung ge- fördert. In dem bürgerlichen Leben dieser Länder besass der dritte Stand, der induslric- und handeltreibende Bürgerstand die LJebermacht. Dort waren grosse Städte gleich Heissigen Ameisenhaufen mit einer reichen Bevölkerung, die über Land und See mit der ganzen bekannten Well Handel trieben. Dort verstand man es, die vollendete Arbeit und die ausgezeichneten Arbeiter zu schätzen.

Schon seit der letzten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts hatten Künstler aus den belgischen Landen eine realistische«? Hichtung in Frankreich, auch in Paris selbst, aufgebracht, wo eine französisch-niederländische Uildhauerschule gegründet war. Dort wurde manche hervorragende Porträt-Figur von Königen und vornehmen Personen zu Cirabmälern ausgeführt, — Porträts von einem gewissen bürgerlichen Charakter, häutig mit dem Ausdruck bedachtsamer Klugheit und Schlauheit ; aber obwohl die Figuren lebend und mit offenen Augen dargestellt sind, ruht doch eine Art Schlummer über ihrem Antlitz, der Ausdruck ist noch nicht so recht zum Lehen erwacht. Jetzt war ja die Zeit gekommen, wo man von einem König weniger verlangte, dass er ein tapferer Ritler, als dass er ein kluger Staatsmann war. Diesen Kindnick erhält man, wenn man Andre Heauneveu's ausgezeichnete Porträtslatue von König Karl V. von Frankreich zu St. Denis sieht, einem Monarehen, dessen weltkluge und prosaische Politik ihm den Heinamen des Weisen verschaffte, der aber weit davon entfernt war, ein ritterliches Ideal zu sein, ja der sogar körperlich etwas missgeslallet war. Die plas- tische Arbeit dieses Porträts ist so gediegen wie in der älteren griechischen Kunst.

Der eigentliche Durch bruch der neuen individualisierenden Richtung ging doch erst in den letzten zwanzig Jahren des vierzehnten und in den ersten zwanzig des fünfzehnten Jahrhunderls in den b u r g u n d i s c h e n Landen vor sich, namentlich in der Hauptstadt D i j o n , aber, wohl zu beachten, allein durch dje Wirksamkeit niederländischer Künstler, die Uurgund infolge der Vermählung Herzog Philipps des Kühnen mit Margueritc von Flandern zu Gute kam. Am ineisten zeich- neten sich zwei holländische Bildhauer aus, zuerst Claus Sluter(f 1405), dann sein Landsmann, Verwandter und Lehrling Claus de Werve (f 1439). Dieser seltene Lichtpunkt in der Entwicklung der nordischen bildenden Kunst hat nicht wenig gemein mit der ältesten italienischen Renaissance, geht dieser aber in der Zeit voraus und ist überhaupt ganz unbecinflusst von der Kunst in Italien. Er ist die Folge einer rein nordischen Initiative. Die Bedeutung der Schule von Dijon bestand übrigens mehr darin, dass einzelne hervorragende Künstler, namentlich Bildhauer durch einzelne Werke die neue künstlerische Richtung des Zeitalters mit einer Energie und Intensität offenbarten, die nie übertroffen worden ist, als in einer sehr um- fassenden kunsl historischen Nachwirkung. Trotz des Reichtums und der Macht der bur- gundischen Herzöge und der ausgezeichneten künstlerischen Kräfte — aueh Maler — , die der Begründer der Dynastie, Philipp der Kühne, aus den Niederlanden an sich zog, war Dijon doch nicht geeignet, das Zentrum eines weitreichenden Einllusses auf die Entwicklung der Kunst zu werden. Wohl ging von dort eiue künstlerische


197 -


Beeinflussung der französischen Nachbarprovinzen aus, die ausnahmsweise auch wohl noch weiter reichte; aber ein grosses Hinterland war hier nicht vorhanden.

Vor -allem macht sich der Fortschritt in individualisierender Richtung in den Porträts der Schule bemerkbar. Als erstes Beispiel können hervorgehoben werden die Statuen, die Claus Sinter um das Jahr 1390 für das Portal der Karthäuserkirche Champmol (ausserhalb Dijon) von Herzog Philipp und Herzogin Marguerile ausführte, kir. &*. beide knieend, die Madonna anbetend. Oer Herzog ist ein alternder Mann mit einem breiten, bartlosen Gesicht, das von einer gewissen aufgeblasenen Selbstgefälligkeit strahlt, als beglückwünsche er sich selbst, das» die Würfel des Lebens so glücklich für ihn gefallen seien  ; die Herzogin, deren Figur weniger gut erhallen ist. trägt eine strammere Vornehmheit zur Schau. In bezug auf ein feines Kindringen in den individuellen Charakter und ein ausführliches realistisches Kechenschaltsnblegen von allen seinen Eigentümlichkeiten übertreffen diese Porträts sicher alles, was das Mittelalter bisher hervorgebracht hatte. Cm Porträts der vorausgehenden Kunst zu linden, die sich darin mit ihnen messen können, müssle man bis auf das Altertum zurück gehen. Und wenn auch die Antike durchgehends eine grossartigere Auffassung der Form hat, und Heispiele von einem noch mächtigeren Leben im Ausdruck bietet, so enthält sie doch kaum irgend etwas, das mehr einen spezifisch porträtartigen Charakter hat und ein glaubwürdigeres Gepräge von Wahrheit und Wirklichkeit trägt. Und manch anderes gutes Porträt aus der Kunst des fünfzehnten Jahrhunderts in diesen Hegenden zeigt, dass die Ansprüche an realistische Wiedergahe der Individualität jetzt weit schärfere waren als bisher.

Das Vorzüglichste, was uns aus dieser Schule erhallen ist, und das Vorzüglichste, was sie überhaupt hervorgebracht hat, sind doch die sechs lebensgrossen Statuen der «Propheten., die um einen sechseckigen Sockel zu einer (iruppe eines Christus am Kreuz mit Maria, Johannes, Magdalena am Fuss des Kreuzes stehen; unter 'den Propheten» am Sockel sind zu verstehen heilige Skribenten des allen Testaments, die von Christi Opfertod prophezeit haben. (Da sich der Sockel und die Gruppe Ki*. 89. aus der Mitte des Wasserbehälters des Champmoler Klosters erheben, hat das Kunst- werk sonderbarer Weise den Namen eines Brunnens «der M o s e s b r u n n c n • oder «P r o p h e t e n b r u n n e n» erhalten. Es ist von Slutcr und Werve zwischen 1395 und 1102 ausgeführt.) An den Ecken des Sockels, oben zwischen den Pro- pheten stehend, sind kleinere Figuren von trauernden und klagenden Engeln ausge- hauen: sie sind nicht bedeutend, und zeigen sogar in ganz auffallender Weise den allgemeinen Fehlendes Mittelalters. Aus der Gruppe darüber sind nur ganz einzelne Bruchslücke erhallen, namentlich von der Figur des Gekreuzigten, die zeigen, dass die Behandlung der nackten Figur kaum in gleichem Masse über das hinausragt, was man sonst von der gleichzeitigen Kunst kennt, wie es die Prophetenslatuen als Charakteristiken thucn. Die Prophclenstatuen 'sind auch grösser, und schon ihre Grösse im Verhältnis zu der Architektur des ganzen Werkes zeugt von einer Lust, das Bild der menschlichen Gestalt zu kräftigererJWirkung zu bringen, als dies durch- gehends in der Kunst des Mittelalters Sitte gewesen war.



- 198 -


Allein «Hose Portrütliguren machen dns Werk zu einem der grossen Siege in der Geschichte der Kunst und laden deshalb zu einem eingehenderen Studium ein.

Ob sie wirkliche Porträts lebender Personen sind, kann man natürlich nicht mit Gewissheit sagen  ; sicher aber ist. dass sie so scharf charakterisiert sind, als wenn sie es wären  : wenn die Künstler nicht unmittelbar nach lebenden Modellen gearbeitet haben, so müssen sie das seltenste Talent besessen haben, die Individualität zu dichten, wie man das wohl nennen könnte. Von Propheten in höherem Stil, wie es z. B. die von Michel Angelo gemalten sind, ist hier keine Rede  ; auch aus dem früheren Mittelalter, namentlich aus dem dreizehnten Jahrhundert, kann man sicher heilige Figuren mit mehr idealer Ehrwürdigkeit nachweisen wie die am Mosesbrnnnen. Ja, in einem einzelnen Punkt empfindet man sogar einen bedeutenden Mangel an Grösse des Charakters  ; und das ist unglücklicherweise gerade bei der Figur der Fall, nach der das Werk seinen Namen erhallen hat, und die im Allgemeinen als Hauptfigur betrachtet und abgebildet wird, nämlich bei Moses. Der Künstler hat ihn durch den

Kig 7<i. traditionellen, übertrieben langen Hart und die kleinen Hornknoten an der Stirn gekennzeichnet ; aber diese ehrwürdigen Attribute passen nur schlecht zu seinein Gesicht und seiner Figur, die nichts weiter ist, als eine alltägliche Gestalt, ein lebens- getreues Bild eines selbstbewusstcn, eingebildeten und grundvernünftigen Greises, der nur schwach der Vorstellung entspricht, die wir uns von dem grossen Führer und Gesetzgeber des auscrwähllen Volkes des Herrn machen.

Wenn uns im Uebrigen etwas an diesen Figuren imponiert, so liegt das allein an einem echten und tiefen Gefühl und einer ganz unübertrefflich vollen und gründ- lichen, engen und zusammengedrängten realen Charakteristik. Am imjionierendslen

Hig. 7i. ist der alte Zacharias, der in Verehrung des Leidens und Sterbens des Gottessohnes mit trauernd vornübergebeugtem Haupte dasteht  ; man meint die heissen Tränen an seinen alten, runzeligen Wangen herabrinnen zu sehen. Er ist ebenfalls — wenn man will — ein alter Mann der Strasse: aber seine Trauer ist so innig und so brennend, seine Seele so ganz unbeirrbar von dem einen Gefühl erfüllt, dass wir ihn mit tiefer Ehrfurcht betrachten, wie man einen wirklichen Greis betrachten würde, der einen grossen Kummer hat : Nichts ist ja so ehrwürdig als der Kummer. Nament- lich bei Zacharias und auch bei David hat der Künstler ein Auge gehabt, dass die Grundstimmung in diesen Figuren der ganzen Anlage des Werkes nach Traner sein

kis. 72. soll. Aber l>ei David ist die Trauer milder ausgedrückt ; er ist als junger Mann mit vornehmer Haltung dargestellt — er ist ja König — , aber über sein breites, blühen- des, niederländisches Antlitz gleitet gleichsam eine Wolke von Wehmut.

Bei den drei übrigen «Propheten- hat der Künstler noch rücksichtsloser seine Studien nach dem wirklichen Leben gemacht, indem er geglaubt hat, sich seine Vor- stellung von den alten Propheten bilden zu können, indem er die Theologen, die Ge- lehrten der Fakultäten seiner eigenen Zeit beobachtete: wenn sie auch gerade nicht die Bibel geschrieben hatten, verstanden sie es doch, sie auszulegen. So erhalten wir an Stelle der grossen Seher des jüdischen Volkes Bilder von spitzfindigen Scholas- tikern und gewaltigen IJispulaloren des Mittelalters, von Dialektikern, die das feinste



- 199 —


Haar .spalten, jede Bibelstelle bis ins Unendliche drehen und wenden und das Unmög- lichste aus dem Unmöglichen herausbringen konnten.

In Jeremias Gestalt hat er ein köstliches Bild eines Stubengelehrten gegeben, Fig. 73 der so recht die Einsamkeit zwischen den lieben Büchern geniessl : er hat eins davon — wahrscheinlich Jeremias Prophezeiungen, denn er ist in Wirklichkeit nicht Prophet sondern ein Theologe, der den Propheten erforscht — von dein Regal her- untergenommen und blättert eifrig darin herum, um eine bestimmte Stelle zu finden, die ihm vorschwebt. Kr hut eine Brille auf der Nase,1 und die eine Augenbraue zieht er ein wenig schief in die Höhe, während er mit seinem zahnlosen Munde einen kleinen gelehrten Monolog murmelt.

In den Figuren des Daniel und .lesaias offenbart sich der Künstler als Drama- fi* 74 tiker, ja sogar als Humorist. Da sie nebeneinander stehen, hat er sie eine «santa conversazione* aufführen lassen, das bedeutet hier : einen eifrigen Disput der Art, wie man ihn so häufig an den Universitäten hören kann, und der sich für ein frisches, ungelehrles Gemüt unbezahlbar amüsant ausnehmen musste, namentlich wenn man nichts von dem Latein der Gelehrten verstand. Der jüngere von ihnen, Daniel, ein Mann mit einem stattlichen Bart, einem scharfen, mageren Gesicht, einer Habicht nase und kleinen, tiefliegenden Augen, ist so glücklich gewesen, seinen alten Kollega bei einem offenbaren und äusserst beschämenden Fehler zu ertappen ; und er ist nicht der Mann, der seinen Gegner «in Sünden dahinfahren» lässt, wie man zu sagen pflegt; er wirft den Kopf stolz in den Nacken und zischt und schnarrt, indem er höhnisch auf die Stelle in der entfalteten Schriftrolle zeigt, die so unwiderlegbar den groben Irrtum des andern beweist. Und Jesaias, ein alter Stubengelehrter von verzagtem und ängstlichem Charakter, wagt nicht, einzugestehen, dass er sich ab- scheulich in dem Garn des Disputs verwickelt hat : er schielt scheu und verdriesslich auf Daniels Papier herunter, wo sein Fehler schwarz auf weiss geschrieben steht. — Dass sich der Künstler so vollständig von aller hergebrachten Vorstellung von dem, was die Skribenten des alten Testaments in Wirklichkeit waren, entfernt hat, das ist nicht das neue bei diesen Figuren : von dem Mittelalter darf man überhaupt nicht — weder früher noch später — historische Objektivität erwarten. Neu aber war es, dass er den Menschen seiner eigenen Zeit so eng auf (Jen Leib rückte  ; neu war die Gründlichkeit und die Vollständigkeit mit der er sie beobachtete, und die Kühnheit mit der er sie auf den Platz der Propheten stellte. Sogar in dem rein Aeusseren ist nur wenig von älteren Traditionen übrig geblieben  : wohl sind in dem Kostüm einige Züge einer freieren, idealeren Drapierung bewahrt, in Verbindung mit der Professoren- tracht aus der Zeit um das Jahr 1400; aber das moderne Kostüm hat doch die Oberhand behalten, und einer von den Propheten, -- Jesaias — trägt es sogar ganz un vermischt (Kutte mit Kapuze, Tasche und Schreibzeug am Gürtel u. s. w.).

Dies ist das erste wirklich durchgreifende Werk des modernen Realismus,

1 Die Statue trägt jetzt keine Brille mehr ; es existiert aber ein gleichzeitiges Dokument (aas dem Jahre 1402t, welches besagt, dass eine Brille (besicle), wahrscheinlich aus Kupfer, für den Pro- pheten Jeremias ausgeführt wurde.



- 200 -

der dann über ein Jahrhundert lang das üebergewichl in der bildenden Kunst der nördlichen Völker halte. Was die Zeit mit der Kunst wollte, liegt klar auf der Hand: trotz der ererbten Vorwürfe und Namen, die da.s Verhältnis der Kunst zur Kirche mit sieh führte, wollte man mit der Wirklichkeit und den Zeitgenossen zu tun haben. Ks gab auch kein Drittes künstlerischer Art. das sich zwischen das erwachende Interesse und dessen Gegenstand, das wirkliche Leben, als Richlschnur für die Aul- fassung desselben schieben konnte: die frühere Kunst des Mittelalters war ein über- wundenes Stadium, und von der Antike kannte man nur zu wenig. Aber die wirk- lichen und individuellen Menschen wollte man mit einer Aufmerksamkeit, die wie eine spitze Nadel geschlilTen wird, in ihrer ganzen Mannigfaltigkeit von einzelnen Zügen erforschen, ohne eine Kalte oder Hunzel zu schonen. Die rhythmische Kalli- graphie der alleren Zeit in der Zeichnung der Linearnenle, des Haares und des Falten- wurfes macht der Naturbeobachtung in jedem Punkte Platz : das Auge des Künstlers hält wieder und wieder an, um sieh zu vergewissern, dass die Widergabe mit der Wirklichkeit stimmt. Doch ist ans Sinters und Werves Werken die Rhythmik noch nicht spurlos verschwunden  : wenn man mit ihr in der Kunst des vorausgehenden Mittelalters vertraut ist, erkennt man noch Spuren davon wieder, namentlich in der Behandlung von Haar und Hart, das dadurch einen ausserordentlich feinen, aber nicht ganz naturalistischen Stil erhält (Moses, Zacharias, Daniel): ausserdem in dem Faltenwurf der grossen Gewänder, wo die grossen und schönen Linien der älteren Zeit sehr glücklich mit neuen Nalurstudien, mit mehr Heobnchtung der Form, mehr Blick für die Eigentümlichkeit des Stoffes vereint sind.

Dies alles ist sehr kleidsam. Fnd selbst wo der Realismus an der Grenze des Kleinlichen steht, ist er doch keine mechanische Kopie des äusseren Hildes der Wirk- lichkeit : Er dringt mit tiefer Psychiologie in jeden einzelnen Charakter ein, und ver- sieht das Aeussere von innen. Alle die kleinen individuellen Züge sind zu einem lebenden Ganzen vereint. Der Ausdruck ist aufgeweckter als in der früheren Kunst, ja er erhebt sich sogar zu sprudelndem dramatischem Leben  ; aber trotzdem hat man einen eigentümlichen Eindruck von der Seele als von einer unergründlichen Tiefe. Niemals ist der menschliche Charakter gründlicher aufgefasst worden als hier; und man erhält den Eindruck grossen künstlerischen Ernstes, auch wo das Thema halbwegs von der komischen Seite angepackt ist. Dann ist es durchaus kein Seherz oder .lux. Wohl können diese Künstler kaum hinreichende Studien and er nackten Form unter den Kleidern gemacht haben, geschweige denn an dem organischen Hau des Körpers unter der Haut, und sie können Porportionsfehler begehen (in der Figur des David), aber ihre Auffassung von Form und Bewegung — völlig bekleidet, wie die Gestalt in dem wirklichen Leben auftritt — ist doch zu einer solchen Sicherheit entwickelt, dass sie den mimischen Ausdruck nicht nur im Antlitz, sondern auch in der Bewe- gung der Figur als Ganzes wiedergeben, und zwar richtig bis in die feinsten Details, selbst bei lebensgrosssen Statuen. Einzelne Partien wie .lesais" kahler Schädel zeugen auch von einem feinen Blick für das Volumen der Form.

Aber unter dem, was man im übrigen von der burgundischen Hildhauerschule



- 201 -


im fünfzehnten Jahrhundert kennt, können wohl Figuren vorkommen, die davon zeugen, dass diese äussere Betrachtung der Gestalt mit Kleidern, ohne gründliches Studium des Nackten, auf die Dauer einer Bildhauerkunst nicht genügen konnte, die in grösserem Massstabe arbeitet. Auf dem bekannten Monument des Feldherrn Philippe Pol ums der Abtei in Citeau, jetzt im Louvre, zwischen 1477 und 148.'} ausgeführt) machen die lebensgrossen Statuen, deren ursprüngliche Farbe völlig erhalten ist, einen gewissen Kindruck von Panoptikuinligureii in der weniger lobenswerten Bedeutung des Wortes. So wirknngs- und stimmungsvoll auch das (lanze ist, kann man es doch in bezug auf die Durchführung der Form keineswegs gründliche Plastik nennen. Hier ist zu viel dem trügerischen Eindruck von Form und Farbe im Verein überlassen, ohne dass eins von beiden mit voller Feinheil durchgeführt wäre. Die Statuen des Moscs- hrunnens sind ebenfalls ursprünglich polychrom gewesen, wahrscheinlich ganz und gar«  auch das Nackte  ; aber die Farbe ist hier keine Decke über einer weniger fein und sorgfältig behandelten Form gewesen. Jetzt ist sie fast ganz verschwunden.

Noch eins von den Hauptwerken dieser Schule, im wesentlichen wohl von einem ihrer Hauptmeister, Claus Sinter und Claus de Werve, ausgegangen, muss zur Charakteristik der Menschendarstellung der Schule hervorgehoben werden, nämlich die Beihen von im Ganzen 80 Statuetten, die die Grabniäler Philipps des Kühnen und Johann des Unerschrockenen in Dijon umgeben (s. Fig. 68). Sie haben unbedingt mehr künstlerischen Wert und Interesse als die oben auf den Grabmälern liegenden Porträt liguren der verstorbenen Fürsten.

Die Aufgabe dieser Statuetten (z. B. Fig. 75) war durch eine ältere Tradition fip. n. gegeben, wronach auf den Seitenflächen solcher Grabmäler Figuren dargestellt waren, die Trauer über den Verstorbenen ausdrückten iplouzanls, pleureursi: früher wurden diese Figuren als Beliefs ausgeführt, und ihre Trauer wurde durch allerlei mehr oder weniger konventionelle Bewegungen ausgedrückt : den gesenkten Kopf, die an die Brust oder die Wange gelegte Hand u. dergl. m. Dass die niederländischen Künstler in Burgund sie als kleine Statuetten ausführten und sie so aufstellten, als bewegten sie sich frei durcheinander in einem offnen Klostergang, zeugt von ihrem neuern Streben nach dem Lebenswahren und Täuschenden des Eindrucks  ; aber sie gehen darin so weil, dass das Ganze ein wenig zu sehr das Aussehen eines Puppentheaters bekommt. Auch die Charakteristik von all den einzelnen Figuren ist ganz neu. Dies sind nicht mehr vererbte und gewohnheitsmässige Ausdrücke für das Gefühl der Trauer, sondern jede einzelne Figur ist eine neue und frische Beobachtung, wie der Künstler sie selber bei wirklichen Menschen gemacht hatte, also eine reich- haltige Sammlung — gleich einem wohlgespickten Notizbuch — von einzelnen Be- obachtungen einer einzelnen Seite der menschlichen Mimik, alles offenbar aus erster Hand «auf dem Felde* gepflückt. Es ist nicht alles gleich tiefgehend; man schliesst nicht jeden Zug von etwas Konventionellem, Oberflächlichem, viel- leicht gar von verstellten Mienen, aus  ; denn so etwas kommt ja im Leben wirk- lich vor: in einem grossen Leichengefolge trauern nicht alle wirklich von Herzen. Aber auch das Konventionelle ist hier der Wirklichkeit entlehnt, nicht durch die


- 202 -


Kunst vererb!. Man nimmt überhaupt den Rohstoff des Lebens ganz realistisch, so wie er ist, ohne das echte Erz strenge von den weniger echten Bestandteilen aus- zusehmelzen. So bekommt man denn auch diesen. oder jenen Zug mit, der sieh, jeden- falls für die Augen späterer Zeiten, weniger würdig ausnehmen muss, z. B. eine Person, die sieh die Nase mit den Fingern putzt — eigentlich ein ganz natürlicher Ausdruck für das Weinen aus einer Zeit, wo die Taschentücher nicht allgemein in Gebrauch waren. Die Mauplmenge der Beobachtungen geht aber doch auf ergreifende und wahrempfundene Züge der echten Trauer aus. Man trocknet mit dem Aeruiel die Tränen von der Wange und möchte gern weinen dürfen, während andere beruhigen und ermahnen, dass man den Schmerz ertrugen muss. Man schluchzt mit aufwärts- gewandtem Gesichte oder beissl das Gesicht zusammen, als wolle man das Weinen bezwingen. Die Augen von einigen erscheinen matt vom Weinen, die Mienen ermüdet, stumpf von Kummer ; andere aber suchen Trost im Worte Gottes, im Buch oder im Bosenkranz, den sie mit sich führen.

In dem langen, weiten Trauergewande von dickem Tuch und der grossen Kopf- kapuze, wie sie die Personen aus dem Haushalt des Herzogs meistens tragen, hat der Künstler auch ein kräftiges Stimmungsmittel gefunden, und er hat es mit uner- schöpflich plastischer Abwechslung der Motive benutzt. Der schwere StolT wirft wenige starke, einfache Falten, die diesen kleinen Figuren einen eigenen grossarligen Stil verleihen. Die Kapuze ist oft tief ins Gesicht gezogen, das tief im Schalten liegt und nur als Ahnung sichtbar ist. Sich richtig in eine solche Trauerkutle zu hüllen, um mit sich allein zu sein, ist auch ein beredter Ausdruck für die Trauer.

Nicht nur ist eine jede dieser achtzig Figuren in ihrem individuellen Motiv dargestellt, sondern eine jede von ihnen hat auch ihre individuelle Physiognomie. Mit andern Worten: es sind zweifelsohne alles Porträts von wirklichen Personen, von Teilnehmern am Leichenbegängnis ; und unter ihnen findet man — wenn man sie nur ausfindig machen könnte ! — aller Wahrscheinlichkeit nach auch die Porträts der ausgezeichneten Künstler selber, die eine Stellung als valets de Chambres bei den burgundischen Herzögen einnahmen d. h. nur: Mitglieder ihres Haushaltes). Nichts kann deutlicher als eine solche Reihe von Figuren den starken Appetit des Zeitalters zu der individuellen Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit erläutern.

Aber alle diese realistischen Beobachtungen der Mannigfaltigkeit der Menschen- welt kommen auch hier ganz überwiegend dem männlichen Geschlecht zu Gute: offenbar sind die älteren männlichen Gestalten der Licblingsgcgcnstand der Kunst : das Alter bietet ja abstechendere und eigenartiger ausgeprägte Charaktere als die .lugend und einen grösseren Reichtum an kleinen Charakterzügen sowohl in bezug auf das Seelische wie das Körperliche. Wohl führte diese Schule hin und wieder auch einmal ein ganz individuelles Frauenporlrät aus, — etwas, das noch neuer war als die männlichen Porträts — ; wo aber die Aufgabe darin bestand, Madonnen oder Heilige darzustellen, hielt sie sich auch an das Ideale, natürlich auf Grundlage von nordischen Typen.



IHK NIEDERLÄNDISCHE MALKREI VON ca. 1 BIS ca. 1 .V><).

a) Dii> M a 1 k u n s t und die g I e i c Ii z e i t i g e Skulptur.

In Burgund wirkten auch niederländische Maler — darunter ein so hervor- ragender Meister wie Melchior Broederlain — neben den Bildhauern: aber die Skulplur blieb doeh die führende Kunst, die die neue Richtung durchkämpfte. In den nieder- ländischen Provinzen selbst, namentlich in Flandern machte die Malerei in den ersten Jahrzehnten des fünfzehnten Jahrhunderts Fortschritte, wie die Kunstgeschichte in bezug auf Geschwindigkeit und Umfang kaum ähnliche kennt. Es war, als wenn man an einem Frühlingstage bei plötzlich eintretender Wärme, alle Knospen sich ent- falten und Laub- und Blumenknospen im Laufe von vierundzwanzig Stunden springen siebt. In erster Linie wurden neue technische Bedingungen für die Malerei geschaffen, indem Hubert van E y c k , gefolgt von seinem nicht weniger hervorragenden Bruder Jan, die Oelmalerei zu einer solchen technischen Vollkommenheit entwickelte, dass sie allmählich in immer grösserem Umfang die Temperamalerei des Mittelalters ver- drängte. Insofern weihten die Brüder van Eyck eine Hauptperiode in der ganzen Geschichte der europäischen Malerei ein, eine Periode, die ungefähr 500 Jahre gewährt hat. Aber die neue Technik war ihnen nur ein Mittel, um eine ganz neue Aulfassung der sichtbaren Welt auszudrücken, um neue Bahnen für die Malerei zu brechen und nach allen Bichlungen hin neue Aufgaben zu lösen, — alles zu der grössten Bewunderung ihrer Zeitgenossen. Auch in bezug auf die Darstellung der menschlichen Gestalt wurde durch diese grosse Reformation ein neuer und wesent- licher Fortschritt gemacht, der der ganzen modernen Kunst in weitem Umfang zu gut gekommen ist. Doch war die Auffassung der alt-niederländischen Maler von der menschlichen Figur im wesentlichen so genau durch den Geist ihres Zeitalters, des späteren Mittelalters, bestimmt, dass sie nicht von langer Dauer sein konnte: un- gefähr vom Jahre 1520 ab wurde sie, auch in den Niederlanden selber, von einer neuen Grundauffassung abgelöst, nämlich von der, die sich in Italien entwickelt halte.

Neben der Malerei arbeitete in den Niederlanden in dieser Periode auch eine plastische Kunst, namentlich eine Holzskulptur, für die das Interesse in der letzten Zeit mehr und mehr erwacht ist. Sie verdient auch grosse Aufmerksamkeit, nicht zum wenigsten, weil sie ohne Zweifel schon früher als die Malerei die neue Richtung eingeschlagen hat. Es kommen schon geschnitzte Altarschreine aus dem Ende des vierzehnten Jahrhunderts vor, die ganz dieser Richtung angehören, z. B. der vorzügliche von Hackendover in Brabant : es ist moderne Kunst ebenso wie die gleichzeitige Bildhauerkunst in Burgund. Und Werke dieser Art findet man ausser- ordentlich viele aus dem ganzen fünfzehnten Jahrhundert und dem Anfang des sech- zehnten, die dazu dienen können, das Bild der Menschenschilderung, das uns die Gemälde geben, zu ergänzen  : denn der Geist in der gleichzeitig wirkenden Skulptur und Malerei ist natürlich wesentlich derselbe.


20 1


Dass die Skulptur trotzdem sowohl in diesem Zeitalter selber wie in späteren Zeiten von der Malerei in den Schatten gestellt wurde, beruht darauf, dass die Welt- auflassung der nordischen Nationen, insofern als sie sich überhaupt in der bildenden Kunst ausdrücken licss, in dieser Periode den Menschen nicht als Haupt- vorwurf hatte; und die Skulptur hat ja so gut wie nichts weiter zu tun als den Menschen darzustellen, wohingegen die Malerei einen viel weiteren Umfang bat. Wollte man sagen, was die Lieblingsaufgaben und die neuen Knideckungen der neuen Kunst waren, so müsste man wohl auch die in einem neuen Geist aufgefasste mensch- liche Gestalt nennen, aber freilieh diese nicht mehr als die Landschaft und die Luft, allerlei Licht- und Farbenspiele oder die Charakteristik der Stolle unter dem Kinlluss des Lichts, d. h. Aufgaben, die allein von der Malerei gelöst werden können. Es gibt Beispiele, dass das Interesse für die menschliche Gestalt sogar vor den andern Aufgaben zurücktritt : auf Hubert van Kycks Gemälde von der heiligen Cäcilie an ihrer Orgel (vom .lohannesaltar in Gent, jetzt in der Galerie in Berlin') muss man die Behandlung von Cäciliens grossem, faltenreichen Mantel aus schwarzer Wolle, mit Goldornamenten eingewirkt — ein wahres Wunder der Malerei — weit mehr bewundern als den Kopf der Heiligen, der ziemlich inhaltslos in Ausdruck und Form ist ; es isl dies ein bezeichnender Zug, nur darf man ihm keine zu grosse Bedeutung beimessen, als ob die Darstellung des Menschen in dieser Schule überhaupt weniger Wert hätte als die Behandlung der Kleider. Die Maler richten sogar mehr mit dem Studium der nackten menschlichen Gestalt aus als die Bildhauer; und der Mensch ist für sie sicherlich etwas Kostbares, ein Juwel, wie alles in der Natur, das sich ihrem Blick darstellt. Aber das Interesse dafür drängt sich nicht so in den Vordergrund, alles andere bei Seite schiebend, wie das in der gleichzeitigen Kutist in Italien, namentlich in Toskana, in der ältesten 'Henaissanee» der Fall war. Das Auge des Niederländers vertieft sich mit ebensoviel Interesse in die Form und Gestalt der Pflanze, wie in die des Menschen : beides sind Gegenstände ernsten und ein- gehenden Studiums, und- deshalb werden auch in beiden Richtungen ernste Fort- schritte gemacht.

Ks liegt, kurz gesagt, keine Tendenz zur Mensehenverhcrrlichung, kein Humanis- mus vor, nicht einmal soviel, wie das dreizehnte Jahrhundert im Mittelalter aufzuweisen halle. Ausserdem war in der bildenden Kunst des Mittelalters — in der Malerei wie in der Skulptur — ebenso wie im Altertum die menschliche Gestalt doch eigentlich der einzige Gegenstand der Darstellung gewesen ; die niederländische Malerei be- schränkt seit dem Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts ihr Gebiet sehr wesentlich, während sie gleichzeitig die Darstellung desselben künstlerisch entwickelt.

Ks ist eine Kunst, die viel lieber und viel häufiger mit vielen kleinen sogar mit sehr kleinen — Figuren operiert als mit einzelnen grossen. Innerhalb der Bahmen der Altarschreine und Gemälde ist oft ein Gewimmel von kleinen Figuren zusammen- gedrängt. Nun kann man wohl sagen, dass selbst eine kleine Figur den Kindruck der Grösse machen kann, und dass man die künstlerische Grösse nicht mit Kllen messen darf u. s. w., und doch ist dies ein bedeutungsvoller Charakterzug, namentlich


— 205 —


im Gegensalz zu den Keimen, die die italienische Kunst entwickelte. Dass eine Figur Fig. 78. gross <»der kolossal dargestellt wird, bedeutet nämlich, dass sie dem Beschauer näher rückt, sich ihm stärker geltend macht, ihm im|K)niert oder ihn überwältigt. Aber so etwas gehört nicht zu dem Wesen der niederländischen Kunst.


Die moderne Auffassung der «alt-niederländischen Kunst. — mit diesem Namen wird häutig gerade die Kunst bezeichnet, die wir hier vor Augen hüben, die Kunst des fünfzehnten Jahrhunderts — gibt freilich zu, dass sie, namentlich in ihrem Anlang, Gestalten in idealistischem Geiste hervorgebracht hat, geht aber doch zu all- gemein darauf hinaus, dass sie entschieden realistisch sei. Hier dürfte etwas Unklarheit herrschen und hiemit das Bedürfnis nach einer Revision der wirklichen Verhältnisse. Man braucht nur die grosse Menge von Menschenbildern an dem ersten und epochemachenden grossen Werk der Schule, dem 1432 vollendeten Johannes- Altar in der St. Bavo-Kirche in Gent mit seinen Flügclbildern, die in die Galerien Fi«. 77 in Berlin und Brüssel gekommen sind, sorgfältig und vorurteilsfrei zu betrachten, ebenso wie die übrigen Bilder der Gebrüder van Eyck, namentlich Jans, um eine ganze Schule der Charakteristik zu finden, von dem am weitesten gehenden Idealis- mus und dem Streben nach scharfem Ausdruck für die individuellen Verschiedenheiten des Lebens bis zu dem offenkundigen Bestreben, die reine Idealität als Charakter des Göttlichen wiederzugeben, das über die Bedingungen der menschlichen Individu- alität erhaben ist. Aber eine solche Skala kann man ja überhaupt fast immer in der Kunst linden, welche von ihren Perioden und Schulen man auch untersucht. Ausser- dem merkt man sehr bald, dass die Gebrüder van Eyck Denker waren, die sich Rechenschaft darüber abgelegt hatten, wohin das Ideale gehörte und wo das Reale angebracht war. Was man vor Augen hat, wenn man ohne weiteres ihre und ihrer Nachfolger Kunst realistisch nennt, ist wohl in Wirklichkeit auch nicht das, was man mit Recht mit diesem Namen bezeichnen kann, sondern vielmehr grund-nordisch nennen sollte — und der Norden wird ja nicht für berechtigt gehalten, an der Herr- lichkeit des Idealismus teilhaftig zu sein. Die van Eycks haben freilich auf ihren Gemälden verschiedene Volkstypen dargestellt, auch südländische: aber ihre Vorstellungen — und namentlich gerade ihre idealen Vorstellungen — von dem Menschen mussten notgedrungen ihr Grundgepräge von der nordischen Herkunft und den heimatlichen Umgebungen des Künstlers erhalten.

An der Hand einzelner Hauptbeispiele wollen wir versuchen, uns Rechenschaft von dem Idealismus in dieser Kunst abzulegen.

In der lebensgrossen Figur des thronenden Gottes auf dem mittleren Bilde f*. 7«. in der obersten Reihe des Johannes Alturs ist der Künstler (Hubert van Eyck) bestrebt gewesen, eine Darstellung von geradezu absoluter Idealität zu schaffen. Ich kenne kein anderes Beispiel — namentlich nicht aus der nordisch-christlichen Kunst — , von dem dies so sicher und nachweisbar gesagt werden kann, wie gerade von dieser Figur. Und da sie von einem der grössten Künstler der nordischen Völker


b) Das Streben nach Idealität in dieser Schule.


- 206 -


stammt, wird sie folglich eine Art Höhenmesser für die idealistische Bestrebung inner- halb ihres Gebietes.

Man isl sich nicht einig darüber, wie sie genannt, werden muss : Gott Vater oder Christus  ; für einen jeden dieser Namen können wirklich triftige Gründe geltend gemacht werden. Doch dies ist eine Krage, die mehr theologisches als künstlerisches Interesse hat; der richtige Name sollte vielmehr der mehr allgemeine: Gott oder Zebaolh sein, der mit Perlen auf die Verbrämung des Mantels gestickt ist. Weiter entwickelt ist dieser begriff in den lateinischen Inschriften um die Figur herum, und namentlich durch die Inschrift auf seinem Schemel: -Leben ohne Tod auf seinem Haupte, Freude ohne Trauer zu seiner Rechten, Jugend o h ne Alter auf seiner Stirn, Sicherheit ohne Furcht zu seiner Linken». In diesen feierlichen Worten ist das Programm für die Arbeit des Künstlers gegeben; und höher kann der Gedanke was Vollkommenheit betrifft überhaupt nicht gelangen. Hier schwindet sogar die Grenzscheide zwischen den Vorstellungen der verschiedenen Religionen von der Gottheit: man muss unwillkürlich an Schillers Worte über die Götter Griechenlands denken: «Ewig klar und spiegelrein und eben» etc.

Und es ist auch nicht bei dem Programm allein geblieben : der Maler ist sich offenbar seiner Redeutung vollbewussl gewesen und hat mit allen Kräften dunach gestrebt, es künstlerisch zu motivieren. Daher diese Vereinigung von strahlender Pracht in dem geistlichen Ornat, in Symbolen und Schmucksachen, mit der ruhigen Symmetrie in der Haltung der Figur, der einfachen Vornehmheit in dem Fall des Ge- wandes. Gott ist hier ausserhalb irgend einer besonderen Situation dargestellt ; seine Gestalt wendet sich dem Reschauer gerade entgegen, indem sie das königliche Szepter mit der linken Hand gegen das Knie stützt und die rechte Hand mit dem prieslerlichen Segen über die Menschheit erhebt. Seine Gestalt ist die eines völlig reifen Mannes, mit kräftigem schwarzem Haar und weichem, reichem, schwarzem Barte: nicht ein Haar ist ergraut, und die Gesichtsfläche ist vollkommen glatt, ohne Falle oder Runzel. Der Blick sieht geradeaus in unendlicher, unbeirrbarer Ruhe. In bezug auf den Willen, das Ideale auszudrücken, fehlt hier von Seilen des nordischen Künstlers absolut nichts.

Vergleicht man dann aber sein Resultat namentlich mit den hervorragendsten griechischen Bildern des Zeus, so wird man doch in den antiken Gestalten nicht nur mehr Körperlichkeit finden, sondern auch eine grössere positive Machtfülle und Frei- heit und ein höheres Niveau von Idealität, und zwar obwohl der christliche Himmel, der sich über der ganzen Welt wölbt, ja eigentlich höher hinaufreichen sollte als der griechische Olymp. Aber die Phantasie und die Kunst der Griechen hatte durch nationale Arbeit, von Generation zu Generation, ihre Flügelkraft geübt, bis sie als Adler auf der höchsten Alpenzinne der Idealität thronte. Das Mittelalter hatte sich keine so solide Leiter zu einem künstlerischen Ideal hinaufgezimmert; und deshalb konnte der einzelne Künstler — war es auch ein Mann von der grössten indivi- duellen Begabung — unmöglich so hoch hinaufgelangen. So macht der niederländische Gott bei aller Pracht und Feierlichkeit dennoch einen Eindruck, der dem wirklichen Leben weit näher liegt als die mächtige olympische Phantasie in einem Kopf wie der



— 207 —


Zeus von Otricoli. Wenn jene Erscheinung mit den strammen, regelmässigen Gesichts- zügen und den schmalen Augen in einer andern Kleidung ausginge und sich unter die Leute auf der Strasse mischte, würde man wohl sehen, dass es ein sehr kluger und vornehmer Mann ist, aber kaum erkennen, dass man Gott selber vor sieh habe. Wie er auf dem Bilde dargestellt ist, in Herrlichkeit thronend, fühlt man, dass der Gedanke des Künstlers völlig mit dem beschäftigt gewesen ist, was er in seinem Bilde vermeiden sollte, diese Kennzeichen der Menschlichkeit und Endlichkeit, von denen die Inschrift spricht: Alter, Sterblichkeit, Trauer, Furcht. Daher kommt eine gewisse Aengstlichkeit : der Maler hat ängstlich darüber wachen müssen, dass er nicht im geringsten nach einer Seite von dem Strich abwich, der zu dem Bilde einer absoluten Vollkommenheit führt. Er ist ein hervorragender Denker gewesen, hat aber keine hervorragende Phantasie besessen, und hat seiner Gestalt keine recht imponierende Gewult zu geben vermocht. Als er sein Facit zog, fiel er zurück in die Frontaliläl und Symmetrie der Körperhaltung, die ein Kennzeichen der Einleilungsperiuden der Kunst ist, und daher kommt es, dass seine Figur mehr an ägy ptische als an griechische Kunst erinnert.

Auch bei der Maria und Johann e s d e m T ä u f e r, die zu beiden Seiten Gottes thronen, ihm zugewendet, hat der Künstler gefühlt, dass er ideale Forderungen zu erfüllen habe, wenn sie auch auf eine weniger absolute Idealität hinausliefen. Johannes ist eine jugendliche, üppige und kräftige Gestalt, der der Maler absichtlich eitlen gewissen semitischen Charakter gegeben zu haben scheint: das mächtige schwarze Haar und der Bart umwallen sein Haupt wie bei einem assyrischen König; aber sein Ausdruck ist bürgerlicher und zugleich viel frommer, als der der assyrischen Könige. Maria ist eine wunderschöne Erscheinung, so rein, so festlich, so volltönend im Klang Fig. n. des Gefühls, wie nur irgend ein Bild der heiligen Jungfrau, das die Kunst geschaffen hat. Sie trägt eine wunderbare prachtvolle Krone, aber trotzdem gleicht sie keines- wegs einer Himmelskönigin wie die Raffaelischen Madonnen, geschweige denn die antike Hera. Das Motiv ist dem wirklichen Leben entlehnt: es ist ein nordisches Edelfräulcin, das des Sonntags in seinem Feiertagsklcide im Kirchenstuhl sitzt, das schwere, blonde Haar jungfräulich aufgelöst, den Blick gesenkt, ins Gesangbuch sehend und aus vollem Herzen zu Gottes Ehre singend. Auch der Typus und die Gesichts- züge scheinen der Wirklichkeit ziemlich nahe zu liegen: es fehlt ihnen nicht einmal etwas gewisses Porträtartiges. Aber nicht nur eine schöne Frau hat der Künstler zu seinem Vorbilde gewählt, er hat auch ganz gewiss bei seiner Arbeit mehr nach dem höchsten Schöner! gestrebt als nach der Wiedergabe eines Individuums. Auch auf dem Bilde der Verkündigung an der Aussenseite der Altarflügel sind Maria und der Engel Gabriel ganz deutlich Ideale auf Grundlage nordischer Typen. Und dasselbe gilt von den spielenden und singenden Engeln auf der Innenseite der Flügel, obwohl man dort ein Streben nach einer individuellen Verschiedenheit bemerkt und sich über die feine realistische Beobachtung des Spieles der Gesichtszüge während des Gesanges belustigt, wie nämlich die tieferen Stimmen ein Zusammenziehen der Kinnmuskeln, die höhern ein Zusammenkneifen der Augen u. s. w. im Gefolge haben.



- 208 -


Alle die erwähnten Figuren müssen wahrscheinlich auf Hubert van Eyck zurück- geführt werden. Obwohl man ihm mehr ideale liest rebungen zuzuschreiben scheint als seinem Bruder und Lehrling, ist es doch ganz unverkennbar, dass auch Jan van Kyck wie überhaupt alle hervorragenden Meisler der Schule, namentlich in ihren Darstellungen der heiligen Jungfrau, danach streben, die Idealität zu erreichen. Wohl kann es fast als bewiesen angesehen werden, dass einige von Jan s Marienbildern auf Grundlage des Kindrucks der Physiognomie einer einzelnen lebenden Frau, näm- lich seiner Gattin, gebildet sind: das geht namentlich ganz deutlich hervor aus einem Kift. bs. Vergleich zwischen dem Porträt der Gattin in Brügge — einem recht hübschen Kopf, aher mit ziemlich spitzer Nase und kleinen Augen — und seinen Madonnenbildern in Frankfurt a. M. und Dresden. Aber ein ganz ähnliches Verhältnis lässt sich ja sogar bei den grössten italienischen Idealisten, bei Künstlern wie Leonardo da Vinci und BafTael nachweisen, deren weibliche Ideale auch durch das Antlitz wirklicher Frauen inspiriert sind. Je mehr die Völkerschaften des neueren Europas zur Hervor- bringung wirklicher Kunst heranreiften, umsomehr fühlt man auch dass Verhältnisse des Künstlerindividuums — erotische Verhältnisse — zu bestimmten wirklichen Individualitäten überall die Quelle der Kunst wurden, im Gegensatz zu der griechischen Kunst, namentlich der früheren, wo die Individualität des Künstlers weit mehr in der Darstellung des allgemeinen, nationalen Ideals aufging. So ging es in Italien und ebenso im Norden. Wenn man nun auch den Kindruck erhielt, dass sich die nordische Kunst im Ganzen weniger hoch und frei über den Eindruck der Wirklichkeil erhebt, so lag doch auch in ihr Idealität. Man liess sich wahrlich nicht an einer naturge- treuen Abbildung der ersten besten Frau genügen, wenn man ein Bild der Mutter Gottes machen wollte: auch hier weist die Liebe den Weg zur Schönheit, nicht allein durch die Wahl eines Vorbildes, sondern auch durch hervorheben dessen, was man an dem Vorbilde als Schönheit empfand. Dies gilt nicht nur von Maria, sondern auch von den Engeln und jugendlichen Heiligen  : als sehr Überzeugendes Beispiel kann Jan's köstliches kleines Triptychon in Dresden mit den entzückenden Figuren von Michael und Katharine angeführt werden, das sich sogar einer kleinen Anerkennung von italienischer Seite erfreuen konnte.

Man erwarte aber nicht, sonst in diesem Punkte Gerechtigkeit bei den Kunst- historikern zu finden! Die Sache ist die, dass die Vorstellungen des ganzen modernen Europas von ideal menschlicher Schönheit im Laufe der letzten 3 — 100 Jahre an- fänglich von der grossen italienischen Benaissance und später von der Antike in dem Grade beherrscht sind, dass man fast den Blick dafür und den Glauben daran ver- loren hat, dass etwas schön sein kann — wenigstens in der Kunst — , wenn es nicht dem Griechischen oder dem Italienischen gleicht. Kinen unbeeinflussten und ur- sprünglichen Schönheitssinn kann man bei den nordischen Völkern eigentlich nur noch bei Menschen finden, die keine künstlerische Bildung haben : bei denen erhält die nordische Schönheit das Hecht, in ihrer Mutlersprache für sich zu reden; wendet sie sich aber an die Schönheits-Professoren unter den Künstlern und Kunstkennern, so predigt sie tauben Ohren. Die verstehen nur Griechisch und Italienisch.


- 209 -

Und so kommt es, dass die alte niederländische Kunsl leicht den Kürzeren zieht. Lieber Jan von Eycks unvergleichliches Gemälde in Paris «die Madonna des Kanzlers K*g. «3 Kollin. schreiben Crowe und Cavalcaselle in ihrem Werk über alt-niederländische Malerei (die deutsche Ausgabe von Anton Springer, also drei hochangesehene Kunsthistoriker im Verein!): «die starken wie die schwachen Seiten der van Kyck- schen Kunst finden sich hier vereint. Man kann sich nichts Vollendeteres denken als das lebensvolle Bild des Kanzlers ; — — dahingegen müssen wir auf eine schlimme Enttäuschung gefasst sein, wenn wir das gewöhnliche Gesicht der Madonna und die hölzerne Gestalt des nackten Kindes betrachte n.» — Nun ja, über Geschmackssachen lässl sich ja nicht streiten, nicht einmal mit Kunsthistorikern; schliesslich kann man nur eine Behauptung gegen die andere aufstellen. Ich finde diese Madonna schön und finde in ihren reinen, feinen, scharfgeschnittenen Zügen einen ausgewählten Typus der weiblichen Schönheit des germanischen Stammes. Und deshalb bin ich der Ansicht, dass wir, die wir demselben Volksstamm angehören, ein solches Bild mit dankbarer Freude begrüssen sollten, um so mehr, als Typen einer so unvermischten und ursprünglichen Beinheit jetzt auch im wirklichen Leben sehr selten sind, nachdem die Bassen so stark vermischt wurden. Ja leider, ein Kopf dieser Art ist wirklich nicht so «griechisch* wie die Gelehrten behaupten. Und ihm einen Platz in der Ecke als Aschenbrödel anweisen, das schickt sich eigentlich am allerwenigsten für die kunsthistorische Wissenschaft, die hoch erhaben sein sollte über die Geschmacksbewegung, die ihm einen niederen Bang angewiesen und ihm einen Stempel von etwas Provinziellen aufgedrückt hat im Vergleich zu den vornehmen italienischen «Unsere Frauen». Das «Gewöhnliche» heut zu Tage, das sind nicht diese Art Typen, das sind Nachahmungen und Nach- ahmungen von Nachahmungen italienischer Schönheil. Und nicht weniger ungerecht ist das Urteil der gelehrten Schriftsteller über die van Eyckschen Kindergestalten  : ihr Fehler besteht abermals darin, dass sie so wenig den grossangeleglen Baffaelischen Christuskindern und Engeln gleichen. Dahingegen haben sie grosse Aehnlichkeit mit wirklichen nordischen Kindern, wie wir sie aus unsern eigenen Familien kennen  ; sie haben allerliebste, kluge Köpfe mit weichen, dünnen, blonden Locken  : ihr Kopf und ihre Glieder sind nicht hölzern, aber sie sind dünner als die der italienischen Kinder, und die Haut ist faltiger.

Hiermit soll jedoch nicht behauptet werden, dass alles, was aus der Hand dieser Maler mit dem Anspruch auf Schönheit hervorgegangen ist, dies auch wirklich ist. Sie waren nicht tadelloser als andere Menschen. Der bürgerlichen Kreisen ent- stammende Hofkünstler, Jan van Eyck, hat auf einem seiner Gemälde, der Madonna mit dem heiligen Donatian (in Brügge), die Mutter und das Kind mit dem vornehmen K.g. w. Zeremoniell eines Hofes umgeben, — bei dem der heilige Georg lächelnd und liebens- würdig wie ein Kammerherr auftritt, — und die Madonna selber zu einer ziemlich schwerfälligen und wenig geistvollen Erscheinung gemacht. Aber auf der andern Seite kann Jan van Eycks Auffassung menschlicher Verhältnisse wiederum so breit und allgemein menschlich sein wie die weniger anderer Künstler. In der Madonna

14



- 210 -


aus Lucca in Frankfurt hat er in seiner Darstellung der Mutter, die das Kind an ihrer Brust säugt, dies Verhältnis, das das menschliche Geschlecht mit der Kuh und dem Kalbe und allen Säugetieren gemein hat, mit der feinsten Beobachtung seiner Aeusserungen in Mienen und Bewegungen und mit der reinsten Empfindung für seine natürliche Ehrwürdigkeit als Grundlage für das ganze Menschenleben geschildert.

Die alt-niederländische Kunst hat also wirklich nordische und nationale Vor- stellungen von Schönheit, mehr rein nordische Vorstellungen zum Ausdruck gebracht, als sie die spätere Kunst auszudrücken vermochte. Freilich hat man sich jetzt von den Recken und Walküren des nordischen Altertums gänzlich abgewandt : unter dem jahrhundertelangen Einüusse des Christentums und der romanischen Lebensauffassung gesteht man der Schönheit nur das geringste Mass von Körperlichkeit zu.

Ausserdem neigt der Idealismus hier wieder mehr dem Weiblichen zu, d. h. : dem Weiblichen in christlichem Sinne. Wohl kann man auch hier den Realismus auf der weiblichen Seite finden, indem einzelne hervorragende Maler wie van Eyck und Memling durchgeführt individualisierte Frauenporträts schufen, und umgekehrt den Idealismus auf der männlichen Seite, wie wir es bei Hubert van Eycks Gemälde von Gott gesehen haben, im Ganzen aber ist es offenbar, dass das Künstlerauge infolge der Darstellung der Frau eine verhältnismässig grosse Neigung bekam, die Wirk- lichkeit zu umgehen. Man stellte offenbar die Frau höher als den Mann  ; aber dafür n*». wurde sie auch mehr Gegenstand des Glaubens und der Anbetung, als der sicheren realistischen Betrachtung und eingehenden Forschung.

Nicht nur idealisierte man die Frau in der oben geschilderten, wahrhaft künst- lerischen Bedeutung, sondern man behielt bei der weiblichen Gestalt noch lange etwas von der Tradition des Mittelalters bei, sogar in ziemlich äusserlicher und konventioneller Weise. Auf einem der Flügel des Genter Altares erblickt man im Vordergrunde einen Haufen männlicher Gestalten, alte Einsiedler, von denen jeder einzelne so scharf individualisiert ist, dass man ihres Gleichen nicht leicht wiederfindet; hinter ihnen aber stehen zwei heilige Einsiedlerinnen, junge Frauen, die einander gleichen wie zwei Tropfen Wasser und überhaupt nicht mehr individualisiert sind, wie Puppen. Ein ähnliches Verhältnis kann man auf einem andern der Gemälde des Genter Allars, auf der «Anbetung des Lammes» beobachten. Und noch auffallender tritt es zu Tage Fig. m. in einein vorzüglichen Porträtbilde, in Jan van Eycks Gemälde des Kleiderhändlers Jean Arnolfini und seiner Gattin Jeanne Chenany (1434) in der National Gallery in London: das lange, schmale Gesicht des Mannes mit der grossen Hänge- nase ist ein so individuelles Porträt, wie man es sich nur vorstellen kann ; die Frau dagegen hat ein Gesicht, das so genau den obenerwähnten idealen «Puppen» ent- spricht, dass es trotz der entzückendsten Durchführung keineswegs als Porträt von irgend welcher Bedeutung betrachtet* werden kann. Vielleicht hat der Maler aus irgend einem Grunde keine Gelegenheit gehabt, ein wirkliches Porträt von Jeanne Chenany zu malen, aber dass er und sein Zeitalter sich durch eine solche Darstellung von Realem und Idealem befriedigt gefühlt haben, bleibt darum nicht weniger eigen- tümlich.



- 211 —


Sicher haben die Gebrüder van Kyek und ihre Nachfolger eine individualisierte Darstellung des weiblichen Geschlechts angestrebt; aber das ging langsamer und schwieriger. Noch auf den Porträts von Memling kann das weibliche Geschlecht etwas mehr idealisiert auftreten als das männliche. Aber aus der Schlussperiode der Schule, zu Anfang des sechzehnten Jahrhunderts, besitzen wir Beispiele dafür, dass die Wiedergabe des weiblichen Geschlechtes ganz mit Individualität gesättigt ist, was ja keineswegs den Idealismus ausschliesst. Namentlich verdient hervorgehoben zu werden Gerard Davids Gemälde der Madonna mil elf heiligen Frauen aus dem Fig. 87. Jahre 1509 (im Museum zu Rouen). Es ist dies eine eigentümliche Galerie rein nor- disch idealer Frauentypen, alle untereinander verschieden, und jede an sich gewiss als idealisierte Wiedergabe eines wirklichen Vorbildes zu betrachten. Der schönste Kopf ist der der heiligen Katharina mit runder, hoher, klarer Stirn, feinen, geistreichen Zügen, aber ohne Fülle und Regehnässigkeit in dem Hau des Gesichts, die Augen ein wenig schräge, .chinesisch», gestellt  ; das rotblonde Haar frei in weichen, dünnen, sich ringelnden Locken herabhängend. Ein ähnlicher Typus kommt bei den späteren holländischen Genremalern, z. B. bei Terborch und Metsu vor.

c) Der Realismus.

Wohl hat der Idealismus in dieser Kunst einen ganz besondern historischen Wert, den hervorzuheben man sich veranlasst fühlt, damit ihm kein Unrecht geschehe, aber man muss einräumen, dass er mehr auf die Vergangenheit zurück — als auf das Kommende hinweist. Fragt man, was hier die grösste positive Stärke in der Darstellung des Menschen, die bedeutendste Beisteuer zu ihrer Entwicklung war, so muss man unbedingt antworten, dass es die individuelle und reale Charakteristik gewesen ist.

Bei den grösseren Kompositionen führ! dies Bestreben zu individualisieren die reichste Mannigfaltigkeit und Abwechslung mit sich. «Siehe», sagt der alte Lucas de Heere in seiner Ode zur Verherrlichung des Genler Altares, «wie verschieden das eine Gesicht doch von dem andern ist : keine dieser Figuren, obwohl ihre Zahl über dreihundert (Vi beträgt, gleicht einer andern.» Dies gilt, strenge genommen, wohl nur von den älteren Männergestalten  ; aber sie sind ja auch in der Mehrzahl und scharenweise dargestellt: und wenn man sie bei rächtet, erhält man unwillkürlich den Eindruck eines reinen und unersättlichen Interesses für die Charakteristik verschieden gearteter Menschen. Es sind vornehme und stattliche Personen wie «Christi Fig. w. Streiter» und «die gerechten Richter» unter den letzteren findet man ja, f* m nach guter aller Tradition, die schönen Porträts von Hubert und Jan van Eyck 1 selber —  ; und es sind die sonderbarsten und abstechendsten Individuen, diese «hei- ligen Einsiedler», von denen einige aussehen wie die leibhaften Bilder wirklicher Einsiedler, alte Männer mit unwirschen, halbverwildcrten Mienen, wenig gewaschen und gekämmt, andere wie Leute aus fernen, fremden Gegenden, norwegische oder


• Hubort dio Vordergrundßgur auf dem weissen Ross; Jan in der Mitte, rechts, das Gesicht nach der entgegengesetzten Seite gewendet.



isländische Walfischlanger, Kalmücken — oder was sie sonst sein mögen. Auf den Quais von Brügge hatte ein Künstler jener Zeit ja Gelegenheit, eine reichere Galerie von Menschen aus aller Herren Länder zu sehen als vielleicht sonst irgendwo in Europa.

Wiederum kann man hier fragen, ob es lauter Porträts von wirklichen Individuen sind, die man hier vor sich hat, oder ob die reiche Abwechslung durch eine künst- lerische Lust und Fähigkeit, einen Eindruck von Individualität frei zu schaffen, erreicht wurde. Es ist wohl etwas von beidem: auf einer sehr soliden Grundlage von um- fassender realer Menschenkenntnis haben die Künstler im einzelnen ein wenig weiter gedichtet, zuweilen karikiert, zuweilen ein wenig idealisiert. Dahingegen lässt alles darauf schliessen, dass sie in ihren eigentlichen Porträtbildern nach jener Art von Aehnlichkeit mit Individualitäten gestrebt haben, die weder das geringste hinzufügt, noch das geringste wegnimmt. Und wie sehr sie sich von diesem reinen Realismus angezogen fühlen, geht auch daraus hervor, dass sie eigentlich das Porträt als eine ganz neue Art der Malerei in die moderne Kunst einführten. Im früheren Mittelalter hatte man ebenfalls monumentale Grabfiguren mit mehr oder weniger durchgeführten Versuchen von Porträtähnlichkeit geschaffen, oder man hatte in der Skulptur und Malerei wirkliche Personen dargestellt, die die Madonna anbeteten oder in ähnlichem kirchlichem Zusammenhang standen. Aber das Porträt in der isolierten Reinheit des Begriffes, bei dem nichts angestrebt wird als das Bild der wirklichen Individualität, — die Porträtmalerei als selbständige Kunst, die seit jener Zeit in so ausserordentlichem Umfang gepflegt ist, namentlich im Dienste des Privat- lebens, — ward von der all-niederländischen Schule, namentlich von den van Eycks selber eingeführt.1 Selbst die Italiener kommen erst hinterher. Die realistische Richtung der Niederländer offenbart sich auch darin, dass sie anfing, das weltliche Lebensbild, 'das Genrebild» in die Kunst einzuführen ; doch hat dies vorläufig geringere Bedeutung für sie als das Porträt. Ausserdem können wir von ihren Genrebildern nicht einmal mit voller Sicherheit behaupten, dass die Menschenschilderung auf ihnen so rein realistisch war, wie wir es von ihren Porträts wissen können.

Der Stil der Porträts und der übrigen Bilder von individuellen Physiognomien ist nahe verwandt mit dem, den wir schon bei der niederländischen Bildhauerschule in Burgund betrachtet haben. Und doch existiert ein Unterschied : der Schritt in das Realistische hinein ist jetzt ganz vollzogen. Der kleine Rest einer gewissen Rhythmik in den Gesichtslinien, der bisher noch zurückgeblieben war, ist von einer ganz rück- haltlosen und gehorsamen Treue in der Naturbeobachtung abgelöst, die die Malerei mit ihren geschmeidigeren Mitteln auch leichter durchzuführen vermochte, als die Skulptur. Die Runzeln werden in die Kreuz und Quer gezeichnet, wie man sie sieht,

1 Aus der Literatur des Mittelalters hat man schliessen wollen, dass es schon im 13. Jahr- hundert auf den Ritterburgen Privatporträts, Familienporträts gegeben hat Wenn das wirklich der Fall gewesen ist, erscheint es fast unerklärlich, dass nichts, absolut nichts dieser Art auf unsere Zeit gekommen ist. Ich habe vergeblich in den grössten Museen mittelalterlicher Kunst danach geforscht; und auf meine Anfrage haben die gelehrtesten Fachgelehrten auf diesem Gebiete erklärt, dass ihnen nie etwas Achnlichas vor Augen gekommen ist. Es handelt sich hier natürlich nur um das reine unvermisohte Porträt.


- 213 -

ohne die geringste Kalligraphie, ebenso die Haare, von denen jedes einzelne Haar so weit wie möglich ausgepinselt wird. Es ist gemalt, als sollte man einen Schwur auf das alles, selbst auf den kleinsten Zug, ablegen.

Das Vorbild dieser realistischen Malerei, das Ziel, das man erstrebt, ist zweifels- ohne das Spiegelbild: der Spiegel und die Spiegelung sind Uberhaupt Gegen- stand grosser Aufmerksamkeit von Seiten der van Eycks und einiger ihrer Nachfolger gewesen. Wenn man nun sagen wird, die Konsequenz hiervon würde sein, dass die Kunst hier ein unkünstlerisches Ziel erstrebte — denn das Spiegelbild ist ja keine Kunst — so sehen wir uns gezwungen, diese Konsequenz anzuerkennen. Ja, mehr als das : es lässt sich vielleicht nicht beweisen, aber es darf nicht als unmöglich er- klärt werden, dass diese Künstler auf irgend eine Weise ein wenig Gebrauch von unkünsflerischen, mechanischen Hilfsmitteln gemacht haben, um die Aehnlichkeit mit dem wirklichen Vorbilde zu erzielen, die sie sicher als ihre wichtigste Aufgabe und Verpflichtung betrachtet haben. Dergleichen ist heul zu Tage bekanntlich ganz all- gemein; aber es gilt nicht als mit guter künstlerischer Moral vereinbar. Aber wir dürfen nicht ausser Acht lassen, dass die ästhetische Grenze zwischen der Aehn- lichkeit mit der Natur, die auf mechanischem und unpersönlichem Wege zustande gebracht wird, — das Spiegelbild, das Camera-obcura-Bild, oder die Photographie — und der Aehnlichkeit, die durch frei menschliche Wiedergabe erreicht wird, für unsere Zeit erst dadurch so recht klar geworden ist, dass die Photographie heut zu Tage als Bilderproduzent neben der Kunst aufgetreten ist. Ja, sogar in unserer Zeit ist diese Grenze eigentlich eine ziemlich dunkle und gleichgültige Sache für die allermeisten, so bedeutungsvoll sie auch im Grunde ist. Man muss annehmen, dass sie in dem Bewusstsein der van Eycks überhaupt nicht existiert hat. Für sie und ihr Zeitalter lag ein solcher Flug im Realismus, in dem Bestreben, der Wirklichkeit immer näher zu kommen, dass sie sich kaum in irgend einem Punkt von ästhetischem Bedenken haben zurückhalten lassen, sich das Spiegelbild als ihr Ziel zu stecken.

Auf jeden Fall haben sie es aber nicht erreichen können: die von der Natur gegebenen Bedingungen für die menschliche Arbeit gestatten es nicht. Man kann annehmen, dass die eigentliche Absicht mit Jan van Eycks charakteristischem Wahlspruch «Als ikh kan» —  »so gut ich kann» -- ein bescheidenes und weh- mütiges Gefühl ist, dass selbst der allerenergischste Wille und der grösste Fleiss zu kurz kommen, wo es sich darum handelt, in einem Kunstwerk die vollkommene Spiegeltreue mit der Wirklichkeit zu erlangen. Aber was der Maler selber als Un- vollkommenheit und Mangel an seiner Arbeit angesehen hat, das sehen wir heut zu Tage von der positiven Seite als Vorteil an. Es wäre sehr amüsant, Photographien von Menschen aus dem fünfzehnten Jahrhundert zu besitzen, namentlich wenn die Photographie es verstünde, auch die Farbe wiederzugeben ; aber die alten Gemälde geben uns mehr: sie geben uns nicht nur so glaubwürdige Bilder, wie sie die Menschenhand ausführen kann, sondern zugleich auch des fünfzehnten Jahrhunderls subjektive Auffassung von den Menschen — einen historischen Wert in zweiter Potenz.



— >14 —


Wir schützen gerade die subjektive Seite der Sache, den Willen zu treuer Objektivität, dessen Gepräge diese Porträts bis in jede kleinste Einzelheit hinein tragen. Wir vertiefen uns mit andächtiger Aufmerksamkeit in diese Resultate einer unsagbaren Hingebung an das Studium der Wirklichkeit; wir bewundern ein Zeit- alter, das aus dem langen Traumzustand des Mittelalters erwacht, eine solche Frische und einen so unersättlichen Appetit im Mücke hatte, frei von aller Blasiertheit und Müdigkeit.

Psychologisch betrachtet ist dies Bestreben, mit dem Spiegelbild zu wetteifern dasselbe wie eine Wiedergabe der Natur nach möglichst kurzer Er- innerung. Ter Künstler verlangt, während der ganzen Arbeit den Menschen, der dargestellt werden soll, unmittelbar vor Augen zu haben; und es gibt kaum eine Kunst, die in dieser Beziehung so viel gelordert hat wie die niederländische im fünf- zehnten Jahrhundert: man scheint auch hin und wieder einmal auf diesen Porträl- bildern zu bemerken, dass das Modell durch die langwierige Passivität ein wenig ermüdet ist; während das Spiegelbild und die Photographie von der Hand der Natur in einem Augenblick fertig sind, muss ja der Künstler Schritt für Schritt alle Details des Themas durchnehmen. Indem er malt, geht er zu Werke wie jemand, der eine kostbare Flüssigkeit mit Hilfe einer kleinen Tasse oder eines Löffels aus einem Gefäss in das andere schöpfen soll : er muss sich beeilen sie zu überführen, damit die Flüssigkeit nicht auf dem Wege verdampft, und dabei äusserst vorsichtig sein, dass kein Tropfen verschüttet wird. Ebenso schöpft er in kleinen Portionen die Natur ganz in die Kunst über und kratzt zum Schluss das Gefäss der Natur aus, damit auch nicht die geringste Kleinigkeit zurückbleibt. Die Südländer — die Griechen und Italiener — nehmen grössere Portionen auf einmal und gehen etwas flotter und leichtsinniger zu Werke; die nordische Kunst rückt von einein Detail zum andern vor, indem sie während der Arbeit unablässig innehält, um eine gewissenhafte Kon- trolle zu führen, ob auch Punkt für Punkt mit «lern Vorbilde in Uebereinstimmung steht  : auch nicht die kleinste Warze darf übersehen werden. Dies kann den lleber- blick und das Ganze schädigen, und das Wesentliche in der Aehnlichkeil mit dem Vorbilde kann Gefahr laufen, verloren zu gehen. Aber man darf nicht vergessen, dass dieser langsamen und geduldigen Arbeit mit dem Detail — infolge einer psychologischen Notwendigkeit, die ebenso sehr für die Nordländer wie für die Süd- länder gilt, —ein einziger Blick auf das Ganze vorausgeht, ein ursprünglicher, augenblicklicher Eindruck der lebenden Persönlichkeit, die dargestellt werden soll — ein Eindruck, zu dem der Künstler bei der Ausführung des Porträts unablässig zurückkehren, und den er als Ziel für seine Wiedergabe festhalten muss. Diese wird also eine Erinnerung aus weiter Entfernung. Je frischer sie sich erhält, umso mehr lebende Macht und Kraft bekommt das Porträt  ; wird sie dagegen während der langen Buchhaltung mit den Einzelheiten erstickt, so wird das Bild schlaff und langweilig. Und diese Gefahr liegt bei der Arbeitsmethode der alten Niederländer nahe.

Diese eigentümliche Bichtung, die in der alt-niederländischen Kunst kulminierte,



- 215 —


stammt von den nordisch-germanischen Völkerschaften her; auch deutsche Künst- ler schlössen sich ihr an. Die nordischen Völker sind ganz sich selbst überlassen. Die Verbindung mit der früheren grossen Kunst der Welt, namentlich der antiken, ist ganz abgebrochen. Was man auch in der antiken (griechisch-römischen) Kunst, namentlich bei den Porträts, Realismus nennen kann, gleicht dem nordischen eben- falls nicht. Vielmehr kann man einige Aehnlichkeit zwischen niederländischer Por- trätkunst — namentlich derjenigen der van Eyck — und der altägyptischen aus den ältesten Dynastien und in noch höherem Grade der aus der sailischen Periode finden. Die Aehnlichkeit kann zuweilen recht auffallend sein. Da ist dieselbe ruhige Objek- tivität, dasselbe Gefühl strenger Verpflichtung der Wirklichkeit gegenüber und die Neigung zu erschöpfenden Beobachtungen derselben. Hier wie dort hat man den Ein- druck eines bürgerlichen, arbeitsamen und industriellen Volkes. Doch findet man in der ägyptischen Skulptur grössere Sicherheil in der plastischen Auffassung der Form als in der niederländischen Kunst, mag es sich um Skulptur oder Malerei handeln; und die Aegypter gehen auch nicht so weit wie die Niederländer in der Mikroskopie der Einzelheiten. Sie haben, kurz ausgedrückt, mehr Stil. Als menschliche Arbeit, deren Wiedergabe der Natur nie vollkommen ihrem eigenen Bilde entsprechen kann, wird die Kunst nie ganz dessen ermangeln, was man Stil nennt ; gibt es aber eine Kunst, die gc wissermassen stillos genannt werden kann, so ist es freilich die alt-niederlän- dische Bei all ihrer Solidität und Gewichtigkeit vergisst man doch niemals ganz, dass sie eigentlich die Kunst über ihre richtige menschliche Grenze hinauszwingen will.

d) Kleidertracht und Nacktheit.

Die Figuren, die wir in dem Vorausgehenden hauptsächlich im Auge gehabt haben — die idealen wie die realen — sind voll bekleidet, in der Regel gut, stattlich, ja sogar reich gekleidet. Einsiedler und Pilger gehen nicht in Lumpen ; und was die Porträts betrifft, so stellen sie ja alle Menschen dar, die gut bezahlen und sich auch gut kleiden konnten. Bei Figuren aus der Bibel und aus den Legenden zeigt sich sogar häufig eine gewisse naive Lust zu Pracht und Staat. Da sind Sammet, Seide und Pelzwerk, feines Tuch und Leinen, kostbar garbeitete Rüstungen, sogar aus rotem Golde  ; da sind in Sammet und Tuch eingewirkte Goldornamente, Perlen- stickereien, reiche Schmucksachen und Kronen aus Glas, Kristall und Juwelen. Man fühlt, dass das alles von einem reichen und geldstolzen Volke stammt, bei dem die Kleider den Mann machten — und in noch höherem Grade die Frau ; ausserdem von einem unternehmenden und handeltreibenden Volk, das seine Waren zu schätzen verstand ; und man muss auf der Wiedergabe der alten Maler wirk- lich die Echtheit, Feinheit und Solidität der Stoffe bewundern, gegen die die Pracht, die spätere Maler, z. B. Rubens, entfalteten, sich ziemlich unecht ausnimmt.

Die prachtliebendsten der alt-niederländischen Maler sind in erster Linie die Begründer der Schule selber, die Gebrüder van Eyck : sie liebten zweifelsohne die Pracht um ihrer selbst willen; es ist aber auch ganz deutlich, dass sie sich für die



- 216 -


malerische Wiedergab«» allerhand reicher .Stoffe interessierten, um dadurch die neue Technik der Ölmalerei zu entwickeln. Bei verschiedenen ihrer Nachfolger ist die Praehtliebe schon ein wenig gedämpfter, und bei einem der spätesten Meister der Schule, G e r a r d David, spürt man sogar eine gewisse Reaktion dagegen, eine strengere Einfachheit. Dann aber flammt sie wieder auf und steht in voller Hlüte bei dem letzten Hauptmeister der Schule, Quinten M ass y s. Wenn man im Museum zu Antwerpen sein berühmtes und herrliches Gemälde 'die Grablegung«  bewundert und von dessen tiefem Gefühl ergriffen wird, kann man gleichzeitig nicht umhin, sich ein wenig darüber zu ärgern, das«  der Künstler Gefallen daran gefunden hat, seine Gestalten so reich und stattlich zu kleiden. Nur Maria und Johannes tragen einfache Gewänder, die an ältere Traditionen erinnern; warum aber müssen die übrigen heiligen Frauen und Männer so unvergleichlich gut gekleidet sein und so viel Staat bei dieser Gelegenheit zur Schau tragen? Fürchtete der Maler vielleicht, dass die gute Gesellschuft von Antwerpen sie verachten würde, wenn sie weniger gut gekleidet waren wie sie selber V Quinten Massys war ein wirklich grosser Maler, der sich in beziig auf Geist und Menschenkenntnis wohl mit den besten italienischen messen konnte, aber wo es sich um die Kleider handelt, merkt man, wie schwer es dem nordischen Künstler wird, sich von einem gewissen spiessbürgerlichen Geist, wie er in seiner Umgebung herrscht, zu befreien, lieber dergleichen waren die Italiener weit mehr erhaben.

Von der ganzen alt-niederländischen Kunst gilt es, dass - mit Ausnahme von Christus als Leidensfigur oder überhaupt als biblische Gestalt sowie von Maria und den Aposteln • - alle heiligen Personen eben.su wie «lie andern n a c h d c r zur Zeit des K ü n s t I e r s h e r r s c h e n d e n M o d e gekleidet sind. Dies war wohl eigentlich auch früher der Fall gewesen; aber man merkt es mehr an der Kunst des fünfzehnten Jahrhunderts, weil die Moden zu dieser Zeit so launenhaft und extra- vagant wurden. Ein so gekünstelter Zuschnitt und eine so überladene Ausstaffierung der Gewänder und so bizarre Auswüchse, namentlich was die Kopfbedeckungen anbetrifft, verraten, dass in den Kreisen, aus denen die Moden hervorgingen, und überhaupt in der ganzen Gesellschaft nur sehr wenig Blick für die plastische Bedeutung der menschlichen Figur vorhanden war. Man interessierte sich mehr für den Stoff des tiewandes als für die Form. Dasselbe lernt man auch aus der Behandlung des Falten- wurfes. Hierin ging vom Jahre 14;$«) an eine radikale Veränderung vor sich. Der konventionelle Rhythmus der früheren Kunst und der leicht fliessende Fall der Linien des Gewandes werden jetzt ganz ausser Acht gelassen, und der Faltenwurf wird mit gebrochenen und geknickten Linien gezeichnet und geformt, — eine Veränderung, die ganz derjenigen entspricht, die wir oben in bezug auf die Gesichtszüge und das Haar erwähnt haben.

Dieser geknickte Faltenwurf ist einer der am meisten in die Augen fallenden Züge des Stils dieses Zeilalters, — oder vielmehr seiner Still osigkeit; man findet ihn ebenso häufig in der Mulerei wie in der Skulptur ( während die Skulptur die rhythmische Behandlung des Haares länger beibehält I. Es ist offenbar ein Symptom des



- 217 -


Realismus, etwas, das der Wahlheil, nicht der Schönheit halber, in die Kunst hineingekommen ist: und es sieht denn auch meistens hässlich aus und zeigt, wie schlecht es mit dem plastischen Schönheitssinn des Zeitalters beslelll war. Das Ur- sprüngliche war wohl eine Nachahmung der gebrochenen Können in schweren und harten Stoffen, in Tuch, Sammet, dicker Seide, Brokat und dergl., indem die Kunst jetzt Klicksicht auf die materielle Kigentümlichkeit der Stoffe und ihre Dicke nahm, wovon das Mittelalter ganz abgesehen hatte. Aber ein wirklich eingehendes Studium der natürlichen Kaltenbrechung der Stoffe findet man kaum bei den grösslen der alt-niederländischen Künstler: und bei den geringeren wird dieser oberflächliche Realismus geradezu Manier, ebenso wie die Rhythmik des Mittelalters, nimmt sich aber weit ungefälliger aus als diese. Die ganze Slilveränderung in bezug auf die Linien kann mit einem Uebergang von Vers zu Prosa verglichen werden, aber hier wird die Prosa nur zu oft ein unharmonischer Spektakel und besitzt nicht einmal die Vorzüge des prosaischen Stils in bezug auf deutlichen Sinn.

Wenn nun auch die völlig bekleidete Figur die gewöhnliche und regelmässige Aufgabe dieser Schule war, so wurden doch auch, sobald der neue Geist der Natur- beobachtung nach allen Seiten hin den Damm des Mittelalters durchbrochen hatte, grosse Ansprüche an die Darstellung der nackten menschlichen Figur gestellt. Die grösste kunslhistorisehe Bedeutung erhielten die lebensgrossen Figuren von Adam und Eva, die einer der Gebrüder van Evck, wahrscheinlich Jan, auf die Fi^*?

' ' UDO 91

aussenden Flügel zu beiden Seiten des grossen Altares in Gent malte (ungefähr um 1 l'.V2). Die Flügel sieht man jetzt in der Galerie zu Brüssel, und sie verdienen ein eingehendes Studium. Jede der Figuren ist gemalt, als stünde sie in einer Nische, also gewissermassen wie eine Statue, doch in bezug auf Form und Farbe ganz wie eine lebende Gestalt.

In Uebereinstimmung mit dein Gedankengang des ganzen Altarwerkes sind die Eltern der Menschheit hier als die ersten Sünder und Urheber der Erbsünde dar- gestellt. Sie haben vom Baume der Erkenntnis gegessen und «erkennen, dass sie nackend sind». Dies ist bei Adams Gestalt dadurch ausgedrückt, dass er mit der rechten Hand, die einen Laubzweig hält, die Geschlechtsteile verdeckt, während er den linken Unterarm und die Hand quer vor die Brust hält. So sonderbar es auch klingen mag, hat diese Stellung der Arme eigentlich dieselbe Bedeutung wie bei der medicäischen oder der kapitolinischen Venus, die ebenfalls mit den Händen Busen und Schoss verdecken  : hier wie dort soll es das Gefühl der Scham über die Nacktheil bedeuten, sie sind bestrebt, die Anstössigkeil so gut zu verdecken, wie das ohne Kleider möglich ist; bei Adam ist das Schamgefühl ausserdem durch eine stärkere Röte der Wangen ausgedrückt. Aber so kokett gebeugt und abgerundet wie die Stellung im übrigen bei der antiken Venus ist, so steif und naiv, ungeschickt und eckig ist sie bei dem niederländischen Adam. Abgesehen von den Armen ent- spricht er ziemlich genau der bekannten Haltung der archaischen griechischen Jünglings- figuren, z. B. des sog. Apollon von Tenea in München; in plastischer Beziehung gehört die Figur eigentlich in ein reines Einleilungsstadium der Entwicklung der



— 218 -


Kunst. Man merkt, dass der Künstler eine gewisse gerade und ungekünstelte Ein- fachheit in der Stellung der Figur hat erzielen wollen, im Gegensatz zu den konven- tionell geschwungenen Linien des Mittelalters.

Adam hält sich ganz gerade und frontal und selzt den einen (den rechten) Fuss ein wenig weiter vor als den andern, in einem kurzen Schrill, und beide Kniegelenke sind steif gestreckt. Dies entspricht jenen griechischen Statuen ; aber so wie sich die gemalte Figur dem Auge des Beschauers darstellt, kreuzen sich die steifen Linien der Beine wie die beiden Teile einer grossen Schere, was einen keineswegs ange- nehmen Eindruck macht.

Evas Stellung ist weniger hart, mehr weiblich und biegsam als die Adams; sie ermangelt nicht einer gewissen naiven Grazie. Diese Eva wird bekanntlich auch von Albrecht Dürer hervorgehoben als eine der vorzüglichsten Partien des ganzen Altar- werks; und obwohl damals hundert Jahre seit ihrer Ausführung vergangen waren, muss man sicher auch einräumen, dass sie in allem Wesentlichen reichlich so gut gelungen ist wie Dürers eigene nackte Frauengeslalten. Während Eva mit der linken Hand ihren Schoss verdeckt, hält sie mit der rechten die Frucht des Sündenfalles — die hier sonderbarerweise zu einer Citrone geworden ist — mit der Schulter in derselben Höhe: die Hallung dieser Hand und die abwechslungsreiche Bewegung der Finger ist hervorragend schön und fein empfunden. Hier ist auch Abwechslung in der Stellung der Beine; das rechte (hintere) steht lotrecht mit gestrecktem Knie, das andere ist gebogen  : doch hat der Künstler kein rechtes Auge für die Konsequenzen gehabt, die diese ungleiche Stellung der Beine für die ganze Haltung des Körpers mit sich führen müssen.

Bei der Zeichnung dieser beiden Figuren hal der Maler einen kühnen Versuch gewagt. Er hat Bücksicht darauf genommen, dass, wenn in der Höhe, in der sie stehen, zwei wirkliche Menschen — oder Statuen — stehen, der Beschauer in der Kapelle sie ein wenig von unten sehen würde; und er hat dann ganz folge- richtig gedacht, dass wenn er seinen Adam und seine Eva so malle, als sähe man sie von unten, die Gemälde einen täuschenden Eindruck von wirklichen Menschen machen würden. Um diese Illusion zu erreichen, hal er die F u s s o h 1 e unter dem Teil von Adams Fuss, der über den Hand der Nische heraustritt, gemalt, und den andern Fuss, der weiter zurück in der Nische steht, für das Auge von der Linie des Bandes überschneiden lassen. Evas einer Fuss tritt an dem Bande der Nische vor, längs demselben; der andere ist dem Auge entzogen. Dies war etwas ganz Neues in der ganzen Geschichte der Kunst: das Altertum Hess sich nicht auf ein solches Spielen mit der Illusion ein, und das Mittelaller besass nicht die künst- lerische Entwicklung, um an dergleichen zu denken. Dahingegen findet man gerade in der gleichzeitigen Horentinischen Malerei die ersten Versuche in ähnlicher Bichtung.

Indem man die künstlerische Freiheit und Kraft anerkennt, von der dieser Zug zeugt, kann man jedoch nicht vergessen, dass seine eigentliche Bedeutung in den weitgehenden Möglichkeiten liegl, die er der Kunst erschliessl: diese haben dem Geiste des nordischen Malers wohl schon gedämmert, aber sie sind keines-



— 219 —


wegs verwirklicht, weder von ihm noch in der übrigen Malerei. Während die Italiener die Sache weiter und weiter entwickelten, blieb der Norden bei diesem einen Schritt auf die neue Bahn hinauf stehen — dann zog man den Fuss wieder zurück. Man darf auch nicht übersehen, dass dieser erste Versuch nicht recht geglückt ist. Die Verkürzung von Adams Fuss ist nicht gut gezeichnet ; und bei Kva sieht es so aus, wie wenn das hintere, gestreckte Bein entweder zu kurz wäre, oder als ob es mit dem Fusse zu tief unter den Boden der Nische nieder träte. Ausserdem ist die Perspektive der Figuren, von unten gesehen, in ihren übrigen Partien nicht mit strenger Konsequenz durchgeführt, obwohl man merkt, dass bei der Zeichnung des Adam, namentlich bei den Schultern, Rücksicht darauf genommen ist.

Mit Ausnahme von Adams rechtem Fuss ist bei diesen nackten Figuren das Problem der Verkürzung nur sehr ängstlich berührt : die schwache Verkürzung des linken Unterarms ist jedoch recht gut gezeichnet. Aber mit der Zeichnung des Fusses wurde es allmählich besser. Das ist noch ein sehr schwacher Punkt bei den Gemälden, die auf Hubert van Eyck zurückzuführen sind  : hier besieht der Fortschritt von der Kunst des Mittelalters nur in einer reicheren Beobachtung der Einzelheiten, die Form des Ganzen ist nur schwach beherrscht und das Resultat oft hässlich. Dahingegen findet man auf Jans Gemälden sehr schöne Beispiele der vollen Herrschaft über die Form des Fusses, auch wenn man ihn in der Verkürzung Sieht; aber der Fuss ist alsdann allerdings mit der Bekleidung bedeckt, namentlich mit einem Ilamisch- stiefel, was freilich auch keine leichte Aufgabe für die Zeichenkunst ist, wenn auch nicht so schwer wie den nackten Fuss zu zeichnen.

Dem Adam auf dem Genter Altar hat der Künstler dickes, verwirrtes, schwarzes Haar und einen schwarzen Bart gegeben; dadurch hat er ihn offenbar als kultur- losen Menschen, als eine Art Wilden, charakterisieren wollen. Im übrigen ist diese Charakteristik aber nicht durchgeführt, und als Darstellung des Urmenschen ist die Figur überhaupt dem Ziele nicht nähergerückt als die des Mittelalters. Dahin- gegen hat der Maler das Verdienst erworben, durch ein kräftiges realistisches Studium eine neue Grundlage zu schaffen, neue Bedingungen für die Darstellung der nackten menschlichen Figur überhaupt zu geben. Er hat sich an das nackte Modell ge- halten, so wie er es mit seinen Augen gesehen hat, — einen recht kräftigen jungen Mann der Arbeiterklasse — , und hat, mit Ausnahme des Haares, kaum einmal den Versuch gemacht, sich über den Eindruck des Modells emporzuschwingen. Das sieht man schon an dem Gegensatz zwischen der dunkleren, sonnengebrüunten Farbe der Hände, des Halses und des Gesichts und dem weisseren Kolorit des übrigen Körpers: es ist ein ausgekleideter Mann, der hier gemalt ist. Das Gesicht sieht auch aus, als wäre es ein Porträt. Es ist von grösster Wichtigkeit für die Kunstge- schichte, genau zu verstehen, was an diesem merkwürdigen Wendepunkt der Ent- wicklung geschah; und nach allem zu urleilen muss festgestellt werden, dass das unmittelbare Studium des einzelnen, wirklichen, nackten Menschen, das Modellstudium in engerer Bedeutung hier die einzige Quelle der Darstellung der menschlichen Figur gewesen ist. Von dem Studium künstlerischer Idealität, wie sie namentlich in



der Antike gegeben ist, ist hier natürlich keineswegs die Rede. Aber es deutet auch nichts, nicht das Allergeringste, auf die Art theoretischer Kenntnis des Körpers hin, wie man sie durch Dissektion und überhaupt durch Untersuchung dessen gewinnt, was unter der Haut liegt. Es ist deswegen ein ungenau gewählter und zu Irrtümern Anlass gebender Ausdruck, der von Crowe und Cavalcaselle (und von Springer) gebraucht wird, wenn sie in dem van Eyckschen Adam «genaue Kenntnis der Mus- kulatur» und «genaue Vertrautheit mit der Anatomie» sehen. Von dergleichen kann man hei den Italienern reden, doch nur denen einer späteren Zeit; wie aber sollten van F.yck oder die übrigen niederländischen Künstler «genau vertraut mit der Ana- tomie» sein, wo es doch damals nichts gab, was man mit Recht Anatomie nennen kann? Wohl gab sich die niederländische Kunst nicht wenig mit der Leiche ab, die darzustellen in Christi Leidensgeschichte reiche Veranlassung war ; in einer etwas späteren Zeit, um das Jahr 1500, wurde es auch ganz allgemein, das Bild des abge- zehrten und halb aufgelösten Leichnams auf dem Grabe auszuhauen. In Huben führten dergleichen Studien die Künstler selbst zu Dissektion und theoretischer Anatomie, in den Niederlanden aber nicht, bevor der Einfluss aus Italien sich wirksam geltend machte.

Der Mangel an theoretischem Verständnis des Körpers zeigt sich in den van Eyckschen Figuren auch darin, dass kein rechter Unterschied zwischen Klein und Gross, Wesentlichem und Unwesentlichem gemacht wurde. Das Spiegelbild nimmt ja alles auf, ohne eine Auswahl zu treffen. Und das Kleine vergessen die nordischen Maler am allerwenigsten. Sie legen nicht nur genaue Rechenschaft ab von den Adern unter der Haut, von der vom Schweisse vertieften Farbe unter der Schulter, von den Hautfalten an den gebogenen Gelenken; sie malen nicht nur den dichteren Haarwuchs an gewissen Stellen des Körpers, auch in Evas Schoss, sondern pinseln sogar gewissenhaft die einzelnen Haare aus, die zerstreut auf der Haut von Adams Körper und Gliedern wachsen, — und denselben Zug linden wir noch unge- fähr hundert Jahre später auf Quinten Massys Christusleiche auf der «Grablegung» in Antwerpen wieder. Es ist kein Wunder, dass das Modell, während der Maler mit seinen Beobachtungen so ins Einzelne geht, müde vom Stehen wird und Krämpfe in Waden und Hüften bekommt, die man bei dem van Eyckschen Adam spüren zu können vermeint. An den grösseren Zügen und Formen mag wohl viel zu bewundern sein, namentlich wenn das Resultat historisch als Fortschritt in der Entwicklung betrachtet wird. Die Proportionen sind richtig und naturgetreu, und gewisse Partien, wie die rechte Schulter und die Brustfläche bei Adam, sind vorzüglich gelungen. Aber es bleibt noch vieles zu wünschen übrig: die Formen des Halses sind nicht richtig verstanden, und das Schlüsselbein geht zu sehr in eins über, nach eiuer zu geraden Linie geschnitten; die Ellenbogen sind zu spitz, zu eckig und hölzern in der Form, die Hände zu dünn und zu flach, das Ohr sitzt zu hoch. Und es sind nicht nur einzelne Partien, die die Kritik herausfordern können. Die Zeichnung und die Formgebung ist nicht recht von dem Geist des lebenden Organismus durchdrungen  : die trocknen, scharfen Konturen von Beinen, Armen und Hinterem erinnern sehr stark an geschnitztes Holz.



- 221 —

Bei Eva hat man den Eindruck eines etwas weniger bedingungslos realistischen und energischen Studiums des Modells. In der Auffassung des spezifisch Weiblichen im Körperbau wardas Mittelalter ja sehr weit zurück gewesen  ; und um ein vollendetes Natursludium der weiblichen Gestalt zu erreichen, war deswegen ein grösserer Sprung nötig, als wo es sich um die männliche Figur handelte. Diesen Sprung ganz zu tun, hat der Maler nicht vermocht: namentlich ist in der Form des Körpers, in dem Verhältnis zwischen seinem oberen und unteren Teil noch eine ganz auffallende Nachwirkung der Kunst des Mittelalters zu spüren. Wohl sind die Brustkugeln weiblich gerundet, im übrigen aber ist der Oberkörper dünne und eingefallen im Gegensatz zu dem grossen, stark vorstehenden und ausgerundeten Unterleib. Ausser- dem sind die Formen des ganzen Körpers ziemlich mechanisch abgeglättet wie Drechslerarbeit, und seine Linien sind mit inhaltslosen Kurven gezeichnet — oder geschrieben. Hier spukt das Mittelalter wieder, und die Naturbeobachtung versagt. Aber Anderes ist neu und frisch und trifft vorzüglich den Charakter des Weiblichen. Der Kopf, der als Porträt ein wenig kleiner erscheint als der des Adam, ist sehr schön — von echt nationalem Typus — mit hoher, runder Stirn und kleinen, aber scharf geschnittenen Zügen ; und er hat mehr Geist und Leben als der des Adam : es ist ein sehr liebenswürdiges Bild der haltlosen Frauennatur, die verlockt und sich verlocken lässt. Der Hals ist länger und dünner, Arme und Hände, Waden und Füsse sind feiner als beim Manne, Arme und Waden sogar etwas zu schmächtig im Verhältnis zu dem schweren Unterkörper. Und in der delikaten Zeichnung, nament- lich der Arme und der vorzüglichen Behandlung und feinen Rundung der volleren Partien wie des Hinteren und der Lenden, zeigt sich sogar eine ganz neue und moderne Neigung, den Körper von der Seite des Stoffes aufzufassen, in seiner wirklichen Weichheil und Feinheit, wenn auch ohne Ueppigkeit. Noch ein Zug verdient besonders hervorgehoben zu werden, nämlich dass die Hände, so schön und fein sie auch sind, doch ihre natürliche Grösse im Verhältnis zu dem übrigen Körper haben (Adams Hände sind beinahe zu gross). Sonst ist es nämlich sehr häufig der Fall, fast die Regel, in der Kunst der van Eycks, dass die Hände viel zu klein gemacht werden. Dafür findet man sogar Beispiele bei männlichen Porträts, namentlich aber gilt das doch von Frauengestalten, besonders wenn sie Anspruch auf idealen Charakter erheben. Das soll zweifelsohne fein, elegant, vornehm sein ; die ganze Form der Hand ist auch zuweilen ein wenig manieriert mit übertrieben langen und dünnen Fingern im Verhältnis zu der kleinen, schmalen Mittelhand. Das ist ein Zug, der uns warnen kann, den van Eyckschen Figurenslil ohne weiteres als realistisch aufzufassen.

Wir haben diese nackten Figuren jetzt von der plastischen Seite betrachtet, mit Rücksicht auf die Haltung, die Zeichnung, die Formgebung, und haben neben vielem Neuem und Ausgezeichnetem bei ihnen auch viel Unvollkommenheit gefunden, ja sogar Züge von archaischer Steifheit. Aber eine höhere Entwicklungsstufe ist in bezug auf die Farbe erreicht. Durch die neuen Mittel der Oehnalerei hat der Künstler seinen Figuren eine Frische und Wahrheit in der Körperfarbe und eine kräftige Rundung gegeben, die wohl der bedeutungsvollste Fortschritt seit der Kunst des



— 222 —

Mittelalters ist. Zum ersten Mal seit dem Altertum finden wir die Tonfolge vom höchsten Licht bis zum tiefsten Schatten und den Reflex auf der nackten Oberfläche nach der Natur durch alle Farbennüancen beobachtet : das weisse, ausserordentlich gleichmüssig und fein vertriebene Glanzlicht, — das im übrigen dazu beiträgt, gewissen Partien, namentlich dem Körper der Eva, den Charakter von geglättetem Holz zu verleihen — ; den Lo k a 1 1 on , der bei Eva leicht bräunlich ist, eintöniger und klarer und transparenter, bei Adam hingegen fester und dichter, rot und weiss: das leichte, gräuliche und kühle Streiflicht (Halbtinte) das in einen tiefen oliven- farbenen Sehaltenton übergeht ; endlich längs den Umrissen der Schaltenseilen der Figuren ein verhältnismässig sehr heller Reflex, dünn und schmal wie ein Faden. In alledem, — und namentlich in der Behandlung des Reflexes — liegt wohl noch etwas Naives ; und doch ist das erreichte Resultat zweifelsohne der gleich- zeitigen italienischen Kunst überlegen — ihr standen ja auch keine Oelfarben zur Verfügung — und nähert sich dem feinen Uebergang in den Flächen und dem «Ver- schmolzenen» in der Behandlung, das später Leonardo da Vincis unermüdliche Arbeit krönte. Im übrigen hat Jan van Eyck in einzelnen späteren Werken noch höheres in bezug auf die Darstellung des Körpers, namentlich des Gesichts, der Farbe erreicht ; darin ist das Porträt seiner Gattin im Museum zu Brügge ein wahres Wunder an Feinheit, Wahrheit, Frische, und Weichheit.

Die nackte Figur war für Sitte und Gebrauch des Zeitalters bei den nordischen Völkern eine Art Geheimnis, und van Eycks neue Studien derselben können mit einer Entdeckungsreise in unbekannte Länder verglichen werden, wenn es sich auch nur darum handelte, den Menschen die Kleider auszuziehen und dann zu malen, was man sah. Es war eine rein künstlerische Wissbegier, die hier als Triebfeder fun- gierte, ein Verlangen, der Kunst ein weiteres Reich zu erobern, eine breitere und festere Grundlage für allerlei Darstellung der menschlichen Gestalt. Und dies gemalte Menschenpaar wurde wirklich das Stammelternpaar für die Gestalten der nordischen Kunst während eines Jahrhunderts, und seine Nachkommen arten ihm deutlich nach. Das grosse Beispiel für das direkte Naturstudium des Nackten war gegeben.

Jan van Evck machte auch andere Entdeckungsreisen nach demselben Lande. Darüber haben wir eine Nachricht von einem Italiener (Faeius: de viris illustribusi, der wunderbarer Weise den flandrischen Maler noch im Jahre 1456 als nostri saeculi pictorum princieps erwähnt. Unter andern Gemälden von Jan beschreibt er eins, das eine Badestube darstellte, und das im Besitz eines italienischen Kardi- nals war. Hier waren verschiedene neue Aufgaben der Malerei behandelt, und namentlich «einige ausgezeichnet schöne Frauengestalten», die dem Bade entstiegen. Die heimlicheren Teile ihres Körpers waren mit feinem, halbdurchsichtigen Leinen verhüllt; man gewahrte das Erröten ihrer Haut (nach dem warmen Bade); von einer unter ihnen, die ihr Antlitz und ihre Brust dem Beschauer zuwandte, sah man zu- gleich die Rückseite des Körpers in einem Spiegel an der gegenüberliegenden Wand wiedergegeben. Im Stil sind diese Figuren sicher nicht von denen abgewichen, die wir von allen übrigen van Eyckschen Frauengestalten, namentlich von der



»


— 223 -

nackten Eva kennen; und wenn der italienische Schriftsteller ihre Schönheit preist, dürfen wir nicht ausser Acht hissen, dass seine Beschreibung aus einer Zeit stammt, wo die italienische Renaissance ihre eigenen, eigentümlichen Begriffe von weiblicher Schönheit noch nicht so recht entwickelt hatte: die Zeit war sicher sehr bald vorüber, wo man in Italien die Frauengestalten der niederländischen Kunst als ausgezeichnet schön bezeichnet haben würde. Dahingegen hat der Vorwurf zweifelsohne den Italienern zugesagt ; und wahrscheinlich haben die grossen italien- ischen Maler nach van Eycks Beispiel das Motiv behandelt, dass man mit Hilfe eines Spiegels eine schöne Frauenfigur von zwei Seiten sah. Ob Jan van Eyck in diesem Bilde, das, nach der Beschreibung zu schliessen, in jeder Beziehung ein Zeugnis ablegte von der Lust des Künstlers, die Oelfarbe zu neuen malerischen und ästhetischen Wirkungen zu benutzen, auch auf eine sinnliche Wirkung aus- gegangen ist und die Kunst sich ein klein wenig an die geschlechtliche Lust hat wenden lassen, kann freilich nicht bewiesen werden, ist aber nicht ganz unwahr- scheinlich. Er hat die weibliche Schönheit so dargestellt, wie er sie verstand; und im übrigen kommt es wohl bei dieser Art von Wirkungen ebenso sehr auf das Lebensvolle, das Illusion Erweckende an, das stets der Zweck seiner Kunst war, wie auf das Schöne Dass sich das Bild im Besitz eines italienischen Prälaten befand, spricht eher für als gegen diese Auffassung ; ausserdem war der Maler selber während einer langen Zeit seines Lebens Hofkünstler und Hofmann, und die Kunstgeschichte der älteren Zeit zeugt deutlich davon, dass mehr als alles andere das dienende Verhältnis zu Höfen und grossen Männern die Kunst zu sinnlichen Darstellungen führte.

Da der Vorwurf für dies Gemälde — wie es auch aufgefasst gewesen sein mag — jedenfalls neu war, muss das Gemälde als sehr bemerkenswertes Phänomen in der Entwicklung des Interesses der nordischen Kunst an der Darstellung des Menschen betrachtet werden. Das Beispiel blieb denn auch nicht ganz ohne Nach- ahmung in den Niederlanden selber. Doch wurden erst seit dem Anfang des sech- zehnten Jahrhunderts Vorwürfe dieser Art allgemeiner in der Kunst nördlich der Alpen, namentlich in der deutschen. Und zugleich mit den Sitten der Kunst ver- änderten sich die Sitten des Lebens. Dass bei Kaiser Karl V. Einzug in Antwerpen am 23. September 1520 unter vieler anderer Pracht und Herrlichkeit, womit der Rat der Stadt den Kaiser ehrte, auch junge Mädchen deren gleichen an Schönheit der anwesende Albrecht Dürer niemals gesehen hatte, nackend oder nur mit ganz feinen, durchsichtigen Stoffen verhüllt, auftraten, rührt wohl von einer Feslsitte her, die ursprünglich aus Italien stammte; aber ganz unvorbereitet darauf waren die Niederländer doch nicht.

Trotzdem merkt man nur äusserst wenig von dergleichen neuen Dingen in der Skulptur und Malerei der Niederlande im fünfzehnten Jahrhundert, so wie sie uns überliefert ist. Weil ein einzelner genialer Künstler wie Jan van Eyck einen Schritt abwärts vom Wege tat, deswegen geriet man noch nicht von der Bahn ab. Im grossen und ganzen hat die Darstellung der nackten Figur keineswegs ein grösseres



Reperioire in dieser Periode als im eigentlichen Mittelalter. Figuren von Adam und Eva trifft man zu jeder Zeit häufig, und im übrigen war die Nacktheit jetzt wie früher P'g oi. ein Zug des Leidens (Christi, das der Märtyrer, der Verdammten in der Hölle). Auf seinem berühmten Jüngsten Gericht an Danzig) lüsst Memling — einer Tradition zu folge, für die es auch noch andere Beispiele in der Kunst gibt, — von Engeln am Eingang zum Paradiese die Toten, die nackend aus den Gräbern auferstanden sind, in schöne Kleider kleiden, die sie im Zustand ihrer Seligkeit tragen sollen  ; in der Hölle hingegen hat man niemals Kleider. Ausserdem vermeidet die Kunst immer vorsichtig das Anstössigere bei der Nacktheit und macht sich überhaupt nicht zum Missionar einer veränderten, mehr emanzipierten Auffassung derselben. Wenn man bedenkt, wie die gleichzeitige italienische Kunst mit Vorliebe den heiligen Sebastian, der von Pfeilschüssen gelötet wird, zu einem Ideal des nackten Jünglings macht, so ist es auffallend, dass einer der besten niederländischen Maler, Dierick Bouts, auf einem Bilde von dem Martyriuni dieses Helden ihn die Hosen anbehalten lässt und nur den Oberkörper entblösst. Der Maler geht — von seinen Voraussetzungen aus — allein darauf aus, zu zeigen, wie eine solche Hinrichtung in Wirklichkeit vor sich gegangen sein kann; er denkt nicht daran, die Gelegenheit zu benutzen, eine Studie der ganz nackten Figur oder eine Verherrlichung ihrer Schönheit zu geben.

Nachdem wir van Eyeks Adam und Eva genauer betrachtet haben, können wir uns kürzer in bezug auf die Darstellung der nackten Gestalt bei den übrigen Künst- lern fassen.

Ueberall merkt man, dass jetzt weit höhere Anforderungen an Naturstudium und Durchführung aller Einzelheilen der Form gestellt werden, dass jeder Künstler darauf hingewiesen war, selber, aus erster Hand, das lebende Modell zu beobachten. Darin bleiben wohl die allermeisten unbedingt hinter van Eyck zurück, und ein eigentlich durchgreifender und umwälzender Fortschritt von dem, was er getan hat, wird über- haupt nicht erreicht : nur äusserst selten findet man eine Figur, die davon zeugt, dass der Künstler im Naturstudium noch weiter gelangt ist, jedenfalls in einzelnen Partien ; und das ist dann in der Regel eine Leiche, denn die Leiche isl ein so ruhiges Modell (Roger van der Weydens Christus, der vom Kreuz genommen wird: Geertgen von St. Jan s und Quinten Massys' Christusleiche auf ihren «Grablegungen»; ausser- dem Dierick Bouts Erasmus in Löwen und Hippolytus in Brügge). Aber im Laufe des fünfzehnten Jahrhunderts verändert sich auch der Geist in der Auffassung etwas, und ganz deutlich in der Richtung des Antihumanistischen, des Leidenden. Van Eycks Adam sieht ganz kräftig und mutig aus im Vergleich mit den späteren Adams. Von hohen Gedanken über die Macht und Kraft des natürlichen Menschen ist keine Kunst entfernter als die niederländische aus der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahr- hunderts. Beim Anblick dieses Adams würde man nie auf den Gedanken kommen, dass das zu der Zeit lebende Menschengeschlecht Wert auf Stärke, Mut, allseitig entwickeile Körperkraft gelegt hat. Wenn die Künstler auch keine Allelen und Ritter zu Modellen bekommen konnten, so konnten sie doch sicher Schreiner oder Zimmer- leule linden; aber man hat nur den Eindruck von zaghaften, engbrüstigen Weberge-


- 225 -


seilen aus den Fabriken, von Menschen mit ängstlicher Haltung, schwachen Körpern und zaghaften Mienen. Und nicht selten, namentlich hei den eigentlichen Leidens- figuren, geht die Kunst in beziig auf langgesteckte, trockne, magere, jammervolle Gestalten bis zum Aeussersten. Dies macht einen noch sonderbareren Eindruck als die Barbarei des älteren Mittelalters, weil die Künstler jetzt doch wirklieh Erfahrung in hczug auf den natürlichen menschlichen Körper hatten und alle seine Einzelheiten mit grosser Naturtreuc darstellen konnten, ja, nicht selten mit einem gewissen natu- ralistischen Schönheitssinne. Die allcrdünnste Figur, die ich je von der Kunst dar- gestellt gesehen zu haben mich entsinne, soll sogar einen himmlischen Helden in goldener Rüstung darstellen; es ist Hieronymus Boschs Heiliger Michael, fi« .93. der mit den bösen Engeln kämpft. (Galerie in Brüssel.» Es soll wirklich eine mensch- liche Gestalt sein, — was Boschs Gestalten ja sonst nur selten sein sollen —  : aber sie ist an Körper und Gliedern dünne wie ein Heuspringer.

Die neue, naturgetreue und realistische Durchführung der Einzelheiten hatte eine neue Auffassung der Hauptlinien der Gestalt im Gefolge. Man muss eingesehen haben,dass jener grosse Schwung in den Linien, der durch die Figuren des Mittelalters geht, rein konventionell war und dass nichts in der Natur ihm entsprach; und da ging man auf das entgegengesetzte Extrem über und zerbrach jeden rhythmischen Zusam- menhang in Haltung und Bewegung der Figur. Wir haben oben die entsprechende Veränderung in bezug auf Gesichtszüge, Haar und Faltenwurf des Kleides besprochen  : hier, wo es sich um die Figur als Ganzes handelt, ist die Sache noch wichtiger. Bei den ruhigeren Figuren konnte man sich ganz naiv mit einer hölzernen Steifheit in der Haltung beruhigen, die für die Augen späterer Zeiten wirklich erstaunlich wirkt. (Schlagende Beispiele auf Dierick Bouts Gemälden von Kaiser Otto s Legende in Brüssel); und bei den stärkeren Bewegungen - z. B. bei den Verdammten, die in die Hölle hinabstürzen auf den Bildern vom jüngsten Gericht — mit so unruhigen und unrhythmischen Linien, dass es nur schwer wird, den Zusammenhang in den einzelnen Figuren zu erblicken, und man aus dem ganzen Gewimmel nur einen Eindruck von zufällig durcheinandergeworfenen Stöcken bekommt, umsomehr als Körper und Glieder so dünne sind. Abermals Stillosigkeit in höchster Potenz! Ausserdem machen die Bewegungen einen noch eckigeren und geknickleren Eindruck dadurch, dass die Maler — und das gilt selbst von den berühmtesten und hervorragendsten unter ihnen — noch immer eine offenbare Scheu besitzen, Körper und Glieder, namentlich Füsse in Verkürzung zu zeichnen und so genötigt sind, die ganze Figur zu sehr in denselben Grundriss hineinzuzwängen. Dies ist die Regel, aber es gibt natürlich gewisse Ausnahmen, die beweisen, dass die hervorragendsten Maler hin und wieder einmal gefühlt haben, dass ihrer Kunst hier eine Grenze gesteckt war, die durch neue Naturstudien durchbrochen werden konnte. Memling hat z. B. auf seinem Bilde vom jüngsten Gericht in einer einzelnen Figur einen recht kräftigen Anlauf zu dem Studium der Verkürzung genommen , ist jedoch nicht weitergelangt , als dass man ganz deutlich merkt, wie er das Modell auf einer Matratze vor sich liegen ge- habt hat.


- 226 —

pig.  »4. Die natürliche Ehrlichkeit und Schlichtheit in der Haltung der alt-niederländischen Figuren und die vollkommene Freiheit von allen konventionellen plastischen Hegeln hat auch ihren Wert und muss uns darüber trösten, dass ein ganzes Element von Schönheit, das wir aus der Kunst älterer wie neuerer Zeit kennen, für das Be- wusslsein dieser Maler gar nicht existiert zu haben scheint. Man spürt diesen Mangel, so weit ich bemerkt habe, bei ihnen allen, nicht am geringsten bei Roger van der W e y d e n in der grossen Mehrzahl seiner Werke. Um' so auffallender ist es, dass dieser hervorragende Maler in einer einzelnen, sehr bedeutenden nackten Figur den Sinn für rhythmische Linien und das Gefühl für den richtigen Zusammen- hang zwischen der Stellung der einzelnen Teile zueinander, den man sonst vermisst,

Fi«. »5. offenbart. Es ist Christus, der vom Kreuz genommen wird, auf dem Gemälde mit lebensgrosscn Figuren, das uns in einer ganzen Reihe von über- einstimmenden Exemplaren erhalten ist, ein Beweis von seiner grossen Berühmtheit in seiner Zeit (das beste, originalste Exemplar ist zweifelsohne das im Escorial). Die Aufgabe war hier insofern weniger schwierig, als es sich nicht um die Bewegung einer lebenden Person handelte, sondern um eine Leiche, deren Stellung nicht von dem inneren Willen, sondern allein vom Gesetz der Schwerkraft bestimmt wird; ausserdem ist die Figur ganz auf einer Fläche entfaltet, ohne irgend welche Ver- kürzung. Aber auf jeden Fall hat der Künstler ruhige, grosse und zusammenhängende Linien erzielt, die natürlich und ungezwungen ineinander fliessen. Auch der Kopf hat einen ungewöhnlich edlen Typus, und die Formen des ganzen Körpers sind mit der grössten Meisterschaft durchgeführt, ohne ein kleinliches Hängen an Einzelheiten. Gerade diese Eigenschaften entwickelten die Italiener in weit höherem Grade als die Nordländer; aber wenn es auch denkbar wäre, dass sich in diesem Punkte ein Ein- fluss aus Italien geltend machte, so ist es doch eine grosse Frage, ob die italienische Kunst bis dahin irgend eine Behandlung der nackten Figur aufzuweisen hatte, die der niederländischen Kunst als leitendes Beispiel hätte dienen können und dem, was hier gegeben ist, überlegen war. Seine Figur ist doch wesentlich nordisch in ihrem Stil. In einer Darstellung der Kunstgeschichte der menschlichen Gestalt ist es not- wendig, diese schöne Figur hervorzuheben; man darf aber nicht vergessen, wie selten diese Ausnahme ist.

e) Das Psychologische, der Ausdruck.

Wir haben oben die schöne Maria auf dem Genter Altar betrachtet, die in der Herrlichkeit des Himmels zu Gottes Rechten sitzt, ihn aber doch nicht auf andere Weise anbetet oder betrachtet als jedes gläubige Mitglied der Gemeinde hier auf Erden, nämlich indem sie in ihr Gesangbuch sieht und geistliche Lieder daraus singt. Es ist dies ein sehr charakteristischer Zug von der Auffassung, die die alt-nieder- ländische Kunst von dem seelischen Wesen der Personen und ihrem Verhältnis zu- einander hatte. Man trifft ganz entsprechende Züge auf anderen Werken der van Eycks und der ganzen Schule. Auf Jan van Eycks Madonna mildem heiligen Donatian (in Brügge), wird ein alter Kanonikus, Georg von der



- 227 -

Paele, Maria mit dem Kinde durch seinen Schulzheiligen vorgestellt: er kniet vor den gölllichen Personen ein paar Kllen von ihnen entfernt, — wie aber äussert er seine Andacht ihnen gegenüber? Indem er das Gebetbuch hervorholt, um noch dazu mit einer Brille, die seine alten Augen nicht mehr entbehren können, als guter Christ Gebete aus dem Buche zu lesen. Auf der Madonna des Kanzlers Rollin (Fig. «S:i im Louvre), kniet der Kanzler hinter seinem Betpult, auf dem das Buch aufge- schlagen liegt: ersieht wohl nicht hinein, faltet aber die Hände und richtet seinen Blick auf das Kind auf dem Schosse der Mutter. Das ist wiederum — körperlich gesprochen — eine ganz kurze Entfernung, aber das Eigentümliche bei seinem Ausdruck ist, dass er sich doch gleichsam in einer unendlichen Entfernung von der Gottheil fühlt. Sein Blick ist geradeaus, nicht aufwärts gerichtet; aber er scheint dennoch den ganzen Weltenraum zu durchschweifen, als sähe er nach einem Stern am Himmel. Und nicht weniger fühlt Maria selber die Grenze zwischen ihrer eigenen Natur und der ihres göttlichen Sohnes : sie hält sich stramm zurück, um sich nicht das Geringste von der Ehre anzueignen, die dem Kinde zukommt.

Der Grundton in den van Eyckschen Figuren ist in weit grösserem Umfang derselbe wie in den knieenden Gestalten von van der Paele und Rollin. Am reichsten entfaltet sich dieser Ausdruck in den grossen Scharen, die den Altar mit dem Lamm auf dem Mittelbilde des Genter Altars umringen; und ihnen schliessen sich Einsiedler und Pilgrime, heilige Streiter und gerechte Richter auf den Flügelbildern an. Am schönsten tritt er auf dem Mittelbilde in einer festlichen Gestalt des alten Testaments hervor, bei einem Mann in langem blauem Gewände, mit einem grünen ki*.««. Zweig in der Hand (Noah?). Er sieht vor sich hin wie durch tausende von Meilen und durch tausende von Jahren in treuer, ausharrender Erwartung auf das, was da kommen und die Verheissungen erfüllen soll, indem er andächtig die Hand auf die Brust legt. Welch eine Tiefe der Weisheit in diesem Ausdruck! Und welche unverwüstliche Ruhe bei allen diesen Personen, welche rührende, kindliche Aufrichtigkeit in vielen dieser Gesichter! Die meisten schauen vor sich hin mit einem Blick aus dem tiefsten Innern der Seele; einige sehen aufwärts, die christlichen Märtyrer und Heiligen sehen in ihr Buch oder auf ihre Marterattribute. So fühlt sich jeder allein mit seinen eigenen Gedanken; und obwohl sie so eng zusammengedrängt stehen, herrscht doch so gut wie kein Verkehr unter ihnen. Man merkt schon hier, dass diese Kunst nicht nach dem Dramatischen hascht: die ganze Menge der Gestalten wird deshalb nur ein Haufe, eine Schar ohne Ende oder Abschluss. Wenn sie auch in vollem Licht des Tages wandeln, ist es doch, als ginge ein jeder für sich in einem dunklen Walde, in Träumerei versunken, ohne sich nach rechts oder nach links umzusehen, umzuwenden, fast wie Nachtwandler. Dies gilt wohl namentlich von den Einsiedlern; aber sie sind Alle geistige Einsiedler.

Auch unter den van Eyckschen Porträts finden wir diesen Ausdruck wieder, obwohl die Personen nicht mit Rücksicht auf irgend ein religiöses Verhältnis dar- gestellt sind. Ueber dieser ganzen Figurwelt ruht gleichsam eine Stimmung der frühen Morgenstunde, ehe die Sonne aufgegangen ist. Die Träume der Nacht und die



- 228 -


Nebel sind nicht gewichen, die Seele hat sich noch nicht entfalte!, das Gefühl strömt dunkel in ihrer Tiefe. Aber es beginnt zu dämmern : der Blick sieht scharf, fragend vorwärts, als solle er Rätsel lösen.

Im Verhältnis zwischen Mensch und Mensch oder zwischen Mensch und Gott fehlt, mit einem Wort, die magnetische Anziehung der Personen untereinander und die Aeusserung davon in dem Ausdruck jeder einzelnen Person. Da ist kein Sehnen, kein Streben in der Bewegung des Körpers, keine unmittelbare Annäherung, keine Lust und kein Wille zuzugreifen. Nur das kleine Kind auf der Mutler Schoss, oder — ausnahmsweise einmal — ein Engel äussert sich ein wenig freier, sonst sind Liebe und Andacht vituel. Auffallend — bei den Bildern der ganzen Schule, von Anfang bis zu Ende — ist namentlich dies treue Hängen an den Büchern, an den heiligen Büchern; in ihnen lesen bedeutet den eigentlichen Ausdruck für die Religiosität. Als Beispiel unter vielen andern kann man nennen M e m 1 i n g s berühmten Altar aus dem Juhre 1479 im .Johannishospital zu Brügge, wo das Mittel- Kig. •?. bild die Verlobung der heiligen Katharina mit dem Jesus- kinde in Gegenwart mehrerer Heiligen darstellt. Dort sitzt im Vordergründe Barbara auf dem Boden und liest in ihrem Buch mit einer ganz strammen Miene, als wolle sie sich durch nichts stören lassen: es ist eine Tugend für andächtige Jungfrauen, sich so abgeschlossen von ihrer Umgebung zu halten. Neben der Maria hält ein knieender Engel ihr ein aufgeschlagenes Buch hin, damit sie, während sie das Kind auf dem Schoss hat, nicht ihre Zeit vergeude und die Gelegenheit sur heiligen Lektüre entbehren soll. Die eigenen Gedanken des Engels scheinen ganz unbeweglich; und Maria liegt der frommen Pflicht des Lesens mit ernst bekümmerter Miene ob, ohne im geringsten darauf zu achten, dass sich der kleine Sohn auf ihrem Schoss mit einer heiligen Prinzessin verlobt. Katharina selber sieht das Christuskind nicht einmal an, während sie den Finger hinhält, um den Ring zu empfangen. Auf der früher erwähnten Gesellschaft heiliger Frauen von Gerard David (Fig. 87) findet nur zwischen zweien von den Figuren eine leise flüsternde Unterhaltung statt : alle die andern, ohne Ausnahme, sitzen jede für sich, ganz einsam in der grossen Gesellschaft, mit gesenkten Augen in ihre Bücher oder auf ihre Attribute sehen, oder vor sich hin starrend, nicht auf die Mutter und das Kind, sondern ins Leere. Und die Mutter thront auch selber mit gesenktem Blick und starren Mienen. Im übrigen sind die heiligen Männer auf ähnlichen Bildern nicht weniger jungfräulich verschlossen wie die Frauen.

Es fehlt auch 'in der italienischen Kunst des fünfzehnten Jahrhunderts nicht an Zügen ähnlicher Art ; ja sogar noch in einer Jugendarbeit von RafTael (Ansidei- Madonna in London) kann man einen heiligen Bischof dicht neben dem Thron der Madonna stehen und in seinem Buche lesen sehen. Ueberhaupt ist der Ausdruck für die lebende magnetische Anziehung der Menschen der Kunst nicht von vorne- herein gegeben: er muss dem Leben abgelauert, studiert, eingeübt werden, ehe die volle Herrschaft darüber erlangt werden kann. Aber so steif und ängstlich wie die nordische Kunst war die italienische niemals; und während man in den Nieder-



- 229 -


landen kaum eine Entwicklung in dieser Hinsicht spüren kann, kämpfte die italien- ische Kunst sich schnell und vollständig durch zu dem befreiten dramatischen Aus- druck der gegenseitigen Wechselwirkung zwischen den Personen und erreichte ihn bald in einem Umfang, der für nordische Augen übertrieben aussehen kann. Was wohl Correggio gesagt haben würde, wenn er Memlings Bild von Katharinas Verlobung zu sehen bekommen hätte  ? Ihre keusche Jungfräulichkeit würde in ihm wohl kaum einen Bewunderer gefunden haben, und wie steif schläfrig würde es ihm wohl er- schienen sein, ihm, der zwei Bilder über denselben Vorwurf gernalt und es verstanden hat, das Verhältnis zwischen den Personen bis in ihre Fingerspilzen magnetisch durchströmen zu lassen, so dass alles biegsam und beweglich und lebhaft, zündend und glühend ohne Gleichen ist. Im Vergleich mit dieser Art italienischer Kunst kann man nicht umhin, Memling und alle gleichzeitigen Niederländer ein wenig lang- weilig zu finden. Ihre Kntwicklungsstufe war niedriger, und die Skala des seelischen Ausdrucks, die sie beherrschten, war unbeschreiblich eng. Ihre ganze malerische Arbeit ist gewiss bewundernswert fleissig und liebevoll sorgfältig in jeder Einzelheit, aber sie trägt mehr das Gepräge von Pflicht als von Lust. Es ist etwas stagnierendes bei dieser Kunst. Und später, in dem Augenblick, wo die Niederländer selber Gelegen- heit hatten, Vergleiche zwischen ihrer Kunst und der voll entwickelten italienischen anzustellen, da konnte man über das Ergebnis nicht im Zweifel sein.

Auf der andern Seile aber fehlt es der Menschenschilderung der Niederländer nicht an überlegenen Eigenschaften. Ihr naiver Ernst und ihre Ehrfurcht, der tiefe Grund des Gemüts, den man durch das stille Wasser ahnt, kann nicht verfehlen, Eindruck auf den Beschauer zu machen. Sie kann Bilder von einer ästhetischen Zuverlässigkeit, einer bürgerlichen Rechtschaffenheit und Bravheit geben, deren gleichen man bei den Italienern vergebens suchen wird. Wenn auch Michelangelo mit Recht Donalcllos Statue des Evangelisten Markus (Or san Michele in Florenz) als Bild eines braven Mannes preist, so kann die nordische Kunst doch viele reich- lich so brave Männer dagegen stellen, z. B. auf Dievick Bouts' Gemälden. Nament- lich hervorgehoben werden müssen doch einige von den Porträts, die auf Memling zurückzuführen sind. Welch einen Eindruck von einem reinen und naiven Sinn, von offener Unschuld und Redlichkeit erhält man nicht von seinem Bilde von M. van Nevenhoven in Brügge oder von andern seiner Porträts in den Galerien zu Florenz, Frankfurt a. M. und London! Wohl sehen diese Menschen nicht aus, als f«. »b. hätten sie sehr verwickelte Gehirnwindungen in ihren Köpfen, aber die Auffassung ist doch keineswegs flach oder Hau: der klare Seelenfrieden wirft einen Schimmer von Poesie über ihr Antlitz. Und es sind rein realistische Porträts, die keineswegs Tugendmuster vorstellen sollen  ; — wo aber hat die Kunst sonst Menschen geschildert, denen man sich so ruhig anvertrauen kann? Gibt es etwas Aehnliches, so muss man es doch wieder in der nordischen Kunst suchen, — z. B. in einigen Porträtköpfen von Holbein — ; es beruht überhaupt nicht auf der Individualität einzelner Künstler, sondern in weiterem Umfange auf dem Sinn in der Denkweise der germanischen Völker zu jeuer Periode. Trotz aller ihrer ästhetischen Vorzüge hatten die Italiener



_ 230 —


k mehr Blick für die mannigfaltigen Möglichkeiten der Menschenseele als lür einen klaren und unzweideutigen Charakter.

So besorgt wie die alten Niederländer für ihrer Seelen Seeligkeit sind, kann man nicht erwarten, sie lächeln zu sehen : Unter erwachsenen Menschen ist das Lächeln nicht zu Hause. Nicht nur die Freude, sondern auch der Kummer, ja die schrecklichsten körperlichen und seelischen Schmerzen äussern sich meistens in aller Stille. Auf Die v ick Bouts' ausgezeichnetem Gemälde von dem heiligen Märtyrer K.g 99. Erasmus, dem die Gedärme aus dem Leihe gehaspelt werden, (in St. Peter in Löwen, ungefähr I 107) krümmt der Heilige nur die Wimpern während einer Operation, die doch zu den allerunangenehmsten gehören muss. Und die Henkersknechte, die die Haspel drehen, sind keine grausamen Bluthunde, sondern feine, brave Menschen mit tiefem Mitgefühl für die Leiden des Nächsten : der eine von ihnen beisst sich in seinem sympathischen Schmerz beim Anblick des Martyriums des Heiligen in die Lippe. Sogar die bösen Tyrannen, die die Frommen marlern oder töten lassen, sehen im Grunde aus wie Ehrenmänner.

Und doch haben die alten Niederländer mehr Talent, den Kummer und den Schmerz zu schildern als die Freude. Hoger van der Wey den, der zuweilen ebenso sanftmütig ist wie alle andern, zeigt anderwärts eine ganz eigene Veran- lagung für den Ausdruck des akutesten Seelenleidens, des herzzerreissenden Schmerzes beim Anblick von Christi Passion, oder der bis aufs Aeusserstc getriebenen Angst bei den Verdammten, die in die Hölle sollen. Auf seinem berühmten Bilde vom jüngsten Gericht (im Hospital zu Beatme) sieht man einen der Verdammten auf dem Wege zu dem flammenden Schwefelpfuhl : er geht' ganz vornübergebeugt und steckt die vier Finger in den Mund, sich darauf beissend, um Angst durch körperlichen Schmerz zu betäuben ; und um wiederum diesen zu betäuben, kneift er sich mit der andern Hand in das Ohrläppchen. Vor ihm ein anderer, der bei dem Anblick der Höllen- flamme stöhnt und die Augen in fürchterlicher Angst weit aufreisst. Dergleichen Züge wirken auf den Sinn des Beschauers wie Stiche mit Foltergerätschaften. Nirgends sonst erhält man so realistische Eindrücke aus einer Zeit, wo die Folter- bank täglich angewendet wurde, und wo man recht häufig Menschen sehen konnte, die zum Scheiterhaufen geschleppt wurden. Die Kunst konnte sich ganze Seiten dos Gefühlslebens aneignen, die das Altertum scheute, und die der Gegenwart glücklicher- weise schwer zugänglich sind.

Es war eine Zeit, die ihre Freude, ihre Wildheit, ihren Trotz so gut wie irgend eine andere halte, und die im Lebensgenüsse sehr wohl die Grenze überschreiten konnte. Aber die alles beherrschende Geistesmacht war der Pessimismus im Gewände christ- licher Ideen. Es ist sehr auffallend, wie wenig man von diesem Geiste bei der Kunst der Gebrüder van Eyck bemerkt: sie deuten Christi Leiden symbolisch an, stellen sie aber nicht geradezu dem Auge dar. Ihre Kunst ist überwiegend ein Ausdruck der Freude an der Wirklichkeit. Für die späteren Künstler aber ist die Passions- geschichte, die das fromme Mitleid des Beschauers wachruft und das Gemüt zum Kummer stimmt, das Häufigste von allen Vorwürfen: Christus am Kreuz, «der Mann


— 231 —

der Schmerzen. «Ecce homo«  und vor allem die Klage über den toten Leichnam. Die höchste Vorstellung ist nicht mehr das souveräne Bild von Gott, in ewiger Klar- heit thronend, wie ihn Hubert van Eyck darzustellen suchte, sondern vielmehr Veronikas Schweisstuch, wie es auf einem vorzüglichen Bilde in der Galerie ki« .100. zu Antwerpen gemalt ist, — früher Quinten Massys zugeschrieben, offenbar aber von einem etwas älteren Künstler, (Roger van der Weyden?) stammend — das heisst: Das Bild von Christi Antlitz, misshandelt, gemartert, dornengekrönt, von rinnenden Tränen und Bluttropfen entstellt, jammervoll mit den Augen zwinkernd und mit dem Munde weinend, ein Gesicht, aus dem auch nicht der geringste Anspruch auf göttliche Macht und Herrschaft hervorstrahlt, sondern das gleichsam zurückweicht, immer weiter zurück wie eine schwache und schwindende, wehmütige Abend- sonne, die Gemeinde in einem Meer von Tränen hinterlassend. Wie strenge auch Tertullian und alle andern ältesten Kirchenlehrer gegen jegliche künstlerische Dar- stellung des Menschen, geschweige denn Gottes, vorgingen, so würde sie dies viel- leicht doch befriedigt haben, und zwar obwohl es auf seine Weise vorzügliche, voll ausgebildete Kunst ist. Denn hier ist die vorzügliche Kunst benutzt, um in jedem einzelnen Zuge den Gedanken des Antihumanismus durchzuführen, die Vor- stellung von Gott als dem erniedrigsten Alltagsmenschen, elend und geringe  ; hier hat die Kunst lausend Jahre nach dem Untergang des Altertums sich endlich dazu auf- geschwungen, den Gegensatz von allem zu geben, was sich das Altertum unter ideal göttlicher Herrlichkeit und Glückseligkeit vorstellte.


SCHLUSS: QUINTEN MASSYS.

Die letzten zwanzig Jahre der Lebenszeit der alt-niederländischen Kunst — von ungefähr 1500 — 1520 — haben einen etwas eigentümlichen Charakter und müssen für sich besprochen werden. Wir betrachten diesen Zeitraum als eine Schlussperiode, und das war sie faktisch auch ; aber eigentlich müsste sie mehr den Charakter einer Anfangsperiode haben, des Anfanges eines neuen Aktes der Entwicklung der nordischen Kunst, der von ihren eigenen nationalen Voraussetzungen ausgeht. Aber der Akt wurde keineswegs zu Ende gespielt: nach Verlauf ganz kurzer Zeit wurd«  er unterbrochen durch ein übermächtiges eroberndes Eindringen eines fremden Ele- ments, der italienischen Kunst.

In diesen Jahren kommt wieder mehr Leben in das junge männliche Ideal: der Geist der Ritterschaft lebt in poetischer Wiedergeburt in der Kunst wieder auf, — zur selben Zeit, wo er in der Geschichte im Aussterben begrilfen ist. Es werden grosse Gruppen aus Holz von dem ritterlichen St. Georg geschnitzt, der mit dem Drachen kämpft  ; es kam wirklich mehr Feuer, Mut und Schwung in diese Gestalt, und man spürt auch eine wachsende Fähigkeit von Seiten des Künstlers, die Bewe- gung der Figur in allseitiger plastischer Freiheit wiederzugeben. Aber die Rüstung



— 232 —

det kl den Mann völlig  ; und für die ganze nordische Kunst in dieser Periode gilt überhaupt der Grundsatz, den Melanchthon aussprach : Nichts sei schöner, als einen Mann in voller Rüstung zu sehen ( nihil est pulchrius quam videre virum cutaphraclum). Die nackte männliche Gestalt gehört noch immer auf das (iebiet des Leidens, in die Märtyrergeschichlen. Und mag nun die (iestalt gerüstet oder nackend sein, stets ist sie schmächtig und leicht gebaut : erst der italienische Einlluss bringt aucht den schweren, breiten Körperbau zur Gellung. Zu dem schmächtigen Körper gehört auch der nordische Gesichts! ypus. Aber die nackte männliche Gestalt zu dieser Zeit es handelt sich namentlich um einen geschnitzten Altar aus ungemaltem Eichenholz, der eine Reihe von Szenen aus St. Georgs Martyrium darstellt, von Jan Borrmann, datiert 1493, der von Löwen in das Museum zu Brüssel gekommen ist — kann, wenn auch sehr dünne gebaut, doch auffallend stramm, fest und energisch in Muskeln und Gelenkbändern sein, sodass man selbst in den leidenden Situationen ein auf ein Ideal der Aktivität gerichtetes Streben ahnt. — Wenn nur dergleichen Keime sich hätten weiter entwickeln und ihren eigenen Wuchs wachsen dürfen !

Dass man jetzt auch in zunehmendem Masse Bdder mit antiken Vorstellungen und Gestalten mit antikem Namen trifft, ist an und für sich keine Veränderung nach der Bichtung des künstlerischen Humanismus hin. Das kam von dem gelehrten Humanismus  : die klassische Literatur des Altertums wurde ja jetzt mehr und mehr gelesen. Man schöpfte klassische Vorstellungen aus den Büchern, ehe man noch einen wirklichen Begriff von antiker oder überhaupt von südländischer Kunst halte. Im übrigen aber dürfen wir uns die Niederlande, selbst vor der eigentlichen Liebermacht der Renaissance, nicht als ganz unbekannt mit antiker Kunst vorstellen : einzelne antike Gemmen, Kameen oder Münzen waren Gegenstand lebhafter Aufmerksamkeil gewesen. Und selbst wenn die Geschichte darüber schweigt, dürfen wir doch an- nehmen, dass durch Einfuhr oder Reisen häufiger Fäden zwischen der Kunst Italiens und des Nordens geknüpft wurden, ohne dass dies gleich eine völlige Umwälzung des Stiles im Gefolge hatte.

Sollte diese Periode nach einem einzelnem Künstler genannt werden, so müsste sie Quinten Massys' Zeit heissen. Er war nicht der einzige ausgezeichnete Menschenschilderer in den Niederlanden — Holland hatte z. B. einen Maler wie Lukas von Leyden -  : aber Massys hervorragendste Hauptwerke zeigen ihn als allen andern überlegen — nicht allein den Niederländern, sondern überhaupt den Künstlern aus den Ländern nördlich der Alpen zur Reformalionszeil, die grossen süddeutschen Maler und Bildhauer nicht ausgenommen.

Er ist der erste, ja vielleicht der einzige von allen den alt-niederländischen Malern, der die Steifheit in den Figuren gänzlich überwunden hat. In bezug auf freie Bewegung und Gruppierung und dramatisches Zusammenspiel ist sein oben er- (••ic. im. wähntes Gemälde, die Grablegung, in Antwerpen 1 150s i, mit seinen beiden uiia io? Flügeln, Gastmahl des Hemdes und das Martyrium des Evangelisten Johannes darstellend, epochemachend, — oder vielmehr, es hülle epochemachend werden können, wenn die Epoche nicht so kurz darauf unterbrochen wäre. Es verhält sich zu früheren nor-



- 233 -


disehen Bildern mit ähnlichem Vorwurf ungefähr wie Leonardo da Vincis Abendmahl in Mailand zu den früheren italienischen Abendmahlsbildern. Wenn es bei genauerer Betrachtung auch nicht ganz so hoch steht in bezug auf durchdachte dramatische Einheit, so finden wir hier doch die eigentümlichste Vereinigung des Ernstes und der Gründlichkeit der alten Zeit in Charakterschilderung und Gefühl mit einem neuen Bedürfnisse, dem Augenblicklichen in der Gemütsbewegung Ausdruck zu verleihen. Im Vergleiche mit manch einem Spektakelbild der späteren Kunst hat es sicherlich seine Vorteile in der Richtung des Stillen, Keinen und Tiefen  ; aber im Verhältnis zu der älteren Kunst liegt seine Eigentümlichkeit in der bewegten Oberfläche, dem stärkeren psychischen Wellenschlag. Massys — oder hervorragende gleichzeitige Künstler, denn infolge des Hanges der neuesten Kunstgeschichte, alle möglichen Bilder umzutaufen, kann man ja kaum mehr mit Sicherheit von irgend einer Künstlerindividualitüt reden — führen sogar zuweilen ein gewisses dramatisches Leben in die Porträts ein : ein Beispiel unter vielen hierfür ist das köstliche Porträt eines Gelehrten in der u*. Galerie zu Frankfurt a. M. Der Forscher sieht von seinem Buch auf, gleichsam er- griffen von einem durch die Lektüre hervorgerufenen geistigen Bilde, einem tiefen Blick in die Natur ! Er sieht vor sich hin, ahnungsvoll mit ernstbewegtem Gefühl und macht mit der rechten Hand eine Bewegung, als stutze er plötzlich.

Ueberhaupt ist Massys ein Seelenkenner, der sich auf die interessantesten Um- schläge in der Bewegung des Seelenlebens versteht — man sehe z. B. seine Salome, die die Schüssel mit dem Haupt des Johannes vor Herodes hinsetzt: ihre übermütige und herausfordernde Miene ist im Begriff, vor den Folgen dieses argen Streiches in Angst umzuschlagen. Er erweitert zugleich die Skala der Charakterschilderung und malt in moralischer Beziehung mit stärkerem Licht und Schatten als die Aelteren. Besonders tief dringt er in die Schilderung des Bösen ein. Wir haben früher erwähnt, dass das Mittelalter das Böse gern auf äussere und naive Weise, durch Karikaturen und Grimassen charakterisierte. Massys ist noch nicht ganz erhaben hierüber ; er gibt auch zuweilen den Henkern und Tyrannen grosse, satanische, krumme Nasen und aufgeworfene, hüssliehe Münder ; aber er lässt uns in wirkliche seelische Abgründe hinabsehauen, in finstere Tiefen von dämonischen, ja mephistophelischen Charakteren. Hierin ist er vielleicht hervorragender als irgend ein anderer Künstler in der Welt. Wohl war das Dämonische überhaupt ein Lieblingsthema der nordischen Kunst gerade um diese Zeit ; aber die übrigen Meister, vor allen die grösste Spezialität nach dieser Richtung hin, Hieronymus Bosch, drücken es meistens durch ganz barocke und abenteuerliche Stimmungsmittel, unheimliche und verwirrte Träume aus; und wenn Bosch es einmal durch wirkliche Menschenschilderung geben soll, ist er mehr ausgelassen und marionettenhaft als tief. Massys dagegen ist wirklich Psychologe und Physiognom auf dem Gebiet des Bösen: er begnügt sich keineswegs mit den ererbten Grimassen, sondern geht auf Entdeckungsreisen nach verworfenen und schrecklichen Typen in das Leben selber hinaus. Und doch ist er eigentlich eine feine und gefühlvolle Seele, die keineswegs gegen den Teufel und sein Heer abgehärtet ist  ; deswegen erregt er oft den Eindruck, als wenn böse Menschen selber


- 234 -


gepeinigt werden und in ihrer Seele leiden. Da ist z. R. ein greulicher Henker, der den Kessel heizt, in dem der Evangelist Johannes in Oel gesotten werden soll, so recht ein niederträchtiger, teuflischer, gemeiner Kerl. Er beisst den zahnlosen Mund zu einem Grinsen zusammen, worin wohl Schadenfreude über das Böse liegt, das er tun soll, zugleich aber auch eine innere Qual — gleichsam ein Vorschuss auf die Höllenqualen, zu denen er verdammt ist.

Dasselbe Feingefühl der Seele ist wiederum Massys hervorragendste Eigenschaft bei der Schilderung der edlen und reinen Seelen — auch hierin nähert er sich Leo- nardo da Vinci. Er kann die Gemütsbewegung durch jeden Gesichtszug vibrierend malen, wie in den schönen und innigen Figuren des Johannes und der Maria an Christi Leichnam: Maria sinkt auf die Kniee und hebt die zitternden Hände gefaltet in die Höhe; sie ist so hingerissen von ihrem Schmerz, dass sie, sich selbst über- lassen, über den Toten fallen würde ; da fasst Johannes sie um die Taille, um sie aufrecht zu halten, aber er kann zugleich die Augen nicht von seinem Meister wenden noch die hervorquellenden Tränen beherrschen. Aber diesen Sinn für das zarte und feine, das hier die Figuren völlig mit Seele und (»eist erfüllt, kann man zu andern Zeiten als Achillesferse des Künstlers spüren. Er kann zuviel davon geben. In seiner Schilderung der allerintimsten Verhältnisse, wie der Maria, die das Kind küsst, kann man einen sichern, unmittelbaren Sinn für das Natürliche vermissen, und an dessen Stelle eine gewisse Spitzfindigkeit, etwas allzu deutliches und Unterstrichenes in der Auffassung der Form finden, wie z. B. Marius zugespitzten Mund. Und seine Idealität namentlich in den jugendlichen Frauengestalten, kann ein wenig süsslich und flau werden: das gilt sogar von ein paar von den Frauen auf der «Grablegung«, aber in noch weit höherem Masse von dem etwas überschätzten grossen Gemälde «die heilige Sippe», das aus St. Peter in Löwen in die Galerie in Brüssel gekommen ist.

Eine wirklich sichere plastische Auffassung der Figur als Ganzes hat sich Massys nie angeeignet, — so hoch hat er sich nicht über seine Landsleute empor- geschwungen. Aber sein Formsludium der nackten Figur, Stück für Stück, kann ausserordentlich vollendet sein, siehe namentlich die Beine — und besonders die Kniee — an der Christusleiche auf der Grablegung ; das ist ein natürliches Modell- studium allerersten Ranges, aber noch ganz in dem antihumanistischen Geist der äl- teren Zeit. Massys fuhr jedoch nicht fort mit solchen gründlichen Natursludien der menschlichen Form: sein Sinn ging nach einer andern Richtung. Ich habe den Ein- druck erhalten, als wenn seine Auffassung der Form allmählich von einer etwas reflektierenden Aesthetik geleitet wurde. Ohne dass er eigentlich den gleichzeitigen grossen italienischen Idealismus aus erster Hand genauer gekannt — denn davon kann jedenfalls nur in seinen allerspätesten Werken die Rede sein, in Werken, die ihm ausserdem wohl nur mit zweifelhaftem Recht zugeschrieben werden können — dürfte er vielleicht seinen Ruf gekannt und sich Vorstellungen über seine idealistischen Bestrebungen gebildet haben, Vorstellungen, die störend in seine eigene natürliche Entwicklung eingegriffen haben können. Seine Christusse, Madonnen und Magdalenen sollen so ausgesucht ideal sein, und in ihrer Idealität spürt man noch den nordi-



- 235 -


sehen Ausgangspunkt; der ist nicht italienisch. Aber er ist ein wenig saft- und kraftlos, verdünnt und banal geworden. Die Form ist glatt und flau, die Farbe zu bleich und immateriell, und die Zeichnung nicht frei von affektierten Manieren.

So weit also war die niederländische Kunst, hauptsächlich aus eigener Kraft, ge- langt, als sie allen Ernstes die grosse italienische Renaissance — namentlich Kaffacl und Michelangelo kennen lernte. Hierbei war es von grosser Bedeutung, das«  1515 bis 151G des berühmten Malers des Papstes, RafTaels, Kartons der Apostelgeschichte in die Niederlande gesandt wurden, um Tapeten danach weben zu lassen; kurze Zeit darauf begannen auch jüngere niederländische Künstler Studienreisen nach Italien zu machen. Dort sah man dann etwas, das von Grund auf und in seiner Eigentüm- lichkeit ganz verschieden von dem war, woran man daheim gewohnt gewesen. Und dann kapitulierte man und gab — namentlich auf dem Gebiete der Menschenslellung — alles auf, was man früher am höchsten gestellt halte. Das vollzog sich nach dem- selben Gesetze, das häufiger seine Wirkung in der Geschichte gezeigt hat, in unsern Tagen z. B. in dem Verhältnis zwischen Japan und Europa: auf einem gewissen Studium der Intensität der Berührung welkt die Eigentümlichkeit der schwächeren Existenz hin und geht in die stärkere auf. Indem sich die Niederländer mit den Italienern verglichen, gaben sie ihnen Recht und sich selber Unrecht.

Die Kunst, die hieraus hervorging, werden wir in einem späteren Abschnitt kurz berühren. Insofern als diese nachahmende Kunst an Wert und Eigentümlichkeit offenbar hinter der alten und ursprünglichen nordischen zurücksteht, sind alle darin einig, dass das, was hier geschah, zu beklagen ist, wenn man auch verstehen kann, dass es historisch unvermeidlich war. Genauer betrachtet, traf dies historische Schicksal doch eigentlich nur allein das, was in der nordischen Kunst an Idealismus existiert hatte; denn auch durch das ganze sechzehnte Jahrhundert hindurch wurden in den Nieder- landen ausgezeichnete Porträts und Genrebilder gemalt, die, wenn sie auch in tech- nischer Beziehung nicht unbeeinflusst von italienischer Kunst sind, doch eigentlich einen nationalen Charakter haben und die Ehre der nordischen Völker in der rea- listischen Schilderung des Lebens aufrecht erhalten. Auch die Hölle behielten die Niederländer für sich: in dem Dämonischen, das sie ja so sehr liebten, fuhren sie fort, Niederländer zu sein. Aber was himmlisch — mochte es christlich oder olympisch sein — und was biblisch oder klassisch sein sollte, das musste auch ita- lienisch sein. Und der grosse Verlust für die Geschichte lag darin, dass der Blick für und der Glaube an die eigentümliche Schönheit der nordischen Völkerschaften aus- starb, dass der Sinn für Menschenschönheit gelehrt und von auswärts geholt wurde. Und doch gibt es Beweise genug, dass es der nordischen Kunst nicht an Idealismus gebrach, als sie von der italienischen erobert wurde; man kann das sogar zuweilen aus wenig beachteten Werken unbekannter Meister ersehen, wie z. B. aus einem ge- schnitzten und gemalten Altar aus Anderghem, im Museum zu Brüssel, der auf seine Weise kaum weniger Schönheitssinn enthält als ein Gemälde von Perugino oder Francia, und wo die Typen doch rein national nordisch sind. Wenn man auch noch so viel von historischen Notwendigkeiten spricht, liegt doch viel Trauriges in dem



- 236 ~

Gedanken, dass so etwas erstickt werden musstc, und man kann es niedrig und schwach von den niederländischen Künstlern finden, dass sie ihren eigenen Schönheitssinn verrieten und sich einem fremden hingahen.

Was war es denn eigentlich, was die altniederländische Kunst den Kürzeren ziehen liess im Vergleich mit der italienischen? .1a, um das einzusehen, braucht man sich nur RafTaclische oder noch hesser Michelungeleskc Gestallen zwischen den Memlingschen, Gerard Davidschen oder gar Massyschen zu denken. Wie sollten diese schwachen Typen gegen ein solches Hiinengeschleeht standhalten! Selbst wenn man die zartgliedrigen St. Georgs zu Hilfe ruft, ist die Schlacht verloren. Es war die Ueberlegenheit der Italiener im künstlerischen Humanismus, die den Kampf entschied und den Fall des nordischen Idealismus nach sich zog. Es war der grosse Vorsprung der Italiener in tiefgehender Kenntnis des menschlichen Körpers, in der Uebung, ihn nackend darzustellen, und vor allem ihre gewaltige Verherrlichung der Körperlichkeit des Menschen, die Kraft und Macht der menschlichen Gestalt, ihr Mut, die Figur gross und frei zu machen, was den Niederländern völlig den Atem benahm und sie aufatmen liess in dem Gefühl, dass auch sie Menschen waren, die einen berechtigten Anteil an diesem neuen Evangelium der Menschheil hatten.


Nachdem der obige Abschnitt fertig ausgearbeitet war, hielt ich mich, wesent- lich anderer Studien halber, einen Monat in H e r I i n auf. Indem ich aufs Neue die alt-niederländische Schule in der Galerie durchging, fand ich keine Veranlassung das umzuarbeiten, was ich geschrieben hatte, wohl aber, folgende ergänzende Be- obachtungen niederzuschreiben.

Von Jan van E y c k hat man einen Versuch in absoluter Idea- lität in ganz gleicher Art wie seines Bruders Figur Gottes an dem Altar in Gent (siehe Fig. 77), nämlich das Brustbild von «Christus als König der Könige». Ebenso wie an dem Genter Altar ist die Aufgabe für die Malerei durch Aufschriften definiert, die davon zeugen, dass die Kunst hier zu sehr im Dienste der dogmatischen Spekulation arbeitet. Auf der Verbrämung von Christi Gewand liest man : Rex Heg um, auf dem Hintergrunde A — n, und weiter unten I — F ( infini- lum — Hnis); auf dem Rahmen steht (mit der ursprünglichen Schrift) oben: Via Veritas Vita, unten  : primus et novissimus, ausserdem die Signatur des Künstlers, das Datum der Vollendung des Gemäldes (31. Januar 1438) und der gewöhnliche Wahlspruch (als ich chan). Um die durch ' die Aulschriften angedeuteten Begriffe von Unendlichkeit, Ewigkeil und absoluter Vollkommenheit und Erhabenheit zu ver- vollständigen, hat der Künstler das Gesicht mit einer so mathematisch abgepassten Symmetrie gezeichnet, dass er sogar die lotrechte Mittellinie durch den Scheitel, den Nasenrücken u. s. w. mit einem Lineal gezogen zu haben scheint — und gewiss gezogen hat. Auch in andern Linien des Gesichts spürt man die geometrische Scha- blone, z. B. in dem Schwung der Augenbrauen  : die dabei vorliegende Absicht war offenbar, Idealität und Vollkommenheit zu erzielen. Ausserdem ist der Künstler sosehr bestrebt gewesen, Christi Antlitz von jedem Ausdruck von Emotion zu befreien, dass das Ergebnis die reine Leere und Gleichgültigkeit wurde, man fühlt sich versucht, Dummheit zu sagen, trotz aller Ehrerbietung vor dem Gegenstaude wie vor dem Maler. Es ist ein zartgebauter, sehr langgezogener Gesichtstypus mit braunem, trocknem Haar und Bart, leicht errötenden Wangen und kleinen Augen, deren braune Iris in dem bläulich-weissen Schimmer der NeUshaul schwimmt. — In diesem Ge-



- 237 -


mälde, «Jessen Echtheit auf jede Weise sicher garantiert ist, sieht man Jan van Eycks hervorragende Kunst ganz ausserhalb ihres natürlichen Gebietes. Man niuss einen Unterschied zwischen dem Idealen und dem Absoluten machen — und das Absolute darzustellen, ist überhaupt nicht die Sache der Kunst; die Versuche in dieser Rich- tung müssten schliesslich die Unmöglichkeil der Aufgabe offenbaren.

Noch ein Zug an diesem Gemälde ist sehr eigentümlich für dasselbe als Glied in der Entwicklung der Malerei. Jan van Kyck malt sonst niemals Glorien um die Köpfe seiner heiligen Personen, weder als Hinge noch als Scheiben oder Strahlen. Hier hat er aber — zu Ehren des Absoluten — den Glorienschein nicht entbehren zu können gemeint, und die kreuzartige Christusglorie mit einem lotrechten Strahlenbündel vom Scheitel aufwärts und einem wagerechten, von jeder Stirn ausgehend gemalt. Jan war ausserdem der erste nordische Maler, der die Anwendung der wirklichen Vergoldung auf der Fläche des Gemäldes völlig abschaffte: wo Gold dargestellt weiden mussle, ahmte er es auf rein malerische Weise mit Oelfarben nach. Dies hat er auch hier getan, ohne recht zu bedenken, dass die vergoldeten Glorien strahlen der älteren Zeit ja keine Vorstellung von Gold sondern von Luft erwecken sollten. Und da man Gold nicht als ebene Fläche mit einer einzigen gelben Farbe darstellen kann, sondern gezwungen ist, es wie eine Form mit Hilfe dunklerer Töne und starker Glauzliehtcr darzustellen, kommt es, dass der Glorienschein auf diesem Gemälde ganz und gar nicht den Eindruck von Lichtstrahlen, sondern von feinen, materiellen Goldstangen macht, die aus Christi Haupt hervorragen. Und dies hat noch eine Eigentümlichkeit im Gefolge gehabt: während man sich Lichtstrahlen immer als gerade Linien vorstellt, hat van Eyck diese Glorienslrahlen nicht so gemalt, sondern hat sie sich am Ende umbiegen und zierliche Ornamente bilden lassen, so recht, als sei das Ganze eine feine Goldschmiedearbeit. Das macht einen prosaischen und phantasielosen Eindruck. Ein kleines Krustbild von Christus in Profil auf Goldgrund, das in der Berliner Galerie Jan van Eyck zugeschrieben wird, halte ich, nicht nur auf Grund der Vergoldung, nicht für sein Werk.

Albert van Ouwater hat auf seinem Gemälde, Aufer weckung Lazarisin Berlin, ungefähr um die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts ausgeführt, eine Behand- lung der nackten Figur gegeben, die zu dem Besten gehört, was wir aus dieser Schule haben. Der Künstler hat sich das Grab des Lazarus in der Art des Mittelalters unter einem Kirchengewölbe gegraben vorgestellt; es ist mit einem Hachen Stein mit eingelegter Massenplatle bedeckt gewesen. Der Stein ist jetzt vom Grabe genommen und quer darüber gelegt. Der auferweckte Tote sitzt darauf, mit dem einen Fuss noch unten im Grabe, während er den andern vor sich hin auf den Boden der Kirche stellt ; der Künstler hat sich nicht gescheut, diesen Fuss in V e r- kürzung zu zeichnen und hat seine Aufgabe recht glücklich gelöst; auch die rechte Hüfte ist in der Verkürzung gesehen, sie wird aber zum Teil von dem Ge- wände verdeckt, das die Lenden verhüllt. Der Körper ist natürlich dünne und leicht- gebaut, aber doch nicht dürftig. Die Hautfarbe ist auffallend gelb, von sehr heller, schimmernder, goldiger Farbe : da die Farbe der andern Figuren weit frischer ist, mehr errötend, soll damit wohl die fahle Totenfarbe angedeutet sein. Der Maler be- geht den Fehler, der in der primitiveren Malerei, die noch keine rechte Herrschaft über die Aufgabe besitzt, die Figur durch eine Tonfolge von Licht und Schatten ab- zurunden, leicht vorkommt, — er setzt nämlich mehrmals das höchste Licht un- mittelbar an den Umriss, was eine harte und scharfe Kontur gibt.

Ein anderes eigentümliches und für eine genauere Analyse lehrreiches Beispiel der Verkürzung bietet Petrus Cristus' Bild vom jüngsten Gericht aus dem Jahre 1452. Auf der untersten Partie des Bildes erblickt man die offene Hölle und darüber die Gestalt des Todes, der mit seinen ausgebreiteten Armen und ausgespannten Flügeln sich wie ein Deckel darüber ausstreckt. Der Tod ist als Knochenmann dargestellt, doch eigentlich nur was den Oberkörper anbetrifft: die Beine sind nicht ganz Skelett, sehen aber mit ihrer zerfetzten Haut aus, als hätten


238 —


sie zerlumpte Hosen an. Als Ganzes betrachtet, ist die Figur des Todes nach dem Räume zu stark verkürzt, mit dem Kopf vorne, — was an und für sich eine grosse Merkwürdigkeit in der alt-niederländischen Malkunst ist. Sieht man aber ge- nauer hin, so ist von den einzelnen Partien der Figur eigentlich nur der Brustkasten verkürzt, indem Arme und Beine sich stark in die Quere ausbreiten und der Kopf in die Höhe gehoben ist. Der Brustkasten ist ohne besondere osteologische Kennt- nis gezeichnet, und obwohl er als Ganzes in Verkürzung gesehen wird, ist dies keineswegs mit den Einzelheiten der Fall, indem die Krümmungen der Kippen sich ungefähr parallel mit der Bildfläche halten. In Wirklichkeit ist also an dieser stark verkürzten Figur fast kein einzelnes Glied in Verkürzung gezeichnet. An der Figur des St. Michael in der Rüstung auf demselben Gemälde hat der Künstler mit grossem Geschicke die Verkürzung des linken Beins wiedergegeben.



DIE MITTELALTERLICHE GRABFIGUR UND IHRE SPÄTERE

ENTWICKLUNG.


Mir kam recht eigentlich erst bei einem Besuch der unübertroffenen Sammlung historischer Grabmäler in der Westminsler Abtei der Gedanke, dass man in den Figuren der Grabdenkmäler vom Mittelalter an bis zu der Milte des vorigen Jahr- hunderts das eigentümlichste Beispiel von der Entwicklung des Menschenbildes aus dem Zeitlichen, Ruhigen zu einem momentan bewegten Leben besitzt. Es ist, als fingen mit einem gegebenen historischen Augenblick die Toten an, sich zu rühren und lebendig zu werden.

Es ist hier die Rede von einer Form der Kunst, die wir alle kennen, — bei uns in Dänemark von den Grabmälern Christophs IL, Junker Christophs, Margarethens, Christians III., Friedrichs II. und Herluf Trolles und Brigitte Goyes in Sorö, Roskilde und Herlufsholm. Aber die spätere Entwicklung ist in Dänemark kaum vertreten. Das ganze westländische Europa, das alte Territorium der römisch-katholischen Kirche liefert dagegen eine unzählige, für den Einzelnen ganz unübersehbare Menge von Dokumenten für diese Entwicklung. Niemand kann mehr als verhältnismässig wenig davon kennen.

Wenn ich mich also erkühne, eine Skizze der Entwicklungsgeschichte jener Grabfiguren zu geben, so sage ich mir selber, dass diese Skizze fragmentarisch ist. Ich habe Gelegenheit gehabt, reiche Monumentstätten wie Westminster und St. Denis zu sehen  ; ich habe in den grossen Abgussammlungen in London, Paris, Berlin, Dresden und Wien viel mehr Material sammeln können, aber ich bin überzeugt, wenn ich hinterher Gelegenheit gehabt hätte, den Campo Santo in Pisa, die Certosa- Kirche bei Pavia und die römischen Kirchen wiederzusehen, würde ich Sicherheit und Klarheit über Dinge erlangt haben, die ich jetzt tastend erraten muss. Man könnte ja sagen, es seien zu viel Abhandlungen über die Letztgenannten geschrieben und es existierten so viele Abbildungen davon, dass man in den Bibliotheken den Stoff finden müsste, um die Lücken auszufüllen. Aber jeder, der dergleichen Unter- suchungen angestellt hat, wird auch wissen, dass man das von andern geschriebene



- 240 —


und vorgelebte, ja sogar abgezeichnete Material nicht verwerten kann, wenn dieses Material von den andern nicht von denselben Gesichtspunkten aus betrachtet und studiert ist, die man selber gerade geltend zu machen wünscht. Das was uns von einem solchen Gesichtspunkt aus bedeutungsvoll erscheint, wird von andern und von andern Gesichtspunkten aus vielleicht ganz übersehen oder wenig bedeutungsvoll befunden. 1

Das eigentliche Mittelalter stellt die Grabfigur gerade auf dem Rücken liegend, mit offnen Augen dar, also insofern lebend und wachend. Die Hände sind häufig mitten auf der Brust in Andacht und Gebet gefallet, aber sie können auch ganz andere Stellungen einnehmen, freilich immer so, dass die Arme sich enge an den Körper anschliessen. Bischöfe erheben z. B. die rechte Hand mit segnender Bewegung zu ihrem eigenen Haupt empor, während die Linke den Krummstab hält ; fürstliche Personen halten in der einen Hand das Szepter u. s. w. — die Küsse ruhen im allgemeinen mit den Sohlen auf dem Kücken von Tiergestalten  : entweder auf verschlungenen Drachen oder auf Löwen oder Hunden. Es scheint die Hegel zu sein, duss männliche Figuren, jedenfalls weltliche, einen oder zwei Löwen, die geistliehen sehr oft Drachen zu ihren Füssen haben — ein Bischof auf einem englischen Monument stösst z. B. das Kode des Krunimstabes in den Rachen des Drachen, — und dass die Fusssohlen der Frauen auf einem oder zwei Hunden ruhen. Zu den Füssen eines vornehmen Jünglings auf einem französischen Monument hat man freilich auch wie zu denen der Frauen Hunde abgebildet ; überhaupt ist die Regel nicht strenge durchgeführt.

Solche Grabfiguren findet man sowohl aus Stein als auch aus Metall ausgeführt, in voller, runder Skulptur und in Relief — oder auf einem ebenen, wagerechten Grund, z. B. einem steinernen Grund, eingeritzt und mit Messing-Einlagen ausgefüllt.

Die liegende Figur ist dann immer als lotrecht stehende Gestalt, die wagrecht niedergelegt ist, ausgeführt. Dies sieht man namentlich an der Behandlung des Ge- wandes, dessen lotrechte Falten immer auf die Füsse der Figur herabfallen, nicht auf die Platte, auf der die Figur ruht; nur in einzelnen untergeordneten Partien hat der Künstler hin und wieder den Fall auf diese Platte mit in Betracht gezogen; während das Gewand doch im wesentlichen nach den Füssen der Figur zu gravitiert, als wenn diese aufrecht stände. Der Widerspruch, der darin liegt, lässt sich daraus erklären, dass der Künstler, die Figur, als er sie meisselte oder lormte, vor sich stehen hatte. Dies ist jedoch vielleicht nicht die einzige oder die zu Grunde liegende Erklärung. Gerade den ältesten mittelalterlichen Monumenten dieser Art gegenüber ertappt man sich häufig auf der Frage, ob das ganze Motiv, die liegende Figur auf dem Grabe, nicht ihren Ursprung in einer andern Art von Darstellungen hat, wo die Figur stehend abgebildet ist. Ein segnender Bischof muss z. B. demjenigen gegenüber, den er segnet, aufrecht stehend gedacht sein. Die Figur Heinrichs des Löwen, die auf seinem Grabe in Braunschweig liegt, trägt ein kleines Modell


> Es war dem Vorfasser nicht vergönnt, seinen Entwarf zu der nachstehenden Abhandlung zu vollenden, weswegen der Schluss nur ganz kurz die Momente in der Entwicklung angibt.



241 -


des Doms und hüll es unter dorn Hoden, so dass man sich das Modell nach den Füssen des Mannes gravitierend denken muss, als stünde er. Dass die Figuren die Füsse gegen den Rücken von Tieren stützen, schlichst keineswegs aus, dass sie ur- sprünglich stehend gedacht sind, da ja die Skulptur des älteren Mittelalters, z. R. an den Kirchenportalen, zahlreiche Heispiele von Figuren bietet, die wirklich auf dein Kücken von Tieren stehen, ein Motiv das viele Analogien in alt-asiatischer Kunst hat und gewiss auch daher stammt. Die Stellung der liegenden Figur ist auch durchaus nicht immer gerade und aufrecht; namentlich die älteren Figuren aus dem dreizehn- ten Jahrhundert haben zuweilen gerade eine s l e Ii e n de Stellung: das eine Bein mehr gestreckt, als wenn die Figur hauptsächlich darauf ruhte, das andere mehr ge- bogen ; auch der Kopf kann ein wenig mehr nach der einen Seite geneigt sein. Auf englischen ritterlichen Monumenten findet man, dass die Figur das eine Hein über das andre schlägt, so dass die Linien der Heine sich kreuzen, etwas ganz Aehnliches findet man ja auch hei stehenden Kirchenfiguren aus derselben Periode iz. H. an der goldenen Pforte zu Freiberg). Später, im vierzehnten und fünfzehnten und z. T. auch im sechzehnten Jahrhundert, wird die Stellung der traditionellen Grahligur viel häufiger absolut gerade und symmetrisch.

Aber man empfindet beständig die Inkonsequenz, nicht nur wie oben be- merkt in Einzelheiten des Gewandes, sondern auch darin, dass die Grabfigur, wenn auch als stehend aufgefassl, doch ein Kissen unter dem Kopfe hat, weil sie jetzt ja doch faktisch liegt. Kin anderer Zug der Inkonsequenz und des Schwankens in der Auffassung tritt darin hervor, dass die gefalteten Hände, die zuweilen die Finger zum Kopf empor wenden, was ja für eine stehende Figur passl, ander- wärts die Fingerspitzen lotrecht in die Luft hinaiifstrecken, was nur zu einer lie- genden Stellung passt.

Die mittelalterliche Form der Grahtigur, von der hier in erster Linie die Rede ist,1 setzt sich in ununterbrochener Tradition fort — meiner Erfahrung nach seil dein Jahre lüOO (ein Rischofsmonument in Amiens hat eine architektonische Einfassung in romanischem Stil) — , aber gewiss seil noch viel älterer Zeil bis ungefähr zum Jahre 1750, doch mit einer Reihe von Veränderungen und Wandlungen, die auf höchst eigentümliche Weise die geistigen Veränderungen der Zeiten und des Menschenge- schlechts in diesem Zeiträume wiederspiegeln.

Was nun auch das Motiv ursprünglich herbeigeführt haben mag, so ist die Kunst des Mittelalters durch die Darstellung der Grabfigur in eine feste Tradition hineingekommen und hat während zweier Jahrhundertc in einer Unzahl von Exem-


' Steht diosc monumentale Bilderform in Verbindung mit der etruskiBch-römischen Sitte, die Gestalt des Verstorbenen - oder die Gestalten des verstorbenen Ehepaares — darzustellen, wie sie auf dem Sarkophage oder dem Aschensarge ruhen? Steht die etruskische Sitte abermals in Ver- bindung mit dem phönikischen, aus Aegypten entlehnten Gebrauch, die Leiche in einen Sarg zu legen, der die Form eines um den menschlichen Körper gelegten Futerals mit ausgemeisseltem Gesicht hat? Im Louvre befindet Bich ein phönikischer Sarkophag dieser Art, auf dem ausser dem Gesieht auch die Arme auf der Oberfläche ausgi-meisselt sind, — was ja einen Uebergang zu der Darstellung der ganzen Figur bezeichnen kann

IG



— 242 -

plaren eine Bilderform variiert, die eigentlich ihres Gleichen in der Wirklichkeit nicht hatte. Eine Leiche kann man in einer solchen geraden und symmetrischen Stellung ausstrecken, aber die Figur ist nicht als Leiche aufgefasst ; die Leiche hat ihr eigenes Aussehen, das hier garnicht nachgeahmt ist. Die Züge der Figur sind rund, die Augen offen ; die Hände werden oft auf eine Weise gehalten, die die Vor- stellung einer Leiche ausschliesst. Lebend kann man die Figur aber ebensowenig nennen, weder schlafend noch wachend kann sie ohne Zwang eine solche Stellung einnehmen. Es ist ein ganz entsprechendes Phänomen, wie wir es in der ältesten, z. B. der ägyptischen, Statuenform haben. Die menschliche Figur auf den Grabmälern des Mittelalters bezeichnet ein unwirkliches und zeitloses Dasein — und doch kann man auch nicht sagen, dass sie in der Ewigkeit, nach der Auf- erstehung dargestellt ist; denn dann könnte man sie sich nicht unwirksam auf dem Grabe liegend vorstellen.

Die Veränderungen, die diese Bilderform in späteren Zeiten angenommen hat, ist davon ausgegangen, dass die Kunst — oder, wenn man will, die Künstler — an- gefangen haben, sich selber zu fragen: was beabsichtigt man eigentlich damit? Sie haben die Tradition nicht verworfen, denn eine Tradition, die sich an die Grabsitte knüpft, ist ausserordentlich zähe und dauernd. Sie nehmen sie als etwas objektiv (Jegebenes hin  ; sie stellen sich ihr gegenüber nur freier, indem sie nach ihrer Ab- sicht fragen, und sie auslegen. Die Umbildung der Tradition entstammt dem Ver- suche der Kunst, sie zu erklären.

Schon aus dem Ende des dreizehnten und dem Anfange des vierzehnten Jahr- hunderts haben wir einzelne Beispiele dafür, dass die liegende Figur wirklich als Leiche dargestellt ist (St. Etiennes Grab in Aubazaine, Kaiser Heinrichs VII. Grab auf dem Campo Santo in Pisa). Die Leiche liegt dort die Hände kreuzweise über die Brust gelegt. Ob dies schon im Mittelalter in Italien allgemein ge- wesen war, weiss ich nicht; in Frankreich gehört es ganz sicher zu den seltenen Ausnahmen ; aus Englands Mittelalter ist mir kein Beispiel dafür be- kannt. In Italien scheint diese Auflassung im fünfzehnten Jahrhundert, in der ersten Benaissancc-Zeit, den Sieg davon zu tragen. Beispiele dafür haben wir in Mariano Soecinos, von Vecchietta ausgeführter Figur (ca. 1450), - sie ist bereits eine völlig realistische Darstellung der Leiche, doch in das Leichentuch gehüllt ; ausserdem in Malteo Ci vitales Monument von Pielro da Noceto in Lucca (147:2), endlich in Agostino Bustis berühmter Figur von Gaston de Foix (t 1512,) in Fi* los. Mailand : hier ruht der Tod über dem schönen jungen Haupt mit den geschlos- senen Augen sanft wie der Schlaf, aber die ganz ausgestreckte, symmetrische Stellung verleiht der Gestalt doch den Charakter einer Leiche.

In bezug auf die Darstellung der liegenden Figur als schlafend - wo- rüber unten mehr — müssen wir uns, um den Ausgangspunkt zu linden, ebenfalls nach Italien wenden. Es kann eine gewisse Zweideutigkeit in der Figur liegen  : drückt sie den Tod oder den Schlaf aus? Wenn die Leiche ganz frisch ist, sieht sie ja leicht aus wie ein Schlafender. Hin und wieder hat diese Zweideutigkeit



vielleicht ihren Ursprung bei dem Künstler, indem er sich selber nicht ganz klar darüber gewesen ist, was er tat. Das ist sicher zuweilen in Italien im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert der Fall.

Die Auffassung, dass es die Absicht war, in der Hegenden Figur eine Leiche dar- zustellen, verpflanzte sich zu Anfang des sechzehnten Jahrhunderts nach Frankreich. Als Beispiel hierfür können angeführt werden die Figuren Luuis Ponehers und seiner Ge- mahlin Robeile Legendres aus Paris (Louvre). Sie liegen beide mit geschlossenen Augen in einem sehlafähnlichen Tode, aber mit gefalteten, d. h. auf mittelalterliche Weise vor der Brust zusammengelegten, Händen, was unmöglich für eine schlafende Figur passen kann, aber auch nicht so gut für eine Leiche passt, als wenn die Hände kreuzweise übereinander auf dem Unterkörper ruhen. Dies zeugt von einer gewissen Unsicherheit in der Auffassung, einer Vermischung einer neuen Erklärung mit der alten Tradition.

Aber in Frankreich nahm die neue Auffassung eine ganz besondere Wendung, namentlich auf den königlichen Grabmälern in St. Denis. Auf den Monumenten von drei aufeinanderfolgenden Königspaaren : Ludwig XII. und Anne de Bretagne, Franz I. und Claude de France, sowie Heinrich II. und Katharina von Medici, sieht man die Gestalten des Königs und der Königin nicht nur als Zeichen, sondern als nackte Leichen auf dem Sarkophage liegen, und oben auf dem Boden des Tabernakels, der den Sarkophag umschlies.st, dieselben Figuren in vollem königlichen Staat, k n i e e n d und betend mit gefalteten Händen. Daran schliessen sich noch um das Tabernakel herumlaufend, allegorische und kirchliche Figuren. Die alte Zweideutig- keit bei den liegenden Grabfiguren — das Rätsel, ob sie tot oder lebendig waren, ist hier also durch eine Doppeldarstellung derselben Figuren gelöst, so dass die un- teren Figuren als Leichen, die oberen lebend dargestellt sind, der alten Sitte gemäss in Andacht begriffen. Eine solche Doppeldarstellung tnusste natürlich den reichsten Grabmälern vorbehalten sein, namentlich den königlichen. 1

Dass man die Leichen der Könige und der Königinnen auf diesen Monumenten nackend erblickt, ist ein ganz spezieller Zug, den man ausserhalb Frankreichs kaum findet; dahingegen findet man in Frankreich gleichzeitig andere Dar- stellungen der nackten Leiche als Grabfigur, zuweilen in Statuen, zuweilen in Relief- form, — und ebenfalls Beispiele, dass sich das Relief der Leiche dann der Slatue einer lebenden Figur anschliesscn kann. Warum zog man es vor, die Leiche nackt darzustellen? Geschah es, um das Bild des Todes in seinem ganzen Grausen zu ent- hüllen, im Gegensatz zu der Pracht und Herrlichkeit des Lebens? Sollte die nackte Leiche ein ernstes Memento mori sein, das gerade auf die Vergänglichkeit des Lebens, — darauf, dass der Leib nur Staub und Asche ist — hindeutete? Lübke ist geneigt, die Sache so aufzufassen und erinnert in diesem Zusammenhang an die gleichzeitigen Totentänze. Darin mag ein Körnchen Wahrheit liegen, aber ich muss doch daran


1 Im Dom r.a Roskitde bei Christians III. and Friedrichs II. Monumenten, ist das Doppelbild ans den Niederlanden, mittelbar aber aas Frankreich, eingeführt.



erinnern, dass wir hier einer doppelten Frage gegenüberstehen. Auf der einen Seite fragt es sich, was hat derjenige beabsichtigt, der den Künstler zu einer solchen Dar- stellung aufgefordert hat, oder ihm doch auf alle Fälle Erlaubnis erteilt hat, sie so auszuführen, auf der andern Seite aber, was hat der Künstler selber beabsichtigt und in der Darstellung zum Ausdruck gebracht  ? Die erste Frage zu beantworten, fehlt es mir an Mitteln; die zweite muss durch Betrachtung der Kunstwerke selbst beantwortet werden.

Bei dem ältesten dieser Monumente, dem Ludwigs XII. und Annas von Bretagne, ist der Künstler, Jean Juste, bestrebt gewesen zu zeigen, dass er die balsamierte Leiche genau so abbildet, wie er sie gesehen hat. Fr hat die aufgeschnittene und wieder zugenähte Spalte im Unterleibe, aus dem die Fingeweide herausgenommen sind, angegeben. Aber gerade weil die Leichen balsamiert sind, haben sie sich sehr gut erhalten und stellen, wenn auch alternde, doch kräftige Personen dar. Es ist nicht versucht, einen Eindruck des Abschreckenden oder Abstossendeu wiederzuge- ben; auf der andern Seite ist die Form aber auch nicht idealisiert oder verherrlicht. Das Vorbild scheint mit einer gewissen strengen Objektivität wiedergegeben zu sein, die sich bei dem Künstler wohl mit einer Art von natiirhistorisehem Interesse für die nackte Form gepaart hat. Dagegen ist es klar, dass die Künstler, die die Monu-

Pi*. loc. tnente Franz' I. und Heinrichs II. und die ihrer Gemahlinnen ausgeführt haben, namentlich der letzte, Germain Pilon, eine Verherrlichung des elegant entwickelten Körpers in einem gewissen franzosischen Hofstil angestrebt und erreicht haben ; in dieser Hinsicht ist Germain Pilons Arbeit ein einzig dastehendes und höchst eigenartiges Produkt. Hier macht sich ein ganz positiv humanistisches Bestreben geltend ; die Leiche soll bewundert werden und keineswegs Abscheu oder Mitleid erregen. Dagegen tritt die entgegengesetzte Tendenz, die Tendenz des krassen Gegensatzes zwischen blühendem, anziehendem Leben und dem Tode in seinem ganzen Schrecken wiederzugeben, in einem andern Monument von Germain Pilon in die Erscheinung; es ist das der Valentine Balbiani, — wo man unter der liegenden Figur der Dame in der Blüte des Lebens ein Belief von der elenden Leiche derselben

Fi«. io7 Dame in hohem Alter erblickt. Auf den Monumenten Louis de Brezes und einer andern gleichzeitigen Person erblickt man die nackte Figur ausgestreckt, vortrefflich behandelt und eigentlich nicht abschreckend; nur in dem Kopf kommt der Charakter der Leiche stark zum Vorschein. Auf andern Grabmälern ist die nackte Figur — im Belief — nicht tot — sondern schlafend dargestellt.

Die französischen Benaissancemonumente weichen nicht allein dadurch von den mittelalterlichen ab, dass sie Leichen und nackte Leichen darstellen, sondern auch dadurch, dass die Stellung — und je mehr, je weiter wir in der Zeit vor- schreiten — , von der geraden und symmetrisch ausgestreckten abweicht; als Beispiel kann man anführen den Kontrast in der Stellung zwischen Heinrichs II. und Katharina von Medicis Figuren. Hierzu war doch weniger Ver- anlassung, wenn die Figur nur als Leiche gedacht war. Der Ausganspunkl für diese Veränderung ist in Italien vermutlich Andrea Sansovinos Monument aus dem Jahre


- 245 -

150"), wn die schlafende Figur auf den Ellenbogen gestützt liegt.1 Freier bewegte Figuren waren namentlich da erforderlich, wo die liegende Gestalt ziemlich hoch angebracht werden sollte. Das Motiv der schlafenden, frei bewegten Figur stammt ebenfalls aus Frankreich. Hier findet man sogar das sonderbare Resultat, dass der Gardehauplmatin Charles de Moigny in sitzender Stellung schlafend durge- stellt ist — seine kriegerischen Tugenden dadurch verherrlicht, dass er auf seinem Posten schlafend abgebildet wird. Das würde man nicht verstehen können, ohne den Faden in der Geschichte der Grabmüler zu verfolgen.

Wenn man erst die schlafende, freibewegte Figur hat, kommt es bald von selber, dass die Figur wachend dargestellt wird, — was ja auch die ursprüng- liche Absicht ist — immer aber liegend. Jetzt handelte es sich also darum, ein natürliches Motiv des Lebens selber zu suchen, bei dem man sich die Figur auf einem Lager liegend, aber in frei bewegter Stellung denken konnte. Das älteste Beispiel, das ich kenne, ist Stagio Slagis Monument des sienesischen Juristen F i 1 i p p o De c i o auf dem Campo Santo in Pisa. (ca. 1530), auf dem der gelehrte wg. ios. Jurist stimmungsvoll als nächtlicher Leser dargestellt ist. Auch dies Motiv gelangt nach Frankreich : Ponzios Figur von Alberl Pic de Savoie gibt den ruhigen und ge- duldigen Ausdruck der Talsache, dass die gebildete Person doch etwas vornehmen inuss, um die Stunden der Nacht hinzubringen. Ebenso Gcrmain Pilons Statue der Valentine Balbiani, die liegt und liest, während der Hund — eine mittelalterliche Heminiscenz des Hundes zu den Füssen — an ihr hinaufspringt. Andere Figuren werden nicht gerade lesend dargestellt, sondern gleichsam ruhig denkend; so Jean Cousins Slalue von Philippe de Chabot; ein paralleles Motiv ist später in Eng- r*.w. land, in Hysbracks Slalue von Newton, der eine Vorlesung hält, benutzt. In Pitc.no der Wcstminster Abtei sieht man die freiere Bewegung erst bei Monumenten von ungefähr 1000 an. s

Aber hiermit halte man sich von der Wiedergabe der Hube des Todes entfernt; jetzt folgt die Darstellung der liegenden Figur im Todesaugen blick. So Anguiers Monument von de Courtenvaux (Louvre) die Monumente von Charles, Herzog von Crequi (1617, St. Hock) Kardinal Richelieu (von Girardon, Sorbonne) und Harcourl (von Pigalle Notre Dame); das Monument des Herzogs von fm?. in. Argyll (von Roubiliuc, Wcstminster) ; endlich Pigalles Monument des Marschalls von Sachsen in Strassburg. Die ruhige Stimmung, die sich noch in den älteren, freibewegten liegenden Figuren gellend macht, ist hier zu etwas Momentanem, heftig Bewegtem, Pathetischem geworden. Ausserdem vermischen sich die allegorischen


1 Sollte Michel Angelos Projekt zu Julius' II. Grabmal die Veranlassung hierzu gewesen sein  ? 1 Während dieser gan/.en Entwicklung werden anderwärts die älteren Mo- ive noch genau innegehalten. Heinrich VII wird von Torrigiano noch auf ganz mittelalterliche Weise dargestellt (Wcstminster) ; oinc Parallele hiereu bildet sogar Karls des Kühnen Monument in Brügge (läfi.S errichtet), wahrscheinlich jedoch nach dem Vorbilde des Monnments seiner Tochter, aus dor Zeit kurz nach ihrem Tode 14*2 ; ferner die geradeliegende Leiche mit ge- schlossenen Augen, die von dem Bildhauer Barthelemy Prieur (Ende des lü. Jahrh.) stammt.



- 246 -


Figuren mehr und mehr vertraulich und dramatisch mit der Charakterfigur des Ver- storbenen;1 die Darstellung des Todes als Skelett reicht schon weit zurück (das trium- phierende Skelett in der älteren Renaissance-Abteilung im Louvre). Um die Milte des achtzehnten Jahrhunderts erkühnt man sich sogar den Auferstehungsaugen- blick mit grossem Spektakel* darzustellen. Allmählich verdrängen die allegorischen Figuren die Gestalt des Verstorbenen, die zu einer Büste oder einem Medaillon ein- schrumpft. Und das Dramatische wird von der Ruhe des neuen Klassi- zismus abgelöst. (Flaxmans Monument von Lord Mansfield).


' Crequi. Richelieu, Arfjyll

» Hargrave (von Boobiliac, Weatminster).



DAS SPÄTERE MITTELALTER ITALIENS.


DIE V0R-RENA1SSANCE IN OER SKULPTUR: DIE PISANER.

Italien hal im Laufe des Mittelalters seine eigene Kunstgeschichte und zwar namentlich da, wo es sich um die Darstellung der menschlichen Gestalt handelt.

Im früheren Mittelalter bis ungefähr um das Jahr 1300 herrscht hier ein nicht geringer Unterschied zwischen den Bedingungen der Malerei und der Skulptur. Die Malerei trat im Wesentlichen in die Fussstapfen der byzantinischen Kunst, die Bildhauerkunst war überhaupt mehr national-italienisch, denn in den Landen der oströmischen Kirche fristete diese Kunst nur ein recht kümmerliches Dasein. Die italienische Skulptur aus der Zeit vor dem dreizehnten Jahrhundert weist eine Menge verschiedenartiger Versuche auf, die jedoch nicht viele Spuren der antiken Tradition bewahrt haben, sondern vielmehr das (Jepräge von Barbarei tragen und in allem Wesentlichen auf die Darslcllungsformcn der Anfangskunst zurückgesunken sind. Viele von diesen Versuchen können durch Frische und Lebhaftigkeit Interesse erregen, überall aber zeigt sich die Kunst hier wie ein begabter Junge, che er in die Schule gekommen ist und etwas gelernt hat. Und was am hauptsächlichsten fehlt und am dringendsten erworben werden muss, ist das Interesse für die einzelne menschliche Figur.

Aber im dreizehnten Jahrhundert erwacht, in Italien wie auch nördlich der Alpen, ein gewisser humanistischer Geist, der auch Bedeutung für die Kunst erhält. Im Norden studierte man, wie wir gesehen haben, mehr die nationalen Typen in der wirklichen Menschheit; in Italien zeigt sich der Fortschritt vorläufig am wesentlichsten darin, dass man sich in ein neues und direkteres Verhältnis zu den erhaltenen Besten der echten antiken Kunst aus dem Heidentum stellte: dazu halte man ja in Italien mehr Gelegenheit als in den andern Ländern der weströmischen Kirche. Und da die antiken Denkmäler, die man vorfand, der Skulptur angehörten, war es ganz natürlich, dass sich auch in erster Linie die Skulptur an ihnen bildete.

Dies geschah namentlich in zwei Gegenden Italiens. Im Süden unter der Herrschaft des Hohenstaufen Kaiser Friedrichs IL, ahmte man in grossem Umfange



- 248 —


antike Statuen, griechische wie römische, nach. Was man aber hievon kennt, ist doch an Zahl nur gering, und die historische Kritik darüber ist schwierig und nicht abgeschlossen.

In der zunächst folgenden Zeit bildete ein einzelner hervorragender Meister in Pisa, der Bildhauer Niccolo Pisano (1204— ca. 1280) sich nach antiken Skulpturen, namentlich nach Reliefs, die er in seiner Stadt fand, und erlangte dadurch auch eine plastische Kenntnis des nackten Körpers, die in dem ganzen Mittelalter einzig dastehen dürfte. Niccolo hatte aber nur Gelegenheit, seine Figuren in geringerem Mas- slabe, bei Aufgaben kirchlicher Art auszuführen. Da ist namentlich ein einzelnes seiner Werke, nämlich die mit Figuren reich geschmückte Marmorkanzel im Raplisterium in Pisa (1200), das so recht deutlich seine eigenartige und von unserem Gesichtspunkt aus betrachtet, sonderbare Kunstrichtung zeigt, und des- wegen eingehender besprochen werden muss.

Sowohl in älteren wie in neueren Zeiten hat man einzelne bestimmte antike Skulpturwerke nachgewiesen, denen Niccolo die Motive zu einigen seiner Figuren entlehnt hat. Eine thronende Königin iPhädra) auf einem recht gut ausgeführten, antiken Sarkophag in Pisa will man — und sicher mit Recht — in seiner M a -

Ktg.ua donna, die die heiligen drei Könige empfängt, wiedererkennen. Auf einer antiken Marmorvase in Pisa erblickt man einen bärtigen («asiatischen») Dionysos, von einem Satyr unterstützt, den Niccolo ganz zweifelsohne zu der Figur

Kig. Iis. des jüdischen Hohenpriesters auf dem Relief «Darstellung im Tempel' benutzt hat. Eine antike Silen-Maske hat er benutzt, um einen Teufel auf dem Relief «das jüngste Gericht» zu charakterisieren. Dergleichen einzelne Anleihen nachzuweisen, ist indes nicht das Wichtigste: nichts steht dem im Wege, dass sie in einer Kunst vorkommen können, deren Geist und Charakter im übrigen gänzlich verschieden von der Antike ist. Auch darf nicht zu viel Gewicht darauf gelegt werden, dass die äussere Anordnung der Figuren in den Reliefs deutlich von Kompositionen aus den antiken Sarkophag-Reliefs beeinflusst ist. Erstaunlich aber ist der Geist des Humanismus, des menschlichen Selbstgefühls und Stolzes, der uns nicht nur in ein- zelnen Punkten, sondern überall aus diesem Werk entgegendringt, die kräftigste nachweisbare Aeusserung der ersten Frühlingsluft des Humanismus, die in der Mitte des Mittelalters über ganz Europa hinbrauste. Es ist die Antike nach der Antike, — wovon Niccolo Pisano wohl selber einen Hegriff gehabt hat — : und es ist zugleich die Renaissance vor der Renaissance, was er ja nicht wissen konnte, was aber uns späteren Beschauern deutlich vor Augen tritt. Die thronende Madonna mit dem Matronenschleier über dem Scheitel ist eine imponierende Gestalt, die in Haltung und Statur weit eher einer antiken Königin als einer christlichen Madonna gleicht; und überhaupt haben alle Figuren etwas gewisses Frisches, Unbefangenes und Keckes in ihrem Wesen, etwas Derbes und Dralles in ihren Formen, wie man es nicht von dem Mittelalter erwarten sollte. Natürlich kann man die Formen nur ausnahmsweise als schön bezeichnen; die Proportionen sind häufig zu kurz und schwer, die Köpfe zu gross und die plastische Ausdrucksweise leidet an



- 249 —


mancherlei Unvollkommenheiten. Aber ein langweiliger, maller Klassizismus ist es doch auch uiehl : der Künstler macht seine Persönlichkeit so naiv und unbefangen gellend, dass man den Geist, den er auszudrücken bestrebt ist, als sein eigenes innerstes Kigentum empfindet.

In der Figur des Chrislus am Kreuz und in den Toten, die aus den Gräbern auferstehen (auf dem jüngsten Gericht) hat er die Aufgabe gehabt, das Nackte dar- zustellen und zeigt darin fast mehr plastisches Studium und feines Gefühl als in der Behandlung des Faltenwurfes bei den angekleideten Figuren. Die sorgfältigste Betrachtung verdient jedoch eine einzelne von den Figuren an der Kanzel, weil sie wahrscheinlich als die am besten durchgeführte nackte menschliche Gestalt zu betrachten ist, die nicht nur dieser Künstler, sondern überhaupt die ganze Kunst im Laufe des Jahrtausends hervorgebracht hat, das zwischen dem Lintergang der Antike und dem Anfang der Renaissance im fünfzehnten Jahrhunderl verstrich. Hierbei muss man aber gleich wieder daran erinnern, dass das Jahrhundert von dem hier die Bede ist, ja durchgehends durch ein Minimum an künstlerischer Herrschaft über die Darstellung der menschlichen Gestalt charakterisiert wird.

Ich spreche hier von einer der Figuren, die in sehr hohem Belief, fast als Sta- tuen (doch in ziemlich kleinem Masslab) an den Ecken der Kanzel als Uebergang zwischen den Säulen unten und der Beliefreihe oben dargestellt sind. Es ist Samson als Bepräsentant des Begriffes lortitudo, dargestellt als starker, nackter, aufrecht stehender Mann (von Herkules zu unterscheiden durch das langwachsende Haar). Das Fell eines gefällten Fernen hängt über seinem linken Arm; über der rechten Schulter Irägt er einen jungen Löwen, den er der Mutter entrissen hat, indem er die rechte Hand auf ihn legt, um ihn festzuhalten. Auf der andern Seite wird er von der Löwin angegriffen: man sieht ihren Hinterkörper zwischen seinen Beinen, und sie krümmt — ein wenig unnatürlich - den Körper an seiner linken Seile in die Höhe und hebt Kopf und Pfote zu seinem Arm hinauf ; er aber legt unerschrocken die Hand auf ihren offenen Bachen. Dies Abenteuer mit der Löwin hat hier jedoch nur Bedeutung als Attribut : das wichtigste für den Künstler ist die Durchführung des nackten Mannes, des antiken Hcldentypus, als statuarische Figur gewesen.

Ganz antik ist die Stellung der Figur mit ihrer eigentümlichen Eurythmie und lobenswerten Beobachtung des Gleichgewichts, auf das sich sonst weder das Mittel- alter noch die Renaissance wirklich verstand. Der Mann stützt sich fest auf seinen rechten Fuss und setzt den Linken ein wenig seitwärts, so dass er nur mit der Llnlertläche der Zehen auf der Erde ruht. Dadurch wird das linke Knie ein wenig vorgeschoben, die rechte Hüfte wird in die Höhe geschoben, die linke gesenkt  : und umgekehrt ist die rechte Schuller ein wenig mehr gesenkt als die linke — ganz <Polykletisch>, wenn man will. Der Kopf ist ein wenig nach links gedreht, — von dieser Seite kommt ja die Löwin, - - wird im übrigen aber stolz und gerade getragen, weder gehoben noch gesenkt. Es ist der nackte Torso, der auch in bezug auf plastische Durchführung der Einzelheiten die beste Partie an der Figur ist, eine feine und fast vollendete Arbeit. Die Taille ist ziemlich schmal, wie es sich für eine athlelische



— 250 —

Gestalt geziemt, die Muskulatur ist kräftig, wenn auch ohne eigentliche Ueber- treibungen, und mit klarem und gutem Verständnis wiedergegeben. Aber wir stehen hier so hoch über dem allgemeinen Niveau plastischer Kenntnis und Fähigkeit des ganzen Zeitalters, dass man sich der Vermutung nicht erwehren kann, dass der Torso ganz im Geheimen eine ziemlich genaue Kopie irgend eines antiken Staluen- torsos späterer aber guter antiker Kunst ist. Die Behandlung hat mehr den Charakter der künstlerischen Bildung des Altertums als neuer und frischer Naturstudien, die nicht, aus fast kahlem Hoden, eine Frucht hätten bringen können, an der selbst eine strenge Kritik sehr wenig auszusetzen haben würde. Wenn diese Vermutung richtig ist, würde diese Figur zu betrachten sein wie ein mittelalterliches Gedicht, von dem ein grösserer Teil eigentlich eine Ueberselzung aus dem Latein des Altertums ist.

Die Glieder sind von sichtlich geringerer, schlafferer, weniger gebildeter Arbeit mit einzelnen auffallenden Fehlern: Die übertrieben hervortretende Form der linken Schullcrmuskel, die dünne und spitze Kniescheibe, die viel zu langen Zehen. Die Glieder sind aber ausserdem auch schwerer, breiter, herkulischer angelegt als der Torso: es ist dies ein Zug, derauf den Figurenstil der Renaissance hindeutet, die so häufig die Stärke der Glieder übertreibt und dadurch den Eindruck eines gewissen unharmonisch wallenden Gedränges der Fülle der Kräfte macht (wie z. B. bei Michelangelo). Hiermit stimmt auch der Charakter des Kopfes und der Ausdruck überein. Der Ausgangspunkt ist freilich wohl der spätere antike Herkulestypus ; er hat aber hier schon ein gewisses Gepräge von Renaissance erhalten. Das Gesicht ist im Verhältnis zu der ganzen Figur gross, es ist bartlos mit schweren, festen Wangen und kräftigem Kinne, einem Mund mit stark geschwungenen Linien, einer gebogenen Nase, Augen, dies tief im Schatten der gekrümmten Brauen liegen. Die Iris des Auges ist mit dunklen Steinen eingelegt. Dass die Linie des unteren Augenlides ein wenig in die Höhe geschoben ist — vergleiche was wir hierüber bei der nordischen Kunst aus derselben Periode gesagt haben — hebt den mutigen Aus- druck des Blickes hervor.

Niccolos berühmter Sohn, Giovanni Pisano (ca. 1250 bis nach 1320) wird schon als halberwachsener Knabe als Gehülfe seines Vaters genannt ; er arbeitet dann einige Zeit mit dem Vater zusammen, bis er nach dessen Tode als selbständiger und leitender Meister dasteht. So kommt es, dass die Richtung des Vaters sich in gradweisen Uebergängen in die des Sohnes hineinschiebt, der einen ganz entgegen- gesetzten Weg einschlägt. Ks handelt sich nun darum, diese Richlungsveränderung zu erklären, da sie sehr charakteristisch Tür die Kunst Italiens, ja für die des ganzen Zeitalters ist ; dahingegen hat es für uns keiu Interesse, auszuscheiden, was dem Vater und was dem Sohne gehört.

Dass diese Bildhauerschule noch eine Zeitlang fortfuhr ein aufmerksames Interesse für antike Skulptur zu haben, ersieht man namentlich aus einer nackten Kig .im. weiblichen Marmorfigur, die zu der inneren Säulenpartie der reich ausge- statteten Kanzel gehört, die (iiovanni zwischen den Jahren 1301 und 1311 für den Dom in Pisa ausführte. (Die einzelnen Partien dieser Kanzel sind jetzt auseinander-



- 251 -


genommen in dem Musco civieo in Pisa aufgestellt. ) Es mag änderbar klingen, aber diese Figur die zu der inneren Ausschmückung einer christlichen Kirche gehört, ist eine Wiederholung des bekannten Venusmotivs, das am bekanntesten an der medicäischen oder der kapitolinischen Venus ist, wo die nackte Göttin so weit wie möglich ihre Nacktheit zu verdecken sucht, indem sie die Hände vor Busen und Sehoss hüll. Wir haben in einem früheren Abschnitt ein ahnliches Bewegungsmol iv in einer männlichen Figur aus dein späteren Mittelalter besprochen, nämlich den van Eyekschen Adam auf dem Genler Altar in Brüssel; aber während es sich auf dem van Eyckschen Gemälde nur um eine gewisse Uebereinstimmung mit dem antiken Motiv handelte, die natürlich nicht von einer Nachahmung herstammt, ist Giovanni Pisanos Frauengeslalt ohne allen Zweifel eine wirkliche Nachahmung irgend eines erhaltenen Exemplars der antiken Venus, das der Künstler vor Augen gehabt hat. An der Kanzel zu Pisa, wo die Figur übrigens einen solchen Platz erhallen hat, dass sie sich dem Blicke halb entzieht, ist das Motiv in einer allegorischen Dar- stellung der Temperantia, d. h. Mässigung, Beherrschung der Leidenschaft, benützt ; die ursprüngliche Absicht dieses Motivs in der antiken Kunst ist ja auch, auszudrücken, dass sich die Frau gegen die Begierde schirmt, also sie dämpft und beherrscht. Die Figur ist in grösserem Massstab als Niccolos eben besprochener Samson ausgeführt  ; aber sie ist matter in der Durchführung und hat weniger humanistischen Geist in Haltung und Ausdruck. In Pisa (im selben Museum) sieht man auch eine andre Statue dieser Schule, zweifelsohne von Giovanni selber, die insofern eher mit Nic- colos Samson verglichen werden kann, als sie ebenfalls das Bild eines athletischen und nackten Kraflmanncs sein soll, nämlich des Herkules. Aber von dieser fi«. u». Arbeit ist aller humanistische Geist entwichen und damit auch alles eigentliche Interesse für den nackten Körper. Welch jämmerlicher Rücken für einen antiken Helden mit einer Haltung wie ein Armenhäusler und mit scharfen, trocknen, harten, magern Körperformen !

Ein sehr vorherrschender Zug in Giovannis Figurenstil ist die flache, eingezogene Brust in Verbindung mit dem langen, dünnen vorstehenden Hals, es ist der gerade Gegensatz zu der für die Antike im Ganzen charakteristischen breiten, vor- geschobenen Brust und dem stolzen, sclbstfüllenden Atemzug, wodurch sich auch Niccolo Pisanos Figuren auf der Kanzel des Baptisteriums auszeichnen. Es ist einer der Züge, die zeigen, dass Giovanni Pisano den menschlichen Ausdruck auf den christlichen Antihumanismus zurückführt, der ja die Grundstimmung des Mittelalters ist. Aber mit dem vorgestreckten Kopf und dem dünnen Halse vereint sich trotzdem sehr wohl ein lebhaft dramatischer Ausdruck für den geistigen Verkehr unter den Figuren, ein scharfer und deutlicher Wortwechsel. Und hierin übertraf Giovanni Pisano wohl alle Bildhauer, die in der Welt vor ihm gelebt halten. Die hervorragendsten Beispiele hierfür bietet wohl die Kanzel, die er zwischen 1298 und 1301 für S. Andrea in Pistoja ausführte, wo die Propheten lebhafte, stark bewegte Unterhaltungen führen, und die Sibyllen den heimlichen Stimmen der Inspiration mit stiller Andacht, mit frommer und froher Hingebung, mit Ueberraschung oder mit Angst lauschen.



— 252 —


Im ganzen halte ja das Mittelalter, das mehr durch das Wort, als durch Be- schauen der Natur erzogen war, ein überwiegendes Interesse für diesen geistigen Verkehr und Disput. Dahingegen versäumte es, wie wir nachgewiesen haben, das Studium der einzelnen Figur, namentlich von der körperlichen Seite, was doch schliesslich auch die Grundlage für den Ausdruck des Seelischen ist: ausser dem Körperliehen gibt es in der bildenden Kunst keinen Ausdruck ; je reicher und feiner die körperliche Form entwickelt ist, um so feiner und voller kann auch der Aus- druck für das Seelische klingen. Diesen Mangel hatte Niccolo Pisano — freilich nicht ausgefüllt : dazu wäre die fortgesetzte Arbeit mehrerer Generationen erforderlich gewesen —  ; aber er hatte doch angefangen, ihn auszufüllen, und wäre seine Richtung fortgesetzt worden, so würde die Kunst ihre höchste Blütezeil ungefähr zwei Jahr- hunderte früher erreicht haben, als dies in Wirklichkeil geschah. Aber dazu war die Zeit noch nicht reif, und es ist auffallend zu sclien, wie rücksichtslos der Sohn fallen licss, was durch die Arbeit des Vaters nach dieser Richtung hin erreicht war. Giovannis Plastik ist gerade im höchsten Masse unkörperlich. Man merkt keinen richtigen Körper in den Kleidern der Figur, und wo der Körper mehr hervor- tritt, ist seine Behandlung unklar und dileltantenhaft, hässlich und mager. Und daher kommt, trotz all des reichen seelischen Inhalts, über den der Künstler verfügt, doch Fi b. lic auch etwas Harles, Grimmassenhaftes in den Ausdruck, etwas Schreiendes und Un- ruhiges in die plastische Beredsamkeit

Die Richtung, in die Giovanni Pisano die Darstellung des Menschen einführte, wurde im ganzen bis zum Anfang der Renaissance im fünfzehnten Jahrhundert fori- geselzt. Das spätere Mittelalter brachte in Italien wie auch anderwärts eine Menge schöner und interessanter Skulpturwerke; aber ich kenne nichts, was von unserem Gesichtspunkt aus die Forderung erhebt, als eigenartigere Abweichung von der hier bezeichneten Hauptrichtung oder als Anfang einer neuen hervorgehoben zu werden. Das Beste hat man wohl in den Reliefs an der Fassade des Domes zu Orviclo, Kis I17.H8 im Jahre 1310 von dem Sienescn Lorenzo Maitani begonnen. Hier ist weit mehr Studium und Tüchtigkeit in der Behandlung des Nackten, als man bei Giovanni findet. Wohl sind Adam und Eva in den verschiedenen Momenten der Schöpfungsgeschichte ziemlich schwache Figuren wenn auch mit einem gewissen Zartgefühl und Liebe in der Behandlung durchgeführt -  : aber bei den Toten, die aus den Gräbern auf- erstehen, und bei den Verdammten, die zur Hölle geführt werden, ist die nackte Oberfläche mit bedeutendem Naturstudium und einem sichern und feinen Accent in der Form durchgeführt. In bezug auf das Naturstudium der Details macht sich hier sogar ein höherer Standpunkt gellend als bei Niccolo Pisano ; dagegen linden wir auf keinem dieser Reliefs von der Orvielo-Fassade etwas von seinem humanistischen Geisl, von seiner Grösse und seinem Stolz in der Auffassung der menschlichen Ge- stalt als Ganzes. Der zeigte sich erst wieder bei den älteren Renaissance-Meistern.



DIE MALER CIMABUE UND GIOTTO.

In die schciiialischcn Formen der italienischen Malerei beginnt um dieselbe Zeit Leben zu kommen wie in die Skulptur, oder doch bald nachher. Von einem eigentlichen Studium der menschlichen Gestalt, an der Wirklichkeit oder an der Antike, ist vorläufig nur wenig die Rede, viel weniger als in der Bildhauerkunst. Inden llaupt- linien behält der Stil sowohl in den einzelnen Figuren wie in der ganzen Komposition das Gepräge des von der Antike übernommeneu Erbes, wenn auch dieselbe Malerei mit der gotischen Architektur in Verbindung tritt. Dies gilt namentlich von Giotlo. Er ist Meister in der mittelalterlichen Kunst, die Malerei erzählen zu lassen, Bibel, Legende und Allegorie zu illustrieren: er bringt ein bewegtes dramatisches und seelisches Leben in die typischen Formen, ja an ihre Stelle lässt er häufig individuelle Physio- gnomien, Porträts, wenn man will, treten. Aber obwohl man deutlich sieht, dass der Maler bestimmte Individuen vor Augen gehabt hat, bleibt es doch nur Ihm Andeutungen  : die Form des Kopfes, und noch mehr des übrigen Körpers, ist, wo es sich um eine genauere Durchrührung handelt, abstrakt und leer, ohne eigentliches Naturstudium  ; und oft begnügt er sich auch mit den allgemeinen typischen Wiederholungen des er- erbten Schemas. Aehnlich machten es seine Nachfolger, z. B. Andrea Orcagna.

Um den Uebergang von der älteren Malerei, die ganz von Byzanz beeinflusst war — von dort im Laufe des elften Jahrhunderts eingeführt zu der national italienischen zu sehen, die von Cimabue (1210 bis Anfang des vierzehnten Jahr- hunderts) und Giotto (ca. 1266— 133(3) eingeführt wurde, kann man eine Reihe von Bildern der Madonna mit dem Kinde aufzeigen. Dass die Reihe historisch genau zusammengehört, ist in die Augen fallend, schon allein, wenn man die Silhouette des Kopfes der Madonna auf dem Goldgrunde sieht: sie trägt auf allen Bildern den Schleier über dem Kopf und hält ihn ein wenig nach der linken Seite ; links auf dem Arm oder dem Schosse hat sie nämlich das Christuskind. Die Neigung des Kopfes ist wohl ursprünglich als Ausdruck ihrer Zärtlichkeit für das Kind gedacht, doch sieht sie das jetzt nicht an, sondern wendet den Blick dem Beschauer zu, gleichsam Ehr- furcht oder Anbetung von ihm heischend.

Wenn man nun ein Exemplar dieses Typus betrachtet, das der byzantinischen Kunst am nächsten steht, so erhält man einen starken Eindruck von einer drohenden Gefahr, in der die Kunst schwebt. Die Technik ist auf ihre Art bewunderungswürdig entwickelt, sicher und bewussl von dem Grössten bis zum Kleinsten. Alles aber ist vollständig mechanisch, unpersönlich! Das Gesicht scheint mehr nach einer toten Metallarbeit als nach einem lebenden Antlitz aus Fleisch und Blut ausgeführt zu sein : die Form der Nase mit den scharf markierten Rändern und dem scharfen Einschnitt zwischen Nase und Stirn erinnert in der Tat an getriebene Metallplatten. Ausserdem sind der Umriss und die Lineamcnte des Gesichts, ja sogar die feinen Parallelstriche, mit denen Licht und Schatten schraffiert sind wie nach krummlinigen Schablonen gezeichnet, ohne Gefühl für den Reichtum und die Eigentümlichkeit der organischen



- 254 -

Form. Scheitel, Wange, Kinn, Augenbraue, Augenlid bilden lauter plalte und tote Kurven : die Silhouette des Ganzen ermangelt zwar nicht einer gewissen Fülle und Grösse, aber der Ausdruck ist schläfrig und matt, unendlich phlegmatisch. Die Hände sind ebenso konventionell gezeichnet wie der Kopf: die Finger sind lang, dünne wie Stöcke, mit langen, spitzen Nägeln. Die Knöchel der Finger sind wie die Knorren an einem Zweige angegeben, und doch ist der Finger als Ganzes wie eine Klaue ge- krümmt, ohne die geringste Rücksicht auf die Gclenkeinteilung.

Eine Kunst, die so völlig Verzicht geleistet hat auf ein direktes und beständig erneuertes Verhältnis zu der Natur, kann, wenn es sein muss, sehr wohl von einer Generation zur andern fortgesetzt werden in einem Geisterdasein. Sie wird mehr und mehr mechanisch und kalligraphisch werden. Wohin das führt, können wir z. B. • an der japanischen Kunst sehen, wo Gesichter — namentlich Frauengesichter, die schön und ideal sein sollen — mit ein paar ein für allemal gegebenen Schwingungen und Zügen hingemalt werden, ganz wie man einen Buchstaben schreibt. Die byzan- tinische Kunst, von der hier die Rede ist, geht freilich weniger flott zu Werke, sie ist fleissig und sorgfältig bis zum Aeusserslen und hat eine viel ernstere Haltung ; und doch befindet sie sich in I Lebensgefahr.

Aber indem sich die Italiener ihrer bemächtigen, führen sie sie nach und nach in eine ganz andere und entgegengesetzte Richtung über. Sie gehen nicht revo- lutionär gegen die Tradition zu Werke, sprengen sie nicht. Aber sie fangen an, in die Grundzüge der überlieferten, leblosen Werke ihre persönlichen Ansichten von der holden Schönheil, die für die Mutler Gottes bezeichnend sein sollte, hineinzu- fügen. So (1221?) Guido von Siena. Das isl noch fast die zirkelrunde Kontur des Scheitels, das langgestreckte Oval des Gesichts mit den grossen, geschwungenen Linien der Augenbrauen, die lotrecht gemessene lange Nase mit scharfen Rändern u. s. w. Aber wie frisch, wie lebhaft, wie liebenswürdig schaut nicht diese Madonna aus den Augen!

Bei dem ganzen Ernst des Typus liegt schon eine Morgendämmerung der Freude auf diesem Gesicht, das ein völliger Gegensatz zu dem schläfrigen, mürrischen byzan- tinischen Wesen ist. Hier isl die ursprüngliche Absicht des Motives, des geneigten Kopfes, wieder zu ihrem Recht gekommen.

Fi«. Iis. In Gimabues berühmten Madonnenbildern, (Akademie in Florenz, Capella Ruc- cellai in Sta. Maria Novella, Fresko in der Wunderkirche in Assisi, Louvre, National- Galerie in London) ist der Kopf der Madonna selbst, der deutlich alle Hauptzüge des byzantinischen Typus und seinen ganzen Gharakler bewahrt, eigentlich weniger

Pjg. um. frisch als in denen Guidos da Siena. Duccio di Buoninscgna (1285— ca. gibt auf seinem berühmten Dombilde einen innigeren, mütterlicheren Ausdruck als Gimabue. Dagegen hat dieser in anderer Hinsicht emanzipiertere Züge, z. B. in der Art und Weise, wie die Madonna den einen Fuss auf die Thronerhöhung an der Seite setzt.

In Cimabues Kinderfiguren und Engeln ist auch mehr Natur. Der alle byzan- tinische Typus der Kindergestalt zeigt gar keinen Blick für die Eigentümlichkeit



— 255 -

des Kindes. Aber selbst bei Cimabue sind die Proportionen, namentlich die der Glieder, zu lang gestreckt, und die Haltung der Gestalt hat keinen kindlichen Charakter (trotz des recht kindlichen Zuges, dass das Kind die Sandalen von dem einen Fuss verliert). Der Kopf ist zu klein, sein Ausdruck gänzlich erwachsen, ob- wohl der Künstler in den Gesichtszügen und ihrem Verhältnis zur Stirn den Kinder- charakter vor Augen gehabt hat. (Den Nascneinschnilt sieht man ebenso wie bei der Madonna.)

Wenn die Florentiner trotzdem so entzückt über Cimabues grosses Gemälde in Sta. Maria Novella waren, dass sie es im Triumph durch die Strassen führten, — und diese Anerkennung des Verdienstes, diese Fähigkeit sich zu begeistern lohnte sich später für die florentinische Kunst — so hatte dies weniger seinen Grund darin, dass er sich deutlich von der älteren Kunst unterschied, sondern sie waren stolz und froh, dass ihre Stadt ein so grosses und stattliches Gemälde hervorzubringen vermocht hatte.

Dann kommt endlich G i o 1 1 o s thronende Madonna, in der Aka- Pur. m. demie neben Cimabues frühesten aufgehängt. Hier ist der Stil der Figuren mehr was man bürgerlich realistisch nennen könnte, und der Findruck dem Beschauer bekannter und vertrauter, mehr nach der Natur studiert: das sieht man schon an der Art und Weise, wie der Schleier der Madonna von ihrem Scheitel herabfällt. Sie trägt den Kopf nicht mehr gesenkt sondern gerade aufrecht, doch sieht auch sie den Besehauer an. Ihr Gesichtstypus mit der langen Nase, den ganz schmal geschnittenen Augen und längerem und spitzerem Kinn als bei Cimabue, ist wohl eigentlich sehr kon- ventionell, nimmt sich aber doch im Vergleich ganz real aus. Die Hand ist nur wenig mehr entwickelt als bei Cimabue. Der Kindercharakter im Christus ist auch hier nicht ganz entwickelt, er ist ein kleiner, fetter Bürgersmann. Das Kind lächelt ebenso wenig wie die früheren. Hier ist ein wenig mehr Modellierung mit weiss und schwarz als bei Cimabue, aber ich will nicht behaupten, dass diese vielen weissen Lichtparlien eine angenehme Wirkung ausüben. Während der Faltenwurf bei Cimabue — jedoch nur bei der Madonna und dem Kinde — noch ganz konventionell-byzantinisch ist mit vergoldeten Strichen und Flecken, geht Giotto auf das Natürliche aus, zugleich aber auf das Rhythmische. Obwohl Giottos Körpertypus keineswegs asketisch dünne und mager ist, nimmt er sich doch im Gegensatz zu Cimabues runder und voller Kontur ein wenig trocken und dürftig aus. Sein Gesichtstypus ist im Grunde nicht sehr edel mit den dicht nebeneinander sitzenden Augenwinkeln, den starken, eckigen Kiefern, der grossen Maske, dem kleinen Kranium, der zuweilen ein wenig chinesischen Stellung der Augen und der etwas mopsartigen Nase; aber seine Physiognomien können etwas eigenartig Aufrichtiges und Ehrliches haben.

Wenn man Giottos berühmte Franziskaner-Fresken in der Wunderkirche zu Assisi mit unparteiischem Blick betrachtet, wird man zugeben, dass das Bild des Triumphs des heiligen Franziskus eigentlich nicht höher zu stellen ist, als der- gleichen moderne katholische Andachts- und Heiligenbilder, wie man sie für einen billigen Preis in Paris oder in Born in der Nähe der besuchtesten Kirchen kaufen kann. Es gehört eigentlich zu derselben Art wie viele davon.



- 256 -


In der Regel sind diese grossen Bilder nur was man Programm-Gemälde nennt.

Das, was bei der Bestellung aufgegeben wurde, hat einen gewissen selbständigen literarischen Wert als theologisch-allegorische Poesie gehabt. Man kennt das Be- stellungsprogramm nicht direkt, aber man kann es aus den Gemälden herauslesen durch eine Besehreibung derselben. Die Beschreibung ist an und für sich interessant, ganz ohne Bücksicht auf die eigentlich künstlerische Qualität der Gemälde. Wie es sich mit diesen Bildern von Giolto verhüll, so verhält es sich auch mit vielen andern Kunst- werken aus der Periode, die sie einleiteten, (/. B. dem grossen starken Freskeneyklus in der Capella dcgli Spagnuoli in Sta. Maria Novella in Florenz): das Programm wiegt viel mehr als die Kunstwerke selber. Man interessiert sich für das Programm, und die gemalten Figuren und Dinge sind nur gleichsam Illustrationen dazu. Aber Kunst im eigentlichen und wahren Sinne erhält man nur, wenn man die Kunst für sich seiher reden lässt. Hier aber muss sie in Worte ü hersetzt werden, damit man sie recht verstehen kann.

Dass das Progamm in grosser Ausführlichkeit aufgegehen wurde, ist nach jeder Hichtuug hin wahrscheinlich, und das zeigt sich ganz deutlich namentlich in einem einzelnen Punkt, wo nämlich der Künstler damit in Zwiespalt geraten ist. Dies ist fhc. m. der Fall mit der Allegorie von der Armut. Die Lehre der Franziskaner ging ja darauf hinaus, die Armut als Weg zu Gott, als Naehfolge Christi zu preisen. Die Armut war Christi eigene Braut, seine treue Geliebte, gewesen, die ihm sogar an das Kreuz gefolgt war, wo er nackend und elend hing, während Maria selber, seine Mutter, nur unter dem Kreuze stehen gehliehen war. Nach Christi Tode aber war die Armut mehr als hundert Jahre Witwe gewesen, niemand hatte um sie geworben, his Franziskus kam und sich der Armut weihte. Diese LlnwcUlichkcil mitten in der Welt, die durch Christi wie durch Franziskus Verhältnis zu der Armut bezeichnet wurde, war ein Paradoxon, eine himmlische Ungereimtheil: man vergass ja nicht, dass die Armut hier auf Erden gehasst und verachtet ist, und dass die Mensehen ihr eben- so ungern die Türe öffnen, als dem Tode sclher. Selbst die Franziskaner konnten nicht vergessen, dass die Armut ein zweiseitiger Begriff ist, dass wenn sie sie priesen, sie sie doch nur priesen, weil sie von der Welt ablenkte und in den Augen der Welt hässlich war.

Aber wir haben Beweise, dass Giolto sie nur von der hässlichen Seile sehen wollte: er besass einen guten, hausbackenen Bauernverstand, er wusslc aus eigener Erfahrung, was es heisst, in Not und Armut aufzuwachsen, und für ihn waren die besseren wellliehen Verhältnisse dasselbe gewesen wie ein Forlschritt in der Kultur. Wir haben ein Canzone von seiner Hand, worin er diese Frage behandelt und sich als entschiedener Gegner der Franziskaner-Lehre von der Armut zeigt. Keine Hegel darf uns zur Armut zwingen, selbst wenn diese überhaupt ohne Last möglich ist. Aber ist sie das? Die unfreiwillige Armut führt nur allzu oft zu dem Bösen  : sie verleitet die Bichter zur Bestechlichkeit, Frauen und Mädchen zur Schande und die Menschen im allgemeinen zur Lüge, zum Diebstahl, zur Gewalt. Freiwillige Armut wird ebenso oft heuchlerisch umgangen wie innegehalten. Als erzwungene Ptlicht


- 257 —


kann man nichts für gut gelten lassen, was weder ein feineres Gefühl noch Wissen- schaft noch irgend ein Talent fördert.

Diese Worte scheinen offen und klar die Auffassung der Franziskaner von der Armut vor Augen zu haben und gegen sie gerichtet zu sein. Aber hier, in Assisi, sollte Giotto doch Dolmetscher der Anschauung der Franziskaner sein, ohne Rück- sicht auf seine eigenen Ansichten. Man wird hiergegen einwenden können, dass er möglicherweise als junger Mann die Sache mehr mit denselben Augen gesehen haben mag wie die frommen Brüder von Assisi, und dass der Oppositionsgeist später, als er sein Bild bereits gemalt hatte, bei ihm erwacht ist. Aber es will mir scheinen, wenn ich seine allegorische Figur von der Armut betrachte, dass ich darin Funken seiner eigenen Auffassung sehe, die von denen der Franziskaner so stark abweicht. Ks ist eine höchst sonderbare Figur, diese hohe, magere Gestalt, eine der eigenar- tigsten, die Giotto gemalt hat; hier zeigt ersieh so recht als malerischer Denker, als malerisch-poetisches Genie. Die Aufgabe hat ihn offenbar lebhaft interessiert und seine Geistesfühigkeiten in starke Bewegung versetzt.

Fr war ja gezwungen, die Armut in erster Linie von der hässlicheu Seite zu sehen, sonst bekam das Bild keinen wirklichen Stachel, keine wahre Meinung. Die Armut ist der Verachtung der Menschen preisgegeben, die Knaben schlagen und werfen danach, die Hunde bellen sie an.


REALISTISCHE MOTIVE BEI GIOTTO UND IHRE ENTWICKLUNG IN DER SPÄTKREN KUNST. (Exkurs.)

Das eine und das andere bisher weniger Beachtete auf Giottos Fresken in der Madonna de IT Are na in Padua verdiente wohl, als Beitrag zu seiner Charakteristik hervorgehoben zu werden, wenn auch dem Ruf, dessen er sich bei den meisten als kirchlicher Maler erfreut, dadurch ein wenig Abbruch getan wird. Ich denke hier namentlich an die Halbfiguren von Evangelisten und Kirchenvätern, die er zu der gemalten Einfassung der historischen Gemälde ausgeführt hat. Sie sind sehr gut gemalt, zweifelsohne von Giottos eigener Hand, aber die Auffassung des Themas scheint nur wenig mit seiner Bedeutung in Einklang zu stehen. Von einem kirchlichen Standpunkt aus dürfen die Männer, durch deren Feder das Evangelium und die Lehre auf die Menschheit überging, ja keineswegs als Alltagsmenschen be- trachtet werden, im Gegenteil als inspirierte Persönlichkeiten, als Auserwählte und Vertraute des heiligen Geistes. Es gibt andere mittelalterliche Bilder, auf denen die Inspiration durch Lichtstrahlen ausgedrückt ist, die von der Glorie der Gottheit auf die inspirierten Männer übergehen. Aber Giotto ist überhaupt nicht davon ausge- gangen, irgend eine göttliche Eingebung darzustellen  : er hat Evangelisten und Kirchen- lehrer nach den nächsten Vorbildern von dem Wirken geistlicher Männer mit Feder und Buch dargestellt, wie sie ihm das wirkliche Leben bot, nämlich die Mönche, die

17



- 258 -


in ihren Klöstern die Bücher heiliger und profaner Autoren abschrieben, — eine ganz untergeordnete und prosaische Wirksamkeit, die keine Inspiration oder hohe Geistesgaben sondern nur Liebung, Fleiss und Geduld erfordert. Das Abschreiben soll und muss sogar mechanisch vor sich gehen : wird der Gedanke oder das Gefühl des Schreibenden von dem Inhalt angeregt, so macht er seine Sache sehlecht. Der- gleichen nützliche Sklaven der Arbeit konnte man im Mittelalter leicht sehen, und begnügte man sich damit, so brauchte man nicht im wirklichen Leben oder in der Phantasie nach etwas Seltenem und Ausgezeichnetem zu suchen.

Giotto hat z. B. einen der Kirchenväter — Hieronymus — als Greis mit weissem Haar und Barl an seinem Schreiblisch sitzend, ein kleines Lesepull zur Seite, dar- gestellt. Auf dem Lesepult liegt ein aufgeschlagenes Buch, und auf dem Schreibtisch hat der fleissige Mann sein Papier oder Pergament liegen ; mit der linken Hand, die auf dem Pulte ruhl, hält er das Badiermesser. Den Kopf wendet er zur Seile und sieht in das aufgeschlagene Buch: es ist ein ruhiges Hineinblicken, kein vertieftes Lesen. Der Kopf des Mannes ist schön und ehrbar, aber seine Beschäftigung ist ganz prosaisch. Uebcrhaupt geht die Kunst hier trotz des ehrwürdigen historischen Namens des Kirchenvaters, darauf aus, ein Genrebild zu geben  : realistische Tendenzen haben die Oberhand, wie weit entfernt auch die Entwicklung der Malerei noch ist, ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Man erhält einen Hinblick in die Klosler- zelle mit ihrem grossen, gemütlichen Lehnstuhl und ihren Pulten, in deren Hol/werk die Maserung ganz deutlich wiedergegeben ist.

Da sind andere Motive von ebensowenig inspirierter Art, z. B. dass der Schrei- bende seine Kopie mit dem Buche vergleicht, aus dem er abgeschrieben hat. Und an einer Stelle hat Giollo sich dann damit belustigt, den fleissigen Schreiber — es isl diesmal einer der vier Evangelisten — durch eine ärgerliche Störung in seiner Arbeil unierbrechen zu lassen : es isl ein Haar oder dergleichen in seine Feder gekommen ; er hebt sie in die Höhe, betrachtet ihre Spitze und bläst darauf. Dergleichen Unter- brechungen sind die Würze des einförmigen Lebens. Was dergleichen verhältnis- mässig amüsant und dankbar für einen Küustler macht, ist die ganz genaue Betrach- tung der Wirklichkeit, die sich der Auffassung des Beschauers deutlich aufdrängt und den Eindruck des Leibhaftigen, Glaubwürdigen macht. Die kleine Aufgabe, die Feder- spilze von dem Haar zu befreien, versetzt die Person in Eifer, nimmt ihre ganze Aufmerksamkeit gefangen; und ein Mensch, der ganz und ohne Vorbehalt von etwas in Anspruch genommen wird, — wenn es auch noch so klein ist, ist immer ein an- ziehender Gegenstand für die Beobachtung. Aber es lässt sich doch nicht leugnen, dass unter allen Motiven, die das Menschenleben darbietet, dies zu den allergeringsten und flachsten gehört. Es ist keine geistige Perspektive darin: es ist of no conse- quence.

Das sollte einmal ein moderner Maler wagen, dergleichen Motive auf den Bildern von Evangelisten einzuführen ! Was würde er nicht von den Rezensenten über Geist- losigkeit und llnbedeutendheit in der Auffassung zu hören bekommen ! Die Gegenwart würde jedenfalls von solchen Bildern etwas Vergeistigtes verlangen, etwas, das sich



— 259 —


über das Alltagsleben erhebt und sie würde leichter etwas Affekt iertes als etwas rein Prosaisches verzeihen.

Ob nun Giotto selber diese realistischen Motive erfunden hat, lässt sich schwer entscheiden. Es spricht etwas dafür, dass sie ursprünglich von der Miniaturmalerei herstammen, indem die klösterlichen Miniaturmaler und Abschreiber ja die Nächsten dazu waren, die Skribenlcnwirksamkeit, selbst die grosse und heilige, unter dem Bilde einer klösterlichen Beschäftigung aufzufassen: auch in der Kunst gilt es, dass ein jeder sich selbst der Nächste ist. Und selbst wenn ein solches Motiv wie das Haar in der Feder sich nun nicht in der italienischen und byzantinischen Kunst auflinden liesse, die älter ist als Giotto, — worüber ich nichts bestimmtes sagen kann — , so ist ja so vieles von jener alten Malerei zu Grunde gegangen, dass man vorsichtig sein muss, Behauptungen über das aufzustellen, was sie enthalten haben kann Indessen trifft man in der byzantinischen Miniaturmalerei faktisch mehrere weit feierlichere Motive auf den Bildern der Evangelisten. Vorläulig müssen deswegen die Motive, die Giotto benutzt hat, in vollem Umfange für seine eigenen gelten; jedenfalls hat er sie zu seinem Eigentum gemacht, was sie sicher auch sehr der Aufmerksamkeit gleichzeitiger und nachfolgender Künstler empfohlen hut.

Es wurde in der folgenden Zeit — sowohl in der Gotik als in der Be- naissance — ganz allgemein Sitte in der italienischen Kunst, die heiligen Skribenten die vier Evangelisten, die vier grossen lateinischen Kirchenväter, die vier grossen Propheten — in Zirkclrahtnen als halbe oder ganze Figuren auf die Wölbungen über den kirchlichen Bäumen zu malen, da ja die traditionelle Zahl vier der Vierteilung eines Kreuzgewölbes oder den vier Abteilungen unter einer Kuppelwölbung entsprach, sodass ein Skribentenheiliger in jede der Gewölbekappen oder Zipfel kam.1 Und man fuhr lange Zeit mit überwiegend realistischen Abschreibermotiven fort  : ausser den beschriebenen kann erwähnt werden, dass man auch ganz allgemein den heiligen •Skribenten sieht, der seine Schreiberei unterbricht, um seine Feder zu schneiden — das führt den Gedanken auch gerade nicht sehr in die Höhe oder in die Tiefe. Es ist ganz auffallend — und es legt namentlich ein Zeugnis von dem Einfluss des Heispiels ab, das Giotto in den Arena-Gemälden gegeben hat — wie häufig derglei- chen Bilder namentlich in Padua vorkommen. Dort sind, ausser Giottos eigenen, heilige Skribenten von Altichiero und Avanzi, sowohl in ihren hervorragenden Fres- ken in der Capeila San Feiice in der grossen St. Antonio-Kirche (1370) wie in der Wölbung über der Capeila di St. Giorgio bei der St. Antoniokirche (1377; an dem letztgenannten Ort sind sie sehr zerstört) ; von Giusto Padorano auf den Fresken im Baptisterium der Domkirche (1380; und in der Capella del b. Belludo in St. Antonino (1382); ferner von Guuriento auf den Fresken in der Chorkapelle in der Eremitani- Kirche (Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts) und endlich von Nicolo Pizzolo in seinen


' Zuweilen worden die Evangelisten und Kirchenlehrer auch paarweise geordnet, ein Evan- gelist znsatnnien mit einem Kirchenlehrer. Es sind immer dieselben Paare : Matthäus und Hiero- nymus, Markus und Gregor. Lukas und Ambrosius, Johannes und Augustinus.



- 260 —


Vorzüglichen Gewölbcgetnälden in der Capeila di Sl Jakopo und Cristoforo in derselben Kirche (nach 1450). Weder Alliehieri und Avanzi noch Giusto Padovani oder Fizzolo habendem Zauber von Giottos altem Motiv des Haars in der Feder widerstehen können : sie haben Giottos Figur nicht kopiert, aber ein jeder von ihnen hat das Motiv von neuem dargestellt. Dasselbe Motiv finden wir auch weiter südlich in Italien, in Pisloja (Sl. Francesco al I'ralo), in Florenz (Capeila degli Spagnuoli an Sta. Maria Novellal, in Siena (Spinello Arelinos Fresken im l'alazzo Publico) etc.

Also im Laufe von wenigstens anderthalb Jahrhunderten wurden dieselben Molive wiederholt. Im Uebrigen kann man natürlich nicht umhin zu bemerken, dass auch bei Gemälden dieser Art die Malerei nicht auf" demselben Fleck stehen bleibt  : in Iwfzug auf realistische Darstellung der Figuren und des Raumes und aller Gegen- stände im Raum machen sich entschieden Fortschritte bemerkbar, z. Ii. bei Altichiero und namentlich bei Nicolo fizzolo. Ks erscheint mir möglich, dass der letztgenannte Maler der begabteste von den Schülern des eigenartigen Lehrers und Schulbegründers Francesco Squarcionc gewesen ist, selbst im Vergleich mit seinem berühmten Sehnl- genossen Andrea Mantegna  ; leider aber starb Fizzolo so jung, dass er nur wenige Zeug- nisse von dem hinterliess, was an ihm war. Seine Gcwölbemalereien in Fremitani sind entwickelte Renaissancekunst mit stark realistischer Tendenz, die sogar den Gedanken auf ein ungefähr anderthalb Jahrhunderte späteres Meisterwerk deutscher Kunst lenken können, auf Albrechl Dürers Kupferstich von dem heiligen Hieronymus in seiner Zelle. Ebenso wie Dürer gibt Fizzolo die niedlichsten Interieurs aus dem Studier- zimmer, legt mit grosser künstlerischer Liebe und Ausführlichkeit Rechenschaft ab von seinen zahlreichen Gegenständen, Fullen, Regalen, Rüchern u. s w., zeigt sich überhaupt ein wenig als Nature-morte-Maler und hal sich zugleich die Kunst der neuen Zeit, die Perspektive, angeeignet, sogair in ihrer besonderen Anwendung auf Decken- und Gcwölbemalereien, indem er bis zu einem gewissen Grade alles so malt, als sähe man es von unten. Aber es ist doch nicht allein das rein Aeusser- liche und Körperliche in der Kunst, was hier entwickelt ist, es ist auch das Seelische. Freilieh waren Molive wie das Haar in der Feder, das ja auch hier vorkommt, nicht recht zugänglich für psychologische Entwicklung, sondern mussten im Wesentlichen bleiben, was sie nun einmal waren. Aber Fizzolo hat andere und bessere Motive, namentlich in dem Milde des lesenden Papstes Gregor. Es ist vielleicht ein wenig unbequem für den heiligen Papst, dass er sogar in der Einsamkeit des Studierzimmers die hohe Krone aufbehalten muss, aber dabei lässt sich nun einmal nichts machen, da der Reschauer des Gemäldes sonst nicht wissen könnte, wer er ist. Aber wie vorzüglich hat es der Künstler nicht im übrigen verstanden, ein Rild von der ein- samen Vertiefung des Mannes in das Ruch zu geben ! Er hat den aufgeschlagenen Folianten vor sich stehen und sitzt selbst bequem in den Stuhl zurückgelehnt, den Ellenbogen auf das Schreibpult neben sich und die Wange in die Hand gestützt, in- dem er Zeigefinger und Mittelfinger an der Wange in die Höhe streckt und die anderen Finger so biegt, dass er mit ihnen seine Haut verschiebt. Die andere Hand streckt er dann nach dem Ruche aus, um seiner Zeit das Rlatt zu wenden.


— 261 —


Ks ist dies eine Mimik, die der Natur sehr fein abgelauscht ist, aber immer noch in entschieden realistischem (leiste Meissonier hätte etwas Aehnliches machen können. Es ist keine himmlische, übernatürliche Inspiration, die der Künstler ge- schildert hat; es ist nur eine geistige Vertiefung, die in die Welt der Wirklichkeit und der Erfahrung gehört. Aber der Fortschritt der Kunst besteh! gerade hier darin, dass ihr der Blick für die Verliefung erschlossen wird: er ist nicht mehr flach wie in den Bildern der hatidwerksmässigen Abschreiber. Die Aufgabe hat sich im übrigen für die Auffassung des Künstlers ein wenig verschoben  : ein Evangelist sollte jedenfalls eher als schreibender denn als lesender Mann charakterisiert werden  ; und das gilt wohl auch von einem Kirchenvater, obwohl er ja mehr ein Skribent zweiter Hand ist, der Inspiration aus der heiligen Schrift schöpft. Wo Evangelisten und Kirchenväter paarweise zusammen dargestellt werden, ist der Evangelist selbstredend allemal der Lehrende und Mitteilende und der Kirchenvater der Empfangende und Lauschende. In den alten Abschreibermotiven fallen Schreiben und Lesen ungefähr zusammen; auf Pizzolos (iemälde ist mehr Platz für die geistige Aneignung gemacht. Was er vor Augen gehabt hat, ist offenbar nur ein Lebensbild des gelehrten und forschenden Mannes.

Weiter konnte man auf diesem Wege nicht gut gelangen. Wohl fanden diese rein realistischen Motive eine weit umfassendere Verwendung, als wir hier zu schildern vermochten, — offenbare Ahschreibermolive linden wir z. II. zwischen den Reliefs der Doktores auf Lorenzo (Ihibertis ältester Bronzetür im Baptisterium zu Florenz; - daneben aber machte sich doch ein Streben bemerkbar, die Dinge von einer anderen Seite zu sehen. Beachtenswert sind namentlich die Propheten und Sibyllen von Giovanni Pisano an der Kanzel in St. Andrea in Pisloja, (ca. 1M00), wo er namentlich in den Sibyllen die Inspiration so beredt zum Ausdruck gelangen Hess — die fromme, hingebende Aufnahme derselben, die Freude darüber, die Angst und den Schrecken der sterblichen Menschen, an den himmlischen Geheimnissen teilhaftig zu werden, - dass man in diesen Figuren sogar * Vorahnungen vielleicht gar Vorbilder » zu Michel Angelos Sibyllen in der Sixtinischen Kapelle gesehen hat, was sich freilich bei eingehender Ueberlegung und gründlichem Vergleich kaum ganz bestätigt. Gibt es eine Art von Vorbildern für Michel Angelos Propheten und Sibyllen, so muss man sie wohl eher unter Luca Signorellis Fresken im Dom zu Orvieto f'Gapclla di San Brizio) suchen, die nur ungefähr vier .Iah re bevor Michel Angeln seine Gewölbegemälde im Vatikan begann (1508), beendet waren. Ich denke hier namentlich an Signorellis Brustbilder heidnischer und christlicher Helden: einige von ihnen, z. B. Virgil und Horaz, haben wirklich etwas von demselben Gepräge mächtiger geistiger Bewegtheit wie Michel Angelos Figuren, ja gleichen einigen davon sogar auch im Aeussern.

Motive wie das alte  »das Haar in der Feder» oder das <F cd ei- se h neide n> konnten jetzt nicht mehr gut vorkommen ; die modernere Bildung der vorgeschrittenen Zeit niusste sie zu naiv und unbedeutend linden. Jedenfalls linden wir sie nicht bei den grossen und tonangebenden Künstlern aus der Zeit um



— 262 —


das .Jahr 1500 oder gleich darauf. Raffael hat auf der Disputa die Kirchenväter mit der Hostie um den Altartisch thronend gemalt, hat aber sicher nicht daran gedacht, sie ihre Federn nachsehen zu lassen. Er lässt den allen, kahlköpfigen lang- bärtigen Hieronymus, der das Buch vor sich auf den Knien hat und den oberen Rand mit beiden Händen festhält, mit gerunzelter Stirn darin lesen ; eine imponierende Verei- nigung von festem Glauben und kritischem Denken. Papst Gregor und Ambrosius sehen begeistert zu der himmlischen Offenbarung auf, und Augustinus diktiert dem jungen Famulus seine Theologie. Um dieselbe Zeit, als RafTael diese Bilder in den Stanzen des Vatikans malte, schuf Michel Angeln in der Sixtinischen Kapelle u. A. ebenfalls Propheten und Sibyllen. Von einem gelehrten und korrekt kirchlichen Standpunkt aus muss man natürlich einen Unterschied machen zwischen Gestalten wie Propheten und Sibyllen, die von dem zeugen was da kommen soll, und Evange- listen oder Kirchenvätern, die auf das zurückschauen, was geschehen ist, es erzählen oder seine Bedeutung erforschen. Für solche Unterschiede kann die Kunst auch ein Auge haben, aber es gibt doch vieles, was davon zeugt, dass sich die Kunst nicht eingehender auf diese Distinktion einlassen kann, sondern dass dieselbe Tradition für alle Figuren gilt. Dies tritt gerade in Michel Angelos Propheten und Sibyllen auffallend zu Tage; obwohl Michel Angelo im übrigen so schonungslos gegen die Traditionen der kirchlichen Kunst vorgehen konnte, hat er sich hier nicht im geringsten von ihnen entfernt  ; vieles an diesen Figuren lässt sich nur im Hinbiirk auf die Tradition recht verstehen und erklären. Und das hat namentlich Bedeutung, weil ihre Gestalten zweifelsohne als das hervorragendste angesehen werden müssen, was die italienische Kunst überhaupt von den heiligen Skribenten zu sagen hatte. Ja, meiner Ansicht nach — und hierin stehe ich gewiss nicht allein da — sind sie ungefähr das hervorragendste in der ganzen italienischen Kunst. Die Kunst hat keine besseren Momente gehabt als die Entstehungszeit dieser Figuren. Sie beginnt mit dem Grossartigen und geht durch das Mächtige zu dem Gewaltigen über, und zwar sowohl in körperlicher als in geistiger Beziehung.

Zu den in körperlicher Beziehung gewaltigsten und zugleich schönsten Figuren gehört Daniel, der den Oberkörper auf die Seite neigt und schreibt. Ueber seine Schuller gucken Genien und einer steht sogar zwischen seinen Beinen und trägt das grosse, aufgeschlagene Buch auf seinem Nacken  ; aber der Prophet ist trotzdem als Abschreiber charakterisiert  : er schreibt in ein anderes aufgeschlagenes Buch, das auf dem Pult an seiner Seite steht, das hinein was er aus dem ersten liest. Es sind die allen klösterlichen Abschreibe Motive die Michel Angelo hier — wohl ohne sich so recht klar darüber zu sein — in der Erinnerung hatte  : das ersieht man sogar aus der realistischen Wiedergabc der Einzelheiten des Schreibpultes. Dies Motiv lässt sich zur Not verteidigen bei der Schilderung eines Kirchenvaters, ist aber eigentlich ganz unanwendbar für einen Propheten, der ja in aller höchster Bedeutung ein Skribent aus erster Hand sein sollte. Auch ist weder in der Haltung des Propheten noch in seinem Antlitz irgend eine Art von Inspiration zum Ausdruck gelangt, obwohl er in bezug auf die Freiheit der Bewegung und den mächtigen



- 2G3 -


Körperbau eine Gestalt derselben Gattung ist wie die andern - mehr inspirierten — Propheten in dieser Kapelle. In der ihm zunächst befindlichen Sibylle, der lybischen, finden wir ebenfalls ein Motiv, das in bezug auf psychologische Bedeutung nichts mit Inspiration zu schaffen hat. Sie wendet sich auf ihrem Sitz um und nimmt das Buch, das auf einem Bort hinter ihrem Nacken liegt, um ihre Arbeil wieder aufzu- nehmen. Die Genien, die daneben stehen, warten. Das, was Michel Angelo hier am meisten interessiert hat, ist der k ö r p e r 1 i c Ii e Ausdruck der Aktion, diese Wendung, die den mächtigen Eindruck von Bewegung hervorbringt, den Michel Angelo so liebte.

Aber was ist überhaupt beabsichtigt mit diesen Büchern oder Schrift- rollen, mit denen sich die Propheten und Sibyllen beschäftigen V

Wenn man sich mit einem Hinblick auf die Traditionen der älteren, der mittel- alterlichen Kunst, begnügt, so ist hier nichts weiter zu fragen  : Propheten haben ebenso wie Evangelisten und Kitchenväter das geschriebene Wort als ein Attribut, das sie als Skribenten bezeichnet, neben sich  ; bei den Propheten ist es häufiger die Schriftrolle als das Buch, aber der Unterschied tut ja nichts zur Sache und wird auch nicht strenge durchgeführt. Das geschriebene Wort, das sie tragen, sollte also ihre eigene Prophezeiung sein, und dasselbe würde auch in bezug auf die Sibyllen gelten. Dies passt namentlich für die ausdrucksreiche mittelalterliche Kunst : dort sind die Figuren selber verhältnismässig steif und nicht recht sprechend; sie haben dagegen häufig einen Zettel bei sich, auf dem geschrieben steht, was sie sagen, also wenn es ein Prophet ist, ein Zitat aus seiner Prophezeiung. Wenn aber die Figuren so ausserordentlich lebhaft und dramatisch werden wie die Michel Angeles, wenn sie nicht, mehr Schwarz auf Weiss notig haben, um ihre Absicht auszudrücken, wenn der Künstler hinreichend Meister ist, um sie durch rein plastische Mittel auszudrücken, so ist die ulte Erklärung nicht mehr ausreichend. Wohl ist das Vorhandensein der Bücher durch die Tradition gegeben, aber das Verhältnis der Personen zu den Büchern ist etwas ganz Neues, wenn man die Erklärung allein in Michel Angelos eigener Künstlerpersön- lichkeit suchen muss.

Und es zeigt sich da, dass das Buch auf den meisten seiner Propheten und Sibyllenbilder offenbar nicht als eigenes Werk der Person gedacht ist, denn die Person ist weit mehr lesend als produzierend. Siehe z. B. Joel, den prächtigen Mann in mittleren Jahren mit dem ergrauenden, ein wenig kahlen Goethe-Kopf, der die Schriflrolle stramm entfallet, zwischen beiden Händen an sich hinhallend, dasitzt und sie mit so gespannter Aufmerksamkeit liest, als sei es ein Telegramm, das er soeben aus dem Jenseits erhalten hat, mit den sonderbarsten Nachrichten über das, was dort oben beschlossen wurde, — wie sollte man das als seine eigene Prophe- zeiung deuten? Oder siehe die eu maische Sibylle, diese alte, mächtig gebaute Hexe, die den grossen Folianten auf dem Sitze neben sich stehen hat, seinen Bücken nach unten gekehrt, die die Beine zusammenklemmt, um Platz für das Buch zu machen, während sich ein Ausdruck von Angst vor demselben und seinem Inhalt auf



— 264 —


ihren Zügen ausprägt. Vorsichtig öffnet sie es ein wenig und guckt von der Seite hinein — wie deutlich fühlt man nicht, dass dies ein bedeutungsvoller und feier- licher Augenblick ist, einer dieser Einblicke in die Ratschlüsse des Schicksals oder der Vorsehung, die dem Auge wie Lichlblitze erscheinen, die gewöhnliche Sterbliche nicht erlragen können, und die nur mächtigen Wesen wie dieser Prophetin vergönnt sind. Zum Besten für gewöhnliche Menschenkinder will sie ihre Prophezeiungen wohl niederschreiben  ; hier aber forscht sie nach ihren geheimnisvollen Quellen, die nur sie allein kennt. Wie sollen wir sie nennen? Es gibt sicher keinen Namen dafür, der in der christlichen oder jüdischen Religion begründet ist, obwohl die Vorstellung hier ebenso sehr für Propheten als für Sibyllen, für Joel wie für Cumaea gilt. Der Gedanke schweift zurück zu dem allgemeinen Ausdruck in der klassischen Literatur: «das Buch des Schicksals» («Fata»; «sie erat in fatis» bei Ovid und dergleichen mehr). Aehnlich muss man auch das Motiv in der griechi- schen, delphischen Sibylle auffassen. Sie ist freilich jung und schön, aber strenge und keusch, kalt wie das rieselnde Wasser in ihrer eigenen sonnenlosen Grotte. Mit einer grossen Bewegung des einen Armes ist sie im Begriff, die Schrift des Schicksals zu entrollen, indem ihr offner, frei schauender Blick über die Schulter sieht und einen Ueberblick über die ganze Zukunft zu nehmen scheint, sie nach Jahrhunderten oder Jahrtausenden messend. Indem sie das Schicksal entrollt, ist dies nicht ein Manuskript, das sie im Voraus verfasst hat, sondern etwas, das so schwanger von Neuem für sie selber ist wie für uns andere.


i


DIE NEUERE ZEIT.



DER MODERNE HUMANISMUS, SEINE ENTWICKELUNG UND

KULMINATION.


Zur selben Zeit, uls sich der grosse van Eycksche Umschwung in der niederlän- dischen Kunst vollzog, machte sich, ganz unabhängig davon, ein nicht weniger beachtenswerter und für die Zukunft weit eingreifenderer Umschwung in der italienischen, namentlich in der toskanischen Kunst geltend. Der Unterschied zwischen dem Neuen, das aus Italien, und dem, das aus den Niederlanden kam, bezeichnet man am einfachsten und richtigsten so, dass das Interesse in Italien sich ganz überwiegend der menschlichen Gestalt zuwandte, in den Nieder- landen dagegen, wie wir gesehen haben, der ganzen sichtbaren Natur ; Italien pflegte vorläufig nicht die Landschaftsmalerei oder jene anderen mehr zerstreuten Aufgaben der Kunst, dafür aber warf es sich mit weit grösserer Kraft auf die menschliche Gestalt als Aufgabe der Kunst und erzielte in kurzer Zeit weil grössere Erfolge auf diesem Gebiete. Deswegen hatte Italien auch ebenso viel Verwendung für die Skulptur wie für die Malerei und entfaltete sie beide Seite an Seite im innigsten Verein, sehr häufig so, dass derselbe Künstler diese beiden Kunstformen ausübte. In dem Interesse, das die italienische Kunst für die menschliche Gestalt an den Tag legt, liegt vielmehr als ein rein materielles Verlangen, die Wirklichkeit zu beschauen und sie kennen zu lernen  ; es ist ein Verlangen nach ihren Gesetzen zu forschen, ja, noch mehr als das  : es ist ein glühender Enthusiasmus für den Menschen in seinem äusseren Auftreten und ein Bestreben, ihn zu verherrlichen; die Kunst sollte, wie die Italiener wieder und wieder sagen, «die Natur übertreffen». Dies ist die innerste Triebkraft, und etwas dementsprechendes gab es in den Niederlanden eigentlich nicht. Deshalb nennen wir die Kunst, die sich zu dieser Zeit in Italien zu regen begann, den Humanismus; es war der neue künstlerische Humanismus, der sich von dem des Altertums unterschied. Er erobert so allmählich ganz Europa, d. h. die Teile von Europa, die zu der römisch-katholischen Kirche gehörten oder gehört hatten, selbst wenn sie infolge der Bewegungen der Reformation und des Protestan- tismus von ihr abgefallen waren  ; nur das griechisch-katholische Europa stand



— 268 -


ausserhalb der neuen Kirnst. Aber wie weit sie sich auch erstreckte, sie war und blieb im wesentlichen ein italienisches Produkt.

Die Periode, von der wir hier reden, ist die, die im allgemeinen in der Kunst die R e n aissanee genannt wird. Es ist, wie auch andere bemerkt haben, ein Name, der gansuleichl missdeulet werden kann. Man wendet ihn nicht nur von der bildenden Kunst an, sondern auch von der Architektur, um im Gebiete der Kunst zu bleiben. Wenn man nun dieses Wort als die Rehauptung aufTasst, dass das Mittelalter eigentlich keine Kunst besessen halle, und dass die Kunst seit ihrem Erlöschen im Altertum erst zu Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts wieder begann - und das ist wohl eigentlich die ursprüngliche Absicht des Wortes — so liegt in bezug auf die bildende Kunst, namentlich was die Darstellung des Menschen betrifft, eine gewisse Wahrheit darin, wenn auch unbestritten eine Einseiligkeit und Uebertreibung ; da- gegen ist es, was die Architektur betrifft, eine Unwahrheil, die die Geschichte nie- mals anerkennen wird, indem die Gotik alsdann garnicht als Kunst gerechnet wird. Versteht man dagegen das Wort so, wie es jetzt gewiss meistens verstanden wird, nämlich dass es der Geist und der Stil der antiken Kunst sein sollte, der im fünfzehnten Jahrhundert wieder aullebte, da kann man dies wirklich mit einer gewissen Berechtigung von der Architektur sagen, keineswegs aber von der bildenden Kunst. Wir, die wir von der Darstellung der menschlichen Gestalt reden, müssen auf das Kräftigste; gegen den Irrtum protestieren, dass das Menschenbild der Renaissance das auferstandene antike sein sollte  ; im Gegenteil, hier herrschen in jedem Punkte Unterschiede und Gegensätze. Der Name der Periode ist : «Der neue Humanismus >. 1

Das Wort Humanismus (Humanist, Humaniora) wird zuweilen auf ganz sonder- bare Weise angewendet, die seiner Grundbedeutung sehr fem liegt, sogar ziemlich synomin mit griechischer und lateinischer Philologie, sogar in weitester Bedeutung für die weltliche Geistesrichtung, die sich von Anfang dieser Periode an in Gegensalz zu der vom Mittelalter ererbten, kirchlichen stellte. Keine Verwendung des Wortes ist jedoch unmittelbarer und leichter verständlich, als wenn es sich um den künstlerischen Enthusiasmus für das Menschenbild handelt. Wenn man z. B. Michel Angelo, der sein ganzes langes Leben hindurch für diese Sache lebte und atmele, und der alle die gewalligen Menschenbilder schuf, einen Humanisten nennt, so erhält dies Wort eine Bedeutung, die man so zu sagen befühlen und belasten kann.

Es begann also im fünfzehnten Jahrhundert eine ganz neue Ucbung in der Darstellung der menschlichen Gestalt und die Forderung, dass die künstlerische Darstellung sie weit stärker zur Geltung bringen sollte als bisher. Hand in Hand hiermit ging eine Vorliebe für die nackte Figur, die wiederum ein deutliches Kennzeichen für die humanistische Tendenz in der Kunst ist. Darin besteht unbestritten ein

1 Der Name Humanismus, auch in künstlerischer Anwendung, wird sehr empfohlen von Hub. JaniUohek in der Einleitung /.u seiner Ausgabe der UebereeUung von Leon ß&ttista Albertis klei- neren kunsthislorischeu Schriften (Quellenschriften tur Kunstgeschichte, Wien 1877).


- 2G9 -


Anknüpfungspunkt an die Antike, da nämlich beide Perioden, das Alterturn und die Renaissance, humanistisch gesonnen waren, und* es unterliegt keinem Zweifel, dass die Ueberreste der antiken Kunst in dieser Beziehung einen Einfluss auf die moderne ausübten. Aber die Art und Weise, wie das Nackte nufgcfasst wurde, war in den beiden Perioden sehr verschieden.

In der Kunst des Altertums tritt der Mensch — anfänglich der Mann, später die Fniu zweifelsohne weil mehr nackt auf, als dies in Wirklichkeit der Fall war. Aber die Nacktheit, selbst die völlige Nacktheit, hatte trotzdem ihren gegebenen Platz in den Gewohnheiten des wirklichen Lebens, und die Kleidung des Altertums ging nie darauf aus, sie zu verhüllen. Der Typus der antiken Kleidung war indessen in Europa ganz abgeschalTl, von einem anderen Typus verdrängt worden, der ursprünglich der nordeuropäischen Bevölkerung, die die Griechen und Börner zu den Barbaren zählten, angehörte. So auch in Italien : man ging dort mit Röcken ^ und Beinkleidern wie in andern Ländern. Oer neue Humanismus hatte also in seiner Vorliebe für das Nackte eine Schale zu durchdringen, mit der das wirkliche Leben die menschliche Gestalt umgeben hatte. Schon dies bedingt einen anderen Blick für das Nackte, einen anderen Geist in der Auffassung desselben, sowohl bei dem produzierenden Künstler selber wie bei dem Publikum, das sein Werk betrachtete. Wohl vermochte der künstlerische Humanismus in Italien, als er auf seinem höchsten Höhepunkt stand, bis zu einem gewissen Grade die vom Mittelalter ererbte Scheu für die Nacktheil zu überwinden, sogar so weit, dass die hochgestellte und vornehme Krau ihren Körper gänzlich enlblüsst, dem Blick des Malers darbot und ihm gestattete, ihn so für andere darzustellen  ; oder so, dass die nackte weibliche Gestalt in Natura sogar unter den nördlicheren europäischen Völkerschaften, eine Zeitlang im sechzehnten Jahrhundert einen Beslandteil der festlichen Dekora- tionen und Aufzüge bildete ; trotzdem aber vermochte die Kunst ja nicht, das Leben in dieser Beziehung gänzlich zu wandeln : die Kleidung wurde nicht zu Gunsten der Nacktheit verändert und entwickelte sich allmählich über ganz Kuropa -- im Süden wie im Norden — mehr in unanliker Richtung.

So tritt also die Nacktheit in dem modernen Humanismus mehr als eine Eman- zipation von angestammten Sitten und Gebräuchen auf und erhält dadurch den Charakter des Unerlaubten, oder kann ihn doch leicht erhalten. Sie ist weniger populär; sie muss auf dem Wege der Reflexion motiviert werden, sie führt leichter, gerade weil sie eine Hülle entfernt, die das Leben sonst krampfhaft festhält, zu Sinnlichkeit oder zieht sich die Beschuldigung der Sinnlichkeit zu.

In der älteren Zeit in Griechenland ist die Ausbildung des nackten männlichen Körpers eine höchst wichtige ethische und politische Angelegenheit, die in freier Luft unter dem Auge des Himmels vor sich geht; es werden in der Nation bestimmte und feste Ansichten über die Schönheit und Tüchtigkeit der (iestalt entwickelt und die Aufgabe des Künstlers ist gleichsam eine letzte Korrektur dessen, was das Leben in bezug auf die persönliche Vollkommenheit entwickelt und gewollt hat. In der neueren Zeit muss sich die Kunst selbst zu dem Studium der nackten Gestalt



— 270 —


verhelfen  ; ihr fehlt völlig die naive und breite Basis des Altertums. Die Ansichten über die Gestalt sind der künstlerischen Individualität preisgegeben  ; es kommt darauf an, ob sie subjektive Kraft genug besitzt, um ihre Ansichten durchzuführen.

Deshalb tritt diesem Humanismus auf seinem Wege wieder und wieder eine Re- aktion entgegen, wohl nicht direkt so sehr im Namen von Sitte und Gewohnheit als im Namen der Religion, da nämlich die Religion als einzige Hüterin des Ethischen angesehen wurde: der neue Humanismus bezeichnet ja so recht eigentlich das Weltliche, das die Religion als ihren Gegner und ihren Gegensatz betrachtete. Die christliche Religion hatte ja den antihumanistischen Geist des Judentums geerbt. Wie die Russprediger des Mittelalters gegen ausschweifende Modetrachlen geeifert hatten, so eiferte Savonarola, gerade als der italienische Humanismus in seiner üppigsten Rlüte stand, mit glühender Zunge gegen seine weltlichen Schönheitsbilder und namentlich gegen die Darstellungen der nackten Figur. Es gelang ihm, das Publikum wie auch die Kunst für den Augenblick unter die Zucht des Anlihumanismus zu beugen, und die Künstler opferten mit eigenen Händen ihre weltlichen Bilder auf dem Scheiterhaufen. Aber die Flammen des Scheiterhaufens verschlangen dann Savonarola selber, und der Humanismus feierte seinen grössten Triumph in den fünfzig Jahren, die auf seinen Tod folgten. Als die humanistische Bewegung ihre erste Kraft schon erschöpft hatte, und von selber matter geworden war, machte die Kirche und namentlich die heilige Inquisition ihren Einlluss wieder gegen sie geltend  ; aber man hatte sich nun schon so daran gewöhnt, dass sie bestehen konnte, wenn sie auch ihre alte Kraft nie wieder gewann.

Dies ganze Verhältnis zu der antihumanistischen Religion ist von entscheidender ■Bedeutung für den Charakter des neuen Humanismus. Im Altertum ist der Huma- nismus einfach und deswegen naiv. In der neueren Zeit steht er im beständigen diametralen Gegensatz zu seinem allernächsten Nachbarn : kämpft mit ihm, siegt zuweilen im Kampf, unterliegt zuweilen  ; ja nimmt stellenweise auch seinen Gegensatz in sich, in sein allerinncrstes Wesen auf. Der neue Humanismus ist ein aus zwei Strängen geflochtener Faden, aus Rot und Schwarz.

Man kann darüber streiten, welcher Humanismus der stärkste in humanistischer Beziehung ist, der des Altertums oder der der Gegenwart. Der des Altertums besitzt die ganze Stärke, die auf der breiten Lebensbasis beruht, und er hat wohl im Grunde am meisten zu sagen. Aber der Humanismus der neueren Zeit ist nachdrücklicher, bewusster, oft exklusiver, gerade weil er seinen Gegensatz direkt neben sich hat. Die neuere Zeit entwickelt zuweilen eine gewisse Monomanie in bezug auf eine humanistische Richtung, von der das Altertum nichts wusste. Signorelli und Michel Angelo sind der Darstellung der nackten menschlichen Gestalt so leidenschaftlich ergeben, dass sie sie bei rein dekorativen Aufgaben als das fast einzige Mittel zur Ausschmückung benutzten; und dazu eignet sich die menschliche Figur doch weit weniger als die Pflanzenformen. Signorelli scheut sich auch nicht, — was die Griechen als böses Omen betrachtet haben würden, — Bilder von Leichen zwischen die rein dekorativen Elemente bei der Ausschmückung eines



— 271 —


Pilasters mit aufzunehmen. Es war gerade eine Folge des Verhältnisses der Italiener zu der ganzen Aufgabe, dass die Leiche ihnen als Studiengegenstand von grosser Wichtigkeit war  ; Signorelli tröstete sich sogar in seinem frischen Vaterschmerz, als ihm sein jugendlicher Sohn gemordet wurde, indem er die schöne Leiche des Sohnes zeichnete  ; der Humanist, der Künstler in ihm tröstete den Vater. Die geheime, man möchte oft sagen, verstohlene Art und Weise, wie die jüngeren Künstler die nackte menschliche Gestalt studieren mussten, hat nicht allein zur Folge, dass sie die Nacktheit bevorzugen, wo das Thema des Bildes irgendwie historische Veranlassung dazu gibt, oder mit ausdrücklicher Vorliebe Themata wählen, die Anlass dazu geben ; sondern sie bilden sich ganz ausdrückliche Vorstellungen davon. Signorelli befreit seine Gestalten am liebsten nicht nur von allen Gewändern, sondern zuweilen auch vom Haupthaar und malt namentlich kleine, völlig kahle Figuren. Man trägt überhaupt eine Vorstellung von der reinen menschlichen Gestalt in sich, von der menschlichen Gestalt als solche, wie sie die Antike nicht kannte. Man ist sich, wie gesagt, seiner humanistischen Tendenz bewusster.

In der Antike hat jede Figur ihren Namen. Es kann ein Nomen proprium sein  ; es kann auch ein Nomen appellativum sein. Die Hauptpersonen haben Eigennamen  ; die Nebenpersonen und der Chor haben Gattungsnamen. Eine Figur heisst Hermes, eine andere Apollo, eine dritte Demosthenes, eine vierte Alexander. Die Figuren des Parthenonfrieses haben meistens keine Eigennamen ; aber es sind doch nicht Menschen ganz . im allgemeinen ; es sind athenische Jungfrauen oder Jünglinge u. s. w. ; auf einer bacchischen Darstellung treten Satyre auf, die obwohl sie keine Eigennamen haben, doch eine bestimmte mythologische Familie bilden. Es ist freilich wahr, dass das Interesse dieser Figuren für uns, die wir allerdings Menschen sind, aber nicht teil haben an dem nationalen Leben und den Phantasien der Griechen, davon herrührt, dass sie alle menschliche Figuren sind  : nur aus dem Grunde fühlen wir uns verwandt mit ihnen und verstehen sie. Aber ihre besondere historische Bedeutung ist deswegen nicht gleichgültig, im Gegenteil  : der Künstler hat die Absicht gehabt, eine bestimmte konkrete, historische Wirklichkeit oder ein konkretes Ideal zum Ausdruck zu bringen. Dasselbe ist der Fall in der Kunst des Mittelalters mit ihren Darstellungen aus der Bibel oder der Legende. Auch die allegorischen Aufgaben, Tugenden und Laster, Künste und Wissenschaften, sind objektiv gegebene Ideen. Der neuere Humanismus behält freilich in seinem ganzen Verlauf die kirchlichen Themata des Mittelalters bei, aber in der Behand- lung derselben wird das, was die eigentliche Aufgabe der Kunst ist, verrückt. Ueberall fordert man mehr von dem Leben der einzelnen Figur an Fleisch und Blut. Einige Künstler verbinden damit ein wahres Interesse für die ererbten, überlieferten Ideen, und sie ordnen ihnen die Figuren unter, so dass die Ideen in Fleisch und Blut leben ; bei andern erhält das Interesse für die Figur selber einen ganz selbst- sländigen Schwung, der zu dem ursprünglichen Inhalt der Darstellungen im Widerspruch steht. In seinem Extrem, das so charakteristisch für den neueren Humanismus ist, führt gerade dies zu der von aller besonderen objektiven Bedeutung



— 272 —


emanzipierten Figur, zu der menschlichen Gestalt im allgemeinen als Natur- und Schöpfungsprodukt, so wie sie namentlich bei Signorelli und Michel Angelo auftritt. Es ist die menschliche Gestalt ohne Namen, ohne einschrän- kende konkret historische Bezeichnung, nur durchgeistigt von dem eigenen subjek- tiven Leben des Künstlers. Es ist nicht der Mensch, so wie er jetzt ist oder zu irgend einem gegebenen Zeitpunkt in der Geschichte gewesen ist oder zu werden bestrebt war; es ist ein Ideal der menschlichen Natur, das, wenn es überhaupt mit allgemeinen Vorstellungen zu verbinden ist, in den Anfang der Zeiten, in das irdische Paradies, oder an das Ende der Zeiten, in das jüngste Gerieht, versetzt werden muss. Mag die Absicht mit einem solchen Ideal auch universeller, umfassender sein als bei der Antike, so ist es doch weit mehr mit Willkürlichkeil behaftet und weit weniger brauchbar für das menschliche Geschlecht als das griechische ; denn obwohl dies nur für die griechische Nation selber und keineswegs für «die Barbaren- galt, so war es auf der anderen Seite gerade das Ideal, zu dem sich die griechische Nation in Wirklichkeil durch ihre Erziehung selber emporzuarbeiten suchte : es war mehr als nur private Versuche einzelner genialer Enthusiasten.

Als Heispiele für namenlose Figuren können angeführt werden die nackten Männer, die Signorelli und Michel Angelo auf den Mittelgrund von Mildern heiliger Familien in den Uffizien in Florenz malten. Es ist niemals irgend ein annehmbarer Zusammenhang zwischen ihnen und der übrigen Darstellung der Bilder nachgewiesen, und es existiert auch keiner. Sie sind hier trotz des gegebenen historischen Themas und allein kraft des humanistischen Interesses des Künstlers an der nackten Gestalt eingeführt worden. Andere weil bedeutendere Beispiele sind Michel Angelos Marmorfiguren zu dem Sockel von Julius II. Monument («Die Gefangenen» im Louvre), seine gemalten Figuren an der Decke der Sixtinischen Kapelle, Jünglinge, die die Schilde halten  ; gewissermassen auch die vier Figuren der Tageszeiten ntt. las. auf den Sarkophagen der Medicäer in San Lorenzo in Florenz. Solche namenlose Figuren treten freilich als Ausnahme unter der grossen Menge der Schöpfungen dieser Periode auf. Wir erwähnen das ganze Phänomen hier auch nur als Extrem der humanistischen Richtung, aber als ein Extrem, das gerade sehr deutlich die Tendenz verrät, die ihr zu Grunde liegt. Es ist ein Bestandteil des Humanismus, der hier rein zur Erscheinung gelangt, aber diesen Bestandteil finden wir, in Verbindung mit andern, überall sonst.

Diese Tendenz der Darstellung der reinen Menschenfigur steht in Verbindung mit der Theorie, die sich zu Anfang der Renaissanceperiode ausbildete. Leon Bat! isla Alberti meint, dasa die ganze plastische Kunst daraus hervorgegangen ist, dass man an irgend einem toten Körper — einem Baumstumpf, einem Erdklumpen oder der- gleichen, Züge beobachtet hat, die durch irgend eine geringe Verändernng eine Form annehmen konnten, die einer Gestalt in der wirklichen Natur entsprach. Als die Aufmerksamkeit hierfür erst erweckt war, hat man sich mit Fleiss vorwärtsgetastet, ob man nicht, wenn man hie und da etwas hinzufügte oder etwas abnahm, oder wenn man Linien und Flächen gerade machte oder glättete, ausfüllen könnte, was ao



— 273 -


der Aehnlichkeit gebrach. Die Arbeit selber und das Erreichen des erstrebten Zieles hat in der Seele ein Gefühl von Lust erweckt. Von jetzt an ist die Uebung der Menschen, Bilder zu schaffen, von Tag* zu Tag gewachsen, sodass sie gelernt haben darzustellen, was sie wollten, auch ohne die Hilfe einer so rudimentären Aehnlichkeit in einer leblosen Masse. Diese Theorie nahm Michel Angelo später in seine Marmorskulptur insofern auf, dass er von der zufällig gegebenen Form des Marmorblockes ausging und seine Figur in ihn hineinpasste. In welchem Umfange dies Verfahren praktische Bedeutung für seine Kunst gehabt hat, lässt sich nicht bestimmen ; aber der Gedanke hätte gar nicht anders auftauchen können als unter der Voraussetzung, dass man den Hauptaccent auf eine menschliche Figur im allgemeinen als Gegenstand der Kunst legte.

Bei den christlichen Themata, namentlich den historischen, Hess sich die nackte Figur schwieriger einführen. Aber man ergriff, wie wir oben gesehen haben, gern die Gelegenheit dazu, wo man konnte. Und ein vereinzeltes kirchliches Thema gibt uns ein Mittel, die steigende Lust des Zeitalters zur Darstellung des Nackten zu messen und zu sehen, wie verschieden vom Mittelalter sie über seine Bedeutung dachte, nämlich die Bilder vom jüngsten Gericht. Zu den kirchlichen Kompositionen dieses Themas gehören in der Regel verschiedene Chöre menschlicher Gestalten, nämlich 1. die Toten, die von dem Schall der Posaunen aus den Gräbern auferweckt werden — gute und böse durcheinander  ; 2. die Verdammten, die in die Hölle hinabgestürzt, und 3. die Seligen, die ins Himmelreich aufgenommen werden. Dazu kommt dann noch: 4. Christus als Weltenrichter, umgeben von den verschiedenen Chören der Heiligen, der Seligen und der Engel des Himmels. Nach der eigentlichen mittelalterlichen Tradition werden n u r die Verdammten in der Hölle nackt dargestellt, ein deutlicher Beweis dafür, dass die Nacktheit in malam p a r t e m betrachtet wurde, als etwas, das zu dem unseligsten aller Zustände gehört ; nicht nur die Bewohner des Paradieses sondern auch die Toten, die aus den Gräbern auferstehen, haben Kleider an: die letzteren, wohl zu beachten, nicht die Leichen- tücher, sondern die Trachten, die dem Leben angehören (so z. B. auf Omignas Fresken in Sta Maria Novella in Florenz, und auf den grossen Freskobildern auf dem Campo Santo in Pisa — selbst noch auf Fiesoles Bildern vom jüngsten Gericht sind die Be- wohner des Paradieses vollständig bekleidet). Früher hatten allerdings Bildhauer aus der Schule zu Pisa — Nicolo Pisano au der Kanzel im Baptisterium zu Pisa, Lorenzo Mailani (?) an der Fassade des Domes zu Orvieto, wie andere Bildhauer auf Kirchen- reliefs nördlich von Italien — die Toten, die die Gräber verlassen, nackend dar- gestellt. Das tun auch die Niederländer, wenigstens aus der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts: so Roger van der Weyden auf dem berühmten Altar in Beaune und Memling auf der Altartafel in Danzig: hier stehen die Toten nackend aus den Gräbern auf und begeben sich nackend nach dem Paradiese ; ehe sie aber in die Pforte hinein- treten, ziehen ihnen Engel Kleider an, von der Art, wie sie im wirklichen bürger- lichen Leben getragen wurden, während die Verdammten nackend bleiben. Das Ge- wand bezeichnet die sittliche und Gott wohlgefällige Gesellschaftsordnung, die nicht nur für das zeitliche, sondern auch für das ewige Leben gilt. Signorelli hingegen



- 274 —


malt in dem grossen Cyklus der Fresken vom jüngsten Gericht, in der Kapelle der Madonna di S. Brizio zu Ürvieto, sowohl die Toten, die die Gräber verlassen, als auch die Verdammten und die Seligen im Paradiese nackend. Der reine künstlerische Humanismus, die Vorliebe für die Darstellung der nac kten Figur, verbindet sich hier offenbar mit einem gewissen philosophischen Gleichheitsgefühl einer Auffassung des Menschen so wie er ist, wenn er über die Bedingungen der irdischen bürgerlichen Gesell- schaftsordnung mit ihren Einteilungen in verschiedene Stände und Klassen emporgehoben ist. Es liegt hierin eine — nicht unbegründete — Behauptung, dass die Kleider zu dem Uneigentlichen, Endlichen und Zufälligen im menschlichen Leben gehören und dass die Nacktheit dem eigentlichen, unendlichen Wesen des Menschen entspricht : Mensc h ist Mensch. Auf einigen seiner Fresken hat Signorelli die vollständige Bekleidung beibe- halten müssen, teils sogar die modische Tracht seiner Zeit, nämlich auf denen, die die letzten Zeiten der Welt darstellen: die Niederfahrt des Antichrist auf die Erde und die Verheissungen von dein jüngsten Gericht — wahrscheinlich in bezug auf den in der Bibel ausgesprochenen Gedanken, dass der Tag des Herrn kommen soll wie ein Dieb in der Nacht, das irdische Leben in seinen einmal festgesetzten Formen überraschend. Gleichzeitig hat Signorelli die volle Bekleidung bei allen den Figuren beibehalten, die aus dem Himmel herabkommen und ihm schon angehören. Bekleidet ist nicht nur der Weltenrichter Christus, der von Signorellis Vorgänger bei der Arbeit, von Fiesole, gemalt ist, sondern auch die Chöre von heiligen Figuren, die Signorelli selber malte, und die Engel, die auf den Posaunen des jüngsten Gerichts blasen, die, die Blumen auf die Seligen des Puradieses herabstreuen oder sie durch Musik erfreuen, und die, die die Verdummten herabstürzen. Die Letzteren sind völlig als Bitter ge- rüstet, die andern in wallende Draperien gehüllt, die nach antiken Kunstwerken ge- macht sind, da ist nicht mehr der priestetliche Kittel, den die älteren Künstler, z. B. Fiesole, den Engeln geben. Mic hel Angelo geht auf seinem Kolossalgemälde vorn jüngsten Gericht noch einen Schritt weiter, indem er erstens jegliches Kostüm entfernt, das an die Sitten und Gebräuche des wirklichen Lebens erinnert, und nur eine freie Drapierung zur Anwendung bringt. Aber auch von dieser macht er so wenig Gebrauch wie möglich, z. B. zur Bekleidung seiner weiblichen Figuren oder zur Bekleidung der anstössigsten Partien bei den männlichen, oder um irgend eine Gruppe künstlerisch zusammenzuhalten ; sonst kann man nicht mit Unrecht sagen, dass er das ganze Bild mit nackten Figuren malt, und was namentlich von Bedeutung ist, er stellt Christus fast ganz nackend dar, wie er das früher bei seiner Marmorstatue in Sta. Maria sopra Minerva in Born getan halte. Hier ist also die ganze christliche Vor- stellung von dem jüngsten Gericht, Christus inbegriffen, in den neuen philosophischen Humanismus hineingezogen. Seine Kühnheit erregte bekanntlich Anstoss und zog ihm sehr verletzende und bittere Vorwürfe zu, und man versuchte das Anstössige zu ent- fernen, indem man später mehrere Partien mit Gewändern übermalte. Trotzdem blieb es von nun an Sitte, die Bilder vom jüngsten Gericht, wenn auch nicht mit ganz nackten Figuren, so doch mit überwiegend nackten Partien zu malen, und nur die freie Dra- pierung zu benutzen  : siehe z. B. Hubens Kompositionen dieser Art.


- 275 -

Anlass zur Nacktheit, überhaupt zu einer von der mittelalterlichen Tradition unabhängigen Darstellungsweise gaben namentlich die antiken Themata, die in Verbindung mit der Wiedererweckung der klassischen Literatur — der literarischen Renaissance — seit dem fünfzehnten Jahrhundert an, einen immer grösseren Platz in den Werken der Kunst einzunehmen begannen. Die antike Mythologie, die sich im Altertum selbst an die Religion geknüpft hatte, wenn auch ihre Fsibeln im wesentlichen ihren ursprünglich religiösen Charakter eingebüßt hatten, standen in dem neuen Humanismus in einem gänzlich unabhängigen Verhältnis zu der herrschenden christlichen Religion, und blieben stets scharf und deutlich von ihr getrennt.

So bestanden nebeneinander zwei Ideenwelten, eine religiöse und eine profane: die eine ursprünglich aus einer antihnmanistischen Geistesrichtung hervorgegangen, die andere von dem Humanismus des Altertums überliefert, und beide mit einer über- legenen Autorität ausgestattet. Der neue Humanismus umfasste diese beiden Welten mit demselben Rück, sodass fortwährend dieselben Künstler-Persönlichkeiten abwech- selnd Vorwürfe aus dem einen und aus dem andern Vorslellungskreis mallen; es war fast keiner unter ihnen, namentlich in der früheren Zeit des Humanismus, der sich ausschliesslich an einen einzelnen derselben band. Deswegen konnte, obwohl die christlichen und die heidnischen Vorwürfe so entschiedene Seilen im Seelenleben des Menschen herauskehren, keine Rede von zwei verschiedenen, voneinander deutlich abgesonderten Auffassungen der menschlichen Figur sein  : sie ist wesentlich dieselbe in den christlichen wie in den heidnischen Bildern. Wenn z. B. Raffael einen antiken Gott mall, ja selbst ein antikes Götterbild (Statuen von Apollo und Minerva, die in den Nischen auf dem Bilde von der Schule zu Athen gemalt sind, Statuen von Merkur und Mars auf den Tapetenkarlons von der Opferung in Lystra und Paulus auf dem Areopagus), so empfindet man ebenso deutlich den Unterschied zwischen der Raffaelischen Figur und dem entsprechenden, wirklich antiken Götterbilde, wie man den Unterschied zwischen einer Raffaelischen Madonna und einer mittelalterlichen empfindet. Alle Figuren Raffaels, wohin sie auch ihrem Namen und ihrer objektiven Idee nach gehören mögen, tragen sein und in weiterem Sinne der neueren humanistischen Auffassung Gepräge. Sogar wo RafTael ganz deutlich gegebene antike Molive benutzt - sein kleines .lugendgemülde von den Grazien, nach der Graziengruppe in Siena — oder wo er Studienzeichnungen nach antiken Statuen macht, merkt man doch den modernen Blick für die Sache, der in seiner Auffassung des Vorbildes unwillkürlich nach den Richtungen hin abweicht, die wir unten als die für den neueren Humanismus charakteristischen schildern wollen. Und auf gleiche Weise verhält es sich mit den übrigen Künstlern, die der Antike am eifrigsten huldigen, z. B. Mantegna.

Mir erscheinen die allgemein herrschenden Vorstellungen von dem Verhältnis der Renaissanceperiode zu der Antike, was den Figurenslil anbetrifft, verkehrt. Findet man auch hie und da — was allerdings der Fall ist — frühe Beispiele für eine wirkliche Beeinflussung des antiken Figurenstils, (z. B. einige einzelne Figuren in Mantegnas «Triumph Caesars») so haben sie doch keineswegs eine Bedeutung,



die den Figurenstil der Renaissanceperiode seines rein modernen Charakters zu berauben vermag. Der war gleich von Anfang an modern ; die üeberresle der antiken Kunst waren für sie nur Gesandte eines andern Humanismus, die aufforderten, auch in humanistischer Richtung zu streben, die aber keine genauere Anweisung gaben, w i e dies geschehen sollte. Dazu waren die Ueberreste der antiken Kunst noch zu gering und gaben zu undeutliche Vorstellungen von dem eigentlich antiken Figurenstil ; und dazu war die moderne Generation selber zu übertrieben produktiv. Ein gehorsames Unterordnen unter einen fernen und fremden Stil war wirklich nicht von ihr zu erwarten, wenn sie auch die Herrlichkeit der Antike noch so sehr im Munde führte.

Eine ganz andere Sache ist es, dass man in der Renaissanceperiode gar manches Mal geglaubt hat, man stimme vollkommen mit der Antike überein, ja sogar in der Regel selber nicht den Unterschied zwischen dem antiken Figurenstil und dem modernen gekannt hat. Der arme Albrechl Dürer musste ja in Venedig viel böses hören, weil seine Arbeiten nicht nach der antiken Schule waren, was die junge Schule in Venedig von ihren eigenen Arbeiten fest glaubte. Aber was wussten diese jungen Venetianer eigentlich von dem Figurenstil der Antike? Sie wussten, dass sie selber das mit der Antike gemein hatten, dass sie mythologische Personen und nackte Figuren in grossem Massstab darstellten, und dass ihre Kunst jetzt einen ähnlichen Reifegrad erlangt hatte wie der der Antike war; ob es eine liefere, durch- gehendere Uebcreinstimmung war, darüber sich klar zu sein, besassen sie garnicht die Mittel. Und gerade diese Ungcwissheit verlieh ihrer ganz modernen Richtung eine glückliche innere Sicherheit: im Schutze derselben produzierten sie üppig und kräftig. Hätten sie schon damals das richtige künstlerische Verständnis dafür gehabt, was «die antike Art» war, so wären drei Jahrhunderte — und gerade die herrlichsten und fruchtbarsten aus der Kunstgeschichte ausgeschieden.

Nein, es waren nicht die erhaltenen Ueberreste antiker Kunst, nach denen der neue Humanismus in Wirklichkeit sein Wesen bildete. Dagegen erhält die antike Literatur: die Poesie, die Mythologie, die Geschieht und die Nach- richten über die Plastik und die Maler des Altertums, eine grosse Be- deutung für ihn, indem die gelehrten, klassisch gebildeten Männer den Malern und Hildhauern ihr Wissen mitteilten. Daher hallen sie Anregung zu einer gunzen Well von profanen Aufgaben, die von der freien Bewegung und Entfaltung der rein menschlichen Kräfte, Triebe, Begierden handelte, die die Kunst des Mittelalters giiiizlich hatte licjrcn lassen. Welch einen Tummelplatz erhielt dadurch nicht ihre Phantasie für die Vorstellungen von der Lebenslust, namentlich der arabischen, von der die Bibel und die Legende fast ganz schweigen, oder die sie jedenfalls verleugnen! Will man jelzt einen Ucberbli<k über die antiken Vorwürfe gewinnen, die die sogenannte Renaissance — von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende — mit offenbarer Vorliebe heliandcll, und sie mit den Vorwürfen vergleichen, die uns in der erhaltenen antiken Kunst überliefert sind, dann wird man sehen, in wie geringem Masse die Renaissance sich ihr angeschlossen hat, und wie frei



277 —


und ungehindert sie aus der antiken Literatur herausnimmt, was zu ihrem Wesen passt. Eine wie geringe Holle spielt nicht die Liebesgeschichte Amors und Psyches in den antiken Kunstwerken, und welche berühmte Werke der Renaissance sind nicht darauf aufgebaut! Wo findet man in der Antike diese Göttermähler, Schilderungen aus dem reichen und flotten Olymp  ? Was gehen diese durch die ganze Renaissance so beliebten Gruppen von Herkules, der mit Antaeus oder mit Cacus kämpft, die antike Kunst an? Oder Gruppen von Gemälden, die Römer und Sabinerinnen darstellen? Wir führen dies alles nur als Heispiele an. In vielen Fällen behandelt der neuere Humanismus ja auch Vorwürfe, die unzählige Male in der antiken Kunst behandelt sind; da kann der Vergleich uns Ichren, in wie verschiedenem Geiste die beiden Perioden die gleichen Themata auffassen. Und wären uns die antiken Gemälde erhalten, die wir jetzt nur aus den ausführlichen Beschreibungen der Schriftsteller (Lukians oder Philostrats) kennen, und könnten wir sie mit den Gemälden vergleichen, die Hoticelli, Raffael oder Tizian auf Grundlage dieser Beschreibungen ausführten, da würden wir ohne Zweifel einen sehr grossen Unterschied wahrnehmen.

Historisch - geographischer Umriss des Verlaufes und der Ausbreitung des neueren Humanismus.

-

Wann und womit eine historische Epoche beginnt, das zu bestimmen ist in der Regel sehr schwierig. Kaum hat man einen An Taug angegeben, als einem selber oder auch anderen der Gedanke kommt, dass dieser Anfang d(nh seine Vorläufer gehabt hat  ; die Grenzscheide verschiebt sich, und mau fragt sich selber, ob es überhaupt eine solche gibt.

So kann man fragen, ob nicht der Bildhauer Nicolo Pisano, dessen Wirksamkeit um das Jahr 1 '..'50 fällt, d. h. in das mittelalterlichste Mittelalter, in die Zeil Ludwigs des Heiligen, die höchste Blütezeit des gotischen Stils, — nicht zudem neueren Huma- nismus gerechnet werden müssle. Jedenfalls ist sein plastischer Kfd humanistisch, erstellt die menschliche Gestalt, wenn auch in kleinem Massslab, so doch mächtig, sicher und und gross dar. Aber abgesehen davon, dass es ihm keineswegs gelang, den Geist seiner oder der nachfolgenden Epoche umzuwandeln, so ist sein Humanismus auch von anderer Art als der nachfolgende. Von Pisano kann man mit grösserer Berechtigung sagen, dass er darauf ausgeht, die Antike neu zu beleben, und zwar noch ehe an die Stelle der vom Altertum ererbten und hinsterbenden Tradition etwas eigentlich Neues und Selbständiges getreten war. Der Name Renaissance lässt sich weit korrekter auf Nicolo Pisano anwenden als z. B. auf Ghiberti oder üonatello oder Michel Angelo.

In Nicolo Pisano haben wir einen offenbaren Beweis dafür, wie sehr die Italiener zu der Verherrlichung der menschlichen Gestalt neigten, selbst wenn sie sonst^von einem wenig humanistischen Zeitgeist beherrscht wurden. Indessen will der Huma- nismus in den nun folgenden anderthalbhundert Jahren wieder zurück  ; es gibt



— 278 —


freilich Beweise, dass das Interesse für die menschliche Gestalt und für die Darstellung derselben in ihrer Nacktheit nicht ausgestorben war; aher die Figuren sind mittelalterlich ängstlich, sie wagen es nicht, ihren Anspruch auf das Dasein geltend zu machen. Krst in der dem Jahre I KM) vorausgehenden Zeit fängt das an, anders zu werden  ; und die Generation, deren Wirksamkeit in Siena und Kloren/, in die ersten .lahr/.elinle nach dem .Iahte 1 KK) fällt, (.lacopo della Ouercia, l^>renzo Ghiherh, Donalello, l.nca della Robbia, Paolo Heccllo, Andrea del Caslagno, Masolino Masaccio) kann mit vollem Hecht als die hezeii hnet werden, die den neueren Hmna- nismus mit den mit ihm zusammenhängenden, inhegrifTenen Bestrehungen beginnt. Ks ist die Generation, die Vasari in der historischen Uebersichl, die die Einleitung zu dem drillen Teil seiner Lebensbeschreibung bildete, zu der zweiten Periode der italienischen Kunst rechnet. Mei dem ältesten dieser Meisler, bei .lacopo della Ouercia, erhebt sich der Geist der neueren Zeit mit so ausgezeichneter und dezidicrler Miene, dass mau bei ihm schon eine deutliche Geistesverwandtschaft mit ihrem Vollender, Michel Angelo spüren kann. Auch bei Donalello tritt seine eigentümliche Gesinnung scharf und resolut hervor; ebenso bei l'cello, Caslagno und Masaccio. Alle diese Künstler haben ihre grösste lledeulung durch die Durchführung der kräftigen, männlichen Gestalt. Ghiberli und Robbia besitzen vielleicht weniger von der bahnbrechenden Energie, aber ihre Kunst rundet sich harmonischer, schöner und liebenswürdiger um den Standpunkt im Uebergange ab, den sie erreicht haben, und der doch in allem Wesentlichen derjenige der neuren Zeil ist. Der Maler Filippo Lippi, der weniger Bedeutung als die obengenannten in bezug auf die Behandlung der nackten Figur hat, erhält dagegen eine grosse Bedeutung dadurch, dass er der Madonna und den übrigen heiligen Frauen eine ganz durchgeführte natürliche Weiblichkeit verleiht, ja sogar etwas Individuelles, Porträtartiges; er und Robbia sind auch diejenigen, die den Charakter des kleinen Kindes am naturgetreusten wiedergeben: das Mittelalter halte das Kind immer als erwachsene Person cn miniature gemalt : erst mit dein Anfang des neuen Humanismus gleich nach «lern Jahre 1 4(K) tritt hierin eine Veränderung ein. Filippos Schüler, S a n d r o B o l i c e I I i ging noch weiter in der Darstellung des natürlichen und weltlichen Weiblichen und malte Venus Anadyomene ; aber sie schien noch ein wenig zu frieren  : es war erst Frühling für den Humanismus, kein Sommer. Gleichzeitig mit dieser ganzen Künstlergeneration setzt der fromme Kloslerbruder F i e s o I e die rein mittelalterliche Kunst fort und führt sie Iiis zum Abschluss  ; er verleiht ihr den schönsten Ausdruck, indem er von dem Neuen nur so viel aufnahm, als mit seiner eigenen Richtung harmonieren konnte.

Das Studium der nackten Figur wurde auch ferner mit grosser Energie weiter- geführt von ein paar Männern der nächsten Generation, von Antonio Pollajuolo (1420— 1)8), seinem Bruder Picro und Andrea del Verrocchio (14:$5— 88). Vasari hat verschiedentlich ausgesprochen, wieviel man gerade ihnen in dieser Beziehung schuldet, und ihre erhaltenen Werke bestätigen seine Worte vollkommen. Sie repräsentieren den Humanismus in seinem ersten Stadium, das unermüdliche Forschen der Natur und das Studium nach derselben : die Künslersubjektivität



— 279 —

steht hier dem Objekt noch ängstlich und andächtig gegenüber, fühlt sich noch nicht damit verschmolzen, hat es noch nicht so eigentlich in Besitz genommen. Mit ihnen können wir mit Recht das Kinlcitiingsstadium des Huma- nismus in Florenz und in dem übrigen Toscaiia abschließen. Wohl miiss man zu demselben Stadium verschiedene Künstler rechnen, die jünger waren als sie, z. ü. einen Bildhauer wie Reuedel to da Majano und einen Maler wie Dome nico Ghirlandajo; diese haben jedoch nicht annähernd so viel wie jene zu der Knt- wickelung des Humanismus beigetragen. Und dieser rote Faden ist es, den wir hier verfolgen; wir schreiben keine allgemein italienische Kunstgeschichte.

Im Laufe des fünfzehnten Jahrhundert* breitet der llorentinisehe Humanismus seinen Einfluss auf «las ganze übrige Italien aus und ruft an den verschiedenen Orten gleichartige Phänomene wach. Nach Padua wird der scharfe und harte Humanismus des Donatello und Uecello gebracht. Dort begründet S(|iiarcione seine Schule mehr ausschliesslich aus dem Studium der Antike, als dies sonst in dieser Zeit vorkommt, und sein grosser Schüler Man leg na gehört zu denen, deren Kunst wirklich Spuren der ethischen Haltung des antiken Figurenstils aufweist, während er trotzdem im Ganzen völlig modern, von den Florentinern hccinflussl ist und Tendenzen offenbart, die die Antike niemals gekannt bat. In einem ähnlichen Geist arbeitet gleichzeitig Cosimo Tura in Ferrara; dieser Geis! beherrscht überhaupt Nordilalien sowohl nach Westen in der Richtung von Mailand wie nach Osten, wo Venedig bis zu den letzten Jahrzehnten des fünfzehnten Jahrhunderts ganz unter seinem Einfluss steht (Giovanni Be Minis ältere Zeit). Aber seit dem Anfang des neuen Jahrhunderts sondert sich Venedig so ziemlich von dem übrigen Italien ab und bildet eine künstlerische Welt für sich, die auch in humanistischer Richtung ihr ganz eigenes Programm hat. Im Laufe des ersten Teils des sechzehnten Jahrhunderts ist Venedig weniger empfangend als selbst produzierend ; da breitet die Stadt auch ihren Kinlluss über das Nachbarland aus, bis Ferrara und ganz bis in die Mitte der Lombardei hinein.

Nach Osten zu, in das umbrische Italien hinein, wandert die neue Richtung mit Piero della Francesca aus Borgo S. Sepolcro, der freilich dem Humanismus angehört, dessen grösste Bedeutung aber wohl kaum in der Entwicklung der menschlichen Ge- stalt zu suchen ist. Dagegen wurde sein Schüler L u c a S i g n o r e 1 I i aus Cortona — unter erneutem Florentiner Einfluss ausgebildet - derjenige von allen Meistern des früheren Stadiums des Humanismus, der mit der grössten Energie, Kühnheit und Unverzagtheit die humanistische Richtung in seiner Kunst zum Aus- druck brachte, wenn er auch keineswegs derjenige ist, der die menschliche Gestalt am gründlichsten und sorgfältigsten studiert hat; seine Bildung in dieser Beziehung kann sich weder mit der der Florentiner noch mit Mantegna messen. In andern Punkten von Umbrien wie auch in Bologna macht sich gleichzeitig eine Richtung geltend, die fast der Gegensatz zu Signorelli war; ihre Hauptrepräsentanten sind Pietro Perugino und Francesco Francia. Man kann fast sagen, dass diese Richtung, namentlich Pcruginos, anlihumanistisch ist; ihre Gestalten sind ängstlich, selbstverleugnend, werden gen Himmel gezogen, gravitieren aber nicht so



recht auf der Erde. Ks ist die letzte künstlerische Erklärung der eigentlich mittel- alterlichen Auffassung. Aber diese Richtung hat trotzdem grossen Vorteil aus ihrem Gegensatz gezogen. Perugino war nicht umsonst Verrocchios Schüler, und sowohl er als auch Francia können ein bedeutendes Figurenstudium an den Tag legen.

Schon in diesem ihrem Vorstadium übte die italienische bildende Kunst einen gewissen Einfluss über die Grenzen Italiens hinaus, in Spanien, Frankreich und Süddeutschland aus. Doch hat in allen drei Ländern der Einfluss aus den Niederlanden das Uebergewieht über den italienischen, selbst noch im Laufe des fünfzehnten Jahrhunderts, aber zu Anfang des sechzehnten erhält schon der Ein- fluss Italiens die Oberhand. In Frankreich und Spanien hat der Einfluss des ersten Stadiums des italienischen Humanismus, wenn er sich auch nachweisen lässt, doch keine besonders denkwürdigen Resultate hervorgerufen. Um so mehr in Deutschland. Bis tief in Deutschland hinein hatte man den Einfluss des niederländischen Stils spüren können; jetzt kam die Kunst Norditaliens durch Kupferstiche nach Nürnberg, und ein Maler aus Nürnberg wie Albrechl Dürer kam nach Venedig, um sich auszubilden. Es sind noch immer nur Künstler der alteren Generation, Mantegna, .lacopo de Barbari, Giovanni Bellini, die Dürer heeinllusst haben. So stand er mitten zwischen einem nordischen und einem südländischen Einfluss, das aber ist sicher, dass er den Italienern alles verdankt, was an künstlerischem Humanismus in ihm ist; vor allem eine nicht gefinge Lust zu der Darstellung der nackten Figur. Bei der Be- handlung dieser konnte er sich jedoch keineswegs von dem kleinlichen Naturalismus loslösen, der die Einzelheilen nicht zu überschauen vermag, sondern sie alle in ihrer ganzen, von der Kunst unbeherrschten Natürlichkeit mitnimmt; es sind dies alles Eigenschaften, die er offenbar nordischen Traditionen schuldet. Nicht allein was Dürer, sondern auch was die ganze deutsche Kunst von der Reformationsperiode an betrifft, kann man annehmen, dass die nackte Figur italienischem Einfluss zu ver- danken ist und man findet Spuren, die davon zeugen, dass Sitte und Geschmack gegen diese künstlerische Neigung revoltiert haben. Auf ähnliche Weise wie Dürer hat sein grosser Mitbürger, der ßronzeplastiker Peter Vischer, sich zu dem italien- ischen Humanismus gestellt, lieber Cranachs um! seiner sächsischen Schule Verhältnis zur italienischen Kunst schweigen die Nachrichten ; aber ein Vergleich zwischen seinem Figurenstil und dem gewisser Florentiner wie Sandro Boticelli und Piero di Cosimo, zeigt unserer Ansicht nach mit unumstösslicher Evidenz, dass er von dieser Seite den Stil zu seinen zahlreichen nackten weiblichen und kindlichen Figuren entlehnt hat. Hans Holbein hat weit weniger Interesse für die mensch- liche Gestalt als Dürer und Cranach: wo sie in seinen Bildern auftritt, muss sie doch wohl auf eine ähnliche Kreuzung des nordischen und italienischen Quattrocento- Stils zurückgeführt werden, wie wir sie für Dürer als charakteristisch bezeichnen, obwohl llolbein sonst in künstlerischer Beziehung Dürer weit übertrifft.

Wir kehren zu Italien zurück, wo die Entwicklung in unaufhaltsam fliessendem Uebergang fortschreitet. Ein Schüler Verrocchios, Florentiner wie er, Leonardo da Vinci, fuhr fort, die Formstudien seines Meisters zu vertiefen. Er war der erste, der



- 281 -


die alte Aengstlichkeit, das äusserliehc Beobachten bei der Betrachtung der menschlichen Gestalt, gänzlich überwand. Er versteht es, sich ganz und von innen heraus das Bild des Menschen anzueignen und es frei und lebendig und von dem Geiste seines Meisters beseelt, wieder erstehen zu lassen. Und namentlich gibt er den Ausdruck für das Seelische mit grösserer Freiheit, Bewusstheit und Tiefe wieder, als irgend einer ausser ihm. Quantitativ gibt er aber nur wenig, namentlich was die Behand- lung der nackten Figur anbetrifft, die man von seiner Hand eigentlich nur in einigen vereinzelten Zeichnungen hat. Es sind mehr Fingerzeige und Andeutungen als fertige Kunstwerke, die er seiner Mitwelt gibt ; aber von der Zeit an, wo er sein grosses Abendmahl in Mailand malt, können alle seine Werke, auch die unfertigen, jedes auf seine Weise als epochemachend betrachtet werden.

Michel Angelo Buonarroti war zunächst aus Donatellos Richtung (mit Bertoldo als Bindeglied) hervorgegangen ; Follajuolos, Signorellis, vielleicht auch des alten Quercia KinHuss auf ihn kann man auf verschiedene Weise spüren (weit mehr als den seines eigentlichen Lehrers, des Doinenico Ghirlandajo). Man kann sagen, dass mit ihm der Humanismus, wie er sich in Mittelitalien entwickelt hatte, ausgebildet zur Welt kam, kühn allen in ihm enthaltenen Konsequenzen folgend und sich zu den grössten Starrköphgkeilen entwickelnd. Falls die ganze Periode des neueren Humanismus einen einzelnen Hauptrepräsentanten hat, der mit voller Kraft bezeichnet, was sie war, wie auch ihre eigentümliche Achnlichkeit mit dem Altertum und ihren Gegensatz zu demselben, so hat er mehr Anspruch als sonst irgend jemand, dafür zu gelten. Er ist ein ungeheurer Koloss aus einem einzigen Stück, und der Stoff in ihm ist durch und durch der moderne Humanismus. Bei ihm ist dessen Vorliehe für das Nackte ganz einseitig vorherrschend, und mehr als irgend ein anderer wurde er Lehrer und Leiter für die italienischen Künstler in der Auffassung desselben, vor- läufig freilich noch mit Ausnahme der venetianischen Schule, bald aber auch für diese und überhaupt mittelbar oder unmittelbar für einen grossen Teil von Kuropa, namentlich im sechzehnten Jahrhundert und zu Anfang des siebzehnten. Soll man ein einzelnes Werk als dasjenige bezeichnen, das ihm den überlegenen Einfluss auf diesem Gebiet sicherte, so muss es wohl sein Karton «Badende Soldaten» sein ( 1505); im hm?, im. übrigen aber wurde mit Recht jedes andere seiner grossen Werke in der Skulptur- und Malkunst als höchste Zinnen des ganzen Strebens seines Zeitalters nach huma- nistischer Richtung hin betrachtet. Bei ihm war das tiefste und selbständigste Studium der Figur vereint mit der unersättlichen Lust, eine vollkommene Herrschaft über sie in der künstlerischen Darstellung auszuüben. Sein Trachten ging namentlich darauf aus, das in geistiger und körperlicher Beziehung Starke bei den Menschen hervorzuheben, den mächtigen, von der unwiderstehlichen Elektrizität durchströmten Körperapparat. Es ist^höchst charakteristisch für den modernen Humanismus, dass ein so kolossal individuelles Ich, mit seinem Verlangen und seiner Lust eine so repräsentative Bedeutung für* denselben erhält und eine solche Herrschaft darüber ausübt.

In anderer Beziehung ist Raffaels künstlerischer Wert und seine historische



- 282 -


Bedeutung wohl nicht geringer als Michel Angeles, aber die Behandlung der einzelnen Figur, namentlich der nackten, ist nicht in so hohem Masse sein Programm: hierin wurde er selber von Michel Angelo stark beeinllusst, wenn auch das Ideal, das ihnen vorschwebte, sehr verschieden war. Vor ihm kann man in weit geringcrem Grade sagen, dass er ein Künstler aus einem Stück war. Seine Bedeutung besteht weit mehr in seines Geistes wunderbarer Fähigkeit zur Verschmelzung von Gegen- sätzen, zur Bildung und zur IViTcktibilitäl in des Wortes höchster Bedeutung. Von Peruginos Sehlde trat er, wie wir gesehen haben, eine untihumanistische Tendenz als Erbschaft an; in Florenz geriet er unter den Einlluss von Leonardo da Vinci (und des von Leonardo becinllussten Fra Bartolommco), später von Michel Angelo, in die humanistische Bewegung des Zeitalters hinein. Abermals in Bom ging che Produktion des älteren Michel Angelo neben der seinen her und beeinflusste ihn ein über das andere Mal, ihn mehr und mehr in den modernen Humanismus hineinziehend, l'nd doch lebt beständig in seinem tiefsten Innern eine gewisse mittelalterlich-romantische Glut aus seiner Jugend bei Perugino stammend, die das ungeheure Schwellen und den Trotz des Michelangelesken Humanismus zu mildern vermochte. Ausserdem gehörte er zu den Künstlern, die sich hauptsächlich mit der Antike beschäftigten; und wenn er auch keinen durchgeführt historischen Begriff von der Haltung der Antike gehabt hat, so wurde ihm doch auch von dieser Seile ein Zügel zur Lenkung des modernen Humanismus hingehalten. Wichtiger als das alles war aber wohl etwas das aus seiner eigenen Persönlichkeil hervorging: ein innerer Hhythmus, ein Gleichgewicht, eine gewisse edle Bescheidenheit, ein natürlich sympathischer Anstand im Verkehr mit seinen Zeitgenossen, was alles in krassem Widerspruch zu dem exzentrischen Wesen des einsamen Michel Angelo stand. Eine Folge von dem allen war, dass seine Kunst, wenn sie auch in keinem Punkt mit der Antike zusammentrifft, doch auf ihre Weise ebenfalls ein ethisches Gepräge erhielt, das in dem modernen Humanismus vorläufig ziemlich vereinzelt dastand. Diese Seile von Baffaels Künsllerwesen er- hielt bei dem weiteren Verlauf des Humanismus auch keine weitere Bedeutung, hingegen ist es gewiss ihr Verdienst, dass Baffaels Kunst fast das Einzige blieb, das wirklich in Ehren gehalten wurde, als in der letzten Hälfte des achtzehnten Jahr- hunderts seiner Herschaft ein Ende gemacht wurde.

Ueberall, wo von dem Gang der kunsthistorischen Entwicklung die Bede ist, wird der grösste Nachdruck auf die Wirksamkeit des gross ten Künstlers gelegt. Man kann zuweilen mit vollem Hecht meinen, dass ein Künstler von ge- ringerer Bedeutung irgend ein Werk geschaffen hat, dass sich einem entsprechenden Werk eines der berühmten Künstler ersten Banges dreist an die Seite stellen, ja, es sogar übertreffen kann. Aber trotzdem steigt der Künster ersten Banges in unbe- rechenbarer Weise, sobald die Bede auf Einlluss und Entwicklung kommt. Wenn eine Periode Künstler wie Leonardo, Michel Angelo und Baffael besitzt, so bilden sich alle die niedriger stehenden Künstler nach ihnen; ein Künstler zweiten Range mag ganz gut sein, aber er hat keine Autorität und wird auch keine eigentlichen Nachfolger haben. Es sind in Wirklichkeit auch die grössten Meister, deren künst-



- 283 -


lerisches Leben und Blut in den kleineren steckt, die keine Kraft oder keinen Erfolg haben, wo es .sich darum handeil, eine eigene, selbständige Auffassung zu entwickeln. Darum folgen wir hier mit vollem historischen Hechl nur den Höhepunkten der Entwicklung; versteht man die, so hat man auch die Mittel, um die breite Masse des niedriger fielegenen zu Verslehen.

Neben den Arbeilen der drei hervorgehobenen grossen Künstler hat der Huma- nismus in Mitlclitalien in dieser Periode nur wenige Figuren hervorgebracht, die es verdienen im gleichen Range mit ihnen als selbständige Werke genannt zu werden. Vielleicht diese oder jene gezeichnete Figur des Fra Bartolommeo, «Hier des Andrea del Sarto, der jedoch in der Behandlung der einzelnen Figuren und der nackten Form in hohem Grade Michel Angelos Fussstapfen folgt. Grössere Bedeutung haben einzelne Figuren des Hildhaucrs Andrea San so vi im» (•/,. B. Christus, der lauft, über Ghil>ertis Türen in Florenz i und Jacopo Sansovino iz. B. Bacchus im Bargelloi, von Malern Giov. Antonio Bazzi (Soddoma, Eva in Sieua, Sebastian in Florenz) und Sebastian del l'iombo, der ja ursprünglich Venetianer war (namentlich Christus, der zu Limbus hinabsteigt, Madrid). Aber selbst das Vorzüg- lichste, wozu ich namentlich die genannlcn Figuren von Soddoma rechnen will, gibt doch nichts eigentlich Neues im Verhältnis zu dem, was die Ilaupimeister gegeben haben.

In der Lombardei und dem ganzen östlicheren Norditalien hatte die Darstellung der menschlichen Figur seit Leonardo da Vincis Aufenthalt in Mailand in den letzten Jahrzenten des fünfzehnten .Jahrhunderts einen neuen Charakter angenommen, war aber weniger humanistisch ausgeprägt als in Florenz und Born. Von dem Maler Luini und dem Plastiker Begarelli finden wir hie und da eine Behandlung der ganzen Figur, die erwähnt zu werden verdient, wenn auch nicht der Durchführung halber, so doch um der Linien und des Ganzen willen. Bedeutender als alle andern in diesen Gegenden tritt Correggio hervor, einer der Künstler aus dem goldenen Zeit- aller Italiens, der den grösslen Einlluss auf die Zukunft gewann. Sein Figurenstil ist ge wissermassen zusammengesetzt aus mancherlei sich kreuzenden Einflüssen, ist aber trotzdem in höchstem Masse individuell und aus einem Guss, eine der stärksten Ingredienzien in dem neueren Humanismus. Es lässt sich ein Einfluss von Mantegna nachweisen, namentlich in bezug auf die Figurenperspektive, von der wir später reden wollen, und von Leonardo, namentlich was den geistigen Ausdruck be- trifft; zugleich aber, unserer festen Ueberzeugung nach, macht sich der Einfluss der mittelilalienischen Kunst, namentlich Haflaels und Michel Angelus bemerkbar. Bei Correggio bricht sich eine humanistische Tendenz Bahn, die ebenso modern ist wie die Michel Angelos, und ebenso sehr wie diese von allem konservativen Verhältnis zu dem Ueberlieferten emanzipiert. Er bezeichnet insofern den Höhepunkt des Humanismus, als seine Figuren vor denen aller anderer von der Subjektivität des Künstlers durch- glüht sind; er ist der Maler der Lust, der himmlischen wie der irdischen, oder viel- mehr beider im Verein. Aber er bezeichnet gleichzeitig schon die beginnende Auf- lösung oder Demoralisation des Humanismus insofern, als bei ihm nur wenig mehr



- 284 —

von dem Respekt für die Figur als objektiv künstlerische Aufgabe zu spüren ist: er bewegt sich freier auf diesem Gebiet als irgend einer seiner Zeitgenossen, aber er besitzt eine geringere Kenntnis davon als sie.

Dass Venedig in dieser Periode ein Italien für sieh bildet, haben wir bereits hervorgehoben. Hier tritt die Bildhauerkunst vorläufig weit mehr in den Hintergrund als in Mittelitalien. Aber die Maler fangen vom Anfang des sechzehnten Jahrhun- derts an, sich lebhaft für die menschliche Figur zu interessieren und stellen sie gerne nackt dar. Ausgezeichnete Heispiele dafür besitzt man schon von dem alten Giovanni Hellini, dann auch in neucrem und grösserem Stil von dem älteren Palma (von Giorgione weiss ich nichts bestimmtes zu nennen). Aber der Hauptmeister Tizian füllt die ganze Periode mit seiner mächtigen Produktivität und schafft einen besonderen venetianischen Humanismus, «1er die untergeordneteren Kräfte in Venedig und dem zunächst gelegenen Festbinde anzieht. Die mittel- italienische Kunst hat für Tizian, ebenso wie die Antike, wohl dadurch Bedeutung, dass sie beide Humanismus sind und mit der Aulforderung an ihn herantreten, ehenfalls Humanist zu sein; aber eigentlich kennt er nichts genaueres von ihnen: er fasst die Sache auf seine eigene und auf ganz venetianische Weise auf. Wenn überhaupt ein Künstler neben Michel Angelo als selbständiger Hepräsentant des italienischen Humanismus und des neueren überhaupt genannt werden kann, so ist es Tizian ; er führt als Maler und Kolorist ein ganz neues Grundelement in die Sache ein, das in der Zukunft eine ausserordentliche Bedeutung erhielt  : namentlich muss Tizian als eine Art Patriarch der Malerei des siebzehnten Jahrhunderts genannt werden. Was ihm in beziig auf die Darstellung der menschlichen Gestalt eine Bedeutung verleiht, die sogar die Gorreggios und Halfaels übertrifft, war gerade seine ganz unzusammengesetzte Auffassung, sein völliges auf sich selbst Stehen Man kann, wenn man sich kurz fassen will, sagen, dass das, was er vorzugsweise schilderte und verherrlichte, der Stoff des Körpers war: im übrigen wollen wir seiner Zeit, in dem folgenden Abschnitt eine genauere Bestimmung des Verhältnisses zwischen seinem Humanismus und dem Michel Angelos geben. Hier aber müssen wir sogleich hervorheben, dass seine Kunst keineswegs wie die des Michel Angelo im Humanismus aufging. Wohl war er ein grosser Menschenverhcrrlicher und schuf sogar eine ganz eigene Art von Bildern, die allein auf die Darstellung der Schönheil des Menschen, namentlich der Frau ausgingen, aber er war zugleich in weit grösserem Umfang Naturalist, auf ähnliche Weise wie die Niederländer vor und nach ihm, — interessierte sich z. B. mehr als seine grossen Zeitgenossen in Italien für Pferde und Hunde, für Landschaft und Luft, lud selbst seine Auffassung der menschlichen Gestalt war naturalistischer als die anderer, hob mehr den Menschen als das herr- liche Naturprodukt hervor, weniger seine Freiheit im Leben und in Bewegung.

Mit dieser Generation von grossen Künstlern, deren Bedeutung in bezug auf die Aufgabe des Humanismus wir hier mit wenigen Worten geschildert haben, sind alle die Hauptelemente desselben gegeben, alles das, woran er über  :i00 Jahre später zehrte. Durch sie war die Gruppe mächtiger oder schöner Menschenbilder zur Welt



— 285 —


geboren, die bereits hundert Jahre früher, in den ersten Tagen der «Renaissance» empfangen waren. Im Vergleich mit ihnen stempelt man mit vollem Recht die nachfolgenden Künstlergenerationen als geringe und unbedeutende; aber man muss auch den Epigonen Gerechtigkeit wiederfahren lassen und nicht von ihnen verlangen, dass sie Taten ausführen sollten, die denen jener entsprechen, — das wäre gegen den Gang der Geschichte. Jetzt hatte sich die Kunst in ihrer Macht und Herrlichkeit gezeigt: sie hatte «die Natur übertroffen», und nun geriet die Menschheil in Erstaunen und Entzücken über das, was sie zu sehen bekommen hatte. Seit dieser Zeit ist die Kunst nicht mehr, wie im fünfzehnten Jahrhundert vorwärts schauend; sie schaut zurück auf ihr eigenes, goldenes Zeitalter. Sie schuf fortdauernd in grösseren und immer grösseren Massen, und sie glaubte selber, dass das Schaffen kraft der Arbeit der grossen Meister leichter und schneller für sie von statten gehe. Es war ihr in Wirklichkeit auch leichter geworden, grosse Flächen und Räume mit vielen und grossen Figuren auszufüllen; aber diese Figuren zeugten nur selten von einem wirklichen Verhältnis aus erster Hand zu der Aufgabe; die Feinheit und die Energie im Studium der menschlichen Figur war verloren.

Es ist ausserdem ein durchgehender Zug in der ganzen Entwicklung der europäischen Civilisation, dass je weiter die Zeit fortschreitet, desto leichter sich der Verkehr gestaltet. Das ist bekanntlich keine Folge der Kunst, aber es betrifft in hohem Masse die Kunst ebenso sehr wie jede andere menschliche Wirksamkeit. Daraus folgt, dass das scharf und bestimmt ausgeprägte Wesen der lokalen Schulen ihre kräftige Einseitigkeit in der Auffassung und in den Bestrebungen sich allmählich mehr und mehr verlieren. Der Begriff der Kunstschule nimmt im Laufe der Zeiten eine ganz veränderte Bedeutung an. Vergleicht man z. B. die Gemälde aus dem Jahre 1510, eins aus der florentiner, eins aus der venezianischen und eins aus der niederländischen Schule, so bezeichnet die Schule wirklich einen durchgreifenden lokalen und nationalen Unterschied; aber vierzig Jahre später hat der Niederländer sehr wahrscheinlich die Florentiener Schule besucht, und der Einfluss von Florenz und Venedig isl gemischt. Es kann in einer monographischen Behandlung der Kunstgeschichte einer bestimmten Stadt sonderbar genug sein zu sehen, wie verschieden sich der Stil zu verschiedenen Zeilen gebildet hat; aber dergleichen lokale Monographien der Darstellung der Kunstgeschichte als Ganzes zu Grunde zu legen, ist ganz allmodisch, oder sollte es auf alle Fälle sein, denn er ist keineswegs überall abgeschalft. Das, was in Wirklichkeit für die Entwicklung eines Künstlers bestimmend gewesen ist, steht häufig in sehr geringerem Masse mit »lern Ort in Zusammenhang, wo er geboren ist oder die Erziehung seiner Jugend genossen hat, oder mit dem, von dein er sie empfing. Je weiter wir in die Zeit vorsehreilen, umso mehr macht sich hier eine freiere Wahl geltend.

Der grosse Humanismus in Italien war, wie wir gesehen haben, nicht von einem einzelnen Künstler durchgeführt, sondern von mehreren, die jeder eine mächtige Individualität entwickelt hatten, eine Vollkommenheit in einer einzelnen Richtung, bestimmt durch eine gegebene, einheitliche Grundaulfassung der Aufgabe. Dies war



- 280 —


namentlich der Fall bei Michel Angeln und der florentinischen Schule im Gegensatz zu Tizian und der venetianischen : sie hatten jeder für sich ganz entgegengesetzte Seiten des Humanismus betont. Wir haben gesehen dass Raffael und Correggio zusammengesetztere Individualitäten waren, zugleich aber wirklich zusammenschmel- zende Individualitäten. Aber gleich unmittelbar nach den grossen Meistern — chronologisch noch gleichzeitig mit ihnen — kommt der (Eklektizismus. Es ist klar, dass dieser in künstlerischer Hinsicht weniger werlvoll ist, aber es muss aner- kannt werden, dass er mit einer gewissen historischen Notwendigkeit kommt. Ks ist nicht die Aufgabe der Geschichte, zu tadeln oder zu loben, sondern zu erforschen, was die Entwicklung an Vernunft enthält. Man konnte in Florenz und in Korn nicht in Unwissenheit über Tizian sein, ebensowenig in Venedig über Michel Angelo. Man sah, dass hier zwei Elemente gesondert auftraten, dass sie aber beide dasselbe Ziel hatten: die menschliche Gestalt. Die Elemente waren jedes für sich in so grosser Vollkommenheit gegeben, dass man nur bewundern und garnicht daran denken konnte, es noch besser zu machen. Dagegen konnte man daran denken , sie zusammen zu arbeiten, in der Hoffnung ein noch vollkommeneres Menschenbildnis dadurch zu erzielen. .Ia, man musste bis zu einem gewissen Grade daran denken: sobald die beiden Elemente in dasselbe Künstlerbewusstsein aufgenommen wurden, mussten sie, kraft psychologischer Gesetze, dannach streben, sich zusammen- zuarbeiten. Aber hierdurch ist man auf den Grund der Reflexion geraten. Man steht der menschlichen Gestalt nieh) mehr unmittelbar und aus erster Hand als Gegen- stand gegenüber; man operiert mit gegebenen künstlerischen Resultaten, deren Einseitigkeit man einsieht, und strebt durch eine Kombination weiter zu gelangen, ohne von neuem den Gegenstand selber in unmittelbare Betrachtung zu ziehen. Man gelangte auch wirklich dahin, die Einseitigkeit aufzuheben, aber nur, indem man die ursprüngliche Kraft der Kleinente schwächte, und ohne die Betrachtung der mensch- lichen Gestalt mit einer neuen Auffa.ssungswei.se zu bereichern. Man irrte sich hier abermals in der Bedeutung des künstlerischen Resultats. Ein Kunstwerk kann nicht die allseitige Auffassung der menschlichen Gestalt zum Ausdruck bringen; das schuf nur die Geschichte durch ihren ganzen Verlauf in allen ihren Stadien. Die Kunst ist ja gerade die durch das warme Gefühlsverhältnis zum Gegenstand bestimmte und konsequent durchgeführte Auffnssungsweise, und daher ihrer Natur zu Folge, einseitig. Im Leben selber, in «1er Natur, existiert der Mensch in seiner Allseiligkeit, und dort kann man ihn sehen. Jemehr die Kunst an einer allseitigen Auffassung arbeitet, umso überflüssiger macht sie sich selber. Der einzelne Künstler und das einzelne Kunstwerk können nie weiter kommen, als dass sie etwas bestimmtes über ihren Gegenstand aussagen, entsprechend dem Verhältnis des Subjektes zu ihm  : je wärmer, frischer, feiner man auf die Sache eingeht, um so besser.

Das erste Beispiel von bewusstem Eklektizismus liefert wohl Sebastian del Fiombo, der durch zusammenarbeiten mit Michel Angelo, zuweilen, indem er diesen als Zeichner für sich arbeiten liess, dessen Vorzüge mit dem Kolorit zu vereinigen suchte,



— 287 -


<lie er .selber aus der venetianischen Schule mitbrachte. Das ist ein Beispiel dafür, dass grosse Künstler in den Irrtümern des Eklektizismus befangen sein können, was nicht so wunderbar ist, als sie in ihrem Enthusiasmus die Grenzen für die Natur und die Bedingungen ihrer Kunst nicht recht beachten oder auch nicht kennen. Ein anderes frühes und bedeutendes Beispiel hat man in Tintoretto, der in Opposition mit dem Hauplmeister setner, der venetianischen, Schule dessen Einseitigkeit aus- füllen wollte, indem er sich Michel Angelos Zeichnung aneignete. Seine Devise war: il disegno di Michel Angelo el il colorito di Tiziano. Er erreichte weder Michel Angelos Zeichnung noch Tizians Farbe: aber er erreichte zweifelsohne etwas von beidcui und rettete seinen Eklektizismus dadurch, dass er selber eine lebensvolle und interessante Natur war. Seit dieser Zeit strebten überhaupt die Venetianer danach, sich mit Problemen zu beschäftigen, die die Hauptmeister der andern Schulen gepflegt hatten: Michel Angelos und Correggios Freiheit in der Bewegung und Beherrschung der Verkürzungen. Auch Tizian wurde in seinem Alter ein wenig in diese Bichtung hineingezogen (z. B. in der grossen la gioria in Madrid), und wurde insofern ein wenig Eklektiker. Auch bei Paolo Veronese kann man merken, dass das Pro- gramm der venetianischen Schule in Bezug auf die Behandlung der Figur ein wenig erweitert ist. Mehr aber noch zeigt Paolo Veroneses ganze Kunst, dass Venedig eine kräftige nnd ausgeprägte lokale Eigentümlichkeit länger bewahrte als alle die andern italienischen Schulen. Bei ihm hat das eigentlich humanistische Streben keinen Spiel- raum mehr; er hat nicht viel von dem, was man künstlerische Philosophie nennen könnte, keine sonderliche Tendenz, das allgemein menschliche zu schildern, sondern er gibt seinen Figuren — den nackten, wie den angekleideten — eine gewisse venetianische Modetournure. Etwas hiervon gelangt sogar bei den gleichzeitigen Bild- hauern (z. B. bei Alessandro Vittoria) zum Ausdruck.



GENAUERE CHARAKTERISTIK DER RENAISSANCE-KUNST UND IHRER HAUPTREPRÄSENTANTEN.


Mit dem Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts, als«  gleichzeitig mit der grossen Umwälzung in der bildenden Kunst tritt auch der Durchbruch in der italienischen Kunst ein, vor allem in der Toskanas, dann aber auch in der des östlichen und nordöstlicheren Italiens. Es fing wie in den Niederlanden damit an, das«  einem überhaupt die Augen geöffnet wurden: man stellte sich in ein vorbehaltloses und unmittelbares Verhältnis zu der wirklichen Natur. Aber in Italien wird die Be- trachtung keineswegs gleichmässig über die ganze sichtbare Natur verleilt: man hat vorzugsweise immer Auge für den Menschen. Hier arbeitet auch die Plastik, die ja am liebsten die menschliche Gestalt von der Umwelt isoliert, gleichmässig mit der Malerei zusammen.

Darin, was die Mitwelt von der Kunst verlangte, trat keine sonderliche Veränderung ein: das waren in erster Linie die ererbten kirchlichen Vorwürfe. Aber an die ererbten Formen und Menschentypen fühlt man sich nicht gebunden: das Auge wird von dem angezogen, was es wirklich im Leben sieht. Und das Wirkliche ist immer das Individuelle. In Italien wie in den Niederlanden fängt auch die Porlrät- kunst an, zu florieren: und nicht nur das: man legt auch, was man in der wirk- lichen Well gesehen hat, in die idealen Aufgaben hinein, — ein lebender, ehr- würdiger oder schöner Mensch fiössl jetzt grössere Bewunderung und mehr Kespekt ein, als die Gestalten, die man jetzt aus der" vorausgehenden Kunst kannte. Es kommt etwas Porträt artiges in die ganze Kunst hinein ; bei den allermeisten Menschenbildern der italienischen Kunst aus dem fünfzehnten Jahrhundert — was sie auch vorstellen mögen: Madonnen, Heilige, Helden und Philosophen des Altertums oder wirkliche Menschen fühlt man, dass es etwas ist, worauf ein einzelner Mensch, der Künstler, im wirklichen Lehen wirklich geslossen ist.

Im Gegensatz zu der Antike, d. h. der ursprünglichen griechischen Kunst, wo ein gemeinsam vorherrschender Volkswille dem Einzelnen Gesetz und Norm vorsehrieb, emanzipierte sich jetzt dus Verhältnis des Einzelnen zu dem Einzelnen : das Interesse


I I


- 289 -

der begabten Individuen bat freien Spielraum und reissl das Volk mit fort. In ibrer späteren Zeit batte die Antike ja aueb einen scharfen Sinn für die Mannigfaltigkeit, der Individualitäten entwickelt, und nun begann die ilalienisebe Kunst dort, wo die Antike aufgebort batte. Aber der Stil ist weniger rubig und sieber in der Auffassung des Ganzen, als der der Antike, man gebt bei der Behandlung der Oberfläche mehr ins Detail. Auf der andern Seile geht man hierin doch nicht so weil wie die Niederländer, die gern über jedes Detail straucheln : im Vergleich mit ihnen zeichnen sich die Italiener, wie überhaupt alle südländischen Künstler, durch bessere Linien und grösseren Stil aus.

So haben die Italiener des fünfzehnten Jahrhunderts der Welt eine unvergleich- liche Galerie von menschlichen Charakterschilderungen geschenkt, mit einer Ehrlichkeit und Echtheit aufgefasst, wie sie später nur selten erreicht und nie überlroflen worden ist. Es sind scharfgeschnitlene Typen von derben, ernsten Männern und ehrwürdigen Greisen, Charaktere aus Erz und Granit, zuweilen von einer ganz imponierenden Macht und Grösse (Masaccio. Donatello, Verocehio, Mantegna, Bellini u. a.). Da sind fromme Mönche, wie sie im Leben gingen und standen. Da sind Jünglinge, zugleich frisch und keck und jugendlich träumerisch. Da sind Kinder, wirklich rundliche, dralle, fröhliche, naive Kinder (Kobbia) im Gegensatz zu den Kindcrgestalten des Mittelalters, die eigentlich Miniaturbilder von Erwachsenen gewesen waren. Und statt den traditionellen Frauentypen des Mittelalters malte man die wirkliche Frauennatur (Filippo Lippi, Hoticelli) häufig mit dem einfachen Gepräge des jungen Bauernmädchens, mit träumenden Gedanken und vorzugsweise mit niedergeschlagenen Augen, frisch und lieblich wie die ersten Blumen des Lenzes, die aufsprossen, während das Welter noch zu kalt ist. Man bildet zuweilen die Heiligen-Szenen der bürgerlichen Wirklichkeit sehr genau nach, ja führt sogar zuweilen einen Chor aus der guten Gesellschaft der Zeitgenossen, Personen, die von allen gekannt waren, als Zuschauer der Begebenheiten ein. (Dom. Ghirlandajo).

Während sich die Kunst des Jahrhunderts in den Niederlanden gleich mit den Gebrüdern van Eyck am reichsten und schönsten entfaltete, macht sich in Italien ein unablässig energisches Vorwärtsstreben geltend, ein mächtiger Wogenschlag in der Entwicklung, die dann im Anfang des sechzehnten Jahrhunderts kulminierte. Es ist unmöglich, eine scharfe Grenze zwischen der Vorbereitung und der Kulmination zu ziehen: die Bedeutung von dem, was vorausging, sieht man erst so recht im Lichte dessen, was nachfolgte. Und doch besteht ein grosser Unterschied zwischen dem Charakter der Kunst des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts. Nachdem man zu Anfang den Aufgaben gegenüber gleichsam demütig auf den Knieen gelegen, und sich in die reale Mannigfaltigkeit der objektiven Charaktere wie in ein Wunder vertieft batte, gewann man allmählich durch eifrige Studien eine grössere Macht über die Aufgaben.

Die Kunst hat gleichsam die harten Bestandteile der objektiven Welt verdaut, sie in ihr Fleisch und Blut aufgenommen: die künstlerische Subjektivität kann, ge- nährt und gekräftigt, ihre eigenen Anschauungen über die höchste Schönheit ein-

19



- 200 —

setzen. Sie hat jelst ihren eigenen, freien Begriff von dem Menschen. Dadurch trat die Veränderung ein, das» die Gestalten jedes einzelnen Künstlers untereinander gleichartiger wurden, indem sie alle nach seiner Objektivität und der Vorstellung, die sich diese von der Schönheit machte (Idealismus), Gestalt annahmen. Und dies führte wiederum naturgcmüss dazu, dass die Kunst eine besondere Vorliebe für die jüngeren — weiblichen oder männlichen — Gestalten oder für die Kindergestalten fasste. Während die Physiognomien des Altertums stärker ausgeprägt sind und mehr Respekt als Vertrauen einflössen und sich deswegen schwer in dem Feuer der Subjekti- vität uinschmelzcn lassen, ist die Jugend und die Kindheit ein weicheres Wachs, ein 'willigeres Organ für das subjektive Gefühl.

Aber Ideale zu schaffen und sie siegreich ins Leben hinauszuführen, ist eine Tat, die eine seltenere künstlerische Anlage erfordert, als das Charakteristische im Leben zu schildern : das wurde mehr die Sache einzelner, grosser Künstler, denen dann je ihre Schule folgte. Als solche grosse Künstler, die die Kulmination des italienischen Humanismus bezeichnen, pflegt man fünf Namen zu nennen: Leonardo da Vinci, Michel Angelo Buonarotti, Ralfael, Correggio und, unter den Venetianern, Tizian. Dies darf nicht so verstanden werden, als ob nicht auch andere Künstler aus jener Periode dagewesen wären, die im einzelnen Figuren hervorgebracht haben, die sich in künst- lerischem Wert vollkommen mit den einzelnen Gestalten jener Künstler messen konnten: im Gegenteil, das kann man mit voller Begründung von mehreren sagen, wie von Soddoma, Andrea und Jacopo Sansovino, Andrea del Sarto, Luini, Sebastian del Piombo und dem älteren Palma — Giorgione mag ich kaum nennen, da man so wenig Wirkliches von seiner Kunst kennt, namentlich nach der Richtung hin, von der wir hier reden. Denn hier ist nicht die Rede von dem künstlerischen Wert, aus- genommen, wo er einen eingreifenden Einfluss auf die historische Entwicklung erhielt. Und da hat die kunsthistorische Tradition recht, wenn sie jene fünf Namen der Grossmeister der italienischen Kunst hervorhebt : sie waren es vor allen Dingen, die die Arbeit der Vergangenheit vollendeten und sie an die Nachwelt weiter gehen liessen, und die von dieser als Autoritäten betrachtet wurden, jeder in seiner indi- viduellen Richtung. Deswegen ist es richtig und notwendig, sie in dieser Entwicklung einzeln als Individuen zu charakterisieren.


Vorerst aber ist es unsere Aufgabe, das eigentümliche humanistische Interesse der italienischen Kunst und die künstlerische Studien-Arbeit zu charakterisieren, die schon mit dem fünfzehnten Jahrhundert begann und zum Teil schon seiner realis- tischen Kunst ihr Gepräge verlieh, und die dann in die grosse Kunst der Kulmi- nationszeit überging.

Man hatte in Italien der nackten Gestalt immer näher gestanden als in den nordischen Ländern ; jetzt begann sie der eigentliche Lieblingsgegenstand der Kunst zu werden — zum ersten Mal seit den Tagen der Griechen. In dieser Vorliebe liegt



- 201


ein Keim zu einem wirklichen Humanismus auch da, wo der Geist des Humanismus der Geslall noch nicht eingeblusen ist.

Anfangs wagte man sich nur ängstlich an die nackte Figur heran  : man führt sie mehr als sonst in christliche Vorwürfe ein. Schon Masaccio. erregte (ca. 1430) grosses Aufsehen durch seinen entkleideten Jüngling auf dem Gemälde von der Taufe I'etri in der Carmine-Kirche in Florenz : er wurde während des ganzen Jahrhunderts von den Künstlern studiert. Der Märtyrer Sebastian mit seinen Pfeilen, der ursprünglich als römischer Soldat aufgefasst war, wird allmählich zu einem Ideal des schönen nackten Jünglings entwickelt, und wird, sicher aus ästheti- schen Gründen, ein sehr bevorzugter Heiliger, eine Art leidenden, pathetischen Gegenstückes zu dem antiken Apollo.

Ausserdem fand man Anlass, die menschliche Figur nackt darzustellen, indem man Vorwürfe aus der antiken Literatur aufnahm, die ja jetzt allge- meiner zugänglich wurde und als weltliche Autorität neben der christliehen Kirche stand. Es ist natürlich eine Selbslfolge, dass der Figurenstil in der Behandlung antiker Vorwürfe ganz modern ist  : man hat nicht zwei Arten von Figuren zur Ver- fügung, antike und christliche. Auch in dem Stimmung»- und Gefühlsleben der beiden Arten von Bildern macht sich kein Unterschied bemerkbar, der dem wirk- lichen Unterschied zwischen Heidentum und Christentum entspricht  : da9 Altertum wird noch sehr subjektiv und willkürlich aufgefasst.

Das Interesse für die nackte Gestalt hat auch in der neueren Zeit eine ganz andere Grundlage als im Altertum : es knüpft sich nicht an das wirkliche Leben, nicht an etwas an, das im bürgerlichen Leben existierte, wie die griechische Gymnastik ; es hat nichts von der ethisch politischen Bedeutung wie in Griechenland. Die Nackt- heit in der Kunst tritt von nun an gerade im Gegensatz zu dem wirklichen Leben auf: sie wird ein Freibrief, eine Emanzipation, die man der Kunst in den letzten vier Jahrhunderten eingeräumt hat, während man nicht daran denkt, der Wirk- lichkeit entsprechende Zugeständnisse zu machen.

Trotzdem würde es ganz verkehrt sein zu glauben, dass die Nacktheit in der Kunst allein von einem rein künstlerischen Interesse gelragen wird, hu dem nur die Künstler selber oder ihr Kreis teilhaftig sind : im Gegenteil, die Kunst spricht hier im Namen der Menschheit, befriedigt ein Bedürfnis unserer Vorstellung, obwohl eine so bestimmte Grenze zwischen der Vorstellung und der Wirklichkeit gezogen ist. Selbst wenn die dicht schliessende Kleidung noch so sehr in die Gewohnheiten des Lebens aufgenommen ist, so dass der angekleidete Mensch in Wirklichkeit das Gewöhnliche ist, der nackte Mensch die Ausnahme bildet, so ist der Mensch doch nicht mit Kleidern geboren. Sobald man überhaupt die menschliche Natur zu ihrem Recht gelangen lässt, drängt sich uns auch das Bewusstsein eines Zwiespalts zwischen Natur und Gewohnheit in diesem Punkte auf: man ist sich bewusst, dass der angekleidete Mensch das Unnatürliche ist, der nackte Mensch aber das Natürliche. Darum liegt auch in dem Menschen als Gattungswesen ein tiefes und unvergäng- liches Verlangen, die nackte menschliche Gestalt zu sehen, ein Verlangen, das von



der Kunst befriedigt werden muss. Je mehr das Nackte in Wirklichkeit die Aus- nahme ist und als Ausnahme betrachtet wird, desto mehr kann es — das Weibliche für den Mann, das Männliche für die Frau — als verbotene Frucht ein Sporu für die geschlechtliche Begierde werden, und also, da es diese nicht befriedigen kann, auf seelische Abwege lenken. Dies darf aber nicht mit dem wahren und freien Kros verwechselt werden, der zwischen den Menschen untereinander herrscht und durch Beschauen erweckt wird, und der gerade nicht davon ausgeht, dass die Nacktheit die Ausnahme ist, sondern dass sie für die Betrachtung des Natürlichen am Menschen sein wesentlicher und eigentlicher Zustand ist — der reine Mensch. (Piatons Phädros).

Dem kleineren Eros wurde wohl auch in der italienischen Kunst gehuldigt, 'der wahre und grosse aber hat die Uehermacht und macht die Kunst gross und schön. Er machte die Künstler zu wahren Enthusiasten der nackten Gestalt; und dieser Enthusiasmus tritt jetzt oft rücksichtsloser und geschmeidiger auf als im Altertum, gerade weil der Gegensatz zu der Wirklichkeit und der Tradition so gross ist. Man stellt zuweilen die nackte Gestalt, den reinen Menschen, nur als solchen dar, ohne Rücksicht darauf, ob er durch irgend einen allegorischen oder mythologischen, welt- lichen oder biblischen Namen eingeführt werden kann, der eine objektive Veran- lassung zu der Nacktheil enthalten könnte.

An den Bildern vom jüngsten Gericht sieht man vielleicht am allerdcutlichsten, wie sich die Auffassung dieser Sache verändert hat.

Wir haben bereits erwähnt, wie sich das Mittelalter die Menschheit wie ein grosses architektonisches Werk aus lauter verschiedenen Ständen in ihrer langen Reihenfolge von dem niedrigen bis zu dem höheren und höchsten, aufgebaut gedacht hatte: jeder Stand war durch seine besondere Tracht charakterisiert. Diese Standes- unlerschiede schrieb man sogar gewissermassen einem ewigen und himmlischen Gesetz zu und verlieh ihnen göttliche Sanktion, indem man sie auf den Bildern vom jüngsten Gericht von der Erde ins Himmelreich überführte: dort sollten die Men- schen auch jeder seinem Stand angehören und jeder in der ihm zukommenden Kleidung gehen. Selbst wenn die Toten nackt aus den Gräbern auferstehen, was nicht einmal das Gewöhnliche ist, so sind sie doch im Paradies angekleidet; zuweilen stehen an der Paradiesespforte Engel, die den Auferstandenen Kleider anziehen, nämlich Standestruchten, Ornate. Ebenso sind alle die Heiligen, die den Weltenrichter begleiten, bekleidet. Nur die Verdammten, die in der Hölle gemartert werden, sind immer ganz nackt. Dies ist das deutlichste Kennzeichen, dass das Mittelalter die Nacktheit antihumanistisch auffasst, als Zustund des Elends und der Unwürdigkeit.

Aber diese Vorstellung wird auf dem Höhepunkt des Humanismus in den grossen Bildern vom jüngsten Gericht von Signorelli (Orvieto 1490^-1503) und von Michel Angelo (in der Sixtinischen Kapelle 1534 — 1541) völlig über den Haufen geworfen. Schon Signorelli malt die Seligen im Paradies nackt wie Adam und Eva und wie die Verdammten in der Hölle. Er behält freilich noch die Kleidung für die Heiligen, die Christus umgeben; Michel Angelo aber geht noch weiter und malt das ganze



— 203 -


jüngste Gericht: Christus, die Heiligen und die Seligen, Engel und Teufel, sowie die Menschheit wesentlich mit nackten Figuren, indem das Gewand auf das allergeringste reduziert ist und nur da/u dient, die allerstrengslen Anforderungen des Anstände» zu wahren, so wie ein Italiener aus jener Zeit sie auffasstc. Damit ist die Ehre der Nacktheit in der Kunst wieder hergestellt, und es ist gerade durch sie ein neuer Begriff von der Menschheit geschaffen und illustriert, bei dem man von der ur- sprünglichen Aehnlichkeit der Menschen untereinander als dem eigentlich Gültigen, als dem, was die Sanktion der Ewigkeit hat, ausgehl, während der Standesunterschied abgestreift ist als etwas Unwesentliches, das dem kurzen Erdenleben angehört. Der Mensch ist Mensch; deshalb ist die Nacktheit sein eigentlicher Zustand. Hierbei wird freilich vorausgesetzt, dass die Nacktheit ganz idealistisch und einförmig aufgefasst wird ; denn im realen Leben ist ja nicht nur die Kleidung, sondern aueh die Nacktheit voll individueller Verschiedenheiten.

Es liegt in dieser neuen Auffassung der Nacktheit eigentlich ein sozial-philoso- phischer Gedanke, obwohl er vorläufig in die Ewigkeit hinausgeschoben und nicht auf das wirkliche Leben angewendet wird. Ein Gedanke in ähnlicher Richtung, aber in ganz anderer Form, tritt uns in den sogenannten Totentänzen in der Kunst der nördlicheren Länder aus derselben Periode entgegen. Sie handelten ebenfalls von dem Vergänglichen und Nichtssagenden der irdischen Standesunterschiede : als grosser radikaler Demokrat tanzt der Tod Kehraus mit Papst und Kaiser, mit Kardinal und König wie mit Bettler und Bauer. Es lag hierin ein Stachel, den der gewöhnliche Mann sehr wohl herausfühlen konnte, und der sicher seine politische Bedeutung gehabt hat. Aber die nordischen Totentänze haben nur selten einen grösseren künstlerischen Werl; und da es gerade darauf ankam, alle die verschiedenen Stände, denen der Tod ein Ende machte, durch ihre Trachten zu charakterisieren, so gaben sie keine Veranlassung zur Darstellung des Nackten. Die Nacktheil ist wie der Tod demokratisch  : beide machen die Menschheit gleich. Aber die Italiener wählten die positive Form : die ideale menschliche Gestalt, und die Darstellung des humanistischen Geistes war noch ein Privilegium der italienischen Kunst.

Höchst bezeichnend ist es auch, dass Michel Angelo die Christusgestalt (nicht nur als Weltenrichter oder in seiner Passion) ganz nackt darstellt, als Heros des Kreuzes, während Christus in der nordischen Kunst noch wesentlich eine antihuma- nistische Figur war.

Mit der sich steigernden Vorliebe für das Nackte stand auch (bei den Kunst- werken) eine Veränderung im Charakter der Gewandung im Zusammenhang. Man liebt überhaupt nicht sehr, was an ein Ornat erinnern kann, sondern zieht den freieren, plastischeren Schnitt der Antike vor, ohne jedoch die wirkliche antike Kleidung strenge nachzuahmen. Zuweilen macht man in umfassendem Massstab Gebrauch von der Künstlerfreiheit, zu wählen, was für den einzelnen Fall am besten passt und was das Nackte am besten zu seinem Recht kommen lässt. In der realen Mode des Zeit- alters war das enganschliessende Trikot bei der männlichen Kleidung sehr beliebt.

Dass man, wie oben erwähnt, gern Vorwürfe aus der antiken Literatur und



- 294 -

Mythologie aufnahm, ist etwas ganz anderes, als dass man seinen Figurenstil wesent- lich nach der antiken Kunst gohildet haben sollte. I)a9 tat man gerade im wesent- lichen nicht: ein bestimmteres Studium nach antiken Figuren kommt wohl an vielen einzelnen Punkten vor, und von einer einzelnen Schule, Squarciones in Padua, wie von dem Garten der Medicüer in Florenz hiess es, dass man dort Studien nach an- tikeu Figuren trieh; dies alles hatte aber doch keineswegs die Macht, den modernen Figurenstil in antikem Geist zu formen.

An der Natur selber studierte man in weit höherem Grad die mensch- liche Gestalt.

Man benutzte hierbei natürlich das entkleidete Modell; das konnte aber nur einen geringen Ersatz bieten für den leichten Zutritt zum unmittelbaren Studium des lebenden, nackten Menschen in freier Bewegung, den das antike Leben bot. Dahin- gegen suchte man Ersatz in einer ganz andern Richtung durch das Studium der Leiche und durch die Dissektion: die Anatomie, die bereits im späteren Altertum ein Gegenstand des Studiums des Künstlers gewesen war, wurde jetzt die eigentliche Quelle zu einem tieferen Verständnis der Formen. Man muss sich erinnern, dass die Anatomie jetzt ja von neuem entdeckt werden musste : das künstlerische Interesse nahm hier einen halb wissenschaftlichen Charakter an, und im fünfzehnten und zu Anfang des sechzehnten .Jahrhunderts gingen die künstlerische und die wissenschaft- liche Arbeit auf diesem Gebiete völlig Hand in Hand. Man forschte mit einem glühenden Eifer, um die Geheimnisse der Natur zu ergründen, oft selbst im Geheimen, indem man ahnte oder fühlte, dass man Iiier das wichtigste Instrument für den künstlerischen Humanismus gefunden hatte.

Das hatte aber viel Einseiligkeil im Gefolge. Der unmittelbare erotische Ein- druck der menschlichen Gestalt wurde durch all dies Arbeiten mit der laiche und das Zerschneiden derselben auf eine harte Probe gestellt: und es ist kein Wunder, dass die Künstler, die sich hauptsächlich auf diesem Wege ausbildeten, die blühende Frische und l^bensfreude der Antike in der Behandlung nicht erreichen konnten. Man kann zu seinem Staunen die Leiche als Gegenstand künstlerischer Liebe, sogar als Element in der Dekoration angewendet linden.

Wenn man die menschliche Gestalt anatomisch studiert, so studiert man sie Punkt für Punkt, Stück für Stück. Man verliert leicht den Ueberblick über das Ganze, indem man über die Leiche gebeugt steht. Die Aufmerksamkeit konzentriert sich namentlich auf die einzelnen Glieder und die Funktion der Organe in ihnen; das ist ein beachtenswertes und anziehendes Thema, und man denkt darüber nach, welche Bewegungen die Organe hervorzubringen imstande sind, man beschäftigt sich sogar gern mit dem Schwierigsien, dem äussersten, was möglich ist. Man gibt selbst, willkürlich, die Bewegung auf und sucht dann durch die Anatomie Klarheit zu erlangen, wie sich die Organe unter den gegebenen Voraussetzungen formen. Dahingegen lernt man durch die Anatomie nichts davon, welche Bewegungen die menschliche Gestalt in Wirklichkeit macht, um ein bestimmtes Ziel zu erlangen ; das kann man nur durch eine unmittelbare und sympathische Beobachtung dessen lernen, wie es im Leben



- 295 -

zugeht. Ein einseitiges anatomisches Studium kann sogar das Gefühl für das Natür- liche in der Bewegung ganz unsicher machen.

Aber die Bewegungen, die die Aufgaben der Kunst im Gefolge hatten, waren in Wirklichkeit auch ziemlich idealistischer Art, und dazu reichte eine einfache Lebens- erfahrung in bezug auf das Natürliche nicht aus. Man bewegte sich soviel im siebenten Himmel unter schwebenden Figuren. Das rein Praktische in der Bewegung hatte nur wenig Spielraum, weit weniger als in der Antike.

Von dem Mittelalter hatte die Kunst eine grosse Schwäche in der Auflassung des Statischen an der menschlichen Gestalt geerbt: es wurde den Künstlern schwer, das richtige Gleichgewicht in der stehenden Stellung zu finden. Das war etwas, wofür die Anatomie durchaus keinen Ausweg schaffen konnte. Es war und blieb in dieser ganzen Periode ein sehr allgemeiner Fehler, dass die Figuren schlecht und unsicher auf den Beinen stehen; selbst die hervorragendsten Künstler konnten in diesem Punkt schwach sein (Michel Angelo und vor allem Correggio); und sehr selten sind die Figuren, die ganz sicher stehen, wenn sie nicht eine breite, sperr- beinige Stellung annehmen, wodurch auf ganz elementare Weise für das Gleichge- wicht gesorgt ist.

Endlich hat das anatomische Studium etwas Abstraktes im Gefolge: es nimmt jedenfalls zu Anfang, keine Rücksicht auf den besonderen oder individuellen Cha- rakter, wie es sich konsequent durch den ganzen Körperbau offenbart. Alles wird auf das allgemeine durchgehende Modell zurückgeführt, nach dem alle Menschen gebildet sind. So fördert die Anatomie den Idealismus: sie gewährt feste Stützpunkte für eine freie dichterische Auffassung der Gestalt, die der einzelne Künstler in allen seinen Figuren einförmig durchführen kann.

Die eigentliche Stärke der Anatomie besteht darin, dass sie eine intelligente Analyse der Oberfläche der Gestalt lehrt und einschärft. Und die lernten die Italiener auch  : ihre Form ist sehr selten leer, vielmehr häufig zu inhaltsreich und zuweilen konnten sie eine Pracht und einen Reichtum an Körperformen entfalten, wie man in der Antike kaum etwas entsprechendes findet — diese Schullern ! Im Vergleich zu der Antike heben sie die Einzelheiten der Formen stärker hervor und geben so der Oberfläche und dem Umriss einen unruhigen, knotigeren, wogenderen Charakter. Die Antike stützt den Idealismus, indem sie eine breitere Behandlung der Oberflüche aufweist; aber selbst wo die Italiener des Studiums halber die Antike geradezu kopieren, können sie es nicht lassen, die Form stärker auf der Oberfläche zu accentuieren, als dies bei den antiken Vorbildern der Fall ist.

Auch nach anderer Richtung hin trieb man Figurenstudien, die viel dazu beitragen mussten, dem Ergebnis ein Gepräge zu verleihen, das von der Antike abwich. Indem man sich überhaupt so stark mit der perspektivischen Darstellung der Gegen- stände und des Raumes beschäftigte, wandte man auch die Perspektive auf die menschliche Figur an und ging darauf aus, die Darstellung derselben* in der Verkürzung vollständig zu beherrschen, in einem Masse wie es die Antike nie erstrebt hatte, und die auch dem Mittelalter völlig fremd war, da es diesem an



- 296 -


Fähigkeit und Kunstfertigkeit gebrach, sich tnit so schwierigen Problemen zu beschäf- tigen. Denn die Verkürzung ist gerade die grösste Schwierigkeit der Zeichenkunst. Das Auge hat eine eingefleischte Neigung, jeden Gegenstand, dem es seine Aufmerk- samkeit schenken will, in seiner grössten Ausdehnung zu sehen, auf diese Weise fassl es am deutlichsten die charakteristische Form des Gegenstandes auf. Es reizt das Auge, es kostet ihm Ucberwindung, Linien und Flächen verkürzt zu sehen, und eine sehr schwierige Hebung ist erforderlich, um sie korrekt auf der Fläche wieder- zugeben.

Wenn die Antike — und davon zeugen sowohl die erhaltenen Gemälde als auch der ganze Charakter der Kunst — so ungern die Figuren in der Verkürzung sehen mochte, so halte das sicher nicht seinen Grund darin, dass sie eine Schwierigkeit umgehen wollte, als vielmehr weil die Verkürzungen nicht imstande waren, das auszudrücken, was die eigentliche Absicht der Antike mit der Figur war. Das was sie beabsichtigte, war doch allemal in erster Linie zu präsentieren, die Gestalt dem Beschauer vorzustellen, am liebsten ganz und gar, und ihn gleichsam aufzu- fordern, zu sehen, wie schön und wie glücklich oder wie charakteristisch sie als Ganzes wie auch in allen ihren einzelnen Teilen entwickelt war. Diese Auffassung würde durch eine Darstellung in der Verkürzung nur gefördert werden; man würde bitten, ob man z. B. den Arm oder das Bein nicht ganz entfaltet sehen könne : dann könne man besser erkennen, wie es zu dem Uebrigen im Zusammenhang stehe. Etwas ähnliches gilt von jeder Kunst, die ihre Stärke in der konsequenten Durchführung des Charakters der Gestalt, ihres Habitus und ihres bleibenden Wesens über den gegebenen Augenblick hat, also gewissermassen auch von der Kunst des fünfzehnten Jahrhunderts in Italien mit allen ihren scharfen und eigentümlichen Charakterschilderungen. Deswegen wurde das Verkürzungszeichnen, das schon im fünfzehnten Jahrhundert in Florenz begann (Masaecio, Paolo Uccello) allmählich, als es mehr in den Schwung kam, eines der wichtigsten Mittel, um die Kunst von der ruhigeren, treuen Auffassung des besonderen Charakters der Gestalten in der älteren Zeil hinüberzuführen zu der freieren Herrschaft über sie und einem freieren Arbeiten an ihnen, durch das der objektive Charakter verschwindet.

Denn der Zweck der Verkürzungen ist, dass man die Situation der Figur oder ihre freie, selbstbestimnite Bewegung im Augenblick aufheben will. Man fragt weniger danach, was die Figur ist, als was sie will, oder was gerade mit ihr vorgeht. Man will gerade nicht, dass die Figur sich präsentieren lassen soll, dass sie sich nach dem Beschauer richten oder Bücksicht auf ihn nehmen soll, man wollte ihr Auftreten keinem künstlerischen Ceremoniell unterwerfen, man wollte alles Arrangierte oder Parademässige vermeiden. Die Kunst sollte sie im Gegenteil schildern, wie sie sich ungebunden und frei bewegte, gleichgültig ob ihre Stellung dadurch das Auge des Beschauers herausforderte oder reizte. Sehe ich eine Figur in starker Verkürzung von den Füssen nach innen zu liegen, so sage ich mir selber, dass sie so nicht daliegt, damit ich (der Besehauer) sie betrachten soll; aber sie wirkt gerade dadurch auf das Auge mit einer grösseren Illusion der Wirklichkeit,



- 297 —

des spontanen, augenblickliehen Lebens, mit einer vom Besehauer unabhängigen Selbst- ständigkeit. Es ist, als träfe oder überrumple man sie so, ohne dass sie Zeit gehabt hätte, sich für die Visite des Beschauers zu arrangieren, und deswegen glaubt man umsomehr an sie. Die Verkürzung gibt das, was die Franzosen l'imprevu nennen, und was sie so sehr lieben.

Aber dies Gepräge, dass alle Rücksicht auf den Beschauer vermieden ist, erreicht die Kunst nur durch ein weit strengeres Studium der Art und Weise, wie das Auge die Gegenstände sieht, selbst wo es sich um Gestalten handeil, die einfach aur der Bildfläche entfaltet sind. Der Sieg über diese Schwierigkeit gilt als höchster Stolz der Kunst: man wusste wohl, welche Summe von Virtuosität es erforderte (Masaccio, V&olo Uccello, Mantegna, Bramantino, Signorelli, Michel Angelo, Correggio). Dadurch aber entstand ein grosser Missbrauch dieses Kunstmittels. Während es eigentlich dazu dienen sollte, die eigene Freiheit und Unabhängigkeit der Figur zu sichern, ward es in der Hand manches Künstlers ein Mittel, sie zu tyrannisieren; man schaltete und waltete willkürlich mit ihren Stellungen, um Gelegenheit zu haben, seine eigene Herrschaft über die Schwierigkeiten zu zeigen. So kam es denn schliesslich doch dahin, dass der Künstler die Figur präsentierte, und was das Schlimmste war, nicht unu,ihret-, sondern um seiner selbst willen.

Die Verkürzung dient überhaupt dazu, die Bildfläche aufzuheben, einen Findruck hervorzurufen, dass der Raum, in dem sich die dargestellten Figuren befinden, unmittelbar in den übergeht, in dem sich der Beschauer aufhält, also den Besehauer ganz in die Welt des Bildes oder die Figuren des Bildes in die des Beschauers hineinzuziehen. Eine ganz besondere Anwendung hierfür fand man, wo es sich darum handelte, monumentale Bilder hoch oben im Raum zu malen, über den Augen des Beschauers, namentlich auf Decken- und Gewölbeflächen ; wenn man dort die Figuren so verkürzte, als ob der Beschauer sie wirklich von unten nach oben sähe (al di sotto in sü), so war es ja, als ob die Szene, die man malle, wirklich im Raum über dem Kopf des Beschauers vor sich gehe. Wenn diese Darstellungsweise genau durch- v*g. i«6. geführt wird, hat sie das vertraulichste Verhältnis zwischen Beschauer und Thema zur Folge, was gut dahin passt, wo das Thema einen leichteren dekorativen Charakter hat, weniger aber, wo es Ehrfurcht einflössen soll.

Auch hier hatten die älteren Florentiner den Weg gewiesen, aber die Darstel- lungsweise wurde als besondere Spezialität von einzelnen norditalienischen Malern (Mantegna, Melozzo da Forli) entwickelt. Die kühnsten Konsequenzen hieraus zog Correggio, namentlich auf seinem grossen Kuppelgemälde die Himmelfahrt der Maria im Dom zu Parma (152Ö — :i0), wo Alles auf die vertraulichste Illusion angelegt ist, wo aber auch alle Würde in der Schilderung aufgelöst ist, indem man alle die schwe- benden Engelsfiguren von unten sieht, zwischen ihren Beinen hindurch. Nach diesem erstaunlichen Beispiel werden viele Gewölbcgemälde auf diese Weise in Italien gemalt, und dann auch in dem übrigen Europa, bis in das achtzehnte Jahrhundert hinein. Und es wurde darin oft eine ausserordentliche, aber inhaltslose Virtuosität entwickelt.



- 298 -


In dem Vorhergehenden haben wir im wesentlichen an solche Fälle gedacht, wo die Figur als Ganzes wesentlich in der Verkürzung dargestellt ist. Es ist ausser- ordentlich charakteristisch für die italienische Kunst, dass sie sich so sehr für diese Aufgabe interessierte; aber in Folge der Natur der Sache konnte man doch nur eine sehr begrenzte Anwendung dafür finden: namentlich liegende Leichen, liegende schla- fende Figuren, ausser den schwebenden. Ausserdem ist die Verkürzung der Figur als Ganzes selbstredend nur ein Problem für die Darstellung auf einer Fläche (Malerei, Zeichnung, Kupferstich u. s. w. zur Not auch das Relief), findet aber keine Anwendung bei den Statuen, weil kein bestimmter Gesichtspunkt für die Betrachtung einer Statue angegeben ist. Ueberhaupt handelt es sich bei der Verkürzung der Figur als Ganzes ja nur darum, wie sie vom Beschauer aus gesehen wird, nicht aber um etwas, was damit im Zusammenhang steht, wie die Figur an und für sich ist.

Anders verhält es sich mit der Verkürzung der einzelnen Teile der Figur, wenn das grosse Ganze nicht in Verkürzung dargestellt ist. Im fünfzehnten Jahrhundert begnügt man sich noch durchgehend» mit einer ruhigeren Entfaltung der Figur als Ganzes, mit einfacheren sogar steiferen Stellungen, wenn auch manches Phänomen schon auf den neuen Geschmack hinweist, der sich vom Anfang des sechzehnten Jahrhunderts an entwickelt und eine ganz neue Welt von Figuren hervorruft. Dieser erhält seinen Hauplcharakterzug aus der Lust des Künstlers, die verschiedenen Partien der Figuren unter einem verschiedenen Sehwinkel zu sehen : der Oberkörper wird im Verhältnis zum Unterkörper gedreht, oder er wird nach vorne oder nach der Seite gedreht, Kopf und Hals im Verhältnis zu dem Körper, die Arme zu den Schultern und die verschiedenen Teile der Beine werden nach verschiedenen Richtungen hin verschoben. Im Gegensatz zu der Antike, die im Ganzen die Figur ruhiger in einem einfachen Plan entfaltet und sie innerhalb bestimmterer Flächen zusammenhält, ziehen die Italiener ein stärkeres Koutraposto vor, eine freiere Verschiebung der Teile nach allen Richtungen des Raumes. Und diese Eigentümlichkeit, die sich nicht allein darauf bezieht, wie man die Figur sieht, sondern auch auf ihren inneren Zusammenhang, gilt auch von ihr, von welchem Gesichtspunkt man sie auch betrachtet, und hat selbstverständlich nicht weniger Bedeutung für die Statue als für die Flächendarstellung. Sie hat eine weit umfas- sendere Anwendung und eine eingreifendere Bedeutung für die italienische Kunst als die Verkürzung der Figur als Ganzes. Das E'hänomen kann von verschiedenen Ausgangspunkten aus aufgefasst und erklärt werden, sowohl von einem mehr körper- lichen und künstlerischen als von einem mehr innerlichen und psychischen. Denn die unruhige Stellung wird ja der Ausdruck für ein unruhigeres Verhältnis zwischen Leib und Seele. Die italienischen Figuren empfinden mehr als die antiken ein Bedürfnis, sich frei und willkürlich zu bewegen, sie sind weniger unmittelbar zufrie- den mit einer gegebenen Stellung, sie merken und fühlen mehr ihr eigenes, unruhiges Ich, das sie treibt, eine neue Position zu suchen. So macht die Stellung, in der sich eine Figur gerade zeigt, mehr den Eindruck eines Uebergangsstadiums ;



- 299 -


es fällt ein wichtigerer Accent auf das Momentane, und im Ganzen wird dies in der weiteren Entwicklung der Kunst stärker und stärker betont.

Diese Lust, die einzelnen Teile der Figur in Verschiebung zu sehen, hat auch zur Folge, dass die Behandlung des Reliefs durch die Italiener mit seltenen Ausnahmen weniger gleichmässig und ruhig werden musste, als die der Antike indem die verschiedenen Teile der Antike in allerhand schrägen Stellungen zu der Hintergrundfläche unordentlicher hervorstehen. Ausserdem trat — in der Plastik wie in der Zeichnung und in der Malerei — die Figur im Licht anders hervor als in der älteren Kunst oder in der Antike. Die Lichtmasse ergiesst sich nicht gleichmässig und ruhig darüber, sondern hebt stark bestimmte Funkte und Partien hervor, z. B. einen Scheitel, eine Schulter, ein Knie u. s. w., während grosse Flächen im Halblicht oder im Schatten liegen. Die Linien des Umrisses machen sich mit geringerer Schärfe geltend, sie lösen sich auf, fliehen, verschwinden. Diese Lichtverteilung über die Figur nach einer erweiterten Skala (das «Clair-obscur») wird Gegenstand grosser künstlerischer Aufmerksamkeil und eifrigen Studiums : auch die Bildhauer haben es zuweilen in Betracht gezogen (Michel Angelo, Bcgarelli), selbstredend aber bleibt es in der Hauptsache eine Aufgabe für die Malerei (Leonardo, Michel Angelo, Correggio, Andrea del Sarto). Man sucht bei der Verteilung von Licht und Schalten auf die Oberfläche des Körpers, namentlich des Gesichts, die feinste Modulation des ausdrucksvollen Formenspiels (Leonardo). Die Kolo- riten studieren alle Verwandlungen, die die Lokalfarbe des Körpers im Halblicht und Schatten durchmacht, und die ganze Farbennuancierung vom höchsten Licht bis zum tiefsten Schatten. Auch den Weg zu dieser Aufgabe hatten die Florentiner bereits früh gezeigt (Masaccio); sie wurde in Norditalien in Vollkommenheit im sechzehnten Jahrhundert von Andrea del Sarto gelöst, vor allen aber von Correggio in Norditalien. Die Schilderung der Lokalfarbe selber ward namentlich die Sache der Venetianer und wird in der Darstellung derselben eingehender besprochen werden.


Mit der Lust, die Figur, oder ihre einzelnen Teile in Verkürzung zu sehen, lässt sich schwer eine strenge Beobachtung ihrer Proportionen vereinen. Man kann wohl sagen, dass die Proportionalität der Figur — das an das Gesetz gebundene, streng bestimmte Verhältnis zwischen den Massen der einzelnen Teile eine gleich wichtige Sache bleibt, wie man sie auch sieht, und dass sie nur schwerer durchzu- führen ist und eine höhere Hebung erfordert, wenn man ati dem einen oder dem andern Gliede alles in Verschiebung sieht. Es handelt sich hier, wie Uberall, um die besondere Richtung, die das Interesse für die Figur genommen hat; und es ist ganz selbstverständlich, dass das Interesse für die freie Bewegung der menschlichen Gestalt in allen Dimensionen des Raumes im Gegensatz steht zu der Auffassung der Gestalt als ruhiges, architektonisches Kunstwerk aus der Hand der Natur.

Auch das anatomische Interesse musste die Aufmerksamkeit von der Proportio- nalität der Figur ablenken, weil sie — wie wir gesehen haben — die Aufmerksamkeit von der Figur als Ganzem ablenkte und sie auf die einzelnen Partien und Punkte



der Figur konzentrierte. Die Proportionen haben ja nichts zu schaffen mit den ein- zelnen Stücken für sich, sondern gerade mit ihrem Verhältnis untereinander, es handelt sich also um den Ueberblick über die Totalität der Gestalt.

Daher kam es, dass das Studium der Proportionen niemals die eingreifende Bedeutung für die italienische Kunst erlangen konnte, die es für die Antike gehabt hatte. Es fehlte freilich nicht an Betrachtungen über dies Thema, an Systemen und Beobachtungen ; und bis zu einem gewissen Grad waren die bedeutenderen Künstler auch Herr der Sache, einige mehr, einige weniger. Trotzdem kann man sie auf den höchsten Höhen der Kunst mit auffallender Willkür behandelt sehen (Michel Angelo). Man gelangte niemals zu einem festen Kanon, wie es der Polykletische im Altertum gewesen war; die Systeme erhielten keine rechte Autorität über die ausübende Kunst und konnten sie infolge der Natur der Sache auch nicht haben, dazu war die italienische Kunst zu individualistisch. In der früheren Zeit des italienischen Humanismus, im fünfzehnten Jahrhundert, als die Stellungen einfacher, ruhiger waren und die Auf- fassung getreuer gegen die Wirklichkeit, hätte man den besten Untergrund für ein Proportionsystem gehabt, da aber war die Sache verhältnismässig weniger durch- gearbeitet ; später, als der Figurenstil infolge der anatomischen Studien und der Lust an Verkürzungen umgewandelt wurde, konnten die elementaren Proportionssysteme nicht länger ausreichen. Einen wie Ungeheuern Vorsprung die Italiener sonst auch vor den andern Nationen in der Behandlung der menschlichen Figur besassen, so wurden doch in bezug auf die Proportionen Dürers «vier Bücher von menschlicher Proportion- in Italien als Lehrmittel auf diesem Gebiet eingeführt.

Die Figuren des fünfzehnten Jahrhunderts waren in der Begel mager und dünn gewesen wie die des Mittelalters oder wie die der gleichzeitigen niederländischen Malerei; es kommt sogar häufig vor, dass sie, wenn auch im übrigen mit grosser Intelligenz durchgeführt, ganz unnatürlich gebrechlich, schwächlich und trocken im Bau sind. Eine Folge davon ist auch der ängstliche, selbstverleugnende Ausdruck : beides sind Symptome dafür, dass die Auffassung der Figur sich noch auf der antihumanis- tischen Seite befindet  ; das ernste Naturstudium in der Durchführung zeugt nur davon, dass sich eine entgegengesetzte Auflassung vorbereitete. Aber schon frühe kann man einzelne Exemplare einer mächtigeren Formation des Körpers und einer derben, freien Haltung finden: in beiden Richtungen macht sich ein Gegensatz zur Antike geltend, die die eine Art der Figuren als jammervoll, die andere als frech und un- keusch verworfen haben würde.

Die Entwicklung geht ungleichinässiger vor sich wie das Wetter im Frühling: ein Tag im März kann milde sein wie ein Maientag, und ein Junitag kann kalt sein wie ein Tag im März. Aber im grossen und ganzen ist doch im Frühling ein Fort- schritt von Kälte zu Wärme zu spüren ; und so macht sich auch in den Figuren des fünfzehnten Jahrhunderts ein Fortschritt von dem antihumanistischen Gepräge zu dem humanistischen bemerkbar. Am schärfsten stehen sich die Gegensätze gleich zu Anfang des sechzehnten Jahrhunderts gegenüber: auf der einen Seite die Figuren der umbrischen Maler (Peruginos, Francias i, sie sind so fein und dünn im Bau, so demütig



— 301 —

im Wesen, als wären sie voll eitel Entschuldigungen, dass sie sieh überhaupt erkühnen zu existieren, und atif der andern Seite Signorellis ernste, breite, urkräftige Gestalten, die häufig mit breitgespreizten Deinen dastehen und sich so keck halten, als pochten sie auf ihr Anrecht auf den Grund und Boden, auf dem sie stehen.

Der Humanismus kämpft sich durch die ernstesten Anfechtungen von Seiten der Kirche oder vielmehr von Seiten des innerlichen Christentums hindurch. Diese Vergötterung der menschlichen Gestalt war unwürdig und sündhaft, dies ewige sich Beschäftigen mit der nackten Figur führte nur zur Sinnlichkeit und Fleischlichkeit. In den letzten Jahren des fünfzehnten Jahrhunderts hatten Savonarolas Predigten in Florenz noch Macht, die humanistisch gesonnene Stadt und ihre Künstlerwelt zu zwingen, zum Kreuz zu kriechen und ihre Bilder von dem nackten Menschen den Flammen zu opfern. Es ist ja möglich, dass Savonarola dazu beigetragen hat, den Humanismus zu reinigen und ihn ernsthaft zu machen ; aber seine Donnerreden waren so weit davon entfernt, ihm den Garaus zu machen, dass sie im Gegenteil durch den Widerspruch dem Enthusiasmus für die menschliche Gestalt vermehrte Spannkraft gegeben zu haben scheinen, so dass er nur wenige Jahre später mit einer Kraft, einer Gewalt, einer Beharrlichkeit und Einseitigkeit auftritt, die ihres- gleichen in der Geschichte nicht hat.

Sein hervorragendster Dolmetscher war Savonarolas eigener begeisterter Zuhörer, der junge MicFlel Angelo Buonarotti, dessen ungeheure energische Wirksam- keit als Bildhauer und Maler während seines ganzen langen Lebens gerade völlig in dem Studium der menschlichen Gestalt und der Verkündigung ihrer Herrlichkeit auf- ging. Er interessiert sich wie kein anderer für diese Aufgabe, und er interessiert sich für keine andere von den Aufgaben der bildenden Kunst. Er ist ausschliesslich der grösste Humanist in der Kunst. Er konzentrierte und vollendete das ganze Streben der Vergangenheit nach dieser Bichtung hin zu seiner höchsten Potenz  : die ganz einseitige Vorliebe für das Nackte, die Studien nach der nackten Oberfläche der Anatomie und der Verkürzung. Er folgt gänzlich frei und ohne den geringsten Vor- behalt der Eingehung seiner eigenen Individualität und entwickelt sie sogar zu der Eigenart und Eigenwilligkeit der Einsamkeit; aber er ist trotzdem in vollem Masse ein Repräsentant seines Zeitalters und seine Arbeit wird von diesem mit besonderer Aufmerksamkeit und Bewunderung verfolgt, weil er wie kein anderer ihr Lieblings- interesse fördert. Er ist in seiner Einsamkeit ein Führer, er leitet die andern, wird aber von niemand geleitet.

In seiner Jugend vollendete Michel Angelo den Figurenstil des fünfzehnten Jahr- hunderts: in der Christusleiche in seiner Pietä-Gruppe (1499) ist die Form nach Art der älteren Zeit mit der zärtlichsten Liebe und Verliefung der Natur behandelt, und die Bildung der Figur ist noch fein, dünn und leicht. Bald aber geht er weiter in seinen Ansprüchen an einen grossen Massstab für die Figur. Seine eigene Neigung nach dieser Richtung hin kannte kaum eine Grenze und schreckte nur vor dem praktisch Unmöglichen zurück. Sie erhielt eine grosse Bedeutung für die Mitwelt und Nachwelt, die in weil grösserem Umfang als bisher das Menschenbild in grossem



Massslab zu sehen verlangte, sowohl in der Plastik als auc h in der Malerei. Dass das Spiegelbild des Menschen in der Kunst so das eigene Ziel bei weitem übertrilll, ist aueh ein Zug von Humanismus, von der Neigung Wesens aus sich selbst zu machen.

Noch eigentümlicher aber zeigt sich diese Richtung darin, dass die Gestalten — ohne Rücksicht auf den Massstab — in bezug auf ihre ganze Formation zu einer übermässigen (iewalt und Fülle der Muskelkraft und aller Organe der Kraft anschwellen. Dies ist so recht eigentlich ein Ausdruck für den menschlichen Stolz im Gegengabe zu der Demut und Aengstlichkeit des Mittel- alters: die Gestalt soll mächtig sein und soll ihre Kraft fühlen und kennen. Für Michel Angelo persönlich ging dieser Uebergang ungefähr um das Jahr 1505 vor sich, und im Laufe der folgenden vierzig Jahre werden seine Gestalten immer über- triebener mächtig von Körperbau, erst in seinem hohen Alter tritt hierin eine ge- wisse Stockung oder Reaktion ein. Und im grossen und ganzen folgen ihm die Künstler des Jahrhunderls in seinen Ueberlreibungen. Darin machen sich natürlich grosse Gradunterschiede und vielfache Variationen gellend; die Kunst war aber doch jetzt unmittelbar jenseits der Grenzlinie der rechten Mitte angelangt, und mit der mittelalterlichen Dünnheil in der Formation halte es ein Knde, bis sie im neun- zehnten Jahrhunderl von den sogenannten l'rüraphueliten in Deutschland und England künstlich wieder aufgenommen wurde.

So ist das Körperliche in den Gestalten der Kunst abermals in sein volles Recht eingetreten und breitet sich, nachdem das Mittelalter es so verleugnet hatte, gross und frei aus. Die plastische Kunst — das Wort gilt ebenso für Malerei wie für Skulptur — hat ihr eigentliches Terrain wiedergefunden, indem sie in erster Linie auf die körperliche Seite des Menschen ausgeht. Hierin hat sie einen Herührungs- punkt mit der Antike : die echte alte griechische Kunst ging ja auch gerade in bezug auf die körperliche Kraft und Tüchtigkeit auf die Darstellung des Menschen aus. Aber welch ein Unterschied in Bezug auf die Lösung der Aufgabe: In einem gewissen, überwältigenden Eindruck von Massigkeit geht Michel Angelo weiter als die Antike, die jedenfalls nur in den späteren Herakiesfiguren die massige, phy- sische Kraft erreichte, die allmählich bezeichnend für alle Michelangelesken Gestalten wurde.

Aber fragt man jetzt nach dem menschlichen Wert des Resultates dieses modernen humanistischen Schwellens, so muss man doch zugeben, dass nicht die menschliche Kraft den höchsten Adel und Vorzug der menschlichen Gestalt bildet. Der sinnreiche Gedanken im Kopf des Menschen, der z. R. die Dampfmaschine zu schafTen vermag, macht eine so gewaltige Maschinerie in der Gestalt selber über- flüssig. Ausserdem ist Michel Angelos und seiner Nachfolger Verherrlichung von Kraft doch eigentlich nur ein Traum, der in keinem richtigen Verhältnis zu dem steht, was wirklich und möglich ist. Wenn man sich auch noch so sehr dadurch imponieren lässt, bezeichnet sie doch kein Ziel, das für wirkliche Menschen geeignet ist, zu dem sie sich emporarbeiten oder nach dem sie sich bilden können. Für die



— 303 —


Antike war die plastische Kunst der ahklärendste und reinigendste Ausdruck für das, was das Leben in bezug auf die menschliche Gestalt selber wünschte und wollte; für Michel Angelo ist sie ein Ausdruck für Spekulationen, die mit keiner historischen Wirklichkeit zu schaffen haben, sondern vielmehr ihre beste Stätte in den von der Kirche entwickelten Vorstellungen von dem Menschen in seiner ursprüng- lichen Herrlichkeit haben, als er frisch aus der grossen Künstlerhand des Schöpfers hervorgegangen war, oder in der Herrlichheit, die am Ende aller Zeiten wieder erreicht werden soll.

Und endlich beruht der Ausdruck für Kraft, der in übertrieben mächtigen Gliedern und Körpern besteht, ja eigentlich auf einer sehr naiven und groben Auf- fassung von der menschlichen Gestalt. Wenn die Juden eine Vorstellung von der übermenschlichen Kraft und Gewalt der Gottheit geben wollen, stellen sie die Ge- stalt des Gottes mit vielen Annen dar: sie verstehen sich so wenig auf die mensch- liche Gestalt, dass sie nicht einschen, dass ihr mit mehr Annen als zwei nur schlecht gedient sein würde. Aber dem Menschen konnte auch nicht mit Gliedern von der Massigkeit, wie sie ihm Michel Augelo gibt, gedient sein. Die beste antike Kunst zeigt uns Arme, deren Mass fein und richtig innerhalb der Grenzen des Natürlichen gehalten ist, und an denen die Muskulatur durchaus nicht stark accenluiert ist, die uns aber trotzdem eine wahrere und lebhaftere Vorstellung von der Tauglichkeit und Brauchbarkeit eines Armes geben als die Michel Angelos mit allen ihren schwel- lenden Muskeln.

Was aber Michel Angelos Gestalten — bei all der Einseitigkeit des Resultates — eine stets hinreissende Macht über das Gemüt verleiht, ist der ihnen anhaftende Eindruck einer grossen Subjektivität, der ungeheueren seelischen Spannkraft bei dem Künstler selber, der ihn über die rechten Grenzen hinausführte. Es liegt eine Elek- trizität in ihnen, als entsprängen den Formen der Oberfläche Funken und ihrem Ausdruck unvergleichliche Blitze. Und während der Künstler die Formen in das Breite und Grosse gehen Hess, gingen gleichzeitig seine Formen wie die keines Andern in das Tiefe und Feine: es gelang ihm, die Oberfläche des menschlichen Körpers so zu behandeln wie ein Klaviervirtuose sein Instrument, sein Piano im Anschlag ist ebenso bewunderungswürdig wie sein Forte oder Fortissimo. Er eilte hierin seinen Zeitgenossen so weit voran, dass sein Karton von den badenden Soldaten (Florenz 1506) eine Hochschule für Figurenzeichnen wurde und als end- licher Sieg der Kunst über das Verständnis der Formen dastand — d. h. namentlich der Stück für Stück aufgefassten Formen — wie auch ihrer Wie- dergabe in allen Stellungen für das betrachtende Auge. Im ganzen ist sein Stil am schönsten in dieser früheren Periode der Uebertreibung : an die Wölbung der six- tinischen Kapelle malte er 1508—1510 einzelne Gestalten von Jünglingen, stolz und strahlend wie junge Sonnengötter, schwellend von Kraft, die er aber noch strenge im Zügel hielt.

Michel Angelos ganze Figurenwelt spiegelt des Künstlers eigenes ungeheueres Bedürfnis nach Tätigkeit und Kraftentfaltung ab. Da sind Gestalten, die sich wie



- 304 —


in einem einsamen Gefängnis fühlen, und in denen die mächtige Kraft in dunklem Grübeln, Selbslverzehrcn oder intellektuellem Korschen nach innen schlägt. Da sind andere, die mit ihren Fesseln ringen, oder in denen die Passivität zu einer Däm- merung aktiven Lebens erwacht, indem die Brust in dem ersten leisen Sehnsuchts- seufzer nach Befreiung von den Banden des Staubes schwillt. Da ist ein ungedul- diges unersätlliehes Verlangen nach freier, ungehemmter Bewegung. Und endlich ist da die vollkommene Freiheit in eigener Person: der schaffende Gott, der in unend- licher Geschäftigkeit den Weltenraum durchfährt und im Vorbeifahren die Sonne mit der einen und den Mond mit der anderen Hand am Himmel befestigt: das ist Michel Angelus höchstes Ideal. Dieser ganzen mächtigen Skala von Gefühlen hat Michel Angelo einen Ausdruck von unübertrefflicher Grösse, von einer eigenen elementaren Schlichtheit und Reinheit verliehen.

Auch ohne Bücksicht auf das Besultat soll sich die Kraft allein um der Kraft willen entfalten; und findet sie in ihrer überströmenden Fülle keine hinreichende Verwendung nach aussen, so äussert sieh ihr Ueberschuss in zwecklosem Herum- werfen mit Körpern und Gliedern  : die Gestalt sucht Bewegung um der Bewegung willen. Michel Angelos Gestalten können sich nie mit dieser Situation begnügen, die Haltung, die Stellung, in der sie sich gerade belinden, wollen sie verändern ; und zwingt man sie zur Buhe, so grämen sie sich. Daher diese starken Wendungen, diese forcierten Bewegungen.

Diese verleihen jedenfalls der Gestalt einen unruhigen Charakter, doch hat man nicht die Empfindung, dass sie einem innern Leben derselben entspringen — oder allein entsprungen sind: man merkt oft den Künstler, der herzutritt und Stellung und Bewegung von aussen, durch ein Arrangement, bestimmt. Dabei wird er zu- weilen von dekorativen Bücksichten geleitet, z. B. wenn zwei Figuren sich symme- trisch zu einander verhallen sollen, nach einer freieren Symmetrie: dies ist der Fall bei den schönen sitzenden Schildhaltern auf den Gewölbegemälden in der sixtini- schen Kapelle, und bei den liegenden Figuren Tag und Nacht, Morgen und Abend auf den Marmorgrabmälern in S. Lorenzo in Florenz. In seiner Begeisterung für die menschliche Gestalt führt Michel Angelo sie so viel wie möglich in die Deko- ration ein als schönstes Ornament, das er linden kann; und darin folgte ihm ein grosser Teil der Kunst, die nach ihm sah. Aber so erhielten auch die deko- rativen Figuren — im Gegensatz zu denen der Antike — einen stark hervor- tretenden Charakter innerer oder äusserer Unruhe.

Zuweilen fühlt man sogar das reine Kunstproblem heraus, die Lust, alle Mög- lichkeiten der menschlichen Gestalt in bezug auf Stellung und Bewegung zu er- schöpfen.' Dies fasste man zu seiner Zeit — und bis zu einem gewissen Grade mit


' Es ist ein eigentümlicher Zag von Michel Angelo, das Suchen nach dem Kontraposto in der Stellung, dass er gern die stehenden Figuren, bei Statuen, den einen Fuss auf eine höhere Flache setzen lässt als den andern. Dies kommt so weder in der antiken noch in der mittelalterlichen Kunst vor. Anch nicht in der älteren Renaissance, obwohl man dort natürlich Ausnahmen finden kann (z. B. Donatellos Bronze-David, der den einen Fuss auf das Haupt Goliaths seUt). Bei Michel



— 3(Xr> —

Berechtigung als seinen Hauplzweck hei der Komposition dos grossen Gemäldes vom jüngsten Gericht auf und lohte ihn deswegen. Er hetraehtete es auch seihst als eine Art Ehrensache, sich niemals in der Zeichnung der Linien einer Figur zu wieder- holen; fiel es ihm ein, duss er bereits früher etwas Aehnlichos geschaffen halle, so schuf er es wieder um, falls das Werk dazu heslimmt war, vom Publikum gesehen zu werden. Die Folge davon ist natürlich in vielen Fällen etwas Gesuchtes. Es ist daher ausserordentlich schwer, in Michel Angelos Kunst zu bestimmen, wo das Schöpferische, die Darstellung des Objektiven und Inhaltsreichen aufhört und wo das nur Variierende beginnt: jedenfalls nimmt die willkürliche und äusscr- liche Variation einen sehr grossen Platz darin ein.

Während er allmählich immer einförmiger wird in bezug auf die Charakteristik der Figuren und das Verhältnis zu der Mannigfaltigkeit der Charaktere der realen Welt fast ganz unterbricht, wird er immer erfinderischer und mannigfaltiger in bezug auf Motive für neue und wieder neue Stellungen.

Seine Gestalten spiegeln seinen eigenen Charakter wieder : es wurde ihm ebenso schwer wie ihnen, sich mit dem einmal Gegebenen zu beruhigen. Doch muss man hierin nicht eine nur individuelle Befriedigung für diesen Künstler oder Aeusserungen einer nur artistischen Virtuosität erblicken. Es lag in der ganzen seelischen Entwicklung des Zeitalters ein Bestreben, jedem einzelnen Individuum — und in der Kunst jeder einzelnen Figur — mehr und mehr ihre volle Freiheil zu geben und sie sich nach eigenem Gutdünken äussern und bewegen, ja, wenn es sein sollte, ihren Purzelbaum schlagen zu lassen, im Gegensatz zu der Disziplin der älteren Zeit und ihrem Auf- treten im grossen, geschlossenen Chor. Die Folge davon war, dass sich in den neueren Bildern eine unordentlichere, weniger klare und anschauliche Komposition geltend machte, ein gewisses Getümmel, ein Mangel an Rhythmus in der Bewegung der Massen, ja sogar in der der einzelnen Figuren. Da ist keine geheime Musik mehr, die das ganze leitet. Diese Figuren können sonst alle möglichen Bewegungen machen, tanzen können sie aber nicht, wenigstens nicht im Takt. Das kommt nicht nur daher, weil Michel Angelos Figuren so stark sind, oder weil sie zum tanzen zu ernsthaft sind, denn dasselbe ist z. B. bei Correggios leicht gebauten und heiteren Gestalten der Fall. Es kommt von einem inneren Mangel an Rhythmus. Diese Eigentümlichkeit ver- erbte sich von den grossen Meistern des italienischen Humanismus auf einen grossen Teil der europäischen Kunst in den folgenden .Jahrhunderlen, vielleicht am allermeisten auf die Kunst der Niederländer  : bei Hubens z. B. tritt sie in höchstem Grade hervor.

Angclos eigenen Statuen: Johannes der Täufer (in Berlin), Bacchus (in Florenz), David (in Floren*) in das noch nicht der Fall, jedenfalls nur halbwegs bei Bacchus. Dahingegen findet man diesen Zug bei dem Christuskinde, das neben der sitzenden Madonna steht (die Gruppe in Xotre-Pame in Brügge); bei allen den stehenden Figuren, die für Julius DT. Grabmal bestimmt gewesen sind (die beiden berühmten «Gefangenen» im Louvre, die vier angefangenen Statuen in der Grotte im Boboli- Garten zu Florenz.), bei dem angefangenen «Matthäus» in der Akademie zu Florenz und dem kleinen Apollo im Museum daselbst. Unter seinen Statuen aus dieser Periodo bildet gewiss nur der Christas in Sta. Maria sopra Minerva in Rom eine Ausnahme.

Nach Michel Angelo wurde diese Sitte von vielen Nachfeiern aufgenommen, vor allem von Giovanni da Bologna, bei dem sie am deutlichsten zur ausgesprochenen Manier wird.

20



Der grosse Verkünder des Stolzes der Menschen über ihr eigenes Wesen ist doch nicht immer froh darüber, Mensch zu sein. Indem sein Humanismus die Frenze überschritt, traf ihn trotz all seines süffisanten Eigensinnes ein Rückschlag, wie ihn die wahre Mässigung nicht zu gewärtigen hat, — ein tiefes Gefühl der Unzulänglichkeit und der Unfreiheit des menschlichen Lehens, des Gegensatzes zwischen den Idealen der Phantasie und der Wirklichkeit, die man vor Augen hat. Daher dieser Ausdruck gründlicher Geringschätzung für die Welt, des Lebensüberdrusses, der schmerzlichen Indignation, wie man sie namentlich in Michel Angelds späteren Gestalten (den Medi- cäischen Grabmülern, Moses, dem jüngsten Gericht) findet. Ks stimmt ja sehr wohl mit dem Wesen dieser Giganten überein, dass sie das Elend und die Kleinlichkeit der Welt nicht gnädig mit ansehen können. Wunderbar aber ist es, zuweilen wehhe Frauenseelen in den herkulischen Kör|iern zu finden und einen Meusehenstolz voller Seufzer und Klagen.

Dieser ernste, melancholische und streng richtende Geist konnte der Mitwelt wohl in höchstem Grade imponieren und ihr Respekt einflössen; wir spüren auch häufig in der nachfolgenden Kunst sein finsteres Kolorit; aber er musste trotzdem eine Grenze bilden für Michel Angelos Einfluss auf seine Mitwelt, die sich im Grossen und Ganzen das Leben munden Hess und das Dasein gern von einer heiteren Seite auffasste. Warum dieser ewig graue Himmel, an dem die Gestalten wie grosse, dro- hende Wolken standen? Man wollte sich doch lieber im Sonnenschein der Seele, im Glück, in der Lust, im Lächeln baden.


Bereits vor Michel Angelos Auftreten hatte sein mehr als zwanzig Jahre älterer Zeitgenosse Leonardo da Vinci einen Idealismus nach anderer Richtung hin ent- wickelt. Bekanntlich hatte Leonardo kaum Zeil, Künstler zu sein: seine unvergleichliche Intelligenz beschäftigte sich angespannt mit den Problemen aller Erfahrungen und der darauf begründeten Technik und Theorie. Und als Künstler wollte er auch universal sein und nicht nur mit einer einzelnen Aufgabe zu schaffen haben: er äussert sich sogar zuweilen polemisch gegen die einseitige Vorliebe für die nackte Figur. Aber er ist doch zu sehr Italiener, als dass nicht der humanistische Adam auch in ihm wirksam sein sollte. Die Gestalt des Menschen und sein Ausdruck ist die Liebling<- aufgabe für seine theoretische Forschung wie für seine künstlerische Darstellung.

Als Künstler des fünfzehnten Jahrhunderts beginnt er auf dessen Grundlage mit dem lebhaftesten Interesse für die Mannigfaltigkeit, den Unterschied und die scharfe Ausprägung der Charaktere. Dies Interesse ist so recht eigentlich sein Stecken- pferd, das er zu seinem eigenen Vergnügen reitet. Er führt es noch weiter als seine Zeitgenossen, bis in die äussersten Aeusserlichkeiten hinaus, mit einer Art natur- historischer Sammlermanie für das menschlich Bizarre und Karrikierte. In den Charakteren sucht er die Variation für die Möglichkeiten der menschlichen Natur und experimentiert damit, wie weit sie wohl in der Richtung des Verschiedenartigen gehen kann.



- 307 -

Doch studiert er die Physiognomie nicht nur als bleibendes Gepräge des Menschen, sondern auch in ihrer augenblicklichen seelischen Bewegung; denn er will nicht wie die übrigen Künstler des Jahrhunderts die Charaktere ruhig und einzeln als Porträts nebeneinander stehen lassen, sondern will mit ihnen zusammen in lebendigem, dra- matischem Verkehr arbeiten. Gerade dadurch machte sein Abendmablsbild in Mailand ( 14!)H) Kpoehe: es ist erstens eine Charaktergalerie mit der ganzen Fülle und Schärfe der älteren Zeit, aber es ist auch noch etwas mehr und etwas ganz Neues, das aus seiner eigenen unverwüstlichen Forschung hervorging: ein vollkommen durchgeführtes dramatisches Zusainmenspiel kraft eines einzelnen wirksamen Motivs, das tief in die Seele einer jeden von den Personen eingreift und aus ihrer charakteristischen Kigen- tümlichkeit heraus wirkt. Kr ging noch weiter in dieser Richtung in seinem Karton von der Schlacht bei Anghiari, der wenige .lahre später so grosses Aufsehen Kig. m. in Florenz machte: Hier gipfelte das Zusammenspiel zu einem Höhepunkt schäumender, siedender Leidenschaft, aber auf der anderen Seite waren die Charaktere auch wohl weniger echt und wertvoll.

Damals war Leonardo schon stärker in die Kntwieklung des jugendlichen und weiblichen Ideals hineingeraten. Hierher gehört auch eine seiner vorzüglichsten dra- matischen Kompositionen . der Karton von der heiligen Familie — Maria, ihre Mutter Anna und Johannes — mit dem Christuskinde. In Folge des Interesses für physische Gegenseitigkeit und Zusammenwirken, den genannten Koni|w>silinnen — und noch mehreren anderen — zu Grunde liegt, gelangle Leonardo auch zu einer weit höheren künstlerischen Kniwicklung der Gruppierung der Figuren, als sie die Ver- gangenheit gekannt halte. Kr öffnete seinen jüngeren Zeitgenossen, darunter Künstlern wie fra Harlolommeo und Haffael, die Augen für diese Sache.

Sein Kinlluss kam überhaupt in erster Linie seiner eigenen Mitwelt in Nord- italien und Florenz zu (Jute, und nur indirekt, durch sie, der folgenden Periode. Aber auf die Mitwelt ist sein Kinlluss auch ausserordentlich intensiv : jedes seiner späteren Werke machte auf seine Weise Kpoehe. Kr ist derjenige, mit dem eigentlich die be- sondere Vorliebe des sechzehnten Jahrhunderts für das Jugendliche, Weiche, Feine beginnt. Und bei ihm wie bei keinem Andern kann man beobachten, wie sich das Ideal in dieser Hichlung auf Grundlage von Kiudrücketi aus der Wirklichkeit bildet.

Während seines langen Aufenthalles in Mailand zu Fnde des fünfzehnten Jahr- hunderts porträtierte er die jüngeren Damen am Hofe in einer Auffassung, die völlig befreit war von dem gewöhnlichen, bürgerlichen, provinziellen Gepräge der gleich- zeitigen Frauenporträts. Ks liegt eine exotische Honigsüsse in diesen Porträts und zugleich eine freie und bewussle l Überlegenheit : wie eine Perle aus der Tiefe der Seele steigt das Lächeln in das Antlitz auf in einer wunderbaren Vereinigung von bewegtem, vibrierendem Gefühl und von Ironie, in der feinsten Schattierung der weichen Fläche des Antlitzes durchgeführt. In einzelnen Werken Leonardos sind diese Ausdrücke vereinigt, um seinen Vorstellungen von der höchsten Schönheit Ausdruck zu verleihen: es ist ein Ideal, das den stärksten, gewürzten Geschmack von der in- dividuellen Wirklichkeit des Lebens hat und nicht das Geringste von dem Abstrakten



oder Unpersönlichen, das den überlieferten typischen Formen anhaftet. Es ist wohl eigentlich seinem Ursprung nach weiblich, wird aber auch auf den männlichen Jüngling übertrugen. Dies Ideal wird von seinen Nachfolgern in der Lombardei auf- genommen, nur dass der Ausdruck liefen Bewusslseins und vornehmer Reservation, der für Leonardos eigene Köpfe eigentümlich ist, bei den Nachfolgern einem naiveren Träumen Platz macht. So erblüht in der Kunst Norditaliens eine eigene Flora von einer bestimmten, modernen Ideal-Art, die leicht zu erkennen ist, wo man ihr begegnet.

Als moderner Psycholog mit einer ganz besonderen Vorliebe für den Ausdruck von Bewusstsein musste Leonardo natürlich sein Interesse hauptsächlich auf das menschliche Antlitz und den menschlichen Kopf konzentrieren. Doch entwickelt er auch einen eigentümlichen Stil in der ganzen und nackten Gestalt des Jünglings oder des jungen Mädchens. Sie ist bei ihm noch fein und gracil, wenn auch nicht trocken wie bei der älteren Kunst, im Gegenteil geschmeidig und biegsam. Als Theoretiker und als Künstler ist er sehr davon erfüllt, das vollendete Kontraposto in der Stellung zu suchen: einen spiralförmigen Schwung in den Linien der Figur als Ausdruck für ein süsses, unruhig glühendes Gefühl in der Seele. Aber in seinem Suchen nach dieser innigsten und einschmeichelndsten Schönheit kann Leonardo seinen Figuren auch ein Gepräge von etwas Gesuchtein und Gekünsteltem verleihen.

Ks lag ein merkwürdiger Flug in dieser Vorliebe für das Jugendliche. Ein Charakter wie Johannes der Täufer, der früher scharf und hart wie ein Kieselstein gewesen war (Donatello, Mantegna u. s. w.j, wurde jetzt in der Regel in einen weichen, feinen, blühenden Jüngling verwandelt (Majano, l/eonardo, Ralfael, Correggio). Ucberall wo es irgend angebracht ist, wimmelt es jetzt von Kindergestalten, kleinen Kngeln, Aim>- retten, oder wie man sie sonst bezeichnen will.

Es war diese Richtung, die Correggio in der Lombardei bis auf die äusserst? Spitze trieb, indem er den Faden dort aufnahm, wo Leonardo ihn hatte fallen lassen Das Erotische, das bei Leonardo als halbverborgcne Glut geglommen hatte, schlägt bei Correggio in hellen, fröhlichen Flammen empor, in denen alles schmilzt, was in der früheren Kunst fest, hart und steif gewesen war, alles, was mit der Forderung aufgetreten war, mit Ehrfurcht, aus der Entfernung gesehen zu werden. Das alles muss auf seine Ansprüche verzichten, er verlangt von ihm die vollkommenste, un- genierte Vertraulichkeit; es wird in seiner Hand zart und sanft und weich wie Wachs, alles Aufgaben für seine überströmende Lyrik. So schafft er eine Welt von Figuren, die einander sämtlich sehr ähneln, als Kinder seines Genius, und von denen kaum eine einzige streng objektiv nach der Wirklichkeit beobachtet ist.

Nur in seinen frühesten Figurenwerken lässt er seine Gestalten sich noch einem gewissen Zeremoniell unterordnen; bald aber geht er mit vollen Segeln darauf los. ihre Stellungen, Bewegungen, Lebensäusserungen von allen Rücksichten und jedem Zwang zu emanzipieren. Insofern will er dasselbe wie Michel Angelo: und es ist charakteristisch für sie beide, dass sie in so hohem Grade die Verkürzung lieben Aber von Charakter und Teperament ist er so lebensfroh und gefühlvoll, wie der andere ernsthaft und melancholisch ist.



- 309 -


Als Hauptwerk aus Correggios früherer Zeit muss in erster Linie hervorgehoben werden der unvergleichliche Kreis von Apostel-Gestalten, die frei auf Wolken gelagert, die Kuppelfläche in S. Giovanni Evangelista in Parma umsehwehen. Das ist in seiner Art das letzte Wort des Humanismus, der grossartigste Ausdruek für ein von allen Banden des Staubes befreites Dasein, das die Luft des ewigen Genusses als sein unverbrüchliches Hecht einatmet. Wie olympisch frei und gross strecken sie = nicht ihre Glieder über den Wolkenkissen aus! Hier ist der Zustand vollkommener Freiheit geschildert ohne Trotz und ohne Hückschlag von Scham oder Reue. Aber in Correggios eigener Entwicklung ist dieser sichere Stolz nur ein Durchgangsstadium: er strebt weiter in der Richtung des Zwangfreien, Vertraulichen, so dass es in der himm- lischen Herrlichkeit zuletzt so gemütlich hergeht wie in einem Wohnzimmer, wo die Madonna in den anspruchslosesten Stellungen präsidiert.

Kr will die Lebcnsäusscrung der einzelnen Gestalt in ihrer vollen, unbeschnittenen, spontanen Natürlichkeit gehen. Er duldet nicht einmal die Fessel der Schönheit oder des Rhythmus': er ist ganz und garnichl, wie z. H. Leonardo, ein Schönheitsstreber, sondern lässt sie von der Natürlichkeit die Kreuz und die Quere durchbrechen. Noch weniger hat er einen Begriff von ethischer Konsequenz oder Haltung. Er fasst die Lebensäusseruiig nicht als einzelnes Glied in der zusammenhängenden Entwicklung iles Charakters auf, er reissl sie vom Zusammenhang los,- um sie in dem kurzen, vorüberfahrenden Moment so recht frei aufflammen zu lassen. Er besitzt vor allen andern ein Talent für die Wirkung dieses losgerissenen Natürlichen, er versteht es, es mit einer unmittelbar ansteckenden Macht wirken zu lassen, die reizt, kitzelt, auf- regt, herausfordert, belustigt. Seine Kompositionen wirken durch lauter launenhafte Verletzungen der Konvenienz und des Zusammenhanges. Dass die Gestalten Schritt hüllen, dass sie sich zu einem einigen Chor zusammentun, einem gemeinsamen Ge- danken unterordnen -- so etwas verlange man nicht von Correggio : er gönnt jeder einzelnen von ihnen ihre volle Freiheit, i h rer augenblicklichen Eingebung zu folgen. Deshalb wird auch sein berühmter Engelchor auf verschiedenen Bildern, namentlich aber in der Domkuppel zu Parma, ein vollkommener Wirrwarr ; weiter kann man es nicht treiben in bezug auf individuelle Freiheit und Frechheit.

Es ist abermals dies Genie der emanzipierten Natürlichkeit das auf Correggios Bildern von Jupiters Geliebten seine Feste feiert. Man begreift sehr wohl, wie diese überreifen Früchte der italienischen Menschenschilderung munden mussten — namentlich den fürstlichen Herren des Zeitalters, für die sie bestimmt waren. Es hat niemals Bilder gegeben, die es in gleichem Grade auf den Beschauer abgesehen haben. Aber ihr Zauber besteht weit weniger in einer subtilen Wahl der höchsten Schönheit des weihlichen Körpers als in dem wunderbaren, unmittelbaren Gefühl für das unbewachte, zufällig Natürliche, das gerade bei solchen Vorwürfen mit einer un- widerstehlichen Illusion wirkt.

Hier ist es die sinnliche Lust, die entfesselt ist, zuweilen in ihrer höchsten Polenz : die Seele ist untergegangen in dem Augenblick der Verzückung, in dem jedes Vorher oder Nachher vergessen ist (Jo). Aber diese Emanzipation des Augen-



- 310 -


blickes war nicht weniger willkommen in Correggios Kunst, wenn sie den Altar schmückte, als wenn sie den Alkoven schmückte. Sie ist es, die so stark, so ner- venreizend in seinen berühmten Figuren der verzückten Madonna wirkt, vor allem aber in jener Magdalena (auf der «Madonna di S. Girolamo-) die in vollkommener Gesättigtheit des Gefühls, in seligem Selbstvergessen, den Fuss des Jesuskindes küsst. Indeig dies Gefühl, das ursprünglich religiös gedacht war, alle seine Nahrung aus der Beschallung und Berührung des Augenblickes saugt, wird es ebensowenig ethisch wie die Sinnenlusl. Die Grenze zwischen dem Beligiösen und dem Sinnlichen verschwindet. Früher hatte sich das Fleisch gegen den Geist und der Geist gegen das Fleisch aufgelehnt  ; jetzt gingen sie, hingesehmolzcn in dem höchsten Gefühl der Lust eine neue chemische Verbindung ein, die eines der Hauptbestandteile in dem Gefühl und der Kunst der Nachwelt bildet.

Ks ist abermals dies Genie für die Natürlichkeit und die losgerissene Lebens- äusscrung, die Correggio zu einem unvergleichlichen Schilderer kleiner Kinder macht. Niemand hat sich wie er auf ihre launenhaften, unvernünftigen Hinfalle, auf den Mangel an festem Zusammenhang in ihrem Geist, auf ihre unerzogenen, tastenden Bewegungen, auf das ünregierbare und Plötzliche in ihrem Treiben, auf ihre Ausge- lassenheit und ihr schelmisches Auflehnen gegen alle Disziplin verstanden. Das kleine Kind — nicht nur das Jesuskind — ist die eigentliche Gottheit seiner Kunst, weil es das innerste, feinste, weichste Herzblatt der Menschenwelt ist, das Lebhaf- teste im ganzen Leben. Es gibt Menschen, die seine kleinen Kinder mit ihreu unregelmässigen Gesic htern hüsslich linden; unwiderstehlich sind sie aber jedenfalls durch ihre vollkommene Natürlichkeit. Wo er sie schildert, ist er immer frisch und naiv, er lässt sie ganz so sein, wie sie sind. Die etwas älteren Kinder, die reinen, leicht beweglichen Gestalten von 10—12 Jahren, oder die Kphehen von 15- H», sind schon Organe für ein exaltiertes, glühendes Gefühlsleben. Sie können wunderbar festlich sein, kokettieren aber gleichzeitig stark mit dem Beschauer.

In dem Sinn für das Natürliche liegt Correggios wahre Macht, den Beschauer mit fortzureissen. Aber er geht weiter: er reizt den Beschauer, er benutzt seine Fähigkeit, um zu illudieren und sein glühendes Gefühl als Köder für den Angelhaken.

Welche anziehende Macht das Kindliche auf ihn ausübt, kann man auch danin sehen, dass er die ganze Menschenwelt, die er schildert, in die Richtung des Kind- lichen hineinzieht. Jupiters Gelieble sind kaum erwachsene Mädchen, ein wenig unsicher in ihren Bewegungen, fein und verhätschelt von ewiger Sonnenlull. I>ie Jungfrau Maria und die Heiligen sind bei ihm jünger und kindlicher als bei irgend einem anderen Künstler. Christus ist eine ganz unmännliche Gestalt, ohne Wider- standskraft, empfindlich für den Schmerz. Selbst die entwickelteren Männer und die grauhaarigen oder kahlköpfigen (Weise haben in der Hegel Mienen und Gebärden wie Kinder und eine frische, weiche, glatte Haut; ihren Bewegungen fehlt es an Festigkeit und Zusammenhang.

Correggio gehörte nicht zu den Künstlern, die sich in Naturstudien des mensch-


- 311 -


liehen Körpers und seiner Organe vertieften. Deswegen ist er auch unsicher und kann auffallende Kehler begehen : aber er k a n u seine Gestalten auch mit der grösslen Vollkommenheit bilden. Und bei ihm ist der Körper und die Seele der Gestalt völlig eins, wie bei vielen anderen Künstlern. Sein Typus hat sieh völlig nach der Lyrik gebildet, die ihn durchströmt. Dem Losgerissenen in der Lebens- üusserung entspricht etwas Leichtgebautes und Leichtbewegliches, etwas Unsolides, Zerspallenes in der (Jestalt, die Hände mit den langen, biegsamen Fingern sind lauter nervöses Gefühl, das Gesicht lauter Mund und Auge, der Mund breit, lächelnd, mit dünnen Lippen, die Augen gross, glühend, schräge nach oben liegend. Vom Stand- punkt der Antike aus würde man diesen Typus ein wenig faunisch nennen. Die Körperfarbe ist blendend, leuchtend, phosphoricierend und wirkt wunderbar in dem Strom von Licht, in den die Figur gestellt ist.

Correggio lebte nicht auf den Höhen des Lebens und hatte keinen weiten Ge- sichtskreis; er hat sich wohl auch nicht gerade in gewählter Gesellschaft bewegt. Obwohl seine Gestalten keineswegs die wirkliche Welt wiedergeben, haftet ihnen doch ein durchgehender Zug von Provinziellem, wenig Distinguiertem an. In Folge seiner ganzen Richtung imissle ihm auch in hohem Masse der Sinn und die Achtung für den Wert des Charakters abgehen. In seinen späteren Arbeiten macht sich bereits eine grosse Flauheit geltend, die weibliche (Jestalt wird ganz unbedeutend und kleinlich, und die kindischen Greise mit den zuekersüssen Mienen können leicht widerlich werden. «Wenn diese Gestalten lebendig würden, was hätte man dann an ihnen V  »

Seine Hichtuug hatte sich erschöpft.


Niemand vereinigte in dem Masse die Kiemente des Figurcnslils der Vergangenheit in sich wie Raffael, und niemand gewann einen so grossen Kinfluss auf die Zukunft.

Kr ist nicht wie Michel Angelo oder Correggio radikal im Fortschritt oder rück- sichtslos gegen das Ueberlebende : im Gegenteil, er ist von Ehrfurcht dafür durch- drungen, und bricht nicht damit, sondern entwickelt die Disziplin und das Zere- moniell desselben. Er besitzt mehr als alle Andern ein unmittelbares Gefühl für Gleichgewicht und Rhythmus, einen natürlicheren Sinn für Mässigung, einen schwe- ren künstlerischen Takt und Nichts von ihren grossartigen Monomanien. Alle seine Gemälde stellen die menschliche Gestalt dar, und überhaupt ist kein moderner Maler in der Behandlung derselben höher gelangt als er : aber seine Kunst hat nicht wie di»' Michel Angelos das spezifische Programm, die menschliche Figur als solche zu pflegen. Darum ist er auch kein Führer auf diesem Gebiet wie Michel Angelo: er folgt selber mehr mit, indem er sich mit einer ganz ausserordentlichen Biegsamkeit. Allseiligkeil und PerfektibilitiU durch Beeinflussung von den verschiedensten Seiten e ntwickelt. Für ihn ist die menschliche Figur an und für sich nichts, sondern nur ein Glied in dem menschlichen Verkehr; er ist so recht ein Erbe des Genies für «las Dramatische, das Italiens Kunst seit dem Mittelalter entwickelt halle. Er war



- 312 -


nämlich selber so recht zu einem Verkehrsmenschen geschaffen, .seine glückliche, graziöse, gutartige Natur .scharte die Kräfte um sieli  ; er mochte seine Ueberlegen- heit nicht despotisch geltend, sondern stand in einem liebenswürdigen, sympathischen, Verhältnis zu seinen Umgebungen und fasste es als Sache der Kunst auf, dem Leben zu dienen, und nicht Monologe zu halten.

Obwohl er Idealist ist und dem Hufe seiner Natur folgend, darauf ausgeht, das höchste Schöne in der menschlichen Gestalt darzustellen, ist er dennoch kein ein- seitiger Idealist, der die Menschenwelt kraft seiner eigenen Subjektivität umwandelt. Kr behält sogar zuweilen den Zug des Realismus des fünfzehnten Jahrhunderts bei, dass er, wo es sich um Vorwürfe aus dem Altertum handelt, einen Chor von zeitgenössischen Porträts einführt. Kr ist auch ein vorzüglicher Porträtmaler und in seinen Porträts der Wirklichkeit wirklich objektiv treu. Und von Anfang bis zu Knde bewahrt er das Verständnis für die Verschiedenartigkeil des Charakters in seinem ganzen Reichtum : <i versteht sich auf den Mann wie auf die Frau, auf das Alter, die Jugend und die Kindlichkeit. So hat die Menschenwelt, die er darstellt, wenn sie auch ideal durcharbeitet ist, doch mehr das Gepräge wirklicher Lebensfähigkeit als die Michel Angelos und Correggios.

Kr ging aus der am wenigsten humanistisch gesonnenen Schule im damaligen Italien hervor, nämlich aus der Pcruginos, und seine Figuren sind anfänglich — st» wie die seines Lehrers — dünn, schmächtig, demütig, selbslverleugnend, wenn sie auch schon frühe den Keim zu einer frischeren Haltung, einem Schwellen der Form und einer starken Feurigkeit des Ausdruckes aulweisen. Dann ging er nach Florenz. Das war ein Uehergang von dem Antihumanismus zu dem modernen Humanismus, von Pcru- gino zu Michel Angelo und Leonardo, die gerade in dieser» Jahren ihre epochemachenden, bahnbrechenden Werke in Florenz schufen. Ralfael eignete sich von ihnen das In- teresse für das Nackte an, sowie das anatomische Verständnis der Gestalt und dadurch wie durch Modellstudien ein hervorragendes sicheres und intelligentes Zeichnen un»l Formverleihen, eine freiere Komposition und Gruppierung und endlich jene Formeln für das Kontraposto, für die Biegung und Spiraldrehung der Linien der Figur, die namentlich Leonardo entwickelt hatte, — überhaupt mehr das Formelle und Theore- tische in dem neuen Figurenstil als den künstlerischen Geist. Trotz Leonardos Kinfluss hatten seine Porträts damals noch ein einfaches und bürgerliches Gepräge, und bei allein, was er von Michel Angelo lernte, blieben seine Figuren in seelischer Hinsicht noch verwandter mit denen Peruginos.

Erst seine Stellung am Papst hofe zu Horn, von 151)8 an, entwickelte ihn zu seiner ausserordentlichen Bedeutung. Hier erhielt er seinen Platz auf der höchsten Zinne des Zeitalters, ja der Geschichte, mit freiem Ausblick auf die christliche Tra- dition, seit der Zeit des Altertums und weiter zurück bis zum heidnischen Altertum; und unmittelbar neben ihm entwickelte sich Michel Angelos moderner, immer kühnerer Humanismus. Von allen diesen grossen, wellgeschichtlichen Mächten war das Papsttum damals noch Inhaber und Verwalter: der tiefe Gegensatz zwischen ihnen war noch nicht zu offenbarer Spaltung gediehen. Ks fehlte Ramtel nicht an Blick für die Gegen-



— 313 -

sätze: er konnte im gegebenen Falk wenn er wollte, auf seinen Gemälden einen Unterschied zwischen dem heidnischen oder christlichen Charakter der Figur timchen, aber vor allem besnss er die Fähigkeit, das alles zu seinem Eigentum zu machen, es zu einer künstlerischen Bildung zusammenzuarbeiten.

Sein Ausgangspunkt blieb wie bisher das gesunde und einfache Verhältnis zu dem Modell aus dem wirklichen Leben, und neben den Kunststudien entwickelte er be- ständig sein Nuturstudium, aber er verstand es wie kein Anderer zu durcharbeiten, was er sah, kraft seiner seltenen Bildung und seines unvergleichlichen Lieberblickes. Dies verleiht auch den Porträts aus seiner römischen Periode ihren unübertrefflichen Wert: sie sehen auf den ersten Blick so einfach und natürlich aus, wie Porträts von van der Meist oder andern Niederländern; führt man aber den Vergleich durch, so fühlt man sofort Baffaels grosse, man möchte sagen philosophische Ueberlegenheit heraus.

In Bom gewinnt sein Figurenstil erst so recht Fülle und Kör|>erlichkeit, er wird ein wahrer Eroliker im Verhältnis zu der menschlichen Gestalt. Aber aus den Kinder- und Jugendjahren war in Baffaels Gemüt etwas zurückgeblieben, was er niemals ganz verwarf, etwas von der Demut und der innigen Hingebung des Antihumanismus ; er konnte niemals humanistisch halsstarrisch oder süffisant werden. Und dieser Geist verschmolz bei ihm mit dem Gefühl ethischer Scham und Selbstbegrenzung, das er allmählich in der antiken Kunst kennen lernte und sich von ihr aneignete. Es isl bei Halfaol unmöglich zu sagen, wo das eine aufhört und wo das andere anfangt : es isl eine Einheit, dies eigentlich Baffaelische, das in tiefem Einklang steht mit seinem eigenen persönlichen Wesen, seinem bescheidenen Anstand und seiner Anmut, seiner Menschenfreundlichkeit, seiner reich strömenden, feurigen Herzensgüte. Es ist die Süsse dieses Gemüts, die in den BafTaelischen Figuren zum Ausdruck gelangt, deren Ausdruck, Form und Bewegung Mitwelt und Nachwelt bezaubert hat: man befindet sich unter ihnen wie in einer geläuterten, idealen Gemeinschaft, die durch die freien Gesetze der Liebe und der edelsten Menschlichkeit geleitet wird. Wenn die Menschen einander immer mit einer solchen Gesinnung begegneten, mit einem solchen von Christentum und Humanität durchdrungenen und durchbildeten Wesen, so könnte es eine angenehme Welt sein, in der wir leben.

Am schönsten isl sein Figurenstil in seiner früheren römischen Periode ; er wird schon da bald ein wenig voller und schwellender als das Mass der Natur selber oder als die Antike, ist aber doch von einer edlen Massigkeit beherrscht (die Schule in Athen). Allmählich spürt man Michel Angelos Einfluss stärker, nachdem dessen Ge- mälde an dem Gewölbe der sixtinischen Ka|)elle enthüllt waten, und namentlich einige Jahre später, als Baffael den Auftrag erhielt, Bilder für denselben Kaum zu komjionieren (die Tapeten der Apostelgeschichte) und dadurch Michel Angelos Figuren- stil die Stange zu halten.

Sein Stil wird jetzt fast ebenso übertrieben wie Michel Angelos, was den Um- fang von Körper und Gliedern betrifft. Auch der Ausdruck wird mächtiger, ohne dass er sich jedoch jemals zu dem Titanischen und Trotzenden oder dem unbezwing-



— 314 -


baren Verlangen steigert wie hei .Michel Angelo. Ks sind immer holde und freundliche Seelen, die die übertriebenen starken Körper bewohnen; dieser Gegensatz zwischen dem Seelische!» und dem Körperliehen maclit sich zuweilen bemerkbar. Auch in einer andern Richtung, in bezug auf die Quelle für das Kigurensludium unterscheidet er sich sehr von Michel Angelo. Während dieser beständig ein Dichter der Form auf Grund- lage seiner anatomischen Kenntnisse war, ging Hufläel jetzt wie bisher energisch zu Werke und studierte das lelamde Modell. Hierin ist er unermüdlich  : wie viel er auch im Voraus weiss und kann, wird er gerade in seinen spätesten Jahren ein immer eifrigerer Modellzeiehner. Darauf konzentriert sich seine eigene Tätigkeil, während er seinen zahlreichen Schülern grösstenteils die Ausführung seiner Kompositionen überlässt.

So schallt er in seineu spätesten Lebensjahren einen ganz eigentümlichen Figuren- slil, der, was die ganze Formalion der Gestalt anbeliilfl, freilich nicht so schön ist wie der frühere, dafür aber einen weit grösseren Kinlluss auf die Nachwelt erhält. Ks ist einem, als müsse man den römischen Volkslypus wieder erkennen in diesen starkknochigen und muskulösen, schwerfällig und fest gebauten Gestallen, die nicht nur im Vergleich zu denen des Mittelalters, sondern auch zu denen der Antike, sehr materiell sind und ebenso wenig mit der Vorstellung von antiken Göttern und Grazien, wie mit der Vorstellung von der Madonna und den Heiligen übereinstimmen. Als spiegelgel reue Wiedergaben des Modells können sie jedoch nicht aufgelässt werden: die Muskulatur ist, bei den weiblichen wie bei den männlichen Figuren, ausdrücklicher durchgearbeitet und hervorgehoben, als die Natur sie zeigt, indem der Meisler dem Schüler, der nach der Zeichnung arbeiten soll, gleichsam vordoziert, lind doch ist in diesen Figuren eine wunderbare Vereinigung von Natur- und Kunslstudiuin enthalten: die Mewegung ist im höchsten Grade sowohl rhythmisch als auch beredt und jeder Strich ist von Liebe zur Natur durchgeistigt und auf dem solidesten Verständnis für die Form aufgebaut.

Dazu kommt noch das feurige dramatische Leben, das sich nie bei Haffael ver- leugnet und so vielen unvergleichlichen Dingen Ausdruck verleiht. Aber Bunuels dramatische Fähigkeiten wurden doch auch in seineu späteren Jahren sehr über- anstrengt und die mimische Bewegung der Figur konnte deklamierend und theatralisch werden. Ks sind nicht allemal wichtige Dramen, sondern oft Melodramen oder •ita- lienische Opern-. Schon zu einer früheren Zeil hatte ein gewisses Streben, nach formeller Schönheit in der Stellung, nach stark, wenn auch harmonisch gewun- denen Wendungen, BulTuels Figuren, ebenso wie denen Leonardos, ein Gepräge von etwas Gesuchtem, Leerem verleihen können und ihn von dem natürlichen. Irisch empfundenen Ausdruck abgelenkt; und diese Fälle wurdet) allmählich immer häutiger. Kr setzt iti seinen späteren Jahren Ausdruck und Bewegung gern in eine gewisse plastische Musik, die schön für die Sinuc sein kann, trotzdem aber nicht so ergreifend wirkt, wie es eine natürlichere, wahrere Aeusserung der Ansicht tun würde.



- 315 —


Am abgesondertsten und selbständigsten im Verhältnis zu der übrigen Kunst Italiens entwickelt sich Venedigs Kunst in diesem Zeitraum, namentlich aber vom Anfang des sechzehnten Jahrhunderts an. Wenn auch Venedig eine sehr beachtens- werte Bildhauerkunst besitzt, so findet doch gerade hier, mehr noch als anderwärts in der Malerei, d. Ii. in der 0 e  ! m a I e r e i der künstlerische Humanismus seinen höchsten Ausdruck und zeigt sich von einer ganz neuen ausserordentlich eigentümlichen Seite. Und spricht man von dem Charakter der venetianischeu Malkunst in ihrer Glanzperiode, so spricht man in neun Fällen von zehn von Tizian, der alle, die in derselben Kichtung begannen, teils überlebte, teils überflügelte, und ihr grössler und fruchtbarster Repräsentant wurde.

Die Venetianer beachten mehr unmittelbar, was sich dem Blicke darbietet, als ihre Zeitgenossen im übrigen Italien und nehmen deswegen die Mannigfaltigkeit der Charaktere des ganzen wirkliehen Menschenlehens in ihrer Kunst auf: sie sind glänzende Porträtmaler und fangen an Lebensbilder aus der Wirklichkeit zu malen ('Genrebilder»). So kommt es, dass Venedig in bezug auf die künstlerische Richtung eine Mittelstellung zwischen Italien und den Niederlanden einnimmt. Man hat ja Ve- nedig auch sehr treffend Italiens Niederlande genannt. Aber gerade das Verhältnis der venetianischeu Kunst zu der Wirklichkeit, die sie vor Augen halle, verleiht ihr ein ganz nationales und lokales Gepräge. Sie isl ganz verwachsen mit ihrer Stadt, die unter allen Städten der Well die grösste Fähigkeit besessen hat, die Kunst in allen ihren Formen zu etwas für sie ganz Figentümlichem zu individualisieren. Fnd als echt italienisch kennzeichnet sie sieh — im Gegensatz zu der älteren und zeit- genössischen niederländischen Kunst - indem sie ganz unvorbehallcn die Fahne des Humanismus hisst: ohne die geringste Angst für ihre ewige Seligkeit wählt und verherrlicht sie das höchste Schöne in der menschlichen Gestalt, den italienischen Typus in seiner frischesten irdischen Blüte.

Auch wo sie die Schönheit preist, behält sie den Boden der Wirklichkeil unter den Füssen. Sie bewegt sich nicht wie Michel Angelo in metaphysischen Abstrak- tionen der menschlichen Gestalt, sie bleibt lange Zeil unbeeinllussl von seinem Schwellen und seineu Iteberlreibungen der Form: und in Folge ihres unmittelbaren Blickes für die Wirklichkeit und ihres Verständnisses für die versc hiedenen Charaktere interessiert sie sich weit weniger für anatomische Studien und für Hebungen in der Verkürzung. Sie ist ruhiger, objektiver. Sie kann sich auch nicht einer so allseitigen und tief künstlerischen Bildung rühmen wie die RalTaels: sie ist und bleibt weniger abgeklärt und geläutert in Form und Stil als er. Wenn auch Venedig auf seine Weise eine moderne Weltstadt war, so war es doch im Vergleich zu Rotn eine Pro- vinzstadl mit einem beschränkteren historischen Horizont. Man halle in Venedig wohl etwas Kenntnis von der Antike und glaubte selber, dass man seinen modernen Idea- lismus nach ihr bilde. In einzelnen Bildern konnte man auch durch eine gewisse Muhe und Noblesse in der Haltung der Figuren den Charakter der antiken Kunst sehr intim streifen (Palma der Aellere, Tizian, Sebastian del Piombo in seiner früheren Zeit) namentlich in der kurzen Uebergangsperiode, dem ersten Jahrzehnt des


— 316 -


sechzehnten Jahrhunderts, als sieh der neue Humanismus seinen modernen Schwung noeh nicht so recht angeeignet hatte. Aber das beruhte mehr auf einer vorüber- gehenden llebereinslimuiung in der künstlerischen Tendenz., als auf einer eigentlich verständnisvollen Aneignung des Stils der antiken Form.

Dahingegen bewegt sich die Kunst in dieser aristokratisc hen Kcpuhlik mehr int Gegensatz zwischen etwas Vornehmem in moderner sozialer Hcdeulung und etwas Volkstümlichem in der Charakteristik der Figuren, indem sie sogar das Aristokratische im Charakter mit der Vorstellung von dem Idealen und (Juten, das Vulgäre mit dem Imsen verbinden kann. Tizians Christus ist der Typus eines unendlich feinen Mannes, nach veneliauischen Hegrilfen von dem Feinen und Noblen im benehmen, in der Form und der Farbe: und der Pharisäer, der ihm eine Sehlinge legen will, ist ein gemeiner venetianischer Taglöhner: nicht nur im Ausdruck allein, sondern auch in der Forin und Farbe des Gesichts und der Hände ist der tiegensatz konsequent durchgeführt. Diese Auflassung ist ganz lokal venetianisch. Sie ist in der veneliauischen Kuusl freilich nicht zur herrsehenden Doktrin geworden: der aristokratische oder der vul- gäre Charakter kommen nicht immer in denselben Hollen vor; die Anostel sind z. R. bald leine Männer, bald Männer aus dem Volke. Aber es ist doch durchgehends charakteristisch für diese Kuusl, dass man, wenn man ihre tiestalten sieht, leicht auf den Gedanken kommt, welchem bestimmten Stand in dem venetianischen Staat das Vorbild angehört hat.

Die Kunst war in Venedig weniger auf einem gewiss«*) philosophischen Begriff von dem Menschen als solchem aufgebaut, als in Florenz und in Horn . sie haftete au der gegebenen Gesellschaftsordnung des Zeitalters und der Stadt.

Eigentümlich ist es auch, dass das freie, plastische Gewand, das die mittehla- lienische und lombardische Kunst so viel zu idealen Vorwürfen benutzt, weil weniger in der Kunst Venedigs ungewandt wird. Dort behält man weit häutiger den moder- neren und zeitgenössischen Schnitt der Kleidung und modernere Stoib', Seide und Summet, die man so prächtig mit Gelfarbe wiederzugeben vermochte. Auch das trägt dazu bei, der ganzen Darstellung einen modernen und lokalen Charakter zu verleihen.

Während die neue Schuh' vom Anfang des sechzehnten Jahrhunderts an eher einen Hückschrilt als einen Fortschritt macht hinsichtlich der Würde und Gewichtigkeit der Charaktere — im Verhältnis zu der älteren Schuh' und namentlich zu ihrem Haiiplreprüsentantcn Giovanni Hellini, bemerkt mau hier wie anderswo die sieh stei- gernde Vorliebe für das Jugendliebe, Hlühende, Kindliche. Tizian ist ein grosser Liebhaber von rundlichen, drallen Kinderkörpern mit niedlichen Lockenköpfehen und munteren, glänzenden Augen  : er geht oft verschwenderisch mit ihnen um und fasst das Wesen des Kindes von der rein natürlichen Seile auf. Für die nackte Darstel- lung der jugendlichen, männlichen Kraft interessiert sich Venedig dagegen weit weniger als Florenz. Das Vorzüglichste und Eigentümlichste, was die venetianische Malerei in bezug auf die nackte männliche Figur hervorgebracht hat, sind verschie- dene ganz junge, noch nicht recht eigentlich männlich entwickelte Epheben aus


- 317 -


Tizians Hand, namentlich einige Figuren des heil. Sehastian, die in ruhigen Stel- lungen stehen und mit der höchsten Delikatesse in der Wiedergahe des Fleisches und der goldenen Lokalfurhc h<'liandelt sind. In bezug auf Form und Hau sehen sie sehr wie ausgewählte Modelle aus, aher freilich derartig ausgewühlt, dass sie doch kaum als direkte VViedergahen einzelner, hestimmter Vorbilder hetrachlel werden können.

Fragt man nach dem hesonderen Interesse dieser Schule, für die menschliche Gestalt, so ist es weit mehr die Frau, die als ihr Gegenstand hervorgehoben werden muss. Die weihliehe Gestalt wird mit einer wahrhaft erotischen Begeisterung verehrt. Die hervorragendsten Vertreter der neuen Schule  : Giorgione, Tizian, Palma, haben ihre Schönheil in einer langen Hcihe berühmter Hilder verherrlicht; sogar der Lehrer, der alte Giovanni Bellini liess sich von den .lungeren in derselben Dichtung mit fortreissen. Teils sind es Porträts von den Schönheiten der damaligen Zeit in voller venetianiseher Modetracht, teils freiere Dichtungen über die Frau, die Blumen dar- reicht oder in ruhigem Selbstbewusst.sein ihre siegreiche Schönheit im Spiegel beschaut ; zuweilen erinnert der Typus des Kopfes ein wenig an die Regclmässigkeil der Antike, zuweilen hat er mehr porträtarlige, nationale Züge. Und schon auf einem der glänzendsten der Gemälde seiner .lugend (im Palazzo Borghese zu Horn) balle Tizian die nackte Frau im Kontrast zu der völlig bekleideten dargestellt, jene gleich- sam mit dem volltönenden Ja der Liebe, diese mit der zurückhaltenden Weigerung in ihrem ganzen Wesen. Und jeder Beschauer fühlt so klar, als sei es auf das Gemälde geschrieben, dass der Maler der Nackten mit der feurigen Farbe und dem glühenden Ausdruck, mit ihren feinen, schwellenden Formen der Jugend den Kranz reicht. Und sein ganzes Leben lang malte Tizian ebenso wie seine Zeilgenossen eine Menge nackter Vennsse, Nymphen, Dianen etc. oder eine Magdalena, die sich wie Kraka in der nordischen Sage nur mit ihrem schimmernden goldigrolen Haupthaar verhüllt.

Das Bild der nackten Frau entwickelt sich sogar zu einer besonderen Spezialität, die die Venelianer vorläufig in der Kunst der ganzen Welt für sich behaupten, und die eins der eigentümlichsten und künstlerisch vollendetsten Phänomene in dem italienischen Humanismus und in der Kunstgeschichte der ganzen menschlichen Figur bilden.

Sie stellen nämlich die Frau gänzlich nackt dar, in liegender Stellung, auf einem Lager ruhend, sei es das frische Gras des Waldes oder des Feldes, sei es ein Bett oder eine Ruhebank in ihrer Kammer. Zuweilen schläft sie, häufiger aber ist sie wach und auf alle Fälle vegetiert sie ganz passiv, ihr Dasein in einer ruhigen Glückseligkeit geniessend, die weder von innen noch von aussen gestört wird. Es gibt keine Bilder auf der ganzen Welt, die reiner und deutlicher aus der Begeis- terung für die menschliche Gestalt nur als das, was sie ist, hervorge- gangen sind: die Frau wird hier dargestellt als die feinste Perle, die grosseste Kostbarkeit, das Schönste in Form und Farbe, was es zwischen Himmel und Erde gibt. Und obwohl das Körperliche hier weniger schwerfällig und süffisant ist als bei



- 318 -

Mii lif I Angeln, sieht die Kunst hier üYn Menschen doeli mehr von der rein körper- lichen Seite. Da ist kein selbständiges inneres Lehen. Kann hier überhaupt die Hede von einer seelischen Bewegung sein, so ist es nur eine sanfte Welle von Sinnlichkeit (Danae in Neapel und anderswo); in der Hegel aher ist die Seele völlig ruhig wie die See um die wanne Miltagstnnde, ein .spiegelklarer Wiederschein des reinen Sou- nenscheinglückes. Sonst ist da kein Ausdruck: im Vergleich zu Leonardos geist- reichen und glänzenden Krauen sind die venetianischen, was den Kopf anbetrifft, wenn auch schön, so doch wenig inhaltsreich oder eigenartig; auch Giovanni Bellini malte feinere, eigentümlichere, seelenvollere Krauenköpfe.

Es ist der weibliche Mensch, in seiner höchsten körperlichen Schönheit dem männlichen Menschen dargestellt, gerade nicht um seine Sinne zu überrumpeln, oder zu reizen, wie bei Correggios Liebesbildern, oder um ihn einzuladen, näher zu treten, sondern um ihn milde in staunendem Beschauen zu durchglühen. Die Geschichte der Menschheit ist nicht hei diesem Begriff von Weiblichkeit stehen geblieben, und man kann sich ohne Zweifel eine viel höhere Vorstellung machen, aber man muss doch einräu- men, dass man in diesen süssen und Vollreifen Kruchten der Kunst Italiens auch nicht einen einzigen Wurm findet. So wie es ist, ist es gesund durch und durch.

In einer solchen ruhigen Darstellung der menschliehen Gestalt liegt etwas, das mit dem Geist der Antike übereinstimmt: und man findet wirklich unter dem, was uns von antiker Malerei erhalten ist, das eine oder das andere, was daran erinnert. Und doch kann man gewiss ruhig sagen, dass es in der antiken nichts gegeben hat, was eigentlich dem entspricht. Alles Passive war der Antike zuwider : ihre sonderbare Vorliebe ftir die aufrechte Stellung spürt man sogar in den Linien der liegenden Kigur, die nur selten vorkommt und nie als ganzer oder wesentlicher Inhalt des Bildes. In der Antike schläft man sogar meistens in aufrechter Stellung. Die venetianischen Krauenliguren aher liegen nicht nur: es ist, als füllten sie ihre ganze Bestimmung aus, indem sie liegen : die ganze Gestalt erhält ihr Gepräge von dieser reinen Passi- vität. Sie sind auch üppiger, fleischlicher als die antiken, wenn auch die Ueppigkeit in feinen, massigen Linien gehalten ist.

Es liegt etwas in dieser Aufgabe für die Kunst, was den Gedanken auf Venedigs lebhaften Verkehr mit dem Morgenlande, mit der muhamedanischen Welt lenkt; nur dass diese in bezug auf die bildende Kunst selber ja ganz machtlos war. Aber wenn wirklich ein Einlluss aus dem Morgenlande stattfindet, so haben ihn sich die Vene- lianer gänzlich zu eigen gemacht. Sogar in ihrer vollkommenen Nacktkeit tragen diese Krauengeslalten das Gepräge des modernen und wirklich venetianischen Lebens. Namentlich geht Tizian darauf aus, in jeder Korm das Bild der voll- kommendsten Verfeinerung der begünstigten Stände durchzuführen; es sind in der Hegel ausgesuchte Blüten aus dem edelsten Blumengarten der venetianischen Ge- sellschaft. Selbst in der allerpassivsten liegenden Stellung kann die Haltung etwas sehr Vornehmes und Kürslliches haben (Palma, in Dresden); und von einer von Tizians Kiguren dieser Arl ( Venus von Urbino», in Klorenz) nimmt man sogar an, dass es ein naekles Porträt einer der vornehmsten Damen der damaligen Zeit ist:



— 319 -


doch hat sich der Künstler wohl kaum gebunden gefühlt, das wirkliche Vorbild in allem wiederzugeben. Ks ist hier auch sehr charakteristisch, dass die Figuren in dem ganz realen Kostüm ihrer Zeit häufig neben die nackte weibliche Schönheit gesetzt werden; das verleiht ihr selber ein Gepräge, als habe sie sich ihrer Modelrachl entkleidet.

Gerade auf dem Gebiet des rein Körperlichen sind diese Werke des italienischen Humanismus der diametrale Gegensat/ zu Michel Angelos immer unruhig kämpfenden Männergestalten. Da ist kein Streben nach Variationen in den Stellungen, in der Zeichnung der ruhenden Frau wird die Verkürzung so wenig wie möglich angewendet : sie soll sich gerade ganz dem Blick des Beschauers entfalten, der eingeladen wird, die vollendete Schöpfung des ganzen Körpers und aller ihrer einzelnen Teile, den edlen und feinen Zuschnitt der Formen, ihr rundliches und volles aber sanftes Schwellen zu geniessen. Deshalb wird auch das Licht breit und gleichmüssig über die ganze Figur verteilt; Licht und Schatten treten nicht in Gegensatz zu einander; «Ii«* klaren Reflexe, mit denen das Auge in der Stadt, wo die Strassen Wasser sind, so vertraut wurde, vertreiben alle Schwärze der Schatten. Die Form ist — mit wunderbarer Kunst — gerundet, Licht in Licht und beständig in der Farbe.

Dadurch gelangt die Lokal färbe des Körpers zu seinem vollen, un- mittelbaren und direkten Hecht in seiner milden Glut und strahlenden Schönheit: es ist die höchste Verherrlichung des Fleisches. Ks war gerade den Venclianern das höchste Ziel für die Kniwicklung der Technik der Oelmalcrei, dass es der Farbe ge- lang, den Stoff des Körpers, seine chemisch«; Mischung unter dem glücklichsten Wohl- sein des rein vegetierenden Lebens, seine spielende Frische und seinen Duft wieder- zugeben. Denn die Lokalfarhe ist der Natur der Sache nach nichts weiter als die direkte Schilderung des Körpersloffes  : das Hole ist Blul, das Punkt für Funkt durch die Oberfläche schimmert wie der Saft der Traube oder der Heere, das Licht ein- saugend und es wieder ausstrahlend. Indem der Maler die Farben auf seiner Palelle mischt oder die Tinten der nackten Oherlläche auf der Leinwand verarbeitet, mischt und verarbeitet er das Gewebe des Körpers und seine Säfte. Was für Michel Angelo Muskel ist, ein formbeslimmtes Organ für die Kraft, durch Dissektion des Körpers verstanden und studiert, das ist für Tizian Fleisch, durchzogen mildem warmen, lebenden Blut, das herausströmen würde, sobald man ein Messer ansetzte. Dies un- mittelbare Studium der Oberfläche verleiht der Wiedergabe derselben durch die ve- netianischen Maler eine unvergleichliche erotische Frische und Blume. Aber mögen sie nun den kräftig entwickelten Mann oder die feine Frauengestalt malen, die Ober- Häche wird weniger deutlich und rein analysiert als Abspiegelung des künstlich auf- gebauten Organismus als bei Michel Angelo und den andern Florentinern.

Tizians produktives Künstlerleben währte zu lange, um eine festabgeschlossene' Einheit zu bilden: in seiner späteren Zeil zeigt er, offenbar durch andere Schulen beeinflussl, mehr Interesse für die Verkürzung (al di sollo in su) und für männliche Kraftgestalten und wird von neuem von der Antike beeinflussl (Laokoon). Gleichzeitig damit strebl Tintorelto danach, «Tizians Farbe und Michel Angelos Zeichnung»



- 320 —


zu vereinen. Kr erreich te freilieh keines von beiden; aber er schuf der nacklen Figur in der Kunst Venedigs freieren Spielraum und zeichnete sie in unendlichen Mengen — in der Kegel ziemlich lose und oberflächlich aber mit grosser Virtuosität - - leicht gebaut und gracil und in einer gewissen leichten, feurigen Gymnastik, in allerlei sehneilen Wendungen und in kühnen schrägen Stellungen und Verschiebungen gesehen.

Trotz dergleichen neuen Elementen bewahrt der Figurenstil Venedigs bis zum Schluss des Jahrhunderts dennoch einen spezifisch venetianischen Charakter, der seine Form namentlich von dem Maler Paolo Veronese erhalten hat, aber auch bei den zeitgenössischen Hildhaucrn zu linden ist. Namentlich ist es charakteristisch, dass man den Figuren in ihrem Zuschnitt, in ihrer Hallung, in ihren Bewegungen das Gepräge gesellschaftlichen Auslandes und Liebreizes und feiner Lebensweise ver- leiht. Selbst unter heiligen und biblischen Personen gehl alles mit einer gewissen Höflichkeit und Zuvorkommenheil vor sich:' man bewegt sich in guter Gesellschaft, so wie man sie nur im Himmelreich und in Venedig finden kann. Von einem eigent- lichen ernsten Figurensludium ist allerdings nach Tizians und.lacopo Sansovinos kräftiger Zeit nur selten die Hede. Die weibliche Gestalt, die he' Tintoretlo noch fest und kräftig ist wie eine Pallas Athene oder eine Iiiana, wird bei Paolo Veronese sehr üppig.



EINZELNE WERKE DER RENAISSANCEKÜNSTLER (BRUCHSTÜCK).


POLLAJUOLO.

Es handelte sicli für die Renaissance darum, das Interesse von dem zum Himmel Gewandten und dem übertrieben Seelischen wieder auf das Körperliche, auf den Bau des Körpers und die Kraft, die er entfalten kann, hinzuführen.

Einer der Florentiner Künstler, der in dieser Beziehung die meiste Bedeutung hat, ist Antonio Pollajuolo. Von ihm sagte Vasari, das«  er danach strebte, die nackten Formen mehr nach Art der neuen Zeit zu bilden, als es die früheren Meister getan hatten; auch betrieb er die Anatomie mit grossein Eifer. Vasari sagt sogar, er sei der Erste gewesen, der darauf aufmerksam machte, wie man die Muskeln, ihre Form und ihre Lage zu einander suchen sollte. Seine kolossale, zehn Ellen hohe Figur des heiligen Christopherus in S.vMiniato galt für die bestproporlionierte Figur, die bisher gemacht war; der junge Michel Angclo soll sie gründlich studiert und mehrere Male gezeichnet haben. In Pollajuolos drei Cemülden von den Taten des Herkules spürt man deutlich das Interesse für den Körper in seiner höchsten Kraft- anspannung und reichsten Kraftentwicklung. Wo Vasari diese und andere gleichartige Figuren von Pollajuolo schildert, hebt er nicht nur das Schwellen der Muskeln und die ganze körperliche Kraft hervor, sondern auch die Züge — man könnte sagen: des Leidens, die gerade die höchste Kraftanspannung notwendig im Gefolge hat. Herkules, der den Antaeus erwürgt, fletscht die Zähne; die ganze Figur ist so an- gespannt, dass sich die Zehen von der Erde heben. Dies Zähnellelsehen hebt Vasari mit Vorliebe bei den Kraftgeslalten Pollajuolos hervor, er erwähnt, und wir können uns noch jetzt davon überzeugen, dass dies wirklich ein charakteristischer Zug für die Behandlung von dergleichen Aufgaben durch die Renaissance ist, nicht nur auf dieser Entwicklungsstufe sondern auch viel später noch (z. B. bei Bernini). Wo die Antike die siegende Kraft darstellt, hebt sie nicht ihre leidende Seite, überhaupt nicht das Seelische, hervor.

21



- 322


Das berühmteste Bild von Antonio Pollajuolo: das Martyrium des Ii ei lipon Sebastians, 1475 gemalt, jetzt in der National-Galerie in London, ist ein trockene Gemälde, in weit höherem Masse ein Zeugnis von des Künstlers eifrigem Studium der menschlichen Figur nach der plastischen und malerischen Seite, als von dem Gefühl für das Seelische, geschweige denn für die Phantasie. Ks macht einen langweiligen Eindruck, dass die Schützen, die den Märtyrer mit ihren Pfeilen töten sollen, so aufgestellt sind, dass sie in den vier Ecken eines Quadrats stehen in dessen Mitte der Baum (Vi mit dem Gefesselten Sebastian aufragt. Aber der Maler hat das so ausgerechnet, um den Bogenschützen wesentlich in derselben Aktion aber von vier verschiedenen Seiten gesehen darzustellen. Man findet Uebungen in Aufgaben derselben Art in gleichzeitigen llandzeichnungen — Uebungen, deren Wichtigkeit man leicht begreift, da es sich darum handelt, die volle Herrschaft über die Darstellung der Figur zu erlangen. Dasselbe Bestreben tritt ferner bei Pollajuolos Gemälde auch dadurch an den Tag, indem zwei Bogenschützen mitten in den Vordergrund gestellt sind; sie beugen sich beide vornüber, um ihre Flitzbogen zu spannen, sind also objektiv fast in derselben Stellung aufgefasst, aber dem Beschauer so zugewandt, dass man den einen direkt von hinten, den andern direkt von vorne sieht. Der eine ist völlig bekleidet, in der zeitgenössischen Tracht des Künstlers, der andere ist fast nackt. Die letztgenannte Figur wird von Vasari sehr lobend hervorgehoben: «sie zeigt alte die Kraft, die ein Mann mit starken Armen anwenden kann, um eine Arm- brust zu spannen  ; man sieht nämlich, wie seine Arme und Muskeln schwellen, und wie er den Atem zurückhält, um mehr Kraft anzuwenden».

Ein solches Gemälde verhält sich zu der auf dein Höhepunkt stehenden italienischen Malerei ungefähr wie die Aegina-Gruppen zu den Skulpturen aus dem Parthenon. Al>erdie Form der besten Figuren aus Aegina ist, wenn auch knapp und ohne eigentliche Fülle, doch durch und durch frischer, elastischer, körperlich gelungener. Pollajuolos Form ist trocken und hart: sie ist nicht im Leben unter freiem Himmel gesehen und studiert, sondern im Atelier an dem entkleideten Modell, und durch Gelehrsamkeit vom Dissektionstistli aus verslanden. Daher eine gewisse SchrolTheit in den Acceiiten der Fol in, wenn am h noch kein Prahlen mit anatomischein Wissen. Feiner haben sich die Aegineten aus der älteren Kunst eine gewisse Begelreehtheit in dem Zuschneiden der Totalmasse des Körpers bewahrt  : sie weichen von der Natur hauptsächlich dadurch ab, dass sie zu geradlinig in den Umrissen sind und zu sehr von ebenen Flächen eingefassl. Die Linien in Pollajuolos Figuren sind dagegen zu stark geschweift, aus- und einge- buchtet, trotz all ihrer Trockenheit. Hier ist alle Geometrie in der Haltung der Figur als Ganzes verworfen, im Interesse für (bis Studium der organischen Körperform. durch alle ihre einzelnen Partien. Pullajimlos Figuren gebricht es an Liebreiz, und die Farbe, insofern sie auf eine Schilderung der Figuren ausgeht, hat kein Interesse.

Dies gilt auch von dem gefesselten St. Sebastian, obwohl dieser Heilige ja das männliche Jünglings-Ideul in der Hcnnissancekunsl vertritt. Er ist so gewissermassen das- selbe, was Apollo in der antiken Kunst war, nur mit dem Unterschiede, dass Apollo mit Pfeilen schiesst, und Sebastian mit Heilen geschossen wird. Während die Antike



— 32.3 —


den Sieger feiert, feiert das Christentum den Märtyrer, den Leidenden, d. h. den, der auf Erden leidet, und der zum Lohn die Palme des Sieges vom Himmel erhält. Diese Doppeltheit im Ausdruck, die die Antike ja ganz und gar nicht kannte, ist eine der eigentümlichsten Aufgahen der Renaissance als christliche Kunst, und sie ist häutig mit dem schönsten Gefühl ausgeführt. So etwas war eigentlich nicht Pollajuolos Sache. Der Blick, mit dem sein Sebastian zum Himmel aufsieht, ist freilich auch schön und rührend, aber er hat einen Anstrich von etwas bitterem, anklagendem. Sebastians Kopf ist nach Vasaris Zeugnis ein Porträt eines zu jener Zeil lebenden Jünglings: des Gin», Ludovico Capponis Sohn.


RAFFAEL.

RafTael nimmt den wichtigsten Platz in dieser Geschichte ein, weil er ein so grosser und so ausserordentlich einflussreicher Darsteller des Menschenlebens ist. Aber die menschliche Figur — an sich — ist keineswegs auf dieselbe Weise sein Thema, gehört nicht in gleichem Masse in sein Programm wie das bei Michel Angelo der Fall war. Ralfaels grösste Macht liegt in der Erzählung, in dem dramatischen Verkehr der Figuren untereinander, in dem seelischen Verhältnis des einen zu dem andern, also im Gestus und in der Mimik. Im Gegensatz zu dem einsamen Michel Angelo ist er ja auch als Persönlichkeit Verkehrs- und Gesellsehaftsmensch, sympa- thisch und wunderbar liebenswürdig im Verhältnis zu seinen Mitmenschen, ein Vereinigungspunkt für viele, voller Ehrerbietung und Glauben in seinem Verhältnis zu der christlichen Kirche, ja fast auch in dem zu dem antiken Heidentum. Michel Angelos Kunst steht in seiner Darstellung des Menschen als gewaltiger lllock da, einförmig in seiner ganzen Masse, RafTael gleicht mehr einer schönen Schling- pflanze, die sich über die Antike, das Christentum und den neueren Humanismus hinrankt, Nahrung aus ihnen allen saugend; seine Stellung wird zum grossen Teil dadurch bestimmt, dass er zu der jüngsten Generation der grossen Künstler gehört, zu denen, die Michel Angelo schon in seinem mächtigen Streben, dem Humanismus künstlerischen Ausdruck zu verleihen, folgen mussten. Aber auch die Schling- pflanze durchzieht eine innere Einheit, wenn sie auch von loserem Zusammenhang ist als die Eiche in ihrem Kern.

Als Kind und Schüler der umbrischen Kunst, namentlich Peruginos, hat er, wie gesagt, von Anfang an Teil an dessen bescheidener Auffassung der menschlichen (iestalt. Indessen atmen einzelne von RafTaels frühesten Figuren ein weit jugend- licheres und frischeres Gefühl der Berechtigung, sich frei über das eigene Dasein zu freuen als irgend eine seines Lehrers (Die erwachsenen, Tamburin spielenden Engel auf «Marias Krönung» im Vatikan). So innig und christlich demütig auch der Ausdruck in seinen Figuren ist — und es im Grunde auch immer bleibt — haben sie doch überhaupt etwas Volleres, weniger Verzagtes als die Peruginos. Seine Figuren stehen schon jetzt etwas sicherer auf ihren Beinen  ; Rafläel hat durch Naturanlage,



-  :?2i -


die durch SUulien «ler Antik»' allmählich sehr entwickelt wurde, einen auffallend gesunden Sinn für «Iiis Gleichgewicht, «Iiis sonst nicht die starke Seite seiner Zeitge- nossen ist, aber als Haupt tagend bei seiner Kompositum wie bei seiner Wieilergabe der Ilidanee der Figuren in die Krscheiuuiig tritt. Als eigentümlich sehön empfun- denes Heispiel hierfür aus seiner frühesten Zeit kann die (eingebaute Figur des Jünglings in ..Marias Verlöbnis. iHrera in Mailand) angeführt weiden, der auf einem Hein steht, indem er sieh vornüberheug! mal seinen Stab über dem Knie zerbricht: das ist so recht ein Halaixc-Problem, und er geht ein wenig ängstlich dabei zu Werke, man merkt ihm den Anfänger an: aber «lie Aufgabe ist doch so riehlig uixl glücklich gelöst, Uebcrhuupl war und blieb bei HalTael, selbsl später, als sieh «lie Kräfte bei ihm so mächtig entfalteten und in eine so starke Hewegung gerieten, stet«  ein fast einzig dastehender Sinn für das nichtige und (icrade vorherrschend, ein instinktives Gefühl für den Strich, der das Wahre und das Schöne von seinem Gegensatz trennt, ein Gefühl der Mässigung, die mit der Antike verwandt ist, und die darauf hinwirkt«', dass er den modernen Humanismus mehr im Zaum hielt, als dies bei Michel Angelo der Kall war. Ks war etwas in ihm, was richtiger ging als in andern Menschen. Um noch bei seinen ersten Jugendjahren zu verweilen : es liegen auch dort Heweise vor, dass er in diesiT Periode die Einzelheiten in der Oberfläche «ler menschlichen Kigur mit grösserer Aufmerksamkeit für die Natur studierte, als wie sie Perugia«) jemals an den Tag zu legen gewagt hatte. So findet man in seinem Skizzenbuch, «las in Venedig aufbewahrt wird, vorzügliche Kedcrzeichnungen zu einer Kigur des heiligen Sebastian. Ks sind M odel Istudien, Studien von der oberen Hälfte der Kigur befinden si«  h auf einem Hlalt, die Heine auf einem andern — ein«? Teilung der Kigur, die übrigens charakteristisch ist für einen Schüler Peruginos. Namentlich Oberkörper und Arme sind an «lieser Kigur so hervorragend: doch hat die Korni, in der sich die Kigur nicht mit voller Freiheit bewegt, nach etwas Knappes, fest Geschlossenes.


Dass es Kall'ael nicht an natürlicher Anlage für «lie Schilderung des männlichen Charakters gebrach, bewies er in seiner Jugeml «lurch zwei kleine Kompositionen F«e >*«  von St. Georg mit dem Drachen, von denen namentlich die frühere iGenuUte im 1 .011 vre, Zeichnung 1 in den Pflizien i, wo der Hehl von seinem Pferde herab das S<hlachtenschwerl zu einem gewaltigen Hiebe erhobt, viui feurigstem Jugendntu! übersprudelt. Aber auf Grund «ler Schule, von «ler HalTael ausging, der Umgebungen, unter denen er lebte, sowie der Aufgaben, di«' ihm gestellt wurden, gelangten die.se Keime niemals zur Heife. Hein Gang seines Lebens nach gehört Haffael in der italie- nischen Kunst mehr auf «lie S«>ite der Geistlichkeit als auf die des Hittertums. Kr halle eine Neigung. Hitler wie Apostel als jung«' Kugel zu schildern. Dasselbe |?ill

1 Auf «ler Zeichnung ist die Figur ein wenig geändert und nach der entgegengesetzten Seile gewendet.



- 32f> -

r

auch bis zu einem gewissen Grad von seinen Porträts ans der frühesten Zeit. Messer Angel <» Doni in Florenz, der in dem Hufe stand, ein geiziger Geldmcnsch Kir. ist», zu sein, ist von Halfael auf dem Porträt im Palazzo Pitti halbwegs als junger Kugel, halbwegs als Geldmenseh dargestellt, eine ziemlich unschmaekhaltc Mischung in der Charakteristik trotz des edlen Stils und der vorzüglichen Ausführung des Gemäldes — überhaupt herrscht auf den beiden Porträts von Angelo und Maddalena Üoni eine wunderbare Halbheit zwischen prosaischem Healismus und feiner und ausgesuchter Idealität vor. Sich selber, (Mruslbild in den L'ffizien), und Messer Hindu Ku?. isu. Aldoriti (Rrustbild in München) hat Halfael in einem idealistischen Kugelst il gemalt, der völlig das Uebergewicht über die porträtartige Charakteristik hat. Namentlich kann niemand das Porträt von ihm selber mit seiner seraphischen Schönheit, seinem weichen, träumenden Hlick unter den grossen Augenlidern, dem gedankenvollen Zurückneigen des Kopfes auf dem langen Halse für die objektiv treue Schilderung eines der energischsten künstlerischen Arbeiters und Produzenten halten, den die Welt gekannt hat. Und Hindo Aldoriti sieht so ziemlich aus wie ein Zuckermunn, obgleich das Porträt meisterhaft ist.

Als Raffael dann 150«  nach Rom berufen wurde, um die Hilder in den Stanzen des Vatikans zu malen, war es zuerst seine Hauptaufgabe, den geistigen Verkehr zwischen Männern verschiedenen Allers zu schildern: zwischen Greisen und reifen Männern als Lehrern und Forschern und jungen Männern und Kpheben als Lehr- lingen und Zuhörern. Von den beiden Huuptbildern in der Slanza della Segnattira, die Theologie ('Disputa* eigentlich divinarum rerutn notilia) und die Philosophie, (*die Schule in Athen», causarum cogniliol sind Frauen fast ganz ausgeschlossen. Ks sind ideal verklärte Hilder vom Papsthole in Horn als Zentrum für die Hilduug ™ der Menschheil, und am Priesterhofe war kein offizieller Platz für die Frau  : der Hof hatte keine Königin ausser der himmlischen und man schloss keine Kheu.

Seit jener Zeit hat es in Kuropa kein Hildungszentrum von so universeller He- deutung mehr gegeben; Julius" II. und Leos X., Michel Angelos und Huffaels Zeit stehen in der historischen Krincrung noch heute von einem in der christlichen Geschichte beispiellosen ästhetischen Glänze umgeben da. Ks hat deswegen eine besondere He- deutung, die ideale Auffassung des Menschen aus jener Zeit zu sehen, worauf sie hinausging, was sie umfasstc und worin sie versagte.

Man muss zugeben, dass die Hilder von älteren Männern und Greisen im Ganzen mehr dem entsprechen, was sie sein sollen, als die Hilder von Jünglingen. Wir haben auf der «Disputa* unvergleichliche ideale Charakterschilderungen von den grossen Repräsentanten der Kirche: der kahlköpfige, gelehrte Hieronymus, der in seinein Folianten forscht, den er uuf dem Schosse aufstützt und solide mit beiden Händen am oberen Rande festhält; Honaventuru, der in seiner roten Kardinallracht daher- schreitet, in sein Huch vertieft, Papst hinocens III. mit dem souveränen Gepräge der höchsten, unantastbaren Gewalt, Dantes Adlerprofil mit dem Lorbeerkranz und auf der andern Seite der schöne Kopf Ficsolcs, des alten frommen Malers, dessen un- schuldiger Hlick träumend gen Himmel aufschaut. Ks sind infolge der Natur der



— 326 -


Aufgabe mehr Rüder von Geistlichen als von Kriegern, aber es sind in Wahrheit Bilder von Männern, von entwickelten Charakteren.

Aber nun die Jünglinge! Ja, Jünglinge sollen freilich keine entwickelten Charaktere sein, aber ein gesunder und natürlicher Jüngling trägt doch das Gepräge des werdenden Mannes: selbst das Unruhige, das Flatternde und Schwärmende gehört mit zu der männlichen Entwicklung. Aber das ist gerade das, was RafTaels Jünglinge — oder doch die Mehrzahl von ihnen — nicht tun : es sind ewige Soprane, deren Stimmen niemals in den üebergang treten, oder die tieferen Töne finden werden. Es sind eine Art Androgynen oder geschlechtlose Engel mit langen flatternden, blonden Locken, langen, weichen Hälsen, runden Wangen, auf denen nie ein Flaum oder ein Hart wachsen wird, süsse, weiche Münder und weibliche Bewegungen. Ich gestehe, dass einer von ihnen : der, der im Vordergrunde links dahintrippeit, mir ziemlich widerlich ist — so zuckersüss! Wir kennen diese Art Burschen aus unserer Schul- zeit : sie wurden immer wegen ihres tugcndsatncu Benehmens und ihres ausgezeich- neten Charakters gelobt, aber die Kameraden verachteten sie und nannten sie Mädchenjungen. Da sind andere, die weit besser sind und wirklich bewunderungs- würdig lebhaft und schön im Ausdruck, ihre Fragen brennen vor Begeisterung für Glauben und Lehre und man kann sich keine Schüler vorstellen, die besser zuhören oder besser folgen als die beiden, die sich nach dem Altartisch herüber beugen, atemlos gespannt auf jedes Resultat der Untersuchung, oder des heiligen Augustinus jungen Famulus, der gehorsam kniet, um die Worte des Meisters abzuschreiben. Eine Szene zur Linken ist namentlich beachtenswert: Ein älterer Forscher — es scheint Bramante zu sein, der Raffael hier Modell gestanden hat, — steht über eine Brüstung gelehnt, indem er natürlich und bequem den einen Fuss vor den andern setzt. Er glaubt einen wichtigen Fund in seinem Buch getan zu haben und wendet den Kopf um und teilt es einem andern mit, indem er mit dem Bücken der Hand leicht auf das Blatt des Buches schlägt, wie man es tut, wenn man sich ganz sicher fühlt, das Rechte gefunden zu haben. Einer seiner jüngern Schüler wird aufmerksam und tritt herzu, indem er dem Meister über die Schulter sieht: er findet den Satz im Buche, von dem die Rede ist, setzt den Finger darauf und liest ihn mit strahlender, jugend- licher Freude. Ein Beschauer von RafTaels Bild kann sich versucht fühlen, auf diese Szene mit einem ähnlichen Entzücken über den Fund derselben hinzuzeigen wie das, was die Figuren selber ausdrücken : es ist eine jener seltenen Stellen, wo die ideale Kunst, ohne auf irgend etwas in bezug auf ihre Schönheit zu verzichten, das Niveau der Wahrheit und Leibhaftigkeit des wirklichen Lebens erreicht hat. Etwas aber be- rührt uns doch unangenehm: warum muss dieser Jüngling, der doch IS — 1«,) Jahre alt ist, diese fetten, runden, glatten Wangen und dies weibliche Wesen in Miene und Bewegung haben? Der Greis an seiner Seite ist nicht lebensvoller oder beredter: aber das ist eine Charakteristik, die dem Leben wahrer und vollständiger entspricht.

Während Raffael die «Disputa» malte, sass Michel Angelo einsam auf der Stel- lage oben unter dem Gewölbe der sixtinischen Kapelle und malte die ersten seiner Gewölbebilder dort oben. Und ehe RalTael mit seiner -Disputa» fertig wurde, hat er



- 327 -


sicher viel von dem zu sehen bekommen, was Michel Angelo. gemalt hatte. Zur äußersten Hechten auf dem Hilde, auf der entgegengesetzten Seite der eben be- schriebenen Szene hat HalTacl ein Paar Figuren gemalt: einen grauhaarigen (ireis, der die Aufmerksamkeit eines jungen Mannes auf den Altar und den Kirchenlehrer in der Mitte lenkt. Man lindet hier plötzlich auffallend kräftige und muskulöse Glieder iti der Figur der Aelteren, und in der des Jüngeren eine kühne Verkürzung und überhaupt eine Charakteristik, die sehr au Michel Angelo erinnert. Diese junge männ- liche Figur ist ausnahmsweise wirklich einmal männlich. (Man erhält den Eindruck, dass Haffael diese beiden Figuren als HepräseulanUn für die Heiden, für Leute ge- dacht hat, die ausserhalb der Kirche stehen, und deren Aufmerksamkeit jetzt erst auf das hingeleitet wird, was darin vor sich geht.)

In der Schule zu Athen* wird Halläel eine Aufgabe, die in einem sonder- baren Verhältnis zu der Kunst des Altertums steht. Der Vorwurf für das ganze Hild und die Namen der einzelnen Figuren gehören ja dem klassischen Altert um an, und hier sollen athenische Jünglinge ebenso gebildet werden wie auf dem Parlhe- nonfries. In meiner Darstellung der Kunst des Altertums habe ich nachgewiesen, wie das Interesse derselben für den Menschen von Anfang an sich gänzlich auf das Körperliche und seine athletische Kniwicklung konzentrierte. Als sich dann die philosophischen und dialektischen Schulen in Athen bildeten, wurde das Interesse im Wesentlichen auf die geistige Seile des Menschen überführt. Dies erhielt auch einen gewissen Einlluss auf die Kunst ; es führte aber doch nicht dazu, dass man in der Kunst direkt die philosophischen Schulen mit ihren Vorträgen und Disputen darstellte. Die Kunst pllegle nach wie vor das Interesse für das Körperliche und Athletische, hob aber nur noch mehr den seelischen Ausdruck in der Figur hervor. Dagegen halte die Renaissance ein überwiegendes Interesse für die geistige Arbeil und ihre literarischen Früchte : und in der .Schule zu Athen, hat HalTael eine Seile des Alter- tums in Rehandlung genommen, die seine eigen»* Kunst hatte liegen lassen. Sie kommen nicht von der Paläst ra, sie haben nicht das athletische kurz geschnittene Haar, oder die nackten athletischen Formen, überhaupt nicht das männliche Wesen des antiken Jünglings. Der nackteste und männlichste Jüngling auf Haüaels (iemälde, der links auf  »lein Hihle mit Huchem und Papierrollen hereinkommt, weist «'ine deutliche Heminiszenz aus Michel Angelos Karton -die badenden Soldaten > auf, aber nichts aus einein antiken Werk. Sonst hatten die Jünglinge hier wie auf der Dispula» ft'iuerc und weichere Formen: ihre ganz«- (mstadl ist das vorzüglichste Organ für den Ausdruck der seelischen Erregung,  »l«'s brennenden Enthusiasmus, der ri-inen Freude über die Losung d«-r Probleme. Ich «lenke hier in erster Linie an die unvergleichlich s«  hön und fein empfunden«' Gruppe von vier Kphcben, die — im Vordergrund««  ri'chts — von Archinanles (in Hramanlcs Hilde) in d«>r liYomclri«' un- terwiesen w«'rden. Der weise Meisler beugt sich stehend üb«*r  »lic Tafel, die au der Erde Ikigt, uml führt mit dem Zirkel eine Konstruktion aus, während die jungen Schüler um die Tafel herum stehen o«ler auf den Kni«'ii Imgen, mit s«hwelgendcr, staunender Aufmerksamkeil, die bei einigen von ihnen einen Charakter annimmt,



- 328 —


als seien es Engel, die in Hern Anblick des C.hrisluskindes an der Krippe schwelgen. Es ist eine entzückende Gruppe, die zu dem hervorragendsten gehört, was Raffael geinalt hat; und da diese Schüler mehr als Knaben denn als Jünglinge geschildert sind, so empfindet man hier nicht den Mangel des männlichen Charakters.


TIZIAN.

Tizian ist es, der der Auffassung der venetianischen Schule von der mensch- lichen Figur ihr Grundgepräge verleiht. Er hat in bezug auf unser Thema eine Bedeutung, die sich mit Michel Angclo messen kann und ein Gegenstück zu der seinen bildet. Kein anderer von den Künstlern des Humanismus, ja kein anderer Künstler seit den besseren Zeiten der Griechen bis zum jetzigen Augenblick kann sich auf diesem Gebiete mit diesen beiden messen. Tizians Genius ist ausseror- dentlich ausgeprägt und selbständig; doch ist er — auch auf der Höhe seiner Wirksamkeit — dem Einfluss von anderen Seiten ein wenig mehr zugänglich, als Michel Angelo es war. Das ganze Leben hindurch steht er in einem recht sympathischen Verhältnis zu der Antike, jedoch sieher, ohne sich jemals eigentlich zu ihrem Schüler zu inachen; hin und wieder beugt er sich einem Einfluss der zeitgenössischen Kunst ausserhalb Venedigs, sogar Michel Angelos selber. Sein produktives Künstlerleben ist ausserdem länger als das irgend eines andern, es umfasst drei Viertel eines Jahr- hunderts und spiegelt deutlich die inneren Veränderungen und Kämpfe dieser langen Zeit ab. Es ist deswegen unmöglich, sein Künsllcrwesen unter eine einzelne stramme Formel zusammenzufassen. Aber er ist und bleibt trotzdem Tizian und Venelianer  : wenige künstlerische Psysiognomien sind so deutlich wie die seine.

Sein und der venetianischen Schule Widerspruchverhällnis zu der Kunst Mittel- ilaliens und namentlich Michel Angelos zeigt sich schon darin, dass er nicht, ebensowenig wie Correggio, eine besondere Vorliebe für die nackte männliche Figur hat. Wenn er sie zusammen mit der nackten weiblichen Figur komponiert, so ist offenbar die weibliche Gegenstand seines grossesten Interesses, und in Folge dessen interessiert sie auch den Beschauer am meisten. So z. B. auf seinem Bilde

cig. im «Venus und Adonis» (Madrid»; Adonis, der auch nicht ganz nackt ist, ist offenbar eine Nebenfigur im Verhältnis zu seiner gültlichen Geliebten. Hier kann man nun meinen, dass dies Verhältnis auf dem Thema beruht, dies Ist jedoch ausge-

Kig. i». schlössen bei seiner grossen Komposition «der Sündenfall» (in Madrid, das Bild ist nur mangelhaft erhalten), wo abermals die Frau unbedingt die Hauptperson ist — im Gegensatz zu Palmaveechios Gemälde in Braunschweig, wo die Gestalt des Adam jedenfalls vorzüglicher ist als die Evas. Wir haben früher hervorgehoben, dass die Aufgabe, die ersten Eltern der Menschheit im Paradiese zu schildern, Anspruch auf all den Idealismus macht — natürlich in bezug auf beide Figuren — , über den ein Künstler im gegebenen Augenblick verfügt. Aber Tizians Adam ist nicht sehr ideal. Er scheint ein wenig älter zu sein als Eva und ist lange nicht so schön; der Körper



- 329 -

ist hölzern, die Beine, namentlich die Schenkel, sind zähe und trocken. Weder in der Form noch in der Farbe ist hier eine Verherrlichung des männlichen Körper- baues gegeben. Er macht nicht den Eindruck, als sei er auf dem Studium eines einzelnen, zufälligen Modells aufgebaut, — denn die Durchführung ist ziemlich flüchtig und zeugt überhaupt nicht von sonderlichem Studium — ; weit eher erinnert die geknickte und eckige Bewegung an eine Gliederpuppe. Dagegen ist Eva eine schöne und sehr bedeutende Gestalt ; und da sie auf dem Hilde dargestellt ist, als achte sie weder Adams noch seiner Warnungen, schein* sie vorläufig allein vor die Einbildungskraft des Künstlers getreten zu sein, während Adam mehr kraft einer künstlerischen Rellexionsarbeit hinzugerügt ist.

Tizian malt überhaupt nur dann die nackte männliche Form und Figur, wenn das Thema sie mit sich bringt, ohne seine Vorwürfe um ihretwillen zu wählen: als Italiener und Kind der Kultur des Humanismus begegnet er ihr freilich häufiger auf seinem Wege als dies z. B. bei den alten Niederländern der Fall war. Eine kleine Reihe mythologischer Gemälde muss allerdings recht als Ausnahme genannt werden, da ein jedes von ihnen eine männliche Figur als Hanptgegenstand hat: es sind die Bilder von den Strafen des Tantalus, des Ixion, der Sisvphus und des Prometheus, <las cuatro furias», wie die Spanier sie nennen, die von Tizian ungefähr im Jahre 1548 für die Königin Maria von Ungarn gemalt sind. Die beiden erstgenannten existieren nicht mehr; Prometheus undjSisyphus befinden sich noch im Museum zu Madrid, aber vielleicht nur in Kopien.' Da die Kopien jedenfalls gut sind, ver- dienen sie Aufmerksamkeit in beziig auf Tizians Auffassung von dergleichen mytho- logischen Figuren. Sisyphus, der in der stärksten körperlichen Anstrengung darge- stellt ist, seinen unseligen Felsblock auf dem Nucken schleppend, übertrifft die gewöhnliche menschliche Natur freilich beträchtlich in beziig auf Grösse, dahingegen nicht in bezog auf Körperbau. Er ist ein starker Kerl, dessen Haut in der freien Luft und in der Sonne stark bronzefarbeii geworden ist ; die Form ist meisterhaft, ganz und naturgetreu modelliert — mit weit mehr Studium als der Adam ; aber die Muskulatur ist in keiner Hinsieht übertrieben kräftig. Das Bild des Promet heus, den Kig. im. der Adler hackt, macht als Ganzes — trotz der flüchtigen Durchrührung und vieler offenbarer Willkürlichkeiten einenjgrösseren tragischen Eindruck. Die liegende, stark bewegte Figur des Titanen ist in Verkürzung dargestellt, das Haupt zuvörderst, die Beine nach hinten. Er ist ein mächtiger Venelianer mit Adlernase, schwarzem Haar und Bart, aber die Form ist eigentlich auch hier nicht nach der Richtung des Ge- walligen hin idealisiert, am allerwenigsten auf Michel Augelos Manier; gerade die am gründlichsten und besten geformten Partien (das linke Bein vom Knie an und der Fuss) liegen ganz innerhalb der allgemeinen Grenzen der Natur. Der Riss, den ihm der Adler in die Brust gehackt hat, deutet kaum auf anatomische Sicherheit bei dem Künstler."


1 Crowe und Cavalcaselle. Tizian, Leipzig 1*77. f»'20; Catnlogo dcl Prato, 1872, I, 2:»8  ; die Annahme stützt sich nur anf eine Notiz bei Cardueci, nicht anf eine Untersuchung der Bilder selbst.

» Eine grosse Figur des Sitnson in der Borghese-Galerie, die in bezug auf Charakter und Vorwurf «las cuatro furias» am nächsten steht, wird von Crowe und Cavalcasellc als zweifelhaft angesehen.



- 330 -


Die christlichen Vorstellungen und Vorwürfe aus der Legende gaben Tizian gelegentlich Ansloss, den nackten, kräftigen, jugendlichen Mann darzustellen (Jo- hannes den Täufer in der Wü.ste, in der Akademie zu Venedig), oder den feinen unabgchiirtcten Jüngling |Sl. Laurentius in S. Loren/o in Venedig, St. Sebastian auf der Madonna S. Niccolo in der Galerie des Vatikans; diese wegen ihrer meister- hafttMi Behandlung, wegen ihrer Illusion und ihres «Fleisches> zu allen Zeiten so .sehr bewunderte Figur steht in be/.ug auf die künstlerische Aufgabe den Frauen- geslalteu Tizians am nächsten», oder die abgehärtete, kräftige (.Ircisengestalt (der luissfertige Hieronymus, auf verschiedene Weise variiert, wohl die bedeutendste Figur in der Hrera zu Mailand» Beispiele von Kinlluss der llorentinisch-römischen Kunst, namentlich Michel Angelos mit ihren gewaltigen Formen und kühnen Ver- kürzungen — zwei Dinge, die der venetianischen Kunst und Tizian ursprünglich fem lagen — besitzen wir in den aus S. Spirito nach Sla. Maria della Salute in Venedig üherführten Decken-Gemälden (namentlich Kain und Abel). Tizian folgt hier auch dem von Gorrcggio zu so hoher Vollendung gebrachten Prinzip, die Figuren so darzustellen, als würden sie von unten gesehen (di solto in sin; in beziig auf die Gestalten selber hat er allerdings Correggio keineswegs zum Vorbild genommen.

Was wir hier von Tizians Behandlung der menschlichen Figur gesagt haben, deutet nicht darauf hin, dass er auf diesem Gebiet eine grössere Initiative besessen hat. Und doch ist das der Fall gewesen : eine einzelne Reihe von Gestalten hat eine un- gewöhnliche Bedeutung für die nachfolgende Kunst gehabt, eine Bedeutung, die eigentlich erst gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts aufhörte. Es ist dies eine Reihe von Gh r i s t u s f ig u reu ; gewisse häulig behandelte Vorwürfe aus der evan- gelischen Geschichte bedingten ja, dass Christus nackt dargestellt wurde.

Wir langen jedoch am richtigsten damit an, dass wir an eine seiner Chrislus- figuren erinnern, der nicht nackt dargestellt ist, nämlich die auf dem berühmten Fig. i37. Bilde 'der Zinsgroschen» (•Gristn della moneta») in Dresden, einem der früheren Werke Tizians. Wir verweilen hier nicht bei allen den hervorragenden Einzelheiten, denen dies Gemälde seinen grossen Ruf verdankt, von der Vereinigung der Dürer'schen Gründlichkeit in der Durchführung der Einzelheiten mit der überlegenen italienischen Breite in der Auffassung, von der Originalität und Tiefe und der unvergleichlichen Klarheit, mit der das dramatische Verhältnis, die Entgegnung ausgedrückt ist, wir sprechen nur von dem Gegensatz zwischen den beiden geschilderten Charakteren; Christus und sein Widersacher. Es ist charakteristisch für den venetianischen Künstler, dass er den Heiland verherrlicht hat, indem er ihm das aristokratische, feinste und vornehmste Aeussere verliehen und ihn im Gegensatz zu der gemeinsten, ordinärsten Natur gestellt hat, die an den Kajs von Venedig zu linden war. Man betrachte seine weisse, schöne, feingeformte Hand, und dagegen die braune, schwielige und plumpe Faust iles Fragenden, seine edlen und reinen Gesichtszuge, die trotzdem ein täuschen- des Gepräge der wirklichen Natur tragen und dagegen die Sehurkenphysiognomie des andern, die leichte, kluge Ueberlegenheil in seiner Miene und seiner Bewegung, mit der er halb im Vorübergehen die unsichere, aufdringliche Naseweisheit zum Schweigen



— 331 -


bringt ! Christus als Aristokraten aufzufassen, ist eine ganz .venelianischc Art und Weise, die Bibel zu lesen.

Dieser Blick für einen sozialen Gegensatz zwischen dem Vornehmen und dem Gemeinen und die Anwendung davon auf Grade in ethischer oder religiöser Würde ist sonst gar nicht heimisch in der übrigen italienischen Kunst dieser Zeit. Wir treffen es nur bei den Venelianern. Auf einem Gemälde (in Madrid) von Sebastian del f'iombo: Christus auf dem Gange nach Golgatha wohl in Kom gemalt, aber doch von einem venetianischen Künstler, — ist der Gott mensch ebenfalls durch feine, edle Gesichtszüge und Hände charakterisiert, während Simon von Cyrene, der ja als Mensch aus dem grossen Kaufen kommt, in der Gestalt eines Mannes aus dem Volke dargestellt ist mit einem ziemlich gewöhnlichen Gesicht, dicken halbgeöffneten Lippen mit ein wenig Schnurrbart und einer Warze an der Wange. Raffael macht auf seinem grossen Bilde -der Gang nach Golgatha» l<lo Spasimo- ebenfalls in Madrid) keinen solchen Unterschied: sein Simon von Cyrene ist ein wahrer Heros, auf seine Weise ebenso ideal wie der unter dem Kreuze zusammenbrechende Christus : ja sogar die Henker haben ein Bürgerrecht in der Welt der Idealität, weniger hingegen in der der Wirklichkeit. Giorgione ist wohl derjenige, der zuerst in der ganzen modernen Geschichte der Kunst so recht realistisch das Gewöhnliche, Vulgäre dargestellt hat, das später unter den radikalen Malern des siebzehnten Jahrhunderts in Italien, sowie unter den Spaniern und Holländern eine so grosse Holle spielte; Tizian hebt zugleich und in noch erhöhtem Masse die andere Seite des eigentümlichen venetia- nischen Kontrastes hervor, die aristokratische, der eine ebenso grosse Zukunft beschieden war. Die Charakteristik des Standes u n t erschied es erhielt, von Venedig ausgehend, eine immer grössere Bedeutung für die Kunst.

Die Louvre-Galerie besitzt zwei Meisterwerke von Tizian, bei denen ihm die Aufgabe zufiel, Christi Figur nackt, in natürlicher Grösse darzustellen, nämlich die «Domenkrönung 1 und die Grablegung». — — —

Tizians Bild: die beiden Frauen am Brunnen.

Von diesem Bilde hat man bekanntlich niemals so recht mit Bestimmtheit ge- wusst, -was es eigentlich vorstellte», was jedoch nicht verhinderte, dass es allgemein berühmt und bewundert ist als eines der allerschönsten und seltensten Werke der Renaissance, ja der ganzen Kunst.* Nach einer annehmbaren historischen Analogie


1 Es wird von Crowe und Cavalcasellc ungefähr auf das SO. Jahr des Künstlers zurückge- führt. Wir wagen cb nicht, dieser Angabe zu widersprechen, obwohl es fast unfasslich ist, dass eine so ungemein kräftige Arbeit, die in keinem Punkt von einem Abnehmen der geistigen oder körperlichen Kräfte zeugt, von einem Manne in dem Alter herrühren sollte.

1 In dem Katalog über die «Ausstellung von Kopien nach den Werken berühmter Maler in Verbindung mit der Frühjahrsaosstcllung 1SM» befindet sich in Veranlassung von L. Tuxcns Kopie des Bildes folgende, wahrscheinlich von Jul. Lange herrührende Auslegung seines Inhalts:

Das Bild wird häufig «atnore sacro e profano» (die heilige und die weltliche Liebe) genannt — eine Benennung, die jetzt freilich allgemein als irrtümlich angenommen wird. Wahrscheinlich ist an etwas wie «Tempcrautia in amorc» (Massigkeit in der Liebe) gedacht, indem das nackte



- 332 -


kann man wohl annehmen, dass sich irgend eine Sentenz darunter verbirgt, die dem Künstler möglicherweise sogar in einer bestimmten literarischen Form, z. B. in einem lateinischen Verse aufgegeben war. Was dies gewesen sein kann, weiss man nicht ; man hat verschiedene Gedanken darüber laut werden lassen. Aber für uns ist es ja nicht das Wichtigste, in welcher Weise und wie genau sich das (iemälde einer gegebenen Sentenz oder einem allegorischen Gedanken ansehliesst ; wofür wir uns interes- sieren, ist, was der Maler von seiner Seite aus hat geben wollen, und das liegt olfenbar in seinem Gemälde vor. Ein Kunstwerk verstehen, heisst nicht: es als < Rebus» auffassen und erraten; eine Kunst, wie sie Tizian hier entfallet, kann ihre Ehre oder ihre eigentliche Aufgabe wirklich nicht im Rebusmachen suchen.

Was der Maler hat geben wollen, ist in erster Linie ein Kontrast, durch zwei weib- liche Gestalten dargestellt. Und der Kontrast gilt gerade der nackten Gestalt und der bekleideten in ihrer entgegengesetzten Bedeutung. Insofern bildet also dies Ge- mälde — nicht nur seine einzelnen Figuren, sondern sein ganzer Sinn — ein sehr bemerkenswertes Kntwicklungsglied in dem modernen Humanismus, namentlich dem venetianischen. Die Gestallen sind im übrigen ganz gleichartig charakterisiert : es sind derselbe Wuchs und dieselbe Gestalt, dieselben Gesichtszüge, dasselbe schöne, blonde Haar. Sie sind beide jung und schön. Der Unterschied liegt lediglich darin, dass die eine nackt ist und — könnle man wohl sagen — den Geist des Nackten ausdrückt, während die andere völlig bekleidet ist und den entsprechende!! Geist ausdrückt. Es lindet zwischen den beiden Figuren eine Art Unterhaltung statt : die Nacktheit spricht mit dem Drapierten.

Dieser Kontrast ist die Grundlage für die ganze Kom|M>silion des Gemäldes. Das Bild isl niedrig und breit; auf einer jeden der beiden Hälften herrscht eine der beiden weiblichen Figuren, die durch einen offenen Zwischenraum gelrennt sind. Die Teilung zwischen den beiden Hälften isl durch einen grossen Baum mitten im Hinter- grunde für das Auge bestimmt accentuierl. Rechts von diesem Baum, hinter der nackten Figur, ist die Aussicht olfen : man schaut weit hinaus über Wald und See, über Stadt und Berg und Meer, ausserdem über ein grosses Slück des offenen Himmels; links hinter der bekleideten Figur ist die Aussicht mehr geschlossen: die Landschaft steigt an und schliefst mit einer Stadl ab. Es niuss doch zugegeben werden, dass der Hauptvorzug des Bildes nicht in seiner Komposition besteht, bei der man gerade den Kontrast als einen gewissen Dualismus empfindet. Obwohl die Linien der Figuren wirklich zusammeiikoniponicrl sind, indem sie nach oben konvergieren, ermangelt die Fläche doch des Zusammenhanges.

Mitten im Vordergrund erblickt man einen Brunnen von einem länglichen vier- eckigen Marmorbecken eingefasst, das wie ein antiker Sarkophag mit Reliefs ge- schmückt ist. Zu jeder Seite dieses Marmorbeckens sitzen die beiden Frauen : die


junge Weib, <las das RäucherfasH in die Höhe hebt, das warme Element der Liebe ausdrückt, während die völlig bekleidete Frau anf der andern Seite die kühlere Reservation ausdrückt, die *u der richtigen Mischung gehört. Amor, der das Wasser mit der Hand umrührt, deutel wohl eben- falls auf die richtige Mischung von Warm und Kalt hin. (Anm. des Herausgebers).



— 333 —


l>ekleidele streng genommen ein wenig niedriger als der obere Rand des Marmors, als süsse sie auf einem kleineren Sitz vor der Eckt! der Umfriodigung; dies ist nur eine Freiheit im Arrangement, um die nackte ein wenig höher zu placieren. Die Figur zur Linken ist völlig bekleidet in der venetianischen Modetracht der damaligen Zeit, mit einem langen, faltenreichen, weissen Aliaskleid, das nur den Mals und den Husen frei lässt, aber lange Aermel hat; sie trägt ausserdem graue Handschuhe an l«?iden Händen. Ihre Taille umschliesst ein schwarzer (Hirtel mit einer feinen Spange aus Gold und einem .luwel in der Milte. An dem rechten Unterarm kommt ein ziemlich heller, kirschroter seidener Aermel zum Vorschein; und unter dem Hände des Kleides zeigt sich die breil zugeschnittene Spitze eines roten Schuhes. Ks ist ein eigentümlich venelianischcr Zug, dass gerade die damalige Modelraehl, recht realistisch geschildert, der Nacktheit gegenübergestellt wird. Die freie Draperie, die die Antike kannte, und die wohl einen Kontrast zu der Nacktheit bilden kann, aber doch gleichsam in einer natürlichen Verwandtschaft mit ihr steht, kommt hier seltener vor als das zugeschnittene Kleid; die venetianischen Koloristen haben ausserdem eine Vorliebe für den Seidenglanz, der immer eine unantike Wirkung ausübt. Auf andern Hildern stellt Tizian nackte Frauen mil Männern in Jacke und Heinkleidern und mit Barett bekleidet dar, oder einen nackten Jüngling mit Frauen in Mieder und Rücken. Das verleiht der Nacktheit seiher einen gewissen realistischen Charakter: sie zieht den Gedanken nicht in ein ganz andersartiges Dasein hinüber, als in dem man sich für gewöhnlich bewegt. Dies könnte sonst die Gefahr im Gefolge haben, dass die Nackt- heit hier weniger unschuldig wäre, indem sie an eine willkürliche Entkleidung der Gewandung der damaligen Zeit erinnert, also an einen Trotz gegen Sitte und Gebrauch; aber auf den Gedanken kommt man dennoch nicht. Wenn die Venetianer jener Zeit sich die Freiheit nehmen, nach eigenem Gutdünken einen Schritt in ein goldenes Zeitalter hinein zu machen, so stellt es sich heraus, dass ein solches Dasein etwas so Natürliches ist und so nahe liegt, dass die beiden Formen sich ohne den ge- ringsten Ansloss zu nehmen, mit einander verbinden; und zwar nicht nur hier, wo die Personen beide Frauen sind.

Die angekleidete Frau sitzt da, den linken Arm auf eine grosse, runde, mit einem Deckel geschlossene Dose gestützt, die auf dem Hrunnenrande steht; die rechte Hand ruht in ihrem Schosse und umschliesst leicht ein paar abgepllückle Blumen; eine Hose und einige abgerissene Hlätter liegen neben ihr auf dem Marmor. Sie trägt auch in dem goldenen Haar einen feinen Kranz von grünen Blättern und weissen Blumen. Sie ist schön, edelgesinnt und vornehm wie eine Königin, aber der Aus- druck ist kalt, geistlos, abwesend.

Es unterliegt keinem Zweifel, dass der Maler selber in seinem Herzen Partei für die Nackte ergreift, die auf der andern Seile auf dem Marmorrande hockt, indem sie frei und graziös den linken Fuss ein wenig vorstreckt und den rechten Fuss hinler die linke Wade und den Knöchel hält. So hat sie sich ein wenig von der Schwester abgewendet; jetzt aber redet sie mit ihr, beugt sich zu ihr hinüber, sich nach der rechten Seite neigend, indem sie deu Arm ganz lotrecht sinken lässt und



die flache Hand auf den Marmorsitz stützt. Sie wendet auch den Kopf der andern zu. Den linken Ann streckt .sie nach der Seite aus, ein offenes, duftendes, rauchendes Bäueherfass mit der Hand emporhebend; es entspricht offenbar ■ — als Gegensatz — dem geschlossenen Gefäss, auf dem der Arm der Schwester ruht. Durch diese Ver- änderung in ihrer Haltung gleitet die rote seidene Draperie, die sie bisher vielleicht ein wenig mehr bedeckt hatte, von ihrem Körper fort und flattert zur Seile. Sie sitzt jetzt fast ganz nackend da, doch ist ein weisses Tuch leicht um ihre Lenden ge- schlungen.

Was sie will und bezweckt, ist ganz klar. Es ist eine «Aufforderung zum Tanze >. Sie will ihrer würdigen Schwester vorhalten, dass Feuer im Räueherfass sein muss, und dass der Deekel nicht darüber geschlossen sein darf. Aber dies ist keineswegs vulgär gemeint. Ks liegt im Gegenteil in ihrer Bewegung eine gewisse innige Feierlichkeit, die der fast ehrfurchtsvollen Begeisterung, mit der der Künstler diese liebliche Blüte menschlicher Schönheit betrachtet hat, entspricht. In dem starken, feurigen Blick des schwarzblauen Auges und in der leicht errötenden Wange liegt eine innere Glut: sie ist die Priesterin und Prophetin der nackten Natur. Aber die stolze und kalte Schwester wendet den Kopf halb ab und wendet statt jeder Antwort den Blick nur ein wenig zur Seite. Sie will nicht.

Die Bewegung der nackten Figur — ganz von innen gegeben, so wie sie ist, ohne dass man das Geringste von einem Arrangement von Seiten des Malers spürt — entfallet sich vor dem Blick mit einer ganz seltenen und originellen Schönheit in den Linien, und mit der einfach geschlossenen Konsequenz, die das Kennzeichen der höchsten italienischen und antiken Kunst ist. Der Umriss ihrer linken Seile und ihres Beines bildet eine grosse, zusammenhängende, gestreckte, nur leicht wogende Linie; sie wird unterstützt von der lebhaften wogendtm Linie /.wischen den Beinen, die abermals den I lebergang zu den runderem schwellenden Kurven in dem Umriss ihrer rechten Seile, der Hüfte, des Schenkels und der Wade. Der ganzen schrägen Neigung des Körpers nach rechts steht als vorzügliches und gleichtgewichthallendes Gegen- stück der linke, nach der Seite bewegte Arm und die Hand mit ihrem leichten Ge- wicht gegenüber. Ks gibt vielleicht überhaupt keine Kenaissancefigur, deren Linien mit einer so edlen Eurythmie wirken wie diese, mit voller spontaner Freiheit, aber ohne das geringste Streben nach einem künstlerischen Kontraposto.

Man hat behaupten wollen, dass wenn irgend eine Arl moderner Malerei an das erinnern könnte, was der Menschheit in der höchsten antiken Malerei, namentlich in der des vierten .Jahrhunderls v. Chr. (Apelles' Zeitaltert unwider- ruflich verloren gegangen ist, so müsste es die venetianische sein. Wenn dies der Fall ist, kann man noch weiter gehen und sagen, dass falls irgend eine Figur der venelianischen Malerei an die Antike erinnern kann, so muss es doch vor allen andern diese naekle Figur auf dem Brunnenrande sein. In dieser Stellung ist etwas, was an einen häufig vorkommenden Zug in der sitzenden weiblichen Figur auf an- tiken Wandgemälden erinnert, nämlich dass die jugendliche Frauengestalt sich mit der einen Hand auf dieselbe Fläche stützt, auf der sie sitzt, indem der Arm



335 -


senkrecht am Körper herabgesl reckt ist; und es ist gewiss sehr viel wahrschein- licher, dass dies von einer inneren Uebereinstimmung mit der Antike kommt, als von einer äusseren Nachahmung einer antiken Figur, die Tizian vor Augen gekommen sein sollte. Wenn aber auch gewissermassen eine Verwandtschaft mit der Antike existiert, so besieht dennoch in allen Punkten und nach jeder Richtung hin, vom innersten bis zum äussersten, ein feiner, aber durchgreifender Unterschied, der sich zweifels- ohne sehr deutlich zeigen würde, wenn man sie direkt mit den Figuren des Apelles vergleichen könnte, — in sofern man, nachdem, was man sonst von der Antike kennt, über sie urteilen kann. Wohl hat die antike Malkunst die Naturschönheit des Menschen verherrlicht, aber sie hat den Begriff davon mit einein erhöhten Begriff von Standeswürde verschmolzen. Uns wohl macht sich auch in Tizians Figur ein gewisser Geist von Hoheit oder Feierlichlichkeit geltend  ; aber in ihrer innersten Absicht liegt doch gleichsam ein erstes, noch jungfräuliches Dämmern von der Emanzipation der Natur. Sie streift insofern leise das Gebiet der Männde; aber sie ist doch weder Mänade noch Göttin, sondern ist nur ganz einfach die nackte Frau, mehr menschlich subjektiv und warm und ein klein wenig realistischer als die Frauengestalten der Antike. Sic kann — auf der andern Seite — als Stammutter von Hubens', van Dycks und Jordaens Frauengeslalten aufgefasst werden. Es liegt in der Charakteristik des Körpers überall ein feines Schwellen des Stoffes, das sie von den strammeren Linien der Antike entfernt und sie der flandrischen Schule nähert. An dem ausgestreckten linken Knie der Figur be- merkt man ein wenig die Zusammenschiebung des vollen Fleisches unter der Knie- scheibe; die Haut über dem rechten Handgelenk wirft Falten, indem sie sich auf die Hand stützt und das Gelenk stark zurückbiegt. Der ganze Körperbau muss eher kurz und gedrungen genannt werden - - obgleich das letztere Wort eigentlich zu stark ist — als schlank und langgestreckt. Die Gesichtszüge scheinen den Rubenssehen Typus t>ccinflusst- zu haben: die scharf geschnittene, gerade Nase, die reine, glatte, nicht niedrige Stirn, der klar und bestimmt geformte, aber erotisch süsse Mund, das schwarzblaue Auge.



DER EINFLUSS

DER HUMANISTISCHEN KUNST AUF DAS ÜBRIGE EUROPA.


Durch die Hauptphäuomcne in dem italienischen Humanismus muss man zu dorn Verständnis der untergeordneten Phänomene gelungen. Nun könnte man ja eingehender schildern, wie die Strahlen von jenen Brennpunkten sich über Italien verbreiteten und rings umher eine kurze, idealistische Blütezeit mit vielen schönen Werken, auch von weniger berühmten Künstlern hervorriefen. Aber in historischer Beziehung hat es grössere Bedeutung zu sehen, wie die Bewegung, die in Italien wachgerufen war, sich auf das übrige Europa verbreitete, d. h. auf den westlichen Teil des- selben, der der römisch-katholischen Kirche angehörte oder angehört hatte, und der seit dem Mittelalter eine gemeinsame Kultur besass. Wenn man nur darauf Rück- sicht nehmen wollte, was in künstlerischer Beziehung am besten war, so müsste man einräumen, dass die Behandlung der menschlichen Figur durch die Italiener noch in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts eine ungeheure Uebcrlegenheit über die der übrigen europäischen Nationen bewahrte, und dass man mehr Schönheit in dem linden konnte, was von Künstlern zweiten Ranges in Italien stammte, als in dem, was selbst die berühmtesten Deutschen, Niederländer oder Franzosen auf diesem Gebiete ausgeführt halten. Das kommt daher, weil das Interesse für die menschliche Figur eigentlich nur in Italien aus erster Hand lebendig und wirksam war, während es in andern Ländern im wesentlichen nur entliehen war. Aber selbst das Entliehene hatteeinegms.se historische Bedeutung und bereitete die europäische Welt in weiterem Umfang auf eine nachfolgende selbständigere Teilnahme an dem Werk des künst- lerischen Humanismus vor.

Wir sprechen hier von dein, was man ausserhalb Italiens auf dem Gebiete der Malerei und Skulptur unter Renaissance verstehen muss. Das bezeichnet, vom historischen Gesichtspunkt aus. etwas, was von Italien kam. Wie in der Baukunst die antiken Formen nach dem Beispiel der Italiener angenommen wurden, so in der bildenden Kunst das humanistische Interesse für die menschliche Gestalt, namentlich für die nackte. In den meisten Punkten lüsst sich die Ueberlieferung aus Italien



- .137 -


historisch nachweisen, und in einzelnen Fällen, wo man rlas nicht mit Sicherheit kann, muss man doch annehmen, dass sie entscheidend gewesen ist. Nichts deutet darauf hin, dass die übrigen Völkerschaften aus eigenem nationalen Antriebe ir- gend eine künstlerische Verherrlichung der menschlichen Gestalt entwickelt haben sollten, höchstens kann man sagen, dass die antiken Vorstellungen, die auf dem Buehwege schnell über alle Länder Kuropas verbreitet wurden, dort ebenso wie in Italien mehr Anlass als bisher zu der Entstehung von Widern der nackten Figur gaben.

Doch fuhr die Kunst fort, unter diesen Völkern im sechzehnten Jahrhundert wesentlich dieselbe Richtung zu verfolgen, wie im fünfzehnten. Sie hatte dieselbe Neigung wie früher, den Menschen individualistisch aufzufassen. Sie zeichnet sich namentlich im Porträt aus und befriedigt in demselben am sichersten. Wenn man fragt, was von ihren Leistungen auch in späteren Zeiten unbestritten als vortrefflich anerkannt wird, so fallen einem sofort Dürers, Holbeins und Glouets Porträts ein, während die Idealfiguren desselben Zeitalters und derselben Künstler keineswegs einen solchen absoluten aesthetischen Werl haben. Und der Stil im Porträt, im plastischen wie im gemalten, ist wesentlich derselbe wie der frühere nordische Por- trätslil: es ist die ruhige und objektive, die scharfe, feine und ausführliche Schilde- rung der Individualität, so wie sich diese wirklich darbietet. Auf diesem Felde bewahrt die nordische Kunst ihre Selbständigkeit ungeschmälert. Allmählich nimmt das Porträt im Aeussercn mehr den Stil der italienischen Kunst an, bleibt aber in seinem Wesen trotzdem nordisch (z. 13. Antonia M o r) und bewahr! den Vorzug der nordischen Porträtkunst in bezug auf Ehrlichkeit und Glaubwürdig- keit. Es ist eine anerkannte Sache, dass die ausgezeichneten Porträts aus dieser Periode uns oft Trost und Entschädigung für die hohle und nichtssagende idea- listische Produktion bieten müssen, die von denselben Meistern stammt, die die Porträts ausgeführt haben. In Deutschland und den Niederlanden emanzipiert sich jetzt auch die unmittelbare Schilderung des Verkehrs des wirklichen, zeitgenössi- schen Lebens (Figuren aus dem Volksleben, Genrebilder) ; nimmt man eine jede für sich, so sind die Figuren auf solchen Bildern porträtartig, wie auch ihr Verkehr untereinander der Wirklichkeit abgelauscht ist.

Unsere Aufgabe führt uns aber dazu, recht eigentlich die unselbständige Seite dieser Kunst zu betrachten. Als die italienische Menschenverherrlicliung sich zu den andern Nationen Hahn brach, hatte sie einen Kampf mit dem mittelalterlichen Pessimis- mus zu bestehen, der gerade zu jener Zeil unter ihnen stark vorherrschte und sich darin äusserte, dass man mit Vorliebe bei den Vorstellungen von der llebermaeht des Todes über das Leben (Totentänze), bei der Aullösung und der Elendigkeit der Leiche verweilte. Die grosse Ueberlegenheit der Italiener in der Behandlung der nackten Gestalt hatte wohl Aufmerksamkeit und Bewunderung bei den Künstlern der anderen Völker hervorgerufen, sie sticss aber auf Widerstand in den Sitten der nordischen, namentlich der germanischen Völker.

Die Deutschen betrachteten nicht obne Misstrauen das Interesse ihrer Künstler für die nackte Figur; die ernsten und ti itioualgesinnten Deutschen dachten

22



— 338


sieher, was Melanchthon ausgesprochen hal : dass der Mann in voller Rüstung «las vig. «9. Schönste sei, was man sehen könne ; und wenn es nun doch einmal sein musste, widerstritt es ihrer Ansicht nach weniger der menschlichen Würde, dass man die Frau nackt sah, als den Mann. Derjenige von allen deutschen Künstlern, der von der Natur offenbar am meisten mit plastischem Gefühl ausgestattet war, mit der Fähigkeit, die Linien der Figur frei und ganz, zusammenhängend und sicher aufzu- lassen, nämlich der vorzügliche nürnhergische Bronzegiesser Peter Vischer, zeigt seine Ueberlegenheit gerade dadurch, dass er die Linien und Formen unter dem Gewände, ja sogar unter der steifen Metallrüslung zur Geltung bringen kann: an nackten Gestalten hat er nie etwas Bedeutendes oder Selbständiges hervorgebracht. In dieser Richtung hatte Alhrecht Dürer offenbar die grösste Bedeutung nicht nur unter den Deutschen, sondern unter allen Völkern ausserhalb Italiens in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts. Er hatte sich das Interesse für die menschliche Gestalt durch den Aufenthalt in Venedig und Studien nach den Italienern (Mantegna, Jacopo de Barbari, Giov. Bellini) angeeignet — d. h. meist nach Künstlern, die auf dem Boden der älteren Zeit, des fünfzehnten Jahrhunderts standen; und er opferte sein Leben lang einen grossen Teil seines ungeheuren Fleisses und seiner Energie dem Studium dieses Gegenstandes. Er studierte die menschliche Figur nach dem Modell und den Darstellungen anderer, verschiedenartiger Künstler; und mit seinem eigen- tümlichen Streben nach Theorie stürzte er sich auf die Proportionslehrc und brachte eine gründlichere Behandlung derselben zuwege, als sie selbst die Italiener erreicht hatten. Viele von seinen Figuren, in Kupferstich, Zeichnung und Malerei zeugen da- von, wie gewissenhaft und genau er die Form des ganzen menschlichen Körpers im Einzelnen studiert hat; darin ist er weiter gekommen als die meisten Italiener. Aber ihm fehlt in hohem Masse die Herrschaft über die Figur als Ganzes, die selbst dit* untergeordneten Italiener besitzen: in Stellungen und Bewegungen kann er sich von etwas Steifem und Gezwungenem nicht freimachen, selbst wenn er in dieser Hinsicht etwas weiter gelangte als seine deutschen Vorgänger. Und vor allem bezeichnend für sein Verhältnis zu dieser Sache ist es, dass es seinem Figurenstil völlig an innerer Einheit gebricht: neben den Reminiszenzen von der älteren deutschen Auffassung mit ihrer Trockenheil und Magerkeit findet man Versuche, die breiten und weichen Flächen der Venetianer wiederzugeben. Er hat nicht wie die grossen Italiener eine selbständige Auffassung der Figur geltend zu machen, sein Wille geht nicht über das Studium hinaus. Das Eigentümlichste bei ihm ist seine echte nordische Neigung, mikroskopisch in die kleinsten Details der Form einzudringen; sein spitzer Blick bleibt häufig an den Zufälligkeiten der Haut oder den Unregelmässigkeiten der Form hängen, in die sie sich mit peinlicher Gründlichkeit vertieft, so dass der Ueberblick leicht verloren geht. Es war ihm eine Ehrensache, jedes einzelne Haar auszupinseln. Auch bei den älteren Niederländern hatte sich etwas von dieser Tendenz geltend gemacht, und wir finden sie bei den zeitgenössischen Niederländern wie Massys und Marinus van Roymerswall wieder, sie starb überhaupt nicht ganz in der germa- nischen Kunst aus, bis sie zweihundert Jahre nach Dürers 'Zeil durch seinen Lamls-



33!) —


mann Balthasar Donner mit der grösston Einseitigkeit in die Erscheinung trat und allmählich von der Acsthetik geradezu verboten wurde.

Die Cranachsche Malerschule in Sachsen, die der lutherischen Reformation so nahe stand, kann sich in bezug auf ein selbständiges und gründliches Studium der menschlichen Gestalt keineswegs mit Dürer messen. Aber das Interesse für die nackte Figur, d. h. überwiegend für die weibliche, tritt hier etwas unvorbehaltener an den Tag und schafft ein eigenes Genre, meistens ziemlich kleine Bilder, die sehr charakteristisch für den deutschen Humanismus sind. Sie erinnern auf der einen Seite an diese nordischen üilder der nackten weiblichen Gestalt, wie sie schon Jan van Eyk, auf Bestellung für die Kabinette vornehmer Herren, ausführte, nicht gerade von unsittlichem Charakter, aber doch speziell für die Augenlust und Herzensfreude des männlichen Geschlechts bestimmt. Die Cranachsche Schule schlicsst sich ja einem Hofe an, im Gegensatz zu der Kunst der freien Reichsstadt Nürnberg. Auf der andern Seite bieten sie so eigentümliche Berührungspunkte mit dem beginnenden florenti- nischen Humanismus, (Sandro Bottieolli, Piero di Cosimo), dass man auf eine histo- rische Verbindung schliessen muss. Vielleicht liegt auch etwas wirklich Nationales und Provinzielles in den runden, blonden Köpfen des Cranachschen Typus mit dem lächelnden Ausdruck in den schräge nach oben liegenden Augen. Ihre Zeitgenossen ««. i«o. muss sie doch wohl befriedigt haben ; die Nachwelt aber fand kein Vergnügen an diesen bald steifen, bald losen, puppenhaften Gestalten, deren Beinlinien einander häufig in Scherenfonn kreuzen, und auf die nachfolgende Kunst blieben sie ohne Einfluss, so dass sie in der Geschichte als eine scharf abgesonderte Art da- stehen. Sie werden unter biblischen oder antik-mythologischen oder allegorischen Namen eingeführt und sind in der Regel von einem kleinen moralisierenden Vers begleitet, der vor den Gefahren der Schönheit und Liebe warnt — eine Art Ent- schuldigung für die Verherrlichung derselben durch die Kunst. Natürlich kann man in Deutschland keine so vollkommen freie und rückhaltlose Hingebung an die menschliche Schönheit erwarten als z. B. in Venedig. Es ist auch ein ganz gewöhn- liches Thema in der deutschen Kunst, über die schnelle Vergänglichkeit der Schön- heit zu moralisieren, indem man die jugendlich blühende Gestalt der alternden und ausgezehrten gegenüberstellt.

Gradweise wird dann in Deutschland im Laufe des sechzehnten Jahrhunderts dieser ältere Humanismus, der in dem früheren italienischen wurzelte, durch den Ein- fluss der ausgereiften italienischen Kunst verdrängt, der jedoch keine nennenswerten Ergebnisse im Gefolge hatte.

Dagegen kam dieser Einfluss schneller und plötzlicher nach den Nieder- landen. Hier stand die alle niederländische Tradition noch zu Anfang des Jahr- hunderts in voller Kraft, z. B. von einem Meister von der Bedeutung Quinten M a s s y s vertreten. Erst allmählich werden er und Andere (Lukas von Leydcn) in ein ähnliches Mittelstadium hineingezogen, wie das, in welches die deutsche Kunst nach der Reformationszeit trat. Aber Michel Angelos und Raffaels Ruf war schon früher in die Niederlande gedrungen ; selbst so bedeutende Werke wie Raffaels Kartuns



aus der Apostelgeschichte kamen nach Flandern, um als Tapeten gewebt zu werden, und schon früher hatten niederländische Künstler die mittelitalienischen Schulen be- zogen, um zu lernen, wie man die Menschen auf die neue Art und Weise aufTassen sollte, die so viel Aufsehen erregte, ohne dass sie jedoch von Hause die Voraussetz- ungen mitbrachten, um sie sich aneignen zu können. So wurden schon vor dem Jahre 1520 unter den Niederländern die mageren und dünnen Figuren ihres alten Stils von den römischen breiten und mächtigen abgelöst — es war ein Sprung in der Ent- wicklung, wie die Kunstgeschichte kaum etwas ähnliches gesehen hatte. Natürlich änderte sich nicht alles auf einmal; und wo die Aufgabe geradezu eine Schilderung der Wirklichkeit verlangte, verharrten die Niederländer bei ihrer realistischen Cha- rakteristik, die sie sogar gern zur Karrikatur steigerten. Wo es sich aber um ideale Figuren handelte, sind sie desto eifrigere Nachahmer der Italiener: sie meinten, dass es so sein müsse, konnten jedoch ihre Vorbilder nicht annähernd erreichen. Die nackte Figur tritt — berufen oder unberufen — in allen möglichen Vorwürfen auf: die Form ist trocken und schwerfällig, plump und klotzig ; in der italienischen Kunst war in bezug auf Form und Gestalt nichts so bombastisch gewesen, dass es nicht durch die niederländischen Nachahmungen noch übertroflen wäre. Man prahlt gern mit anatomischen Kenntnissen, die man sich meistens aus zweiter Hand angeeignet hatte, und mit kunstfertigen Verkürzungen. Die Italiener hatten mit der mächtigen Form eine feurige Bewegung vereinigt, aber die Niederländer konnten ihr bedächtigeres, steiferes Wesen nicht aufgeben, und wenn schon die Italiener aus Michel Angelos Zeil in so hohem Masse den Rhythmus der Bewegung aufgelöst hatten, so wird die Bewegung bei den Niederländern zuweilen zu einem reinen Wirrwarr der Linien. An Stelle der warmen und kräftigen Körperfarbe der alt-niederländischen Kunst tritt eine kalte und weissliche Karnation, die weit eher Marmor oder Silber als die Stoffe des menschlichen Körpers nachzuahmen scheint. Obwohl die verschiedenen Künstler auf diesem Gebiet natürlich mehr oder weniger Geschmack entwickeln können, leisten sie doch nichts eigentlich Selbständiges oder wirklich Nennenswertes. In ihrem Ver- hältnis zu Italien kamen die Niederländer im Laufe des sechzehnten Jahrhunderts in eine für sie vorteilhaftere Richtung, indem sie sich allmählich mehr der venetianischen Schule anschlössen: aus dieser Verbindung ging schliesslich der Meister hervor, der abermals auf einer neuen Grundlage eine nationale Kunst in den Niederlanden schaffen sollte, K u b c n s.

Frankreich stand während des ganzen sechzehnten Jahrhunderts dem Einfluss aus Italien offen und empfing mehrere der hervorragendsten italienischen Künstler als Gäste (Leonardo da Vinci, Andrea del Sarto, Primatiecio, Benvenuto Cellini). Unter unendlich vielem, was in Frankreich ausgeführt wurde, ist eine einzelne Reihe von Werken namentlich dazu geeignet, ein Bild von dem Uebergang des Antihumanismus des Mittelalters zu dem neueren Humanismus zu geben, nämlich die plastischen Grabmäler, namentlich die der Könige und der Vornehmen. Früher hatte man sich damit begnügt, nur die Figur des Verstorbenen auf das Grab zu legen, die all- mählich immer porträtarliger und realistischer aufgefasst wurde. Jetzt ward es ganz



- 341 -

allgemein - wie wir oben bereits mitgeteilt haben - auf grösseren Grabmälern den Verstorbenen in doppelter Gestalt darzustellen  ; oben sieht man die lebende Person in der prächtigen Ehrentracht, die er im Leben getragen hat, und die den hohen .Stand des Betreffenden bezeichnete : so sieht man Könige und Königinnen im liebele knieen, Hilter zu Pferd und in voller Rüstung, Damen in ihren Staatsgewändern ; darunter sieht mau dieselbe Person als nackte Lei die liegen. Es ist z. T. eine Variation des memento mori, das wir in dieser Periode- wieder und wieder antreffen, eine Predigt von der Vergänglichkeit der weltlichen Elm; und Herrlichkeit, infolge dieses Grundgedankens wird die Leiche oft in mehr oder weniger ausgezehrtem Zustand, als abschreckendes Bild von der Macht des Todes dargestellt, in einzelnen Beispielen (wie Louis Brezes Monument in Rouen, Fig. 107) mit grossartiger, einfacher Naturtreue.

In dieser Beziehung macht sich aber allmählich eine grosse Veränderung geltend. Schon auf Ludwigs XII. und Anna von Bretagnes Grabmälern in St. Denis ist der Künstler (Jean .luste) wohl darauf ausgegangen, ein ganz neutrales und realistisches Bild von den beiden Leichen, so wie sie in Wirklichkeit ausgesehen habe», nachdem sie balsamiert waren, deswegen auch mit aufgeschlitztem und wieder zusammenge- nähtem Linierleibe. Es ist kein mildernder Schleier über den Zustand des Todes ge- worfen : sie liegen mit geschlossenen, eingefallenen Augen und weilgeöffnetem Munde da, beide mit dem Gepräge des vorgerückten Alters, das sie erreicht haben, zugleich aber mit dem Gepräge, kräftige, ansehnliche Personen gewesen zu sein. Mit Franz* I. Leiehenfigur in St. Denis ist man schon einen Schritt weitergelangl : hier ist all das Abschreckende bei dem Eindruck der Leiche entfernt, ein leichtes und mildes Lächeln schwebt über dem Antlitz  ; und wenn auch nicht verheimlicht ist, dass der König bei seinem Tode ein alternder Mann war, so ist sein Körper doch als prächtige Gestalt datge- stellt. Noch weiter ging Germain Pilon in den Bildern der nackten Leichen Hein- richs II. und Katharina von Medicis (Fig 100), die offenbar ausschliesslich zur Bewunde- rung dargestellt sind. Die Königin, die das Monument bestellte, und die noch lebte, als es ausgeführt wurde, ist, obwohl sie mit geschlossenen Augen als Leiche daliegt, dennoch ein Bild weiblicher Anmut in höchster Blüte: sowohl in Form als in Stellung erinnert die Figur an die medieeische Venus. Die Figur des Königs, rhu in der Behandlung wohl nicht frei von einem gewissen Manierismus ist, die aber doch mit einem sehr sorgfältigen Studium der Einzelheiten durchgeführt wurde, ist in jeder Form, in jedem Zuge das Ideal des fürstlichen Kavaliers, so wie die Zeil verlangte, dass er sein sollte: muskulös und elegant, ein Virtuose in Waffenführung und Tanz. Es ist eine ganz eigentümliche Figur in der Geschichte des neueren Humanismus, allerdings beein- flusst von dem Beispiel der italienischen Kunst, aber doch vom Scheitel bis zur Sohle in eigentümlich französischem Geiste durchgeführt. Sie gibt weit mehr als die Figuren der Italiener, aber weit eher in Analogie mit denen der Griechen des Altertums ein wirklich nationales Staatsbürger-Ideal, das höchste, wozu ein Mann in körperlicher Ent- wicklung, in Kraft und Schönheit bringen konnte. Aber eine wie grosse Aufmerk- samkeit diese Figuren von Franz I. und Heinrich II. auch verdienen als Zeugnis da-



- 342 —


für, dass der von Italien ausströmende Humanismus in einzelnen Punkten wirklich in Fleisch und Blut übergegangen war und neue und eigentümliche Gestalten annahm, so blieben es doch schliesslich nur ziemlich allein dastehende Phänomene : das Staats- bürgcridcal, das hier wiedergegeben war, hatte nicht annähernd die breite, volks- tümliche Grundlage wie in Griechenland  ; es war an die kleine Welt der hohen Ari- stokratie und des Hofes geknüpft, und seinen plastischen Ausdruck für die Durchar- beitung der nackten Form konnte es nur in der Leiche finden, da die Gesellschafts- ordnung die Nacktheit bei Darstellung vornehmer Franzosen nicht gestattete. Man kann diesen nackten Figuren wohl auch anmerken, dass die Personen gewohnt sind, vollständig bekleidet zu sein : die Füsse scheinen ein wenig zusammengeklemmt von den schmalen Schuhen. Ueberhaupt wird man wohl finden, dass die nackte weibliche Gestalt, lebend durgestellt, in Frankreich wie in andern Ländern weit mehr der Dame des Zeitalters nachgebildet ist, als die männliche Gestalt dem Kavalier. Sehr langgestreckte und gracile Proportionen in der weiblichen Gestalt sind schon durch italienischen Einfluss auf die französische Kunst übergegangen (Primaticcio) ; aber französische Künstler (Jean Goujon, Germuin Pilon) bildeten die Gestalt auch ferner in der Richtung des Eleganten und Modernen aus.

Sowohl in England als auch in Spanien war ein begabter florentiner Bild- hauer, ein Zeitgenosse Michel Angelos, Pietro Torrigiano, zu Anfang des sech- zehnten Jahrhunderts Missionar des italienischen Humanismus gewesen. In England ist die Kunst freilich sehr untätig ; aber die Spanier unterwerfen sich völlig der italienischen, namentlich der florentinischen und der römischen Kunst, teils dadurch dass die Ilaliener zu ihnen kommen, teils indem sie zu den Italienern ziehen, um zu lernen. Was sie hervorbrachten, ist in der Regel unselbständig und wenig bemer- kenswert; nur eine vereinzelte Beeinflussung aus Italien (Sebastian del Piombo — Morales) erhielt eine besondere Bedeutung für die Entwicklung des Ausdrucks von Kutnmer und Melancholie, die in der nachfolgenden spanischen Kunst so eigentüm- lich vorherrschend werden sollte.

Im Laufe des sechzehnten Jahrhunderts bekehrte sich so die ganze europäische Bildnerei zu dem italienischen Humanismus. Die kirchlichen Verhältnisse spielten hierbei keine grosse Rolle. Die Reformation machte keinen Unterschied  : sowohl die Länder, die sich von der Kirche des Papstes losgerissen hatten, wie auch diejenigen, die unter ihrer Herrschaft geblieben waren, bildeten von nun an eine zusammenhän- gende künstlerische Welt, vorläufig mit einer ziemlich gleichartigen Kunst. Jetzt be- gann das Verhältnis, das über drei Jahrhunderte gewährt hat, dass Künstler aus allen andern Ländern nach Italien pilgerten, um an dem Quell des künstlerischen Humanismus zu trinken. Zuweilen blieben sie dort und wirkten als Künstler auf italienischem Boden, zuweilen kehrten sie in die Heimat zurück und führten die humanistischen Interessen mit sich. Daheim aber, namentlich in den germanischen Landen, führte das Interesse für die menschliche Gestalt in der Regel ein ganz unsi- cheres und wurzelloses Dasein  : es wuchs nicht von unten heraus, sondern wurde von oben als etwas eingeführt, das einer höheren europäischen Bilduug, freieren



— 343 -

Sitten und einem begünsligteren Leben angehörte. Und in der italienischen Schule wurden die Vorstellungen von menschlicher Schönheit zum Teil südländischen Typen entlehnt  : es bildeten sich gelehrte und künstlerische Vorstellungen von Schönheit im Gegensatz zu den ungelehrtercn und nationalen, die in der Regel keinen künstleri- schen Ausdruck fanden. Was ein in Italien ausgebildeter Künstler unter schön ver- stand, war oft sehr verschieden von dem, was seine Landsleute in der Heimat darunter verstanden.



DER VERFALL DES HUMANISMUS IN ITALIEN SELBER.


i


Der italienische Humanismus halte sich im wesentlichen erschöpft ; er hatte ausgesprochen, was er auf dem Herzen hatte. Dass die Kunst sich nicht andauernd auf derselben Höhe halten konnte, ist ganz selbstverständlich : wenn eine Mutler nach einer langen Schwangerschaft eine Schar starker Kinder zur Welt gebracht hat, kann sie nicht am nächsten Tage oder in der nächsten Woche eine neue Schar gehären. Das, was die grosse Generation von Künstlern geleistet halte, war wohl wie alle bedeutenden Resultate historisch vorbereitet worden, als Stimniungs- und Willensäußerung des ganzen Zeitalters;, als es aber kam, überwältigte es dennoch das Zeitaller als etwas Neues und Wunderbares: es war so gross, so mächtig, so hinreissend, dass Zeitgenossen und Nachwelt sich in Bewunderung darüber ergingen und es als neue Autorität und neue Quelle für die Kunst neben den Ueberreslen der Antike betrachteten, ohne dass man den historischen Wesensunterschied zwischen der antiken Kunst und der modernen scharf auffasste. Die Kunst war von neuem erschaffen, ihr höchstes Ziel war erreicht : jetzt handelte es sich nur darum, einen rechten Vorteil aus dem gegebenen zu ziehen.

Die grossen Künstler halten die Schwierigkeiten gelöst: sie hatten sich durch die Probleme der Anatomie und der Verkürzungen hindurchgearbeitet, sie hatten gewisse Formeln der Linienschönheit dargestellt. Man betrachtete es nun ganz naiv als einen ausserordentlichen Vorzug für die Kunst, dass man schnell, massenhaft und leicht produzieren konnte, ohne eine Ahnung davon zu haben, dass nur die Kunst Werl hat, die aus dem ernstesten Kampf der Künstlerpersönlichkeit mit der Aufgabe hervorgegangen ist. Nach aussen hin hatte die Kunst vollauf zu tun, nach innen aber war sie müssig. Namentlich jene Formeln richteten Unheil an : sie lösten die dargestellte Figur von einem Inhalt los, von dem, den sie gerade an ihrem Platz, in ihrem Zusammenhang äussern sollte.

Dazu kam noch, dass die katholische Kirche, als sie nach der grossen Krisis der Reformation wieder zu Kräften gelangt war, sehr klar einsah, dass zwischen ihrem eigenen Grundprinzip, der christlichen Wellentsagung und dem modernen



- 345 -

Humanismus doch «in ewiger Streit bestand. Ks war jetzt vorbei mit dem eigenl- lieb humanistischen Papsttum  ; und die heilige Inquisition, die eine der Grossmächte des Zeitalters wurde, betrachtete mit ausgeprägtem Misstrauen die humanistischen Tendenzen der Kunst, namentlich die Vorliebe für die nackte Figur. Wohl war das Verlangen nach dem Menschenbilde den Italienern in dem Masse in Fleisch und Blut übergegangen, dass keine Rede davon sein konnte, ihm den (iurnus zu machen, aber den eigentlich humanistischen Stachel konnte man ihm abbrechen.

So kam es denn, dass eine malle Kunst, eine Kunst zweiter Hand Italien in der späteren Hälfle des sechzehnten Jahrhunderts füllle. Ks wurde nur sehr wenig pro- duziert, woran die Menschheit später sich zu erinnern vermochte, oder was zu erhallen sich für sie der Mühe verlohnte. Ks war eine ganz natürliche Folge, dass man bald dazu kam, den Versuch zu machen, die Kinseitigkeit der einzelnen grossen Meister oder Schulen zu einer höheren Allseitigkeit (Ek lek l i z i s m u s) zusammenzuschmelzen. Der Eklektizismus tritt mit einer gewissen psychologischen Notwendigkeit auf: es wird nichts weiter vorausgesetzt, als dass ein Künstler verschiedenartige Produk- tionen gesehen und bewundert hat, die dasselbe behandeln, — also hier die mensch- liche Gestalt: er wird sich da bei seiner eigenen Produktion schwerlich gegen die verschiedenartigen Einflüsse schützen können: selbst ohne sich eigentlich klar darüber zu sein, wird er sie zusammenslücken oder zusammenarbeiten. Den Eklektizismus kann man auch überall antreffen, er macht sich schon in der grossen Künstlergene- ralion deutlich bemerkbar. Selbst RalTucl halte elwas von einem Eklektiker an sich, und Sebastian del Pionibos Zusammenarbeiten mit Michel Angeln, um durch vereinte Kräfte, der eine durch sein venetianisehes Kolorit, der andere durch seine gross- artige Zeichnung den Sieg über RalTael zu erringen, war ein naiver Eklektizismus  ; auf seine Weise versuchte Tintoretto elwas ähnliches. Dass das Prinzip falsch isl und niemals zu elwas Grossem und Bedeutungsvollem führen kann, liegt darin, dass die grosse einseitige; Vollkommenheit in der Kunst, z. R. Michel Angelos Formbe- handlung oder Tizians Wiedergahe des Körperstoffes das Ergebnis eines nach einer bestimmten Richtung hinslrebenden Willens in bezug auf die Figur ist, und dass die Macht, die das Werk auf den Peschauer ausübt, gerade auf dem Willen beruht, aus dem sie hervorgegangen ist. Man glaubt sich das fertige Resultat ohne Rück- sicht auf den Willen aneignen zu können, erziel! aber dadurch eine Abschwächung der Wirkung der Kunst, weil man nun einmal nicht nach allen Strichen des Kom- passes, nach Osten und nach Westen zugleich segeln kann.

Aber solange die Kunst im wesentlichen auf eine Reihe einmal erreichter Ziele zurückblickt, und bis sie sich wieder neue und eigenartige gesetzt hat, wird sie auch eklektisch sein. Und so verhielt sich die Kunst nicht nur in Italien, sondern auch in ganz Europa, zu dem italienischen Humanismus aus dem Anfang des sechzehnten Jahrhunderls  : Michel Angelo, RalTael, Corrcggio, Tizian — und neben ihnen die Antike — stunden bis zu der zweiten Hälfle des achtzehnter] Jahrhunderls als Götter da. Hier ist also eine zusammenhängende Periode. Dies soll nicht so gemeint sein, als wenn in diesem langen Zeitraum nichts Kräftiges und Eigeulüm-



liebes auf dem Gebiet der Darstellung <les Menschen entstanden sei; im Gegenteil  ; wir werden in dem Nachfolgenden sehr eigentümliche und bemerkenswerte Phäno- mene betrachten. Zwischen ihnen allen geht aber eine zusammenhängende Strömung, ein zentraler Lauf durch die Kunst, der die Kiemente aus der grossen Periode in Italien mit sich führt, sie kombiniert, sie auf hunderterlei verschiedene Arten ver- schmilzt. Man geht in der Hegel nicht gerade auf den Urquell, auf die originalen Werke der grossen Henaissancemeister, zurück, sondern beginnt lieber dort, wo der nächste Vorgänger stehen blieb. Diese zusammenhängende Strömung verlritt also in der Periode selber die höhere traditionelle Künstlerbildung und wird als solche in Achtung und Ehren gehalten; der Nachwelt aber bietet sie selbstverständlich am wenigsten Interesse, da wir ihre eigentlichen Bestandteile im Voraus kennen. Sie führt freilich manchen zu seiner Zeit gefeierten Künstlernamen mit sich, aber keinen wirklichen und deutlich ausgeprägten Künsllercharakter  : jede wahre Individualität und alle kräftigen Eigentümlichkeiten der einzelnen Schulen gehen darin unter.

Der Eklektizismus erhielt seine eigentliche Weihe als künstlerisches Prinzip und eine gewisse systematische Festheit in der Schule der Caracci in Bologna zu Ende des sechzehnten und zu Anfang des siebzehnten Jahrhunderts. Es war Kunst aus Kunst, beeinflusst durch Haflaels späteren schweren Figurenstil, durch die gewaltsamen Bewegungen von Michel Angelos Dekorationsfiguren, durch die scharfe Form des Laokoon und vor allem durch Correggios Süsse und Sinnlichkeit im Ausdruck. Einzelne von den Werken der Caracci erlangten eine ausserordentliche Autorität und einen Einfluss auf die weitere Ausbreitung des eklektischen Stils, der grösser war als der der Originalwerke der älteren Henaissancemeister.

Gleichzeitig aber machte sich in der italienischen Kunst ein scharfer Bruch bemerkbar; es war, als mache eine grosse Provinz Revolution und fiele von dem eigentlich zentralen Gebiet ab, wo die angeerbten Gesetze der Kunst herrschten und in System gesetzt wurden. Es war kein Wunder, dass eine so facile und wenig persönliche eklektische Kunst wie diese allmählich zu flau und fade erschien: um über- haupt den Geschmack der Kunst zu spüren, bedurfte man etwas mehr Pfeffer. Man hatte das Bedürfnis, das Prinzip der modernen naturalistischen Kunst, den einzel- nen Künstler gegenüber dem einzelnen im Leben, wieder aufzufrischen und stärker hervorzuheben. Die Kunst brach mit ihrer Vergangenheit und begab sich wieder auf Entdeckungsreisen im wirklichen Leben, aber nicht mehr in der Schönheit und Lichtseite des Lebens — was sich dort befand, war sozusagen von der älteren Kunst, der man jetzt überdrüssig war, aufgebraucht. Man zog das Volksleben in den Vordergrund, man suchte die gute Gesellschaft nicht, ja man scheute nicht einmal die schlechte. Hohe Lazzaroni oder Bettelmönche, Strassenjungen oder zweifelhafte Frauen treten auf kirchlichen und mythologischen Bildern in Hollen auf, oder auch man malt Banditen und Dirnen, wie man sie am Wirtshaustisch fand, die Karten in der Hand. Man freut sich über alles, was so recht momentan aus der Wirklichkeit herausgegriffen ist, wenn es auch hässlieh und roh ist: das kann man doch sehen, das kann man doch begreifen, es gleichsam betasten und befühlen,



- 347 -

namentlich wenn es in dus wirkungsvollste Licht gestellt wird, das sein Relief am stärksten hervorhebt, und wenn es mit der am stärksten aufgelegten Farbe wieder- gegeben ist. Diese Richtung hatte das rein naturalistische Prinzip mit der alt- niederländischen gemein, aber es war weit weniger unschuldig und ruhig, viel radi- kaler und revolutionärer, polemischer und herausfordernder. Sie ist auch — im Ge- gensatz zu der der alten Niederländer — eigentlich italienisch, indem sie die grosse Figur liebt, und sie versteht es, sie eine in Wahrheit grosse und imponierende Wir- kung ausüben zu lassen, wenn sie auch hässlich und abstossend ist, denn sie mein» es sehr ernst.

Diese Richtung, deren grosser Begründer Caravaggio ist, hat ebenso wie der Ekletizismus seine Missionare in den andern Ländern, in den Niederlanden, in Frankreich, namentlich aber in Spanien, das durch die spanische Herrschaft in Neapel ausserdem in besonderer künstlerischer Berührung mit Italien stand. Demo- kratisch, wie diese Kunstrichtung ist, verbindet sie sich offenbar mit dem modernen politischen und sozialen Demokratismus, der so frühe in Neapel auftaucht. Sie steht ebenfalls in offenbarem Verhältnis zu der rein antihumanistischen Richtung des Neu- kutholizismus. Sie geht nämlich auf alles andere, als auf eine Menschenverherr- lichung aus, sie ist nicht einmal realistisch neutral, gibt kein ruhiges Spiegelbild des Lebens, so wie es wirklich ist, sondern sie will das menschliche Elend dem Beschauer so recht nahe führen, so dass er es nicht nur sehen, sondern auch riechen kann. Sie wird asketisch. Der hervorragendste Repräsentant dieser Richtung, der in Spanien geborene Napolitaner Giuseppe Ribera, einer der grössten Virtuosen der Malerei und einer von denen, die das schärfste Verständnis für den Bau des menschlichen Körpers gehabt haben, macht die Wiedergabe — und zwar eine wunder- bar naturgetreue Wiedergabe — der abgezehrten Körper der alten Büsser zu seiner besonderen Spezialität  ; ausserdem ist er auch auf andere Weise ein Schilderer von allerlei physischen Schrecknissen und Abscheulichkeiten, von kirchlichen und mytho- logischen Martyrien, und in seiner Schilderung derselben ist er in der Regel finster und grausam — kalt wie ein Henker von Beruf. Er ist ein Maler im Geiste der heiligen Inquisition.

Ein so scharfer und deutlich ausgeprägter Wille in der Auffassung des Menschen wie der Caravaggios und namentlich Riberas verfehlte seine Wirkung nicht und drückte den meisten Malern in Italien, die zu Anfung des siebzehnten Jahrhunderts in Italien wirkten, seinen Stempel auf, mochten es nun Italiener sein oder Ausländer, oder auch solche, die der Schule des Caracci in Bologna angehörten. Es war ein Ausdruck für das überall empfundene Bedürfnis, die menschliche Gestalt in der Kunst mehr handgreiflich wirken zu lassen, durch erhöhten Farbenglanz oder Licht- wirkung, durch eine schärfere Naturtreue in der Behandlung der Uberfläche, einer soliden, materiell wirkenden Kruste aus Oelfarbe, einen stärkeren Eindruck auf die Sinne zu machen, und auf die Seele durch schnellere, augenblicklichere und gewalt- samere Lebensäusserung zu wirken. Und er trug auch das seine dazu bei, dies Be- dürfnis zu fördern. Der Puls schlägt immer schneller und schneller. Ebenso spürt man



- 348 -


in -weiterem Umfang die von neuem erwachte Neigung, auf der menschlichen Rang- stufe herabzusteigen: was es an Ausgewähltem, Edlem, Feinem in der Gesellschaft gegeben halte, die die grossen Italiener der Blütezeit schilderten, macht etwas Vul- gärerem, Wohlfeilcrem im menschlichen Wesen Platz. Ks gilt durchgehende nicht nur für die Porträts des siebzehnten Jahrhunderts, sondern auch für die Menschen- schilderung überhaupt, für die heiligen sowie für die mythologischen Figuren, dass sie lebhafter sind, und dass das Leben des Augenblickes in ihnen stärker betont wird als in den früheren, dass sie aber keineswegs den Kindruck von soliden Charakteren, von feinen und ausgezeichneten Menschen machen.

In Italien löst sich jedoch die Wirkung der starken naturalistischen Richtung bald in das allgemeine Element des Eklektizismus auf. Aber in Spanien ist die Caravaggio-Riberusche Richtung, wenn auch nicht alleinherrschend, so doch die wesentliche Grundlage für das meiste von dem, was in der Darstellung des Menschen im siebzehnten Jahrhundert Anspruch auf Bedeutung erheben kann, sowohl was die eigenartige Holzskulptur mit völlig täuschender Uebermalung als auch die vorzügliche Malerei betrifft. Hierin steht Velasquez als eine der her- vorragendsten und eigentümlichsten Künstlergestalten des ganzen Jahrhunderts da; aber seine kunstbislorische Wirkung sollte seiner inneren Bedeutung nicht entsprechen, — wenigstens vorläufig nicht: sie ward für die zweite Hälfte unseres Jahrhunderts aufgespart. Als tiefsehender Psycholog und Palholog ist er einzig in seiner Art; er ist ausserdem ein Freund des Volkes so wie Caravaggio und auf Grund seiner menschenfreundlicheren und humaneren Gesinnung eigentlich ein weit wirk- licherer Freund als dieser. Er kann als Naturalist derbe und unerschrocken sein wie kein anderer, und der demokratische Naturalismus bildet durch und durch die Grundlage seiner Kunst; aber wo das Thema es erfordert (in der nackten Christus- gestalt wie in einzelnen Bildern aus dem Volksleben) kann er mit seinem Sinn für Mässigung und Haltung den Naturalismus zu einer durchgeführten Schönheit erheben.

In der italienischen Bildhauerkunst des siebzehnten Jahrhunderls spürt man ähnliche Tendenzen wie in der Malerei. Der Haupl Vertreter ist Loren zu Bernini, dessen ausserordentlicher Kinlluss sich bis weit in das achtzehnte Jahrhundert hinein und weit über die Grenzen Italiens hinaus erstreckt. Aber seine Richtung wird auch von vielen andern verfolgt, von Italienern und eingewanderten Ausländern. Das In- teresse dreht sich nicht mehr wie bei Michel Angeln um die Mechanik und innere Struktur des Körpers — nach der Richtung hin wird nur talentvolle Galopparbeit produziert, und Ribera ist in seinen Gemälden ein weit gründlicherer Plastiker als die zeitgenössischen Bildhauer.

Dagegen interessiert man sich lebhaft für den SlolT und die Oberflüche des Kig in. Körpers. Da die Skulptur nicht die Mittel der Farbe zur Charakterisierung des Stoffes besitzt so ist man bemüht, einen Eindruck desselben durch seine Elastizität, seine eigentümliche Art, dem Druck nachzugeben, zu schildern. Dies zeigt sich nicht nur in der Marmorskulptur sondern auch in der ausgeprägten Vorliebe des Zeitalters für plastische E I f e n be i n a r b e i t e n  ; dieser Stoff ist besonders geeignet, eine


— 340 —


Vorstellung von der weichen Elastizität des Fleisches wachzurufen. Sowohl in Marmor als auch in Elfenhein hebt man weniger die eigentliche Form hervor, so wie sie von innen durch die Funktion der Muskeln bestimmt wird, als die uneigentliche Form, die von aussen durch Druck und Klemmen der elastischen Masse des Fleisches hervorgebracht wird. Darin kann man zuweilen einen Ausdruck für die sinnliche Liebe, die brünstige Begierde finden, die durch die Berührung von Körper gegen Körper erweckt wird. Das Interesse für die weiche, volle Masse des Körpers zeigt sich auch — auf unschuldigere Weise — durch die auffallend reiche Anwendung von kleinen Kinderiiguren (putti), die zuweilen in der Wiedergabe des Stoffes und der Oberflüche mit grossem Raffinement behandelt werden (Duquesnoy-Fiammingo): sie sind runder, fetter und weicher als die, mit denen Correggio oder Tizian ihre Gemälde überschwemmen. Im übrigen ist es unter den Künstlern der Vergangenheit von allen andern namentlich der Maler Correggio, der diese spätere Bildhauer- kunst durch seine Sinnlichkeit, seine sinnliche Religiosität und sein jubelndes Gefühl beeinflusst hat; nur ist die Form materieller und das Gefühl erregter, unruhiger, die Miene angespannter geworden. Alles geht auf körperliche Bewegung, auf seelischen Wirbel und Flug hinaus. Die kolossalen Kirchenbauten forderten von der Skulptur eine unzählige Menge grosser Dekorationsfiguren und monumentaler Gestalten. Man verlangte von den einzelnen Figuren eine laut ausgesprochene Rhetorik, die für einen grossen Raum oder unter offenem Himmel ausreichte. Und sie reden auch, wohl- tönend aber nichtssagend. Die Rhetorik ist hohl.

Man verlangte Bewegung und abermals Bewegung: sogar die Porträtbüsten sollten den Eindruck machen, als bewege sich die Gestalt. Dieser Forderung ist wirk- lich Genüge getan in mehreren der Portrütbüsten des Zeitalters, in erster Linie in denjenigen Bcrninis. Seine Virtuosität in der Wiedergabe des augenblicklichen Lebens und in der völlig realistisch naturgetreuen Behandlung der Oberfläche verlieh dem plastischen Porträt einen ganz neuen Stil, der den Weg zeigte für die naturalisti- schen Porträtbüsten des achtzehnten Jahrhunderts sogar der spätesten Zeil.

Die rhetorische Phrase in der Hallung und dem Ausdruck der Figur, der man auch in der Malerei begegnet, beherrscht die Kunst bis weit in das achtzehnte Jahrhundert hinein, wenn auch allmählich immer flauer und süsslicher werdend. Noch in Canovas älterer Produktion spürt man deutlich die Verwandtschaft mit dem ausrufsmässigen Schwung, der durch die Figuren der früheren Meister z. B. Guido Renis geht.


SPANISCHE MALER IM SIEBZEHNTEN JAHRHUNDERT-


Unter allen Künstlern des siebzehnten Jahrhunderts ist Ribera,1 seiner Natio- nalität nach Spanier, aber als Künstler in Italien entwickelt und wirksam, zweifelsohne derjenige, der sich mit der selbständigsten Energie der Darstellung der menchlichen Figur widmet. Seine Auffassung bildete den auffallendsten diametralen Gegensatz zu derjenigen des Rubens. Es ist beinahe, als sei dem Zeitaller daran gelegen gewesen, einem jeden dieser Gegensätze einen recht kräftigen Ausdruck zu verleihen. Aber während Rubens' Figurensehilderung als weitere Entwicklung des ganzen künstlerischen Humanismus betrachtet werden muss und — ohne ihre Eigentümlichkeit zu verlieren — aus allen den voraufgehenden Künstlern Kraft gesogen hat, bezeichnet die des Ribera in weit höherem Masse einen neuen Griff in die Natur und die Wirklichkeit und beruht in weit höherem Masse auf dem Naturstudium. Ribera offenbart fast immer eine so unsympathische Seele, der Geist in seiner Kunst — wenn man überhaupt den Ausdruck «Geist* auf sie anwenden will, — macht in vieler Beziehung der Geschichte und der Menschheit so wenig Ehre, dass man viel zu überwinden hat, wenn man seiner Kunst Gerechtigkeit widerfahren lassen will ; aber gerade auf dem Gebiete, auf •lein wir uns hier bewegen, muss man ihm eine Tüchtigkeit seltenster Art und eine hervorragende historische Bedeutung einräumen.

Die Figuren von ihm, die die grösste Bedeutung haben, zerfallen in zwei Gruppen.

Zu der ersten, welche die jugendlichen, männlichen Figuren umfasst, gehören '«  namentlich einige ganz ausgezeichnete Bilder von Christi Leichnam *. Es sind rein

' Jos6 oder Jusepe de Ribera (von den Italienern häufig Spagnole genannt) geb. in Jdtiv» in der Provinz Valcnci ].riK8, gest zu Neapel lG*>ti. Au&ser seinen Gemälden verdienen seine ra- dierten Blätter eine besondere Aufmerksamkeit, auch in besag auf unser Thema.

  • «Die Grablegung» im Louvre und «die Grablegung» in S. Martino in Neapel ; die Christns-

figur auf diesen beiden Bildern drückt wesentlich denselben Gedanken ans. «Die Dreieinigkeit» (Christi Leiche auf dem Schosse des Vaters) im Museum zu Madrid. Ebendaselbst, sowohl im Museum wie auch in der Akademie befinden sich Exemplare von einer Komposition der Grablegung, die noch nicht ganz Riberas ausgeprägten Charakter haben, aber von venetianiBchem Einfluis



— 351 -


naturalistische Schilderungen der Leiche, Modellstudien von zuweilen fasl pholographi- schem Charakter. So nahe an den Eindruck von Wirklichkeit in der Wiedergabe des natürlichen Vorbildes war kaum je ein früherer Darsteller der menschlichen Figur herangelangt. Es ist ein südländisch leichter, t rockner und feingebauter Körper, wohl ein wenig leichcnhaft eingefallen, aber nicht eigentlich mager. Die Stellung der Leiche, z. Ii. auf der «Grablegung- im Louvre entbehrt nicht einer gewissen Anmut. Was der Künstler geben will, fälll so ziemlich mit dem zusammen, was die besten alt-niederländischen Künstler in ähnlichen Aufgaben haben geben wollen, z. B. Hoger van der Weyden in seiner «Kreuzesabnahme«  (siehe oben Fig. 94). Hier wie dort derselbe scharfe, objektiv-genaue Blick für die Oberfläche des Modells ; hier wie dort derselbe Mangel an humanistischem Geist, an Streben nach einer Verherr- lichung der menschlichen Gestalt, mag es nun die eines Gottmenschen oder eines andern Menschen sein. Die alten Niederländer waren noch nicht so recht von dem Mittelalter in den Humanismus hinübergelangt; Ribera findet einen Anhalt an dem neu-katholischen, reaktionären Antihumanismus; doch tritt diese Richtung in den Figuren, die wir hier zuerst besprechen, noch nicht polemisch oder tendenziös hervor. Aber Ribera stehen ganz andere, weit vollkommenere Mittel zur Verfügung bei der Behandlung der Figur, als jenen alten Niederländern  : obwohl ein Gegner des Humanismus zieht er doch in vollstem Masse Vorteil aus der höheren Entwick- lung in der Figurenschildcrung, die dieser im Gefolge gehabt hatte. Seine unüber- trefflich scharfe Aufmerksamkeit für die Oberfläche ist ofTenbar gestützt auf eine ungewöhnlich sichere Kenntnis der inneren Konstruktion des Körpers, des Skelettes und der Muskulatur ; die treffende Nalurtreue in der Wiedergabe der Haut vereint sieh bei seinen Figuren mit einem breiten, grossen und sichern Blick für das Wesentliche in der Form — nur schade, dass es nicht die vollbeseelte oder lebenskräftige Form ist, die er wiedergibt. Seine Konstruktion von Partien wie Handgelenk und Knöchel, wie überhaupt von allen Gelenken, ist musterhaft in bezug auf Gründlichkeit und Bestimmtheit. Niehl mit Unrecht hat z. Fi. Leon Bonnat Partien wie die Arme und Hände auf der Grablegung in Paris seinen Schülern gegenüber so stark hervorgehoben; man wird schwerlich die organische Form feiner aufgefasst finden. Dazu kommt noch sein ausserordentliches Talent für die rein ma- lerische Behandlung der Figur als Gegenstand im Räume, die strenge und hervor- ragende Zeichnung der Verkürzung und die Meisterschaft in der Abtönung des Lichts in die Tiefe hinein. Wohl tritt Caravaggios malerisches Prinzip, sein Streben, der Form durch dunkle, reflexlosc Schatten Relief zu verleihen, bei seinem Nachfolger Ribera mit noch verstärkter Einseitigkeit hervor, so dass die Schatten, indem sie sich vom Lichte wie mit einer scharfen Kontur abheben, die Fläche fast überschnei- den und zerreissen  ; man muss aber einräumen, dass Ribera den grössl möglichen

zeugen Dasselbe dürfte der Fall sein mit der radierten Komposition desselben Themas (Bartseh Nr. 1). — Unter den jagendlichen Heiligenfiguren bemerkt man eine nackte Halbfigur des St. Se- bastian im Museum zu Madrid und die ausgezeichnete, aber nicht gut erhaltene Figur desselben p«  h.v Heiligen in Berlin.



- 352 -


Vorteil aus diesem Prinzip zieht, und dass es vollständig mit seiner energischen und scharfen Auffassung der Form harmoniert. Aus seinen Bildern ist unendlich mehr von der Natur des menschlichen Körpers zu lernen als bei den gleich- zeitigen Bolognesern oder bei Rubens, der bei diesem Vergleich nicht selten mit dein Gepräge eines oberflächlichen Routinemalers dazustehen scheint.

Eine nicht geringere Tüchtigkeit und dasselbe malerische Prinzip finden wir in der andern, weit zahlreicheren Hauptgruppe der Riberasehen Gestalten wieder  : in seinen Figuren oder Halbfiguren von Greisen, in der Regel heiligen Märtyrern, Einsiedlern. Büsscrn, von denen man eine so grosse Anzahl über alle Galerien verbreitet findet, dass es überflüssig ist. ausführlicher darauf hinzuweisen. 1 Jeder kennt diese Spe- zialität Riberas und einzelner direkter Nachahmungen, diese besondere Rasse von Gestalten, die wie eine Art Karikatur in der Kunstgeschichte dastehen und von einer ungeheuer einseitigen Geistesrichtung zeugen. Sie sind wohl in bezug auf Geist und Ausdruck nahe verwandt mit vielen Heiligenfiguren spanischer Kunst aus dem siebzehnten Jahrhundert, namentlich mit den geschnitzten und bemalten Holzarbeiten,1 . sie verleihen wie diese der fanatischen und sklavischen Devotion des neuen Katholizis- mus Ausdruck, seinem Hass auf geistige Kultur, seiner Vorliebe für die grobe Un- wissenheit und den engen geistigen Gesichtskreis bei dem spanischen und dem neapolitanischen Mann aus dem Volke oder bei dem Rettelmönch, der, weil er niemals einen Gedanken in seinem Kopf gehabt hat, sich umso besser exalterieren lässt, an alles zu glauben, was geglaubt werden soll, — ein finsterer Kontrast gegenüber der Vor- stellung von Heiligen, die wir durch Raphael oder Leonardo kennen. Aber Riberas Figuren, die in bezug auf künstlerische Durchführung diejenigen der meisten spa- nischen Maler und Bildhauer übertreffen, besitzen zugleich die Eigentümlichkeit, die uns in diesem Zusammenhang besonders interessiert, sie sind nämlich sehr häutig nackt oder halbnackt dargestellt. Der Künstler hat eine charakteristische Vor- liebe für die kranken, trockenen, harten, abgemagerten Formen dieser alten Körper, und sein Pinsel lässt ihnen vollkommene Gerechtigkeit widerfahren. Sein Interesse für das Nackte ist wohl erweckt durch seine Studien und sein Leben in dem huma- nistisch gesonnenen Italien, während sein spanischer Ursprung sich dadurch verraten dürfte, dass er es von der abstossenden Seite auffasst. In seinen Bildern von den heiligen Greisen zeigt Ribera eine ähnlich radikal-demokratische Auffassung der mensch- lichen Figur wie Caravaggio. Die Nachrichten der Bibel und der Legenden, dass Apostel und Heilige in der Regel von geringem Stande waren, meint er am besten zu genügen, indem er den ersten besten Lazzarone von der Strasse als Modell benutzt


1 Als Prachtexemplar kann hervorgehoben werden der Einsiedler St. Paulas im Loovre. Kic Iis. Im Kopenhagener Nationalmuscum zwei Halbfiguren, Nebukadnezar als Wilder und St. Onufrios. Flg. M4. Vcrgl. ebendaselbst des Francesro Collantes heil. Hieronymus. — Die ausgezeichneten Radieruntren von St. Hieronymus, namentlich Bartsch 4 und "i.

  • Beispiele hierfür finden wir namentlich im Museum zu Valladolid. Eine höchst eigentümliche

Figur dieser Art, St. Franziskus von Alonso Cano sah man im Sommer 187H auf der Trocadero- Ausstcllung iu Madrid. Der Heilige steht ganz aufrecht ; die Hände in die Kuttenärmel gesteckt, die Kapulze über den Kopf, starrt er zum Himmel empor, als litte er an heiligem kalten Fieber.



-  :m -


Mit seiner trockenen und unfruchtbaren Phantasie und seiner unendlichen Energie in bezug auf das Naturstudium leistet er im Wesentlichen nichts weiter als grosse Modellporträts ; dass die Figuren, selbst wo sie infolge von Alter am eingedunkcl- sten sind, doch davon zeugen, dass sie einstmals gut, sogar mächtig entwickelt ge- wesen sind, und dass manch ein Kopf durch (irösse der Züge und Formen imponiert, hat er dem glücklichen Himmelslrich, unter dem er lebt, sowie dessen begünstigter Menschenrasse zu verdanken. Diese Hilder sind gezeitigt durch die engherzigste, freudeloseste religiöse Schwärmerei im Verein mit einem kühlen aber ausserordentlich kräftigen Interesse für das am meisten physisch Materielle, das handgreiflichst Wirkliche und Körperliche. Das letztere behält doch entschieden die Ueberhand über das See- lische. Es liegt in diesen Köpfen oft eine unheimliche Ausdruckslosigkeit, oft auch ein Gepräge von philiströser Beschränktheit. Die devoten Mienen und Gebärden können ziemlich ungeschickt und äusserlich aufgestellt sein ; der Ausdruck von brennender, leidenschaftlicher und fanatischer Andacht, auf die es hauptsächlich an- gelegt ist, ist nicht immer echt. Zuweilen ist er aber auch in erschreckendem Masse echt. Seine heiligen Einsiedler stehen — von der seelischen Seite — ihren indischen Berufsgenossen in keiner Weise nach; während der Ausdruck in den buddhistischen Anachoretenfiguren von der blinden Seelenruhe zeugt, mit der in sich der Einsame die Betrachtung des Nirwana versenkt, indem die Vögel auf seinem Haupte Nester bauen, malt Ribera hin und wieder einmal ein wahres wildes Tier vor einem Heiligen, das keines Menschen Freund ist und das man am liebsten nicht loslässt. Aber was nicht selten seinen Figuren eine eigene melancholische Poesie verleiht, ist ein Ausdruck tiefer, unheilbarer Schwermut. Den ergreifendsten Ausdruck für diese Stimmung, die uns bei Ribera gegenwärtig ist, finden wir in seinem Bilde des heiligen Sebastian, m«. u&. der von Pfeilen getötet zu Boden gesunken ist (Museum zu Berlin). Welch Gefühl des Verlassenseins, der Hülflosigkeit in dieser Figur! Und wie glüht nicht seine Farbe wie eine Kohle im Finstern!

Aber nicht immer steht diese Melancholie in einer deutlichen Verbindung mit dem religiösen Thema : sie scheint zuweilen ein Spiegelbild der eigenen vorherr- schenden Stimmung des Künstlers zu sein. Und was seiner Kunst die hervorragende Bedeutung verleiht, ist, wie gesagt, weit mehr sein Interesse für das Körperliche und dieses äussert sich auf die eigentümlichste Weise gerade in der Schilderung der alten Leiber, bei denen der anatomische Bau am deutlichsten in die Erscheinung tritt, während sich die Haut mit allen ihren Einzelheiten am stärksten und materiellsten geltend macht. Er ist der vollendetste Meister in der Kunst mit dem Pinsel den harten Schädel zu modellieren, das zottige, ungekämmte Haar und den struppigen Bart zu malen, die verschlissenen, halb ausgefallenen grauen Haare auf der' Brust, die harten, vorspringenden Knochen im Gesicht oder an den Gelenken, ein Rückgrat, an dem man sdle Wirbel zählen kann, die zähen, welken Muskeln, die alten einge- wachsenen Runzeln und Falten der Haut an Stirn und im Gesicht und überall dort, wo der Körper gewohnt ist, sich zu biegen (unter der Schulter, in der Ellenbogen- höhlung, am Unterleib, am Handgelenk), die roten, runzeligen, knöcherigen Hände,

23



  • 54 -


deren vom Alter steife Finger sieh über einem Totenschädel falten, naturgetreu zu schildern ; er verschont uns nicht mit dem abscheulichen Eindruck der haarbewach- senen Warzen oder der von ewigem Schweis» gedunkeilen Haut unter der Schulter und an ähnlichen Stellen. 1 Seine malerische Behandlungsweise eignet sich weit besser für die Schilderung der von Sonne und Wind ausgedörrten, lederartigen Haut als für die der jungen und frischen, durch die die Säfte des Körpers noch mehr hindurch- scbimmern. Er benützt eine pastose und zähe Farbe, die er mit einem harten und steifen Pinsel so aufträgt, dass man die Spuren der einzelnen Bürsten auf der Fläche verfolgen kann, und die schon an und für sich den Eindruck des Eingeschrumpften, Kunzeligen machen. Bei den Falten der Haut werden die Lichter so solide aufgesetzt, dass die Farhenmasse fast wie ein Kelief auf der Fläche steht.

Wenn alles nach Verdienst belohnt wird, muss man annehmen, dass St. Hiero- nymus, St. Paulus Eremita und alle die andern alten Büsser ihrem treuen Maler im Jenseits warm das Wort geredet haben, was er ja, der Tradition nach, sehr nötig gehabt haben soll. Will man einen einzelnen Schutzpatron seiner Kunst bezeichnen, so muss es doch wohl der heilige Bartholomäus gewesen sein, der geschunden wurde. Das ist so recht eine Figur und eine Geschichte für Ribera: nicht allein der Aus- druck von Schrecken und Jammer und gefühlloser Grausamkeit, sondern namentlich, dass die Aufmerksamkeit so recht auf das Materielle, auf die Haut gelenkt wird, die wie ein Fell abgezogen wird, und auf die blutigen Muskeln, die dem Blick des Be- schauers entblösst werden.* Doch dürfen die heiligen Männer keinen Ansloss daran nehmen, dass Bibera dasselbe grausame Interesse und die entsetzliche Virtuosität der Schilderung den heidnischen Märtyrer widmet. In der Galerie zu Madrid findet man die grossen Bilder von Prometheus, dem der Adler die Uber aushackt, und von I x i o n , der an das Rad gekettet ist. Es sind reine Modelle, so wie Riberas christliche Figuren ; da ist nicht der geringste Einfluss von antikem Stil oder antiker Auf- fassung zu spüren. Weder der BegrifT titanischer Gewalt noch der kolossale Massstab hat bei diesen Figuren eine Vornehmtuerei zum Gefolge gehabt (z.B. in Michel Angelo'scher Richtung), es ist nur das durch das Vergrösserungsglas gesehene Modell. Prometheus bietet sogar das Bild des verworfensten Galeerensklaven dar; der Künstler hat sich in der Tat jeder Sympathie, jeglichen Verständnisses für den alten Repräsen- tanten und Märtyrer des Humanismus entäussert; seinem künstlerischen Streben war völlig genügt, durch den grossen Körper, durch den reissenden Schmerz und die

1 Der eigenartige Flug, den Riberas Studien nahmen, führte ihn sogar dam, Krankhaft e- aaf der Körperoberflächo zu beachten. Geschwüre und dergl. (Siehe seine radierten Karikaturen. Bartsch s und 9) oder die körperliche und geistige Hissgeburt (ein Gemälde von einem verkrüp- pelten idiotischen Knaben in der La-Caze-Sammlung im Louvre, viel unschöner und weniger humar, aufgofasst als Valesquez Bilder von Zwergen und Idioten). — Im Gegensatz zu diesen Studien der pathologischen Form verdienen seine Radierungen (Bartech 15—17) von Einzelheiten der normalen Form Beachtung (Augen, Nasen, offene und geschlossene Hunde, Ohren); diese vortrefflichen Stadien sind wohl nur ein Tropfen im Heer im Verhältnis zu dem. was er in Wirklichkeit durchpflügt hat. j u8 * Die Vorbereitungen zu dem Schinden hat der Künstler auf einer seiner vorzüglichsten ma-

lerischen Kompositionen geschildert (Original zu Hadrid. Kopie in Berlin); die schreckliche Exe kution selber ist das Thema seiner berühmtesten Radierung.



- 35T, -


lange, blutige Wunde, aus der der Adler die Gedärme mit seinem Schnabel herausholt.

Wir haben von Ribera als dem Schilderer der Leiche und der menschlichen Gestalt als alte Ruine, überhaupt nur von lauter Leidensfiguren gesprochen. Die Figuren von ihm, die das nicht sind, befinden sich in völliger Minorität. Aus seiner künst- lerischen Richtung kann man am wenigsten erraten, dass er ein Schilderer weiblicher Schönheit sein soll. Hierin macht sich wohl seine spanische Nationalität geltend, denn wunderbarerweise ist die Kunst der Spanier im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert in der Regel so keusch und decent wie die der Italiener in bezug auf die Schilderung des Sinnlichen ungeniert — ja, sogar frech — ist. Das Bild von Ribera, das — soweit mir bekannt ist — sich der nackten weiblichen Figur am meisten nähert, das berühmte Gemälde von der heiligen Maria von Aegyp- ten in der Dresdener Galerie, stellt sogar eine Einsiedlerin und eine Büsserin dar, und es ist durch sein Motiv weit entfernt von jeder Art sinnlichen Eindruckes, in- dem man den Engel die Heilige in ein Leichentuch hüllen sieht, das sie mit zu- hülfenahme ihres langen Haares so bedeckt, dass die Figur, wenn auch unbekleidet, doch nur zum geringen Teil nackt ist. Das Bild verdankt seine Popularität keines- wegs der künstlerischen Behandlung der menschlichen Figur — in dieser Hinsicht steht es weit zurück hinter den männlichen Figuren des Künstlers — , sondern zweifels- ohne dem Umstand, dass es das wenigst Riberasehe Bild von Ribera ist, dass es sogar eine gewisse Wärme und Süsse im Ausdruck hat, die an Murillo, das Schoss- kind des grossen Publikums erinnern. Für die kindliche Form und den Aus- druck des Kindes hat Ribera noch weniger Sinn, als wo es sieh um Form und Aus- druck der Frau handelt ; seine Engelsköpfe sind die sonderbarsten, finstersten und häuslichsten, die die Kunst kennt. Den glücklichsten Gegensatz zu seinen gewöhn- lichen Figuren hat Ribera wohl in seiner Komposition des betrunkenen Silen gegeben, der auf der Erde ruht, und dem die Satyren Wein einschenken.1 Während diese ungefähr dieselbe Gestalt haben wie seine allen Asketen, ist Silen selber ein unendlich fetter Dieksack, im übrigen in der Form meisterhaft behandelt. Hier geht also der Künstler vielmehr zu Rubensseher Uebertreibung über, was daran erinnert, dass trotz allen Gegensatzes dennoch die für das ganze Zeitalter charakteristische Aehnlichkeil zwischen ihnen bestand, dass sie sich beide für das substantiell hand- greifliche interessierten ; nur mag Rubens am liebsten etwas Fettes und Weiches zu befühlen haben, Ribera hingegen etwas Hartes und Knochiges.

Um unser Resultat zusammenzufassen: Riberas Bedeutung in der Kunstgeschichte der menschlichen Figur besteht nicht allein darin, dass er nur einer der wirksamsten, gründlichsten und talentvollsten Darsteller der Figur gewesen ist, sondern namentlich in seiner Durcharbeitung der G r e i se n f i g u r. Auf diesem Felde macht ihm niemand den Rang streitig — selbst nicht die antike Kunst, so weit wir sie kennen. Dies Feld hatte der Humanismus gerade unbesetzt gelassen: es lag nicht in seiner Tendenz,


' Gemälde im Museum zu Neapel. Radierung. Bartsch Nr. lü, aus dem Jahre K.2K.



- 35(S -


»


sich in die leidende Gestalt zu vertiefen. So kommt es, duss er, obwohl im wesent- lichen antihumanislisch gesonnen, doch gewissermassen einen Stein zu dem Bau des Humanismus beiträgt.

Unter den eigentlich spanischen Malern nimmt, streng genommen, nur Velasquez < 1599 — 16ß0) einen hervorragenden Platz in dieser Geschichte ein. Wohl ist das Interesse für die nackte Form und Figur nicht besonders hervortretend bei ihm, wohl schuldet er ihr nicht seinen grössten Ruhm; aber zuweilen erreicht er auch hierin Resultate, die in einer bestimmten Absieht unübertroffen, ja vielleicht un- erreicht sind. Vorläufig gewinnen diese Vorzüge keinen besonderen historischen Ein tluss und sind kaum über die Grenzen Spaniens hinaus bekannt; ihre Bedeutung für das übrige Europa ist im wesentlichen unserer Zeit vorbehalten.1

Wohl ist Velasquez ausgeprägt national spanisch in seiner Kunst, aber seine überlegene Stellung am Hofe zu Madrid, im Zentrum und auf der Höhe der Kunst seines Vaterlandes, gibt ihm einen etwas weiteren Gesichtskreis als seinen Lands- leulen und häufigere Veranlassung zur Darstellung weltlicher Themata, auch aus der antiken Mythologie. Ausserdem macht er als schon reifer Künstler zwei Reisen nach Italien (1029 — 31 und 1649—51). Er soll dort auf seiner ersten Reise vielseitige Studien gemacht, ja sogar nach Raffacl und nach Michel Angelos jüngstem Gericht kopiert haben, was man seinen eigenen Schöpfungen gar nicht anmerkt.* Wir be- sitzen auch eine Art poetischen Bericht, dass er auf seiner späteren Reise, gelegent- lich einer Unterhaltung mit Salvator Rosa, bekannt haben soll, dass ihn RalTael ganz besonders interessiere — wohl so zu verstehen: in bezug auf seine eigene Kunst- ausübung, wogegen er anerkannte, dass er das, was er suchte, in der venetianischen Schule fand, und dass er Tizians Banner folgte.8 Dies bestätigt, was die Betrachtung seiner Gemälde lehrt, dass er, ohne sich der venetianischen Schule enger anzu- schliessen, doch im Allgemeinen, — so wie z. B. Rubens und van Dyck — auf dem Grunde steht, den erst Tizian gelegt hatte. Auf eine etwas ausdrücklichere Weise hat ihn Tizians Vorbild angespornt, eine nackte Venus auf dem Lager zu malen, ein Thema, das der spanischen Malerei sonst fremd war. Ich habe leider dies Rild nicht gesehen, das er auf Bestellung des Herzogs von Alba ausführte, und das später in einer englischen Trivatsammlung (Mr. Moritt ir Rokeby) gelandet ist. Man sieht die Göttin halb von hinten. Amor hält ihr einen Spiegel vor das Gesicht; in der Umgebung wechselt Grün mit Rot in verschiedenen Nüancen ab.

Was er wie kein anderer in bezug auf die nackte Figur zu leisten vermochte, davon erhält man einen Eindruck, der sich ganz von selber meldet, wenn man in

> Fast alle Bilder, die hier in Betracht kommen, befinden sich im Museum zu Madrid. Falls es sich um eine Ausnahme handelt, wird ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht werden.

  • Vielleicht könnte man in seiuem Gemälde von Mars (sitzende Figur) aus seiner letzten

Zeit, eine Art Reminiscenz an Michelangelos Medicäische Herzöge in S. Lorenzo in Florenz finden. Falls ein solches Verhältnis existiert, bezieht es sich jedoch nur auf die Stellung und die Be- leuchtung — nicht auf die Charakteristik der Figur oder die Durchführung der Formen.

J Marco Boschini, la carta del navigar pitoresco, Venetia WM, angeführt in William Stir- ling  : Valesquez und seine Werke. Berlm lSTrtj, S. 132.


— 357 -


dem grössten, ovalen Saal, dem Isabellen-Saal im Museum zu Madrid steht. Man sieht dort auf der einen Seile sein prächtiges Bild Bacchus unter Trinkern, Kif. i«. («Haco» el. «los Corrachus») das gemalt ist, ehe er überhaupt nach Italien kam; auf der andern Seite das Bild von Apollo, der in Vulkans Schmiede tritt und Fi«, u*. dem armen Gott der Schmiede im Beisein der (Zyklopen die Treulosigkeit seiner Gattin Venus mitteilt Ha Fragua»). Obwohl sich in demselben Saal Figuren der grössten Koloristen befinden, wie Tizians «Ariadnc» und Hubens «Adromeda», so liegt doch über Velasquez Apollo und namentlich über seinem Bacchus (dem zuerst gemallen) eine solche Leuchtkraft in der Färbt; des Körpers, dass sie stärker scheint als alles andere. Am eigentümlichsten ist es, dass er Bubens überstrahlt, der gerade so stark in bezug auf das Blendende? ist. Und doch gibt Velasquez die Körperfarbe mit mehreren, einfacheren, edleren Mitteln als Hubens, ohne dessen blühenden Heich- tum an verschiedenartigen Tönen. Der Grundtnn bei Velasquez ist eine gewisse Olivenfarbe, die an sich milde, massig und neutral ist, die aber einen grossen Beich- tum von Tönen enthält, die herausgezogen und in relativer Selbständigkeit dargestellt werden können, während das Band der nahen Verwandtschaft sie doch beständig zu- sammenhält. In diesem Oliventon liegt das Gelbe und das Gelblichweisse, das in den höchsten Lichtern angewandt, einen so fetten und gewaltigen Glanz haben kann, das Grünliche und das Gräuliche, das als Mitteltöne benutzt wird, das Bräunliche, das im Schatten hervortritt. Dazu kommt der feite, weiche, markige Vortrag, der ganz unvergleichlich die elastische Oberfläche, den Charakter des Fleisches und Fettes wiedergibt, das man befühlen und in das man hineinkneifen kann, ohne dass der SlofT selbständig der Aufmerksamkeit aufgedrungen wird durch Klemmen, Drücken, Halten oder dergleichen. Durch die Wiedergabe der Art und Weiser, wie der Körper- stofT das Licht ansaugt und es mit seinem eigentümlichen Farbenion zurückstrahlt, erzielt Velasquez einen intensiveren Kindruck als irgend ein anderer. Der gefähr- lichst« Konkurrent könnte ihm vielleicht Correggio sein, z. B. in einem Bilde wie der «Antiope» im Louvre. Aber Velasquez macht jedenfalls mehr Eindruck von Hcalität, man kann bei ihm mehr zugreifen und befühlen.

Dieser Vorzug ist ganz charakteristisch für die frühere Zeil des siebzehnten Jahrhunderts. Velasquez ist überhaupt ein ganz ausgeprägter Hepräsentant dieser Periode. Er gehört, trotz seiner vornehmen Hofstellung, entschieden der demokratischen Richtung, der Fortschrittpartei an, deren starke Seite das Kolorit und die realistische Charakteristik ist. Sein Verhältnis zur italienischen und antiken Kunst führte ihn nicht auf eine irgendwie eklektische oder klassische Bahn, oder brachte ihm wesentlich andere Vorstellungen des Figurenstils bei, als wie er sie in der Schule zu Sevilla und als Kind des spanischen Volkes entwickelt hatte. Er gehört zu den Künstlern des siebzehnten Jahrhunderts, die obwohl sie der antiken Kunst keineswegs fremd sind, doch in der Darstellung antiker Vorwürfe den antiken Figurenstil in sonderbarer Weise umgehen, und ihre Vorbilder der Mitwelt und der Wirklichkeit entlehnen. Sein Bacchus ist eine so leibhaftige Figur aus dem Volksleben, dass sie sogar Anlass zu dem allgemeinen Missverständnis geworden ist, dass die Figur nicht wirklich der



- 358 —


antike Gotl sein soll, sondern ein Bauernbursche, der sich als Weingott verkleidet oder vielmehr entkleidet hat.' Indessen ist er ebenso sehr Bacchus als der junge eingebildete, verhätschelte Junge mit dem zarten Teint, der auf «la Fragua» in Vulkans Schmiede tritt, Apollo ist, oder als der heftige, eifersüchtige spanische Schmiedemeister auf demselben Bild Vulkan ist, oder die spanischen Schmiedegesellen, die bei ihrer Arbeit stehen, Cyklopen sind — und diese mythologischen Benennungen sind niemals bestritten. Und dies Bild «la Fragua» - ist sogar in Rom gemalt! Möglicherweise haben die Eindrücke in Italien dem Künstler Lust gemacht, nackte Figuren zu malen  : «la Fragua» enthält mehr nackte Form als irgend eines seiner Gemälde; ausserdem inalte er um dieselbe Zeit ein anderes grosses Bild, «Josephs Brüder», die dem Vater sein blutiges Gewand bringen, (jetzt im Escorial),. in dem auch grosse, nackte Partien enthalten sind. Aber in der Art und Weise, wie er die Figuren sah, hat der dreissigjährige Künstler merkwürdig fest in seiner naturalistischen Richtung gestanden und sich nur wenig daraus gemacht, was ihn Rom an Mythologie lehren konnte. Und er verbesserte sich in dieser Beziehung niemals. Kr malte viel später Mars in Gestalt eines groben Soldaten und Argus, den Merkur löten soll, in Gestalt eines Viehhirten von einem Bauernhof.

Doch liegt in Velasquez' Natur eine für sein Zeitalter und seine Nation unge- wöhnliche Mässigung, er besitzt weniger Feuer zu Begeisterung als einen liefen, durchdringenden Blick und eine gesunde und sichere Urteilskraft, ausserdem eine ge- wisse unerschütterliche innere Wahrheit in der Persönlichkeit, die ihm nicht gestattet, sich auf etwas Unechtes und Manieriertes einzulassen. In seinem Figurenstil lüsst er sich nach keiner Richtung hin eine Uebertreibung zu schulden kommen, er hält .sich ebenso sehr Riberas Schärfe und Magerkeil wie Rubens Ueppigkeit fern. Seine Nüchternheit kann wohl hin und wieder einmal einen etwas trivialen Charakter an- nehmen: der Rücken eines Cyklopen, den man in der Mitte des Vordergrundes auf «la Fragua» sieht, ist eine zu wenig geistvolle Figur für den Platz, den er einnimmi: es ist eine sehr verstündige und tüchtige Modellstudie, aber auch nichts weiter. Man kann sich hier förmlich nach etwas Ausschweifung, etwas Karikatur sehnen, jedenfalls


1 Dass hier nicht die Bede von einer Verkleidung ist, sondern das» wir es mit dem Gott«  selber zu tun haben, geht ans zwei kleinen aber sehr deutlichen Umständen hervor. Der junge, nackto Barsche, der hinter Bacchus liegt, und ihm bei der Einweihungsxeremonie behülflich ist. bat lange, zugespitzte Ohren und ist folglich als wirklicher Faun gedacht. Die Gewänder, die Bacchus über seine Beine gebreitet hat, sind nicht moderne, zugeschnittene, genähte Kleider, sondern eine Draperie, die zu seinem Charakter als antiker Gott gehört. Die Figur ist auch keineswegs so roh. wie viele sie haben stempeln wollen; der alte Name des Bildes ist übrigens «Baco>, nicht «Baco finbo», wie er Bpäter — vermutlich in einer klassischen Periode, als man die Figur nicht mit ihren gelehrten Begriffen von antiker Mythologie hat in Einklang bringen können, lautete. Allerdings i*t die Ungeniertheit, mit der der junge Künstler den Gott des Altertums zwischen Menschen der Ge genwart, Stammgästen aus den Dorfkrügen, auftreten lässt, ein auffallender Zug der damaligen Kunst. Jeder historische Begriff ist hier aus der Mythologie ausgelöscht, Altertum und Gegenwart schmelze«  zusammen. Jordaens hat etwas Aehnliches gegeben in seinem Bilde von Pan unter den Bauern (Ku- sel); aber Velasquez Auffassung ist ausgesprochener realistisch und deshalb in dieser Hinsicht auf- fallender. Uebrigens welch ein Gemälde! Welch ein strahlender gesunder Humor! Welche jugendliche Herkuleskraft in der Auffassung vom Leben!



- 359 -


nach einem bestimmten Schwung im Gefühl. Eine Figur wie der -Mars, isl gerade nicht sonderlich interessanter. Zuweilen aber kann Velasquez' unvergleichlich energischer Sinn für das Charakteristische sich auf eine ganz hervorragende Arl und Weise der Behandlung der nackten Form äussern: wie treffend wahr und dabei doch fein, ohne alle Uebertreibung, ist nicht der Charakter jugendlicher Fülle und guter Kürper- verhältnisse in der Bacchusfigur durchgeführt, nicht nur in beziig auf den Leib, sondern auch auf die Glieder, die Kniee und Füsse! Ueberhaupt erstaunt und inter- essiert Velasquez wohl mehr durch seine Wahrheit, als dass er uns durch Schönheit entzückt; aber es kommen doch auch in seiner Auffassung der nackten Figur Funken von einem Schönheitssinn zum Ausbruch, der in einer gewissen geistigen Ver- wandtschaft mit der Antike steht. Jener junge Faun, auf «lo Borraehes» der so bequem hinter Bacchus ausgestreckt liegt, sich auf den einen Ellenbogen stützend und die Schulter in die Höhe ziehend, ist eine Figur, die nicht im Widerspruch mit dem übrigen Naturalismus des Bildes steht; aber die Natürlichkeil hat hier ein so glückliches Ge- präge von Gesundheit und Kraft, von Anmut und Feinheit, dass man unwillkürlich an Formen der späteren griechischen Kunst denken muss. Ich will auch an das wundervolle Volkslebenbild aus des Künstlers spätester Zeit «las hilanderas» erinnern (Mädchen und Frauen, die mit Rocken, Krempeln, Winden u. s. w. in der Tapeten- Fig. i». Fabrik sitzen), obwohl die Figuren hier nicht nackt sind; namentlich aber an die jugendliche Frau, die rechts mit der Garnwinde sitzt, halb vom Rücken aus gesehen.

Ob es wohl eine andere Figur aus der Kunst des siebzehnten Jahrhunderts gibt, die eine so natürliche Anmut der Linien, Formen und Bewegungen besitzt, und die dabei doch so völlig volkstümlich isl, direkt dem Volksleben entlehnt? Eine solche Figur macht dem schönen spanischen Volke alle Ehre — ebenso wie diese oder jene Murilloschc Figur; — sie hat mehr natürliche Plastik, sie bewegt sich freier, sicherer und .schöner als die gleichzeitigen niederländischen; und sie ist sanfter und besser in ihrem Geist als die gleichzeitigen italienischen Genrefiguren, die fast immer der liefe des Volkes entlehnt sind.

Ein eigenartiges Beispiel für Velasquez' Mässigkcit und seinen Schönheitssinn im Figurenslil bietet sein Christus am Kreuz (1638); hier verlangte die Aufgabe ja, dass Fig. wo. die Figur ganz nackt durchgeführt werden sollte, nur mit einem Tuch um die Lenden. Die Behandlung der Figur steht auch hier ganz auf dem malerisch natura- listischen Grunde des siebzehnten Jahrhunderts; aber Velasquez hält seinen Natu- rulismus stramm im Zügel, er denkt über die Aufgabe nach und isl sich bewusst, dass zu der Schilderung von Goltes menschgewoidcnem Sohn das schönste Vorbild gewählt werden muss, und hält das feinste Mittelmass inue in bezug auf den Körperbau Die Figur hat edle und richtige Proportionen, der Körper ist fein und leicht gebaut, aber auf keine Weise schroff oder trocken, im Gegenteil haben die Formen eine ganz leichte, jugendliche Fülle. Sie gehört eigentlich zu derselben Familie wie Bacchus, ist aber nur von weit edlerem ethischem Charakter sowohl in bezug auf die Seele als auf den Körper. Bei der Anordnung der Figur ist der Künstler von der grössten Einfachheit ausgegangen: in Uebereinstimmung mit der Sitte des älteren Mittelalters, die später verlassen wurde, aber von Velasquez' Lehrer und Schwiegervater Pacheo



-  :?<><) -


wieder als Begel aufgestellt und nu^hl seilen von der spanischen Kunst befolgt wurde, sind die Küsse neben einander auf das Schrägbreit des Kreuzes festgenagelt, jeder mit seinem Nagel. Dadurch erhalten die Linien des Körpers eine ruhige Symmetrie, die nur dadurch gemildert wird, dass die rechte Hüfte ein wenig mehr in die Höhe geschoben ist als die linke, so dass der Körper eine ganz leichte (und ausserordentlich schöne» Seitenbiegung erhält; die Arme sind wieder fast vollkommen symmetrisch angeordnet. Der Kopf sinkt mit geschlossenen Augen nach vorn; die Miene hat ein mehr ethisches* ernstes als schmerzliches Gepräge: überhaupt ist hier nichts, was an das stark aufflammende oder sentimentale Pathos erinnert, das die Flandrer bei Behandlung dieses Themas an den Tag legen, der Eindruck sowohl der Figur wie der Farbenstimmung, der Gegensatz zwischen dem tief schwarzen, gleichgelönten Grund und der klaren, aber bleichen Farbe der Figur selber, ist ein tief wehmütiger, aber beherrschter männlicher Ernst. Es macht einen ganz eigentümlichen Eindruck, dass sich die Hälfle des dicken braunen Haares unter der Dornenkrone gelöst hat und auf die Brust herabfallt, die eine Hälfle des Gesichts völlig verhüllend: es ist ein Zufall, der dem Eindruck von elwas Berechnetem entgegenwirkt, was sonst durch die strenge Symmetrie der Figur hervorgerufen werden könnte, und viel dazu beiträgt, ihr ein ergreifendes Wirklichkeitsgeprüge zu verleihen.

Velasquez gehört keineswegs zu den Künstlern, die die Figur ein für allemal durchgearbeitet haben und sie dann an den Fingern auswendig wissen. Er hat sieh sicher viel mit dem Modell beraten, obwohl er in der Wahl desselben sehr kritisch gewesen ist und nie den grossen Ueberbltck darüber verloren hat. Einige nackte Partien, die er gemalt hat, gehören auch in beziig auf die Form zu dem Vortrefflichsten, was man sehen kann, {z. B. Vulkans Körper auf «la Fragua», Mars" linke Lende und sein Knie, Argus' Bein, ausserdem, was wir schon hervorgehoben haben); namentlich solche Partien des Körpers, wo sich die Flächen ruhiger und breiter formen. Einen eigentümlichen Beweis für seinen feinen Farbensinn bietet der obengenannte Christus am Kreuz. Von dem dornengekrönten Haupt ist Blut auf den Körper und auf die Lenden herabgetropft: die schmalen, dunklen Blutstreifen geben ganz vorzüglich die Biegungen und Krümmungen der Oberfläche wieder.1 Aber Velasquez ist nicht immer sicher in bezug auf die Proportionen («Josephs Brüder» im Escorial). Und was die Form anbetrifft, so ist es sehr auffallend, dass er am wenigsten Erfolg hat, wo es sich darum handelt, Hände, Handgelenke und Unterarme zu malen. Man sollte ja glauben, dass der grosse Porträtmaler viel vertraulicher mit der Form dieser Partien sein müsste als mit dem nackten Körper. Vielleicht ist die Mode des Zeitalters, sich mit Handschuhen malen zu lassen, seinem Studium hinderlich gewesen; sicher ist es, dass während er eine Hand in einem Handschuh (z. B. auf dem Porträt von König


i Wenn Stirling (S. 10G) äussert, dass «die Anatomie des nackten Körpers (bei dieser Chri- stusfigur) mit ebenso grosser Naturtreue aufgeführt ist wie bei Cellinis Marmorwerk (das Kruzifix im Escorial), das von Velasquez als Modelt benutzt wurdo, — so könnte sich Velasquez gewiss mit gutem Grunde dies äusserst misslungene Kompliment verbitten. Die beiden Werke gleichen einander gar nicht, und Velasquez1 Christus ist weit besser als der Cellinis


— 361 —

Philip IV. im .Tagdkostüm) mit der glänzendsten Foriiivirtuosität malen kann, man fast niemals eine — von der Seite der Form — richtig gemalte Hand auf seinen Bildern 1 begegnet, sogar zuweilen einer Behandlung dieser edlen Partie, dir fast des Uebrigen unwürdig ist (beim Bacchus, beim Christus am Kreuz und verschiedenen andern Figuren). Oft ist er auch kein ganz sicherer Zeichner des Fusses, obwohl er ihm hin und wieder einmal vorzüglich gelingt. Diese Partien, wo die Form so reich und so fein spielt, sind seine künstlerische Achillesverse, hier 'macht sich eine nie überwundene Versäumnis in seiner Ausbildung geltend.

Aber nur ein geringer Teil der Bedeutung dieses grossen Malers kommt für unser Thema in Betracht. Sein wesentlichstes Interesse geht nicht auf den Mensc hen als solchen aus, auf das Zentrale, gemeinsame Ideal, obwohl er sich in dem Bilde Christi am Kreuze demselben auf seine Weise nähert. Was ihn beschäftigt, sind die Menschen in ihrer scharf ausgeprägten Verschiedenheit untereinander. Der individuelle und persönliche Unterschied zwischen den menschlichen Charakteren interessiert ihn als Porträtmaler, und auf einem vereinzelten Bilde, die Uebergabe der Festung f» im. Breda, gibt er, vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte der Kunst — eine mit dem strengsten Bewusstsein durchgeführte Charakteristik von zwei nationalen Charakteren (Spaniern und Niederländern) in ihrem Gegensatz zu einander.

Ja, er geht sogar über die Peripherie hinaus, die den gewöhnlichen und regel- mässigen Unterschied im menschlichen Leben bezeichnet, um das Abnorme, das Patho- logische, Verfehlte, zurückgebliebene, untergegangene Existenzen als chronischen Zu- stand zu studieren (Idioten, Sonderlinge Zwerge) und er offenbart hierin eine Tiefe und Schärfe des Blickes und gleichzeitig eine nachsichtige Stimmung und eine freundliche Humanität, die ganz auffallend fürseineZeit ist, und die einem Seelenarzte unserer Zeit alle Ehre machen würde. Das spanische Hofleben, das seine Idioten, Zwerge und Hofnarren nicht entbehren konnte, gab gewissermassen einen Anstoss zu dieser Art Studien, in denen auch andere und ältere Künstler etwas ganz Vorzügliches geleistet haben ( Antonis Mor's Porträtfigur eines halbverkrüppclten spanischen Hofnarren, Pejeron) ; aber es forderte sicher nicht speziell zu der humanen Behandlung dieser Aermstenauf, die so eigentümlich für Velasquez ist; er überstrahlt überhaupt alle andern auf diesem Gebiet und weist ihm einen Platz in seiner Kunst an, der hinreichend davon zeugt, dass erihmnieht von aussen aufgezwungen wurde. Es ist ganz klar, dass solche Ausflüge auf dem Gebiete der Psychologie den Blick des Künstlers für all das Individuelle ausserordentlich schärfen mussten, auch für das, was nicht abnorm ist, und dass es eine von den Bedingungen für seine seltene — fast unerreichbar dastehende — Grösse als Porträtmaler bildet


Ob Velasquez oder Muri 11 o der grösste von den spanischen Malern war, soll hier nicht weiter erörtert werden, obwohl wir uns selber die Meinung vor-

1 Das Best«, was ich in dieser Beziehung von ihm kenne, dürfte wohl die Hand an seiner meisterhaften Porträtfigur des italienischen Offiziers, Alessandro del Borro in der Galerie zo Berlin sein.



- 362 —


behalten, dass Velasquez es war. Wenn jemand Murillo in diesem Zusammenhang hervorheben will, so hat dies jedenfalls seinen Grund in seinem reiehen, poetischen Gefühl, während doch niemand der Ansicht sein kann, dass sich seine Auffassung der Natur in Bedeutung und Stärke der des Velasquez messen konnte. Auch bei Murillo ist keine Vorliebe für das Nackte zu spüren oder für die menschliche Figur als selbständiger Gegenstand der Kunst, obwohl seine ursprüngliche Begabung und sein Schönheitssinn so gross sind, dass er sich schliesslich doch einen Figurenstil bildet, der ihm eigentümlich, wenn auch weder bedeutend noch einflussreich isl. Aus einer früheren Periode in seinem Leben besitzt man eine Komposition der Grablegung im Museum zu Sevilla; Christi Leichnam erinnert hier am meisten an Bibera unter den Hauptmeistern des siebzehnten .luhrhunderls, ist aber doch weit entfernt von seiner Selbständigkeit im Studium, von seiner scharfen und genauen Auffassung; die Zeich- nung und die Form bausehen sich lose um die Gestalt. Eine ähnliche Komposition hat er in einem späteren Bilde (ebendaselbst) geliefert; es ist die Leiche Christi, ganz in van Dycks Stil eingearbeitet, viel blonder und voller als auf dem früheren Bilde, so dass man Bubens als Grundlage ahnt  ; auch die Farbe soll frappant an van Dyck 1 erinnern.

Ueberhaupt fand ja Murillo in den Bildern des eleganten und gefühlvollen (landrischen Malers das, was von der ganzen zeitgenössischen Kunst sich am besten für seine eigene Bichtung eignete. Die Spuren dieses starken Einflusses verlieren sich auch nicht ganz in seinem späteren Figurenstil ; er bewahrt sich — jedenfalls wo es sich um die Ideal-Figuren handelt — stets eine gewisse Neigung zu dem Eleganten in Linien und Formen und hat häufig eine gewisse kokette, sehr bestechende Grazie in der. Bewegung. Dazu kommt noch, dass er, der ja zu der letzten Generation der bedeutenden Maler des siebzehnten Jahrhunderts gehört, es etwas weniger als seine älteren Zeilgenossen auf den Eindruck handgreiflicher Wirklichkeil anlegt ; er löst ein wenig mehr das Substantielle in der Form in ein fein dämmerndes und träumerisches Clair-obscur auf; er ist anfänglich sölido wie Bibera und Velasquez um dann später vaporoso zu werden. Aus seiner letzten Periode wollen wir seinen Christus am Kreuz anführen, der von St. Franziskus von Assisi umarmt wird (Museum zu Sevilla), seinen Christus der aus dem Grabe emporschwebt, (Akademie Fi*, iw. S. Fernando zu Madrid) und seinen Christus am Kreuz, (Museum zu Madrid). Die letztgenannte Figur fordert namentlich zu einem Vergleich mit Velasquez" oben erwähntem Kruzifix auf. Sie ist weniger bedeutend als dieses, sowohl dem Innern wie dem Aeussern nach Sie hat nicht seine mächtige Originalität, seine starken

1 Im Louvrc findet man unter van Dycks Namen ein kleines skizziertes Exemplar derselben oder doch einer sehr ähnlichen Koniposition, die als premiere pens6e so der bekannten schönen Altartafel für die Rckollekten-Kirche in Antwerpen .jetzt ebendaselbst im Museum) bezeichnet wird. Ich bin überzeugt, dass das Bild im Louvrc nicht von van Dyck gemalt ist. obwohl aller- dings viel darin ist, was an ihn erinnert. Auch zu der Komposition in Antwerpen steht es in keinem so nahen Verhältnis, dass es mit Recht als eine premiere pensee dazu bezeichnet werden kanu. Wie dieser dicht zusammengeflochtene Knoten von Riberas, van Dycks und Murillo» Kunst eigentlich gelöst werden soll, ist mir unklar; sicher aber ist es, dass van Dycks Einnuss auf Murillo, und gerade namentlich auch seinen Figurenstil, sich mit einer sonderbaren Deutlichkeit auf dem Bilde in Sevilla zeigt.


— 363 —

einfachen Zöge, die sich unvergesslich in die Seele des Beschauers einprägen. Murillo bedient sich derselben Anordnung, dass der eine Fuss über dem antlern liegt, so dass sie heide von einem Nagel durchbohrt sind, und lässt gleichzeitig den Körper um Kreuz hängen, so dass die Arme mehr nach oben gestreckt sind  ; beides be- wirkt einen fliessenderen Uebergang in den Linien und mildert die Winkel mehr, als dies bei Velasquez der Fall ist. Man muss übrigens den Schönheitssinn bewundern, mit dem die Figur gezeichnet und gemalt ist : die Form ist sehr bestimmt und durchaus nicht leer, namentlich sind Lenden und Kniee hervorzuheben. Die Gestalt tritt ausserdem in dem leichten Clair-obscur auf, das Murillo mit Andrea dcl Sarto gemein hat, mit einer eigenen Breite und Rundung. Die höchsten Lichter sind matt gelblich, aber doch von sehr intensiver Farbe; der Halbschatten (z. B. unter dem Unterleib) kühler, etwa wie Rauch; der Schatten hat eine leicht schwarzbraune Farbe. — Auf dem Bilde von der Auferstehung in der Akademie zu Madrid hat die Christusfigur ebenfalls eine recht klare und schöne Farbe, die jedoch oft mehr den Charakter von etwas wiedergibt, das in Knochen ausgeschnitten ist, als von Fleisch und Blut. Es ist sehr bezeichnend für Murillo, dass der Kopf dieses Christus, obwohl er bärtig ist, mehr den Charakter und den Ausdruck eines Mädchenkopfes hat, oder höchstens eines Madonnenkopfes als den eines Mannes, während der Körper übri- gens recht kräftig und männlich geformt ist, — nach dem Vorbilde einfacher, ge- wöhnlicher Natur. Mit dem Ausdruck des Schwebens hat der Künstler kein Glück gehabt; man muss sofort an das Modell in halb sitzender, halb stehender Stellung denken. Die Zeichnung und Verkürzung der Figuren der schlummernden VVachtmannschaft sind keineswegs meisterhaft.

An nackten weiblichen Formen kenne ich aus Murillos Hand nur eine büs- sende Magdalena (Lebensgrösse) im Museum zu Madrid; die Figur ist jedoch weit davon entfernt, nackt zu sein. Die Form ist keineswegs frei von Korpulenz; die Oberfläche hat an mehreren Stellen kleine Eindrücke und Grübchen (wie zuwei len bei Guido Reni), was ihr etwas Täuschendes verleiht, aber den Eindruck von Jugendlichkeit völlig ausschliesst. Dass der Künstler auf der andern Seite einen sel- tenen Sinn für die Schönheit der weiblichen Figur hatte, wenn auch nicht Studium genug für eine Durchführung der Schönheit der weiblichen Figur, kann man z. B. an der schönen Frau sehen, die im Vordergründe des Bildes «Maria Geburt» (im Louvre) kniet, vom Rücken gesehen. Unter Murillos Kinderfiguren besitzen die sevillanischen Strassenjungen auf seinen bekannten vortrefflichen Genrebildern in München und in Paris grosse Vorzüge in beziig auf Natürlichkeit und Wahrheit, so- wohl im Ganzen als auch in den Einzelheiten vor Figuren wie der kleine Christus als guter Hirtc oder der betende Johannis, beide als zehnjährige Knaben dargestellt, oder das Jesuskind, das Johannes aus der Muschel trinken lässt i alle im Museum zu Madrid); diese Figuren zeugen freilich auch davon, dass die andalusischen Kinder schön sind, aber ihnen haftet eine gewisse manierierte Grazie in Form und Bewegungen an, sie buhlen um die Gunst des Publikums, die sie ja auch reichlich lohnt.



1


FLANDRISCHE UND HOLLÄNDISCHE KUNST IM SIEBZEHNTEN

JAHRHUNDERT.


Die Niederlande, d. h. die südlichen, katholischen Niederlande wurden in der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhundert«  in höherem Grade eine Heimstätte des künstlerischen Humanismus als irgend ein anderes Land in Europa. In andern Ländern, wie in Italien und Spanien, war man ganz bange davor geworden, aber in Belgien erstand ein grosser Künstler, der keineswegs bange war, der Mailer Hu bens.

Kr hat sehr viel gemein mit seinen niederländischen Vorgängern im sechzehnten Jahrhundert und holte so wie diese den künstlerischen Humanismus aus Italien. Uewissermassen kann er mehr als jeder andere als italienischer Eklektiker aufgefasst werden : niemand hat in so grossem Umfange wie er die verschiedenartigsten italienischen Meisler kopiert, und er war in bezug auf diese Aneignung ihres Figurenstils — Studien kann man es wohl kaum nennen — keineswegs gründlicher als irgend ein anderer der Eklektiker des Zeilalters  : er bemächtigte sich frischweg der Resultate ohne auf irgend eine Weise den Weg, der zu diesen Resultaten geführt hatte, noch einmal zurückzulegen. Deshalb ist seine Behandlung der menschlichen Gestalt z. B. im Vergleich mit Michel Angelos Forin oder Tizians Farbe, eigentlich ein ausseror- dentlich flüchtiges Produkt und könnte niemals ein sicheres Fundament für eine neue Entwicklung des Humanismus bilden. Unter dem, was ihn in Italien beeinllussle, ist auch Caravaggios damals ganz neuer Naturalismus mit seiner eigentümlich ergrei- fenden, schlagenden Wirkung zu nennen. Das war etwas für Rubens: was bei Caravaggio dunkel war in der Auffassung und der Farbe, streifte er bald ab: aber vor allen Künstlern der Periode besass er dessen Bestreben und entwickelte er dessen Talent, die Gestalten leuchtend und blendend hervortreten zu lassen und sie ganz unmittelbar lebensvoll zu schaffen.

Und alles, was er sich nur flüchtig aneignete, schmolz er sogleich in seine eigene Individualität um und verlieh ihm seinen eigenen Stil. Bei seinen niederlän- dischen Vorgängern nimmt sich das national Niederländische, das Nordische, beständig



- 365 -

aus wie etwas, das sie nicht uberwinden können, etwas, das ihre Studien nach den Italienern beeinträchtigt und ihnen eine unangenehme Zugahe von etwas Plumpem, Materiellen gibt. Rubens setzt seine grosse, frische und unverzagte nordische Per- sönlichkeit voll in seiner Kunst ein und versteht es, alle die verschiedenartigen Ele- mente in Einheit aufzulösen. Seine Figuren sind schwerfällig und plump in der Form, demokratisch und bäurisch in ihrem ganzen Zuschnitt, wie es ja die Figuren seiner Zeit in der Regel waren; aber sie schämen sich dessen nicht. Ihre Bewegung ist taumelnd und unrhylhmisch, mögen sie gehen oder tanzen: aber sie sind unüber- troffen lebensvoll und amüsieren sich herrlich. Rubens beherrscht alle momentanen Stimmungen der Menschenseele, ebensosehr die tragisch erschütterndsten wie die übersprudelnd fröhlichen, aber sein ganzer Stil, die Charakteristik seiner Figuren ist auf Gesundheit und Freude angelegt : gerade weil sie so gesund sind und eine so kräftige Vitalität besitzen, reagieren sie so stark, so gewaltsam auf jeden Eindruck. Hinter dem allen liegt die Freude als feurige Untermalung, die dem Ganzen ihr strahlendes Leben verleiht. Und die Freude kann sich ungestüm Luft machen in einem schallenden, aber unmelodischen Lobgesang auf den Menschen, der sich frei bewegt und sich nackt entfaltet.

Es ist eine Verherrlichung des Fleisches wie bei den Venelianern, aber das Fleisch ist bei den Nordländern ein üppiger, kräftiger Körpersloff von starker, fettan- setzender Kost genährt, mit der schimmernden, blendend frischen Haut, die nicht von der Sonne gebräunt ist. Der Stoff soll richtig hervorgehoben werden: so wie sein Zeitgenosse Bernini liebt Rubens jenen Ueberschuss in der Form («maccatura») der durch den Druck des vollen Stoffes oder durch ein Klemmen von aussen entsteht. Er «mischt Blut in seine Farbe», sein Kolorit geht darauf hinaus, gleichsam unmittel- bar den Körperstoff von der Palette auf die Leinwand zu übertragen. Aber der Körperstoff ist nicht der ruhige, negative wie auf den Bildern der Venetianer : die Säfte, die das Bild und die Speisen aufsaugen, kochen und sieden, verleihen den Stimmungen der Seele ein glänzendes Leben und machen sich Luft in starken Be- wegungen: es ist gleichzeitig Michel Angelo und Tizian, und doch keiner von ihnen, — Rubens allein.

Unter Rubens niederländischen Nachfolgern haben nur zwei eine selbständige Bedeutung in bezug auf die Darstellung der menschlichen Gestalt. Der eine ist Jakob Jordaens, der im wesentlichen keine andere Quelle für seinen Figurenstil hat als Rubens und übertreibt, was bei diesem bereits übertrieben war, namentlich die Ueppigkeit des Körperstoffes. Das Einzige, was mit der grossen Schlampigkeit seiner Frauengestaltcn versöhnen kann, ist, dass sie so mit nordischem Humor ge- salzen und gewürzt ist. Der andere ist Rubens hochbegabter Schüler Anton van Dyck. In seiner früheren Zeit ist sein Figurstil fast ganz der Rubens'sche, und er löst sich nie ganz von der von seinem Meister gegebenen Grundlage los. Sein Streben und seine Veranlagung war jedoch ausserordentlich verschieden von Rubens  : Van Dyck besitzt nicht Rubens humanistischen Sinn und Tendenzen, seine grosse Vorliebe für das Nackte, seine enorme Produktivität, hat aber weit mehr wirklichen



- 366 -


Sinn für Schönheit und für eine feine Mässigung. Diese Eigenschaften entwickelte van Dyck während eines Aufenthalts in Italien durch direkte Studien nach Tizian und nach der Antike (Laokoon), Studien, die weit gründlicher waren, als wie sie Hubens gemacht hatte. Er hat nackte Figuren gemalt, namentlich die Leiche Christi, die von der tiefsten künstlerischen Bildung zeugen und zugleich nach jeder Richtung hin in einem individuellen Stil durchgeführt sind, der wohl noch etwas von der Ru- benssehcn Massigkeit und Formfülle hat, aber doch durch und durch von dem voll- entwickelten Schönheitssinn geadelt ist. Van Dycks seelische Eigenschaften : sein echt empfundenes, stimmungsvolles Pathos, das sich doch beständig einer weichlichen, ein wenig enervierten Sentimentalität wenigstens nähert, und in Affektation übergehen kann, begeisterte sein Zeitalter förmlich, und wahrscheinlich hat er auch auf diesem Wege Einfluss auf Murillo, und auch auf Murillos Figurenstil erhalten, was ganz be- stimmt nachgewiesen werden kann, wenn auch die Figuren der Spanier ein wenig leichter und südländischer im Bau sind als die der Flandrer.

Van Dyck wurde der Porträtmaler der vornehmen Welt und war wie geschaffen dazu durch eine ganz eigentümliche Vorliebe für feine und liebenswürdige Manieren und einen aristokratischen Zuschnitt der Formen, für alles, was von einer sozial veredelten Rasse zeugte. Dies kann man an seinen Porträts sehen, z. B. an der Form der Hände, die er — ohne die geringste Rücksicht auf Porträtähnlichkeit — immer ausgesucht vornehm und elegant malte. Er hat im selben Geiste einige nackte Jünglingsgcstallen durchgeführt; es sind trotz ihrer Heldentitel entkleidete Junker. Eine ähnliche Vorliebe für aristokratische Formen haben wir früher in der venetia- nischen Malerei und der französischen Plastik des sechzehnten Jahrhunderts beob- achtet ; van Dycks Jünglinge haben indessen ein ausgesprocheneres nordisch-germani- sches (iepräge. Sie nehmen in der Geschichte des Figurenstils einen ganz eigentüm- lichen Platz ein.

In den nördlichen, rein germanischen Niederlanden, dem republikanischen, protestantischen Holland stand die Kunst unter ganz andern sozialen Bedingungen als in den südlichen. Hier war die ganze Verbindung mit der übrigen Kunst Europas, die sonst durch die katholische Kirche, durch das Hofleben und die Aristokratie ver- mittelt wurde, unterbrochen; und das hatte gerade die entschiedenste Bedeutung für die Darstellung der menschlichen Gestalt in grösserem Stil, die in Holland zum gross-' ten Teil den Boden verlor. Von Seiten des wohlhabenden Bürgerstandes des Landes, der hier ausschliesslich die Kunst trug, erfolgten wenige oder gar keine Nachfragen danach, man verlangte Darstellungen des menschlichen Lebens in einem andern Geiste: getreue Abbildungen des wirklichen zeitgenössischen Lebens, so wie man es mit eigenen Augen sah — und es zu sehen liebte. Das Porträt und das Genrebild blühten. Es wurde eine rein nationale Kunst, wie es die alt-niederländische gewesen war, oder noch in höherem Grade, weil die Bilder des Menschen und des Menschenlebens jetzt nicht mehr unter biblischen und kirchlichen Titeln eingeschmuggelt wurden, sondern sich offen als weltlich bekannten. Man schildert mit Vorliebe die gemütlichen Lebens- genüsse der Friedcnszeit, derb und gesund, bald ruhiger und philiströser, bald aus-




- 367 —

gelassener und lärmender. Die Mensclient ypen in dieser Kunst sind selbstverständlich rein nordisch: auf den Bildern aus dein Bauernleben, auf das der Bürgerstand ein wenig herabsah, sind ^iie in der Begel karikiert oder machen doch auf alle Fülle keinen Anspruch auf Schönheit; auf den Bildern aus dem Leben des Bürgerstandes selber strebt man gern danach, darzustellen, was als anziehend und schön galt, aber ohne durchgeführte Schönheilsbegrifle, um so weniger als man den Menschen nicht nackt malte, weil dies ja nicht zu den Gewohnheiten des wirklichen Lebens, das man schilderte, gehörte.

Die täglichen Vorwürfe aus dem Leben der Bauern und Bürger wurden auch in dem katholischen Belgien behandelt; dort nahmen sie aber nur einen untergeord- neten Platz ein im Verhältnis zu Bubens und seiner Nachfolger Schilderungen der Figur im grossen Stil. In Holland treten die Bilder der präsenten Wirklichkeit ganz in den Vordergrund und bilden die Hauptslärke der Kunst, ihre regulären Truppen. Die Beliebtheit, deren sieh die niederländische Kunst im siebzehnten Jahrhundert auf diesem Gebiet in ganz Kuropa erfreute, bewirkte, dass die Genremalerei seit dieser Zeit in das ständige Bcpertoire der Kunst aufgenommen wurde: anfangs ahmte man die niederländischen Meister nach, aber im achtzehnten Jahrhundert wurde die Genre- malerei stellenweise satirischer, ging darauf aus, die Sitten zu geissein.

In Holland selber, im siebzehnten Jahrhundert, wurde jedoch auch, infolge der Tradition aus einer früheren Zeit, eine mehr gelehrte, italienisierende Kunst eklek- tischer Art erhallen ; sie führte indessen ein sehr zurückgedrängtes Dasein und steht in der Nachwelt völlig ruhmlos da. Auch der italienische Naturalismus hatte schon früh seinen Weg nach Holland gefunden, und seine demokratische Bichtung passte besser für die Nation als der Eklektizismus. Er beeinflusste auch mittelbar Hollands grösstcn Maler, Bembrandt, oder vielmehr: es handelt sich hier mehr um ein Anspornen als um ein Beeinflussen; Bembrandt würde ja, wie man mit Becht be- hauptet hat, die Malerei erfunden haben, selbst wenn sie vorher noch nicht erfun- den wäre. Er ist vor allen Dingen national ; er gehörte zu denen, die kein anderes Land als Holland kannten, keine anderen Menschen, als wie er sie dort sah. Durch die Kunst kannte er wohl andere Menschengestalten, aber er wollte sich nicht danach bilden, er bot jeder Tradition trotz. Sein mächtiger und selbständiger Geist konnte sich nicht ruhig dem etwas engherzigen Programm einfügen, das der Geschmack seines Publikums der Kunst vorschrieb. Er ging nach seinem eigenen Kopf und scheute keine Arbeit und Versuche für seine eigenen künstlerischen Zwecke, wenn sie auch weit über die Verstandesgrenze seiner Auftraggeber hinausgingen.

Bembrandt hatte von Anfang an die allerschwächste Schule in der Behandlung der menschlichen Gestalt : wo er auf seinen früheren Bildern die nackte Form dar- stellte, kann er die grössten Fehler in der Zeichnung begehen. Er mussle sich in dieser wie in andern Aufgaben ganz als Autodidakt unter ziemlich schwierigen Verhältnissen entwickeln; er kam auch nie weiter, als dass seine bekleideten Figuren oft den Eindruck von etwas Eingepacktem, Formlosen machten, zuweilen sind sie steif und langweilig in der Bewegung, es fehlt ihnen jede leichte und geschmeidige



- 308 -

Plastik, so ausserordentlich ausdrucksvoll sie auch sonst in dramatischer und psychischer Hinsicht sein mögen. Nichtsdestoweniger hatte er sein ganz besonderes Interesse für die nackte Figur und grosse Lust, sie darzustellen ; er wollte die ganze menschliche Gestalt darstellen, nicht nur aus Interesse für das Seelische. Nament- lich die weibliche Gestalt zog ihn an; er hat die nackte Krau in einer ganzen Kcihe von Bildern radiert und gemalt, auch in natürlicher Grösse. Es sollen hauptsächlich die Schönheiten des Alten Testamentes sein (Bathseba, Susanna, die Frau des jungen Tobias u. s. w.), aber es sind in Wirklichkeit holländische Modelle aus dem Volks- leben, aufs Geradewohl gewählt; oder doch ohne die geringste Bücksicht auf statt- lichen Wuchs und Formenschönheit : ihre Bäuche können dick wie Tonnen oder Säcke sein, die Brüste schlaff und hängend, die Glieder bald schwach, bald hart, trocken und männlich, die Hände und Füsse grob und hässlich. Aber diese Bilder haben auch, gerade als Figurenschilderungen, hervorragende Vorzüge, die beweisen, worauf das In- teresse des Meisters hinausging. Die Behandlung der Körper o be rfl ä c h e war überhaupt eine Lieblingsaufgabe für die Künstler des siebzehnten Jahrhunderts, man wollte sie mehr körperlich haben, mehr zum Zugreifen als früher. Aber kaum jemand hat es mit Lösung dieser Aufgabe so weit gebracht wie Bembrandt : die nackte Haut steht in dem perlenden und schimmernden Licht mit einer unvergleichlichen Sammet- weiche und Elastizität da, sie ist in jedem Punkte von einem sensitiven Leben, einem ausdrucksvollen Organ für das Gefühl durchgeistigt. Hierin finden wir eine Verwandtschaft mit Correggios Auffassung, Bembrandt aber hat neue Vorzüge in der Behandlung der Oberfläche. Kein Künstler, nicht einmal Leonardo da Vinci, lässt eine solche Fülle bewegten Seelenlebens und lebendiger Stimmung in der Oberfläche des Gesichts vibrieren wie Bembrandt.

Diese Bilder besitzen ausserdem im höchsten Masse die ganze Gewalt über das Gemüt, die aus dem individuellen Eindruck einer grossen Künstlerpersönlichkeit her- vorgeht, sie sind vollauf national und eigentümlich und gleichen nichts anderem. Vorläufig aber waren sie zum Vergnügen für den Meister selber und für eine ferne Nachwelt gemalt ; in kunsthistorischer Beziehung bezeichnen sie nur Seitenschösslinge aus dem Hauptstamme der Kunst, von dem fast nichts in ähnlicher Bichtung folgte. Dies beruht auf der rein individuellen Eigenschaft bei Bembrandt, dass er gerade als Figurenschilderer die meisten Menschen von sich stösst oder ihren SchönheitsbegrifTen jedenfalls soviel zu überwinden gibt, dass sie sich dafür bedanken. Es gibt niemand, der so achtlos gegen alle Begriffe des Anziehenden und Gefälligen in menschlicher Form und menschlichem Wesen war : er ist insofern van Dycks Antipode und unterscheidet sich wesentlich von den holländischen Genremalern. Er hat viel Sinn für prächtige Kleider, aber nicht die entfernteste Vorstellung von dem durch die Gesellschaft ver- feinerten Menschen, ja, ihm fehlt sogar alle plastische Schönheitsvorstellung und die Fähigkeit, sich über die in psysischer Beziehung gerade nicht günstig entwickelte Masse, die er vor Augen hatte, zu erheben. Die italienischen und spanischen Natura- listen ziehen gern das Volk in den Vordergrund, und Bibera z. B. kehrte absichtlich eine abstossende Seite des menschlichen Wesens heraus; aber seine ausgezehrten



— 369 -

t

Lazzaroni sind doch wahre Prachtgestalten in plastischer Beziehung im Vergleich zu Rembrandts nackten Frauen, die doch fast alle Schönheiten, ja sogar vornehme Schön- heiten sein sollen. Rembrandl war in seiner Auflassung des Menschen nicht so sehr Freund des Volkes als Mann aus dem Volke; diese Begrenzung haftet seiner ganzen Auflassung der menschlichen Gestalt beständig an, obwohl dieser Mann aus dem Volke vielleicht der inhaltsreichste und der poetisch und malerisch begabteste aller Menschendarsteller war.'

Da es nun nichts gibt, was die Bürgersleute weniger gern sein wollen, als Bauern, so wird man leicht verstehen, dass seine Auffassung der Figur bald von dem banalen Eklektizismus wieder weggespült wurde. Man fing an, sich Rembrandts zu schämen, dann vergass man ihn über dem akademischen Lairesse und dem geleckten van der Werff.

Es folgt noch ein kleines Nachspiel, ein Auswuchs der Figurendarstellung der nordischen Nationen in dieser Periode, ein Phänomen, dass keinen besonderen Ruhm erlangte, dem man aber eine selbständige Bedeutung nicht absprechen kann. Der deutsche Balthasar Denner (zu Anfang des achtzehnten .lahrhnnderts) trieb die Neigung zur Mikroskopie des Körpers, namentlich der Oberfläche des Gesichts, die seit van Eycks Zeit in der nordischen Kunst vorgeherrscht hatte und namentlich bei Dürer stark hervortrat, auf die äusserste Spitze. Es ist ein «Stilleben», eine Nature- morle- Auffassung, des Menschlichen, für die die Runzeln, Fleeken und Sommer- sprossen der alternden, welken Haut das grösste Interesse bieten  ; und in diese verlieft er sich mit aller erdenkbaren Gründlichkeit, indem er doch gleichzeitig Vorteil aus der entwickelten Malerei zum Einsammeln des Totalciudrucks zieht. Denners Be- deutung besteht darin, dass er eine Einseitigkeit der Auffassung entschleiert — nämlich die, den Menschen unsympathisch wie einen andern Gegenstand zu betrachten — die namentlich der Auffassung der germanischen Nationen von demselben an- gehaftet hatte.

RUBENS.

Das grosse Licht der neueren Brabanter-Schule, Peter Paul Rubens,2 ist der erste niederländische Künstler, der die Schwingen der Phantasie so recht entfaltet.

i Rembrandt kann mit einem sehr grossen Redner, — fast dem grössten von allen —

verglichen werden, der das Unglück hat Dialekt zu sprechen, j inländisch oder finnisch oder so etwas wie norwegisch. Das heisst : es haften seiner Bildung gewisse untergeordnete Mängel an, während er in allem Uebergeordneten so übergeordnet ist. Deshalb kann er als Prüfstein dafür dienen, wer das Uebergeordncte in der Kunst wirklich versteht Und doch, der Vergleich hinkt: die Bildung in dem Adel der Form, die ihm gänzlich abgeht, kann man eigentlich nichts Untergeordnetes nennen.

  • Geb. 1577 in Deutschland von ausgewanderten niederländischen Eltern. Nach dem Tode

des Vaters (1587) siedelt die Mutter mit den Kindern wieder nach Antwerpen über. Peter Paul erlernt die Malerei zuerst bei Tobias Verhaegt, später bei Adam von Noort, endlich bei Oktavias van Veen (Ottovenius). Wanderjahre in Italien und Spanien 1GOÜ— 1008. Dann ständiger Wohnsitz in Antwerpen. Hervorragende und glückliche soziale Stellung. Zweimal vermählt. Spätere Reisen z. T. in politisch-diplomatischem Auftrag nach Frankreich, England, Spanien, Holland. Starb in Antwerpen 1C40.

24



— 370 —


Namentlich jeder, der in den Sälen der Pinakothek in München gestanden hat, wird ihren Flügelschlag auf eine ganz überwältigende Weise gespürt haben. Ueberliaupt liudet man in den Galerien kaum einen Maler, der sich in dem Masse dem ersten Kindruck <les Beschauers aufzwingt. Diese Menge von vornehmen, strahlenden, Wen- denden Werken wirkt auf Sinn und Gemüt wie die üppigste tropische Vegetation. Sein saftiges und üppiges Genie und seine unglaublich lebendige Einbildungskraft trägt vielleicht mehr als alles andere dazu bei, der Kunst zu Anfang des siebzehnten Jahrhunderts ihr eigentümliches Gepräge zu verleihen. Auch in der Geschichte des Figurenstils ist er einer der eigentümlichsten und hervorstechendsten Charaktere.

Seine hervorragendste Eigenschaft in der Schilderung des Menschlichen ist seine zauberhafte Genialität in bezug auf den mimischen Ausdruck, den Ausdruck für den dramatischen Verkehr, für das Gefühl und die Stimmung des Menschen im Verhältnis zu einem gegebenen Motiv. Die Mienen und Gebärden seiner Personen sind beredt wie Shakespeares Dialoge; er definiert Gemütsbewegungen jeder Art und Stärke mit einer unmittelbaren Leichtigkeit, einer Kraft und einer Genauigkeit wie kein anderer Maler. Iiier ist nichts zu fragen, nichts zu grübeln; man kann gar nicht umhin ihn zu ver- stehen, beim ersten Anblick des Bildes wird man mit fortgerissen. Man kann weit eher zuweilen linden, dass er zu deutlich redet, dass er zu stark pointiert  ; bei dem Ausdruck gewisser seelischer Krregungen, z. B. bei den erotischen jugendlicher Frauen, legt er zuweilen eine Bowusstheit in die Miene, eine Klugheit in das Verhältnis, wc»- durch wir uns ein wenig prosaisch berührt fühlen  ; wir hätten hier lieber ein unbe- stimmteres, jugendlicheres Träumen gesehen (Atalante, die den Kopf des wilden Kiu. 158. Schweines von Meleager in Empfang nimmt, Fig. 153, München; Andromeda, die von Perseus befreit wird, Madrid). Trotzdem ist er in bezug auf den Ausdruck ausserordentlich reich; er kann amüsieren und interessieren, er kann rühren und schmelzen, er kann locken und schmeicheln, er kann erschüttern und entsetzen. Er kann überhaupt, was er will, und namentlich kann er einen Sturm von Leidenschaft entfachen wie kein anderer. Aber er kann und er will nichts, was wesentlich über die augenblickliche Gemütsbewegung hinausgeht; seine Fähigkeit liegt gerade darin, den Ausdruck für diese so recht klar auf dem Bilde zum Austrag zu bringen, und das verleiht seinen Werken diese einzig in ihrer Art dastehende Herrschaft über den ersten Eindruc k. Sein Palhos ist ganz ergreifend und betörend; von ihm gilt es wahrlich, dass er meint, wo viele andere sagen, dass sie meinen; aber man hat trotzdem ein Gefühl, dass es bald verwunden sein wird. Seine Menschen sind so erstaunlich elastisch, che Grundstimmung in ihnen ist eine überströmende Gesundheit und vitale Lebensfreude, und gerade weil sie so gesund sind, sind sie jedem Eindruck zugänglich, von den leichtesten bis zu den tiefsten und heftigsten; aber auf alle Fälle nehmen sie bald wieder ihre rundliche Form an.

Nichts vermag an ihnen zu zehren, nichts vermag die Grundlage ihres Wesens anzugreifen, selbst nicht der tiefste Kummer; es sind alles nur farbige Wolken, die an der Sonne vorübertreiben. Ausserdem gestattet er dem lichten, sanguinischen Temperament, das den Unterst rom in Bubens ganzer Kunst bildet und jeder Stimmung



- 371 —

einen erhöhten Farbenglanz verleiht, niemals friedlich in seinem eigenen Grund zu ruhen, so wie wir es z. B. hei Tizian finden. Auch die Freude, der Genuas, das Wohlsein schildert er in augenblicklicher Bewegung, in einer hastigen Uebergangs- stimmung, am liebsten sogar in Aufruhr und Wirbel. Leben und Fühlen, dass man lebt, und dass das Blut rollt — dies hat nie einen unmittelbareren und kräftigeren Ausdruck erhalten als in Rubens' Kunst.

So reich auch Rubens als Psycholog ist, kann man also im Ganzen doch nicht sagen, dass er tief ist. Die alten, von der christlichen Kunst ererbten Motive ver- lieren unter seiner Behandlung oft viel von dem Inhaltswert, den sie unter der Leonardos und Radaels haben, indem der starke, leidenschaftliche und materielle Eindruck den geistigen erstatten muss, und zwar obwohl Rubens der Kirche ein weil ergebenerer und gehorsamerer Sohn gewesen zu sein scheint, als es jedenfalls Leonardo war. Auf Rubens beiden grossen Hauptwerken im Dom zu Antwerpen,  »der Auf- richtung des Kreuzes» und der berühmten «Kreuzesabnahme», ist dem Aeusseren bei der Begebenheit, dem Lärm und der materiellen Anstrengung ein sehr grosser Platz neben dem wirklich ergreifenden Pathos eingeräumt. «Der auferstandene Christus offenbart sich dem Thomas»1, wird von Ruhens so aufgefasst, als ob Christus eine Wette mit dem skeptischen Apostel gewonnen habe: bei diesem ist es allein der höchste Grad der Ueberraschung und des Staunens, der sich in der Miene und in dem rollenden Blick ausdrückt; Christi Ausdruck ist eine freundliche, überlegene Ironie. Der Kern in dem Mirakel wird in Rubens Darstellung einzig und allein der Umstand, dass ein toter Mann in dem Grade materiell und handgreiflich lebend wird und so in Kraft und Gesundheit blüht, wie es Christus hier tut - was unleugbar auch sehr erstaunlich ist; Raflael führt bei ähnlichen Vorwürfen den Gedanken weiter aus und vertieft ihn. Gegen Ende seines Lebens hatte Rubens von dem Mäccn Jabach in Köln den Auftrag erhalten, ein Bild zu Ehren des Apostels Petrus zu malen; er sagt hierüber in einem Brief," dass wenn er ein Thema aus der Geschichte dieses Apostels wählen solle, das so recht nach seinem eigenen Geschmack sei, er die Kreuzigung des Petrus mit den Beinen in die Höhe allem Andern vorziehen würde; ihm würde «lies Motiv Gelegenheit geben, etwas ganz Ungewöhnliches zu schalten. Das Bild wurde bekanntlich auch ausgeführt. Selbst ohne so den Beweis Schwarz auf Weiss zu haben, würden wir Rubens Neigung erkennen, die brutale


i Das vortrefflich gemalte Bild in der Akademie zu Antwerpen ; halbe Figuren. — Ich er- greife die Gelegenheit, die dies Gemälde bietet, um ein fiir alle Mal zu bemerken, dass es mich zu weit Tuhrcn würde, wenn ich mich auf eine Diskussion über die von Eugene Froniontin in seinem Buch Les maitres d'autrefois 8. 30—143 geäusserten Ansichten, Insofern als ich sie nicht teilen kann, einlassen wollte. Es gibt kein Buch über Kunst, das man mit grösserem Interesse liest als dieses. Fromcntin ist nicht nur ein geistreicher, gedankenreicher und liebenswürdiger Schriftsteller sondern als bedeutender und entwickelter Haler hat er Dinge zu bemerken, die wir andre nur schwerlich beachten würden. Aber teils ist er, namentlich in seinem Kapitel über Rubens, offenbar su leicht geneigt, alles auf ganz neue Weise zu sehen, teils sind seine Begriffe darüber, was zu der kunsthis to ri sc h e n Kritik gehört, zu schwach entwickelt.

  • E. Gachet: Lettres inedites de P. P. Rubens (Bruxelles f»40). S. 277. Der Brief ist datiert

25. Juli 1637.



- 372 -


Seit«; der Sache hevorzuheben. Vorzugsweise als Porträtmaler ist Rubens über seine Neigung, das Augenblickliche in der Gemütsbewegung hervorzuheben, hinausgegangen, und hat sich ruhiger in den bleibenden individuellen Charakter vertieft; wenn er auch nach dieser Richtung hin Velasquez nicht ganz ebenbürtig ist, so hat er doch einzelne ganz vorzügliche Charakterschilderungen geschaffen (z. B. den Franziskaner- General in der Pinakothek zu München, den Abt Israelis im Kunstmuseum zu Kopen- hagen und den Dominikanermönch in der gräflich Moltkeschen Sammlung in Kopen- hagen). Doch liegt auch seine starke Seite als Porträtmaler mehr in der Lebhaftigkeit der Auffassung als in der Tiefe.

Zum Träger all des starken und reichen dramatischen Lebens in seinen kirch- lichen, historischen und mythologischen Kompositionen schuf sich Rubens eine eigene Art von Gestalten, die ebenso einförmig sind, wie das seelische Leben, das sie aus- drücken, mannigfaltig ist. Diese Figuren — oder, wenn man will : diese Figur re- präsentiert gerade mit ihrer frischen, blendenden Hautfarbe, ihrem üppigen Fleisch und ihrem starken, schwerfälligen und kräftigen Bau den sanguinischen und saftreichen Menschen, der so lebhaft auf alle Eindrücke reagiert und der einen so grossen Grundfond an animalischer Lebenslust besitzt. Es besteht wohl ein gewisser Spielraum von Verschiedenheit in diesen Figuren  : da sind einige, denen er einen leichten An- strich von besonderer Charakteristik gegeben hat, andere, die seine übermütige Laune zur Karikatur gemacht hat; und doch kann man mit Recht sagen, dass man sie Alle gesehen hat — und ihre Zahl ist ausserordentlich gross, — wenn man zehn von ihnen kennt. Christus und die Apostel, St. Sebastian und St. Franziskus, Mercurius und Adam sind alle derselbe starke Kerl, was den Körperbau anbetrifft, und sind eng verwandt mit den Satyren und mit Herkules. Die Köpfe dagegen mit ihrem herrlich empfundenen Ausdruck können sehr verschieden von einander sein und sinrl zuweilen von Seiten des Künstlers als eine von dem übrigen Körper gan* ver- schiedene Aufgabe behandelt. Die Nymphen des Meeres und Diana mit ihren keuschen Jungfrauen, Viktoria und Fortuna, die Grazien und Pallas-Athene, Venus und Juno, Andromeda und Susanne, Atalanle und Buthseba — sind im Wesentlichen dieselbe weisshäutige, üppige, in der Regel nur wenig jungfräuliche Gestalt mit dem runden, vollen Kopf, der scharf geschnittenen, ein wenig nach oben gekehrten Nase, den klaren, muntern Augen, dem frischen Mund und dem reichen, in der Regel hell- blonden Haarwuchs. Ja, es besteht oft nicht einmal ein strenge und ganz durch- geführter Charakterunterschied zwischen der männlichen und der weiblichen Form oder zwischen der jungen und der alternden. Die Greisengestalten Rubens" und seiner Schule (Demokrit im Prado-Museum) haben ebenfalls sehr schwere Schultern, Arme und Beine; sie werden charakterisiert durch eine gewisse ältliche Korpulenz mit starken Querfalten im Körper oder durch eine schlaffe, hängende Haut, die zeigt, dass sie — im Gegensatz zu denen Riberas — in ihrer Jugend sehr stark gewesen sind.

Ein eigentliches Naturstudium der menschlichen Gestalt hat Rubens offenbar niemals durchgemacht. Seine Darstellung derselben ist nicht mit Mühsal zur Welt geboren, sondern als dreistes Postulat aus einer gewissen allgemeinen und un-



- 373 —


mittelbaren Stimmung in bezug auf das Menschliche hervorgegangen. Bei" all seiner berühmten Bildung, bei allem, was er gesehen, gedacht und gelesen hatte, gehörte er doch in ganz überwiegenden Masse zu den naiven, kritiklosen, frisch schaffenden Künstlernaturen, zu denen, die suchen und finden. Dazu kommt seine ganz enorme, rastlose Produktivität, die wir gerade nicht mit einem bekannten französischen Schrift- steller • Bilderfabrikation» nennen wollen, — dazu ist sie zu viel wert, - aber bei der man doch auch nicht ein sehr strenges moralisches Verhältnis zwischen dem Künstler und seiner Aufgabe anerkennen kann. Kr halte das Interesse für die nackte Figur durch das italienisch-humanistische Element empfangen, das bereits in der niederländischen Kunst enthalten war, er führte es während seines eigenen Auf- enthalts in Italien weiter, er liebte überhaupt das Nackte um seiner selbst willen, dem Bedürfnis seiner Natur folgend, aber er arbeitete es niemals durch. Seine menschliche Figur ist deswegen ein sehr flüchtiges Produkt, und selbst wo sie am besten ist, doch nie ganz erhaben über Manierirtheit und VVillkürlichkeiten. Bubens selber hat übrigens nicht sehr sorgfaltig über seinen Nachruhm gewacht, indem er seine Schüler so viel an seinen Bildern hat mitarbeiten lassen, was nicht selten ganz abscheuliche Einzelheiten zur Folge gehabt hat, z. B. eine mehr tierische als menschliche Form der Füsse — sogar auf dem Bilde von den Grazien in Madrid, — wie überhaupt eine Karikatur seines eigenen Stils, der, wo wir ihn aus seiner eigenen Hund haben, doch stets das berückende Gepräge überlegener Intelligenz und hoher Begabung trägt. Es hat ein grosses historisches Interesse, die Bubensische Figur zu studieren, weil sie ein so geniales und eigentümliches Produkt ist, und weil sie das Bedeutendste, wenn auch nicht nuch jeder Bichtung hin das Beste repräsentiert, wozu es die Kunst der nordischen Nationen in dieser Bichtung innerhalb der Grenzen der Renaissance überhaupt gebracht hat. Ihre praktische Bedeutung für die Kunst späterer Zeiten ist dagegen zweifelhafter. Wohl hat sie in unserem Jahrhundert eine gewisse Rolle für Üelacroix und eine sehr bedeutende für Ruhens' Landsmann Antoine Wiertz' gespielt, aber ob sie nicht viel dazu beigetragen hat, den Letzteren zu einem grossa rügen malerischen Phantasten zu entwickeln, und ob sie nicht über- haupt mehr vom Natursludium ablenkt als dazu hinführt, «las ist eine andere Frage.

Wie ist Rubens Figurenslil eigentlich entstanden? die Antwort auf diese Frage verbirgt sich in den undurchdringlichen Tiefen «lieser genialen Individualität. Kr ist da und er ist sich selbst immer wesentlich gleich, aber wir können sein Werden nicht historisch verfolgen, ihn nicht in Elemente analysieren, «lie in «1er vorausgehenden Kunst enthalten waren.* Man kann offenbar gar nicht zu viel Gewicht auf den ur-


1 Vergl. L. DietrichBOns Abhandlung aber Wiertz in der Tidskrift für bildandc Kunst og Konstindustri, 1. Jahrgang, Stockholm 1H7*», abgedruckt in dem Buche  : «Aus der Welt di r Kunst» 1KS.Y

  • Ueber das früheste Gemälde, das man von Rubens nachwoiseu zu künnen glaubt, ond das,

aas der Zeit vor seiner Reise nach Italien stammen soll, cino Madunna mit dem Kinde «in Privat- besitz in Antwerpen) sagt Alfred Michiels (Rubens et Tecole d'Anvers. 4«nc edition, Paris IS77). dass beide Figuren bereit«  alle Charaktermerkmale des Rubenscheti Stils tragen: «leurs forme» sunt prasse», leurs chairs roses et brillantes». Maria allein hat eine ruhigere und suruckhaltcnderc («modeste») Miene als in den späteren Werken.



- 374 —


.sprünglichen, unmittelbaren, erotischen Kindruck legen — wir brauchen das Wort «erotisch» in seiner weiteren Bedeutung, — den er in seinen ersten Jugendjahren, ehe wir als Maler etwas von ihm kannten, von den Menschen seiner eigenen Natio- nalität empfangen hat. Dieser Kindruck hat seiner Auffassung den Stoss gegeben, der für seine ganze Richtung bestimmend werden sollte: seine Figuren sind und bleiben beständig der Rasse nach Nordländer. Cnd obwohl er schon als Knabe Page bei einer Kdeldame wurde und sein ganzes Leben lang sieh in der vornehmsten Gesellschaft der damaligen Zeit bewegte, war seine Auffassung des Menschen doch überwiegend demokratisch; er gelangt dadurch in einen Gegensatz zu den Venetianern, denen er sonst in so vielen Punkten so nahe steht, und von denen er so viel gelernt hat, und nähert sich mehr seinen Zeitgenossen, den Naturalisten in Italien und Spanien (Caravaggio, Ribera, Velasquez). Sein Typus ist aus den kräftigen, wohlgenährten, fetten, blonden niederländischen Gestalten hervorgegangen, die an plumpe Arbeit oder an Stillsitzen gewöhnt sind, die viel Butter essen und viel Bier trinken, deren durch warme Kleider beschützte Haut weich und weiss ist, die sich derbe und ausgelassen tummeln, dabei aber klotzig und ungeschlacht sind, und deren Formen nie im ge- ringsten durch irgend eine methodische Körperübung geschult sind. Man erkennt das Bauernmädchen oder die kleinstädtische Frau in seinen Heldinnen aus der Mythologie oder seinen Schönheiten aus dem Alten Testament, und den Knecht, der hinter dem Pfluge hergeht, in seinen Göttern und Helden wieder, sowohl was die Formen als auch was die Gebärden anbetrifft. Auch in seiner subjektiven Auffassung der nor- dischen Rasse erkennt man Züge wieder, die der Kunst der nordischen Lande eigen- tümlich sind. Sein scharfer physiognomischer Blick kann oft an Dürer und an Holbein erinnern. Obwohl seine Auflassung der Form viel breiter ist als die Dürers, hat eV doch so wie dieser zuweilen eine gewisse Lust, auf eine charakteristische und aus- drucksvolle Unregelmässigkeit in der Form Wert zu legen, z. B. auf eine Schiefheit in den Gesichtszügen, und die Abweichungen von dem Gewöhnlichen und Architek- tonischen in dem Bau und den Linien des Körpers hervorzuheben. Dass die Linien der Beine, namentlich bei stehenden Figuren, sich kreuzen, dürfte bei Rubens — wie bei Lukas Cranach — ein häufiger vorkommender Zug sein als bei den italienischen Künstlern.

Aber Rubens menschliche Gestalt kann keineswegs als realistische, wenn auch hastig aufgefassle Wiedergabe des nordischen Typus gelten. Sie ist als Ideal gedacht, und die idealisierenden Klemenle in ihr sind wesentlich eine Folge des Kinflusses italienischer Kunst, zuerst mittelbar dann unmittelbar. Während seines Aufenthalts in Italien hatte er seinen festen Aufenthalt um Hofe der Gonzagas in Mantua, die ausser den grossen Freskengemälden von Giulio Romano und Mantegna eine sehr reich aus- gestattete, hervorragende Galerie besassen. Der Hof hatte auch viel Interesse für Kunst, aber auf oberflächliche und frivole Weise, und benutzte diesen grossen Genius zum Kopieren von italienischen Gemälden  ; damit ging der grösste Teil seiner Zeit in Italien hin. Kr kopierte in Mantua Bilder zu Geschenken an fremde Herrscher und Bilder aus dem übrigen Italien für die Galerie in Mantua. Von diesen Kopien wurde



- 375 —

sicher keine objektive Treue des Stiles verlangt, dahingegen Schnelligkeit und ein guter malerischer Griff und wer hätte sich darin mit Hubens messen können  ? Hubens musste sich auf diese Weise notgedrungen ein gewisses oberflächliches Re- sultat der ganzen grossen italienischen Malerei aneignen, ohne eine strenge Son- derung zwischen den verschiedenen künstlerischen Elementen, die so in seinen Pin- sel übergingen. Ausserdem sah und kopierte er auf eigene Hand. Kr hat nach Michel Angelo, Leonardo da Vinci, Haffael und Primaliecio 1 gezeichnet ; den Kinfluss von Giulio Homanos Stil spürt man in mehreren seiner Figuren (verhältnismässig schmäh? Körper und Hrüste zu den starken Gliedern); er hat mit seinem Pinsel RalTael, Cor- regio und namentlich Tizian kopiert, von dem noch mehrere Kopien von Rubens Hand erhalten sind. Endlich kam er auch in Berührung mit der antiken Kunst und gewann das lebhafteste Interesse für dieselbe. Aber er hat trotzdem die Kunst ebensowenig studiert, wie er die Natur studiert hat. Nichts ist deutlicher zu er- kennen als Rubens Hand, auch da wo er kopiert ; inwiefern er sich selber mehr Tizianisch machte, indem er Tizian kopierte, ist nicht so klar ersichtlich wie dass er Tizian Rubensisch machte. Seine ursprüngliche Auffassung von dem Leben und dem Menschen macht sich überall überwiegend geltend, und seine mächtige Natur war und blieb weit produktiver als rezeptiv. In Horn geriet er zu Anfang des siebzehn- ten Jahrhunderts mitten hinein in den Kampf zwischen den Eklektikern (den Cara« eis und ihrer Schule) und Caravaggios neuem Naturalismus. Er konnte sich gewisser- massen mit beiden Parteien gut stellen. Er scheint von Caravaggios kräftigem Wesen angezogen zu sein; schon Sandrart hat bemerkt, dass er von dieser Seite in hezug auf die Farbe auf seinen früheren Bildern beeinllusst ist (der gelbere Lokallon und die dunkleren Schatten). Trotzdem war er ja auf seine Weise in weit grösserem Umfange Eklektiker als vielleicht irgend ein anderer, aber so, dass er es mehr als jeder andere verstand, alle die verschiedenartigen Bildungsclemente allein dazu zu benutzen, dass sie seiner eigenen Individualität erhöhten Glanz und Kraft verliehen.

Von der italienischen Renaissance hat sich Rubens alles angeeignet, was dra- matisch, nachdrücklich und ausdrucksvoll ist, alles, was stark und energisch, kidin und übertrieben in Form und Bewegung, alles, was prächtig und farbenreich in male- rischer Wirkung ist, kurz: alles Superlativistische. Man kann nicht im Einzelnen nach- weisen, was er von jedem einzelnen Künstler gelernt hat, aber es lässt sich im

> Rubens italienische Studienzeichnungen befinden sich jet/.t hauptsächlich in der Louvre- Sammlung. Darunter eine durchgeführte Zeichnung von Leonardos später verschwundenem Karton des Rettorgefecht«  bei Anghiari; Rubens Zeichnung und Edelincks Stich nach derselben bilden jet/.t unsere Quelle für die Kenntnis von Leonardos Komposition (Fig. Tili). Ausserdem Michelangelos Propheten und Sibyllen (der Prophet Daniel scheint in der weiten Entfernung dem Auge Rubens wie eine Frau erschienen zu sein). In der Louvre-Sammlung finden wir auch eine Koniposiüon von Rubens selber, Christi Taufe, die ganz michclangelesk ist [wiedergegeben in der Gazette des beaux Arts, lS4i7, I, S. 309). Auf einer kleinen, frischgemalten Skizze zu einer Deckenmalerei, der Wagen des Sonnengottes, umgebeu von den nackten Hören, ganz d i s o t t o in s ü komponiert (in der Suermondtalen-Sammlung im Berliner Museum', spürt man auch sehr stark die michelan- gelcskeo Studien.



- 376 -


wesentlichen auf die beiden Hauplelemente des italienischen Figurenstils zurückführen: auf Michel Angelos Form und Tizians Farbe.

Von Michel Angelo und seinen Nachfolgern lernte er seine starken und korpu- lenten niederländischen Gestalten noch stärker und korpulenter machen, und aus sich selbst heraus unterstrich, karikierte er den wogenden Umriss der Form noch mehr und fügte gewisse ihm ganz eigentümliche Züge hinzu, namentlich die starke Krümmung des Schienbeins und die sehr einwärts gebogenen Kniee, — beides trägt dazu bei, seiner Figur ihren äusserst barocken Zuschnitt zu verleihen. Ferner lernte er das zügellose und ganz unrhythmisehe sich Tummeln und Wälzen in der Bewegung, was für die italienische Renaissance des sechzehnten Jahrhunderts so charakteris- tisch werden sollte. Auch das trieb er mit einer gewissen leidenschaftlichen Vorliebe auf die Spitze und vorlieh ihm einen eigenen Zusatz in der niederländischen Korpu- lenz des Figurenstils, der ihm in höherem Grade eigen ist als den meisten seiner Lands- leute. Man denke an die zusammengefilzten Knäuel von menschlichen Körpern auf Fig. im. seinem Bilde vom jüngsten Gericht (in der Pinakothek in München), an das Fig. i5s. wilde Getümmel auf seinem Bilde von Kastor und Follux, die Leukippos Töchter rauben (ebendaselbst), auf dem Bauernfest im Lonvre, auf den Bildern von Satyren, die Nymphen verfolgen, oder von Clölia, die sich mit ihren Mägden in den Fluss stürzt (Dresden), und auf vielen andern. Ja, selbst bei seinen ruhigen Fi- guren fühlt man, dass eine rhythmische Bewegung ihnen eine Unmöglichkeit sein würde, man denke sich seine Grazien (in Madrid und Stockholm) tanzend — das würde ein höchst ungraziöser Anblick sein! Zuweilen scheint es ihnen sogar schwer zu werden, natürlich zu gehen ; bei dem heiligen Sebastian (in Berlin] z. B., — einer sonst hervorragenden Figur — würden, falls sie sich in Bewegung setzte, die schwe- ren Füsse mühselig auf der Erde watscheln.

Sicher ist, dass Rubens in bezug auf die starken Bewegungen wesentlich von Michel Angelo beeinflusst worden ist, aber diese haben doch eine sehr verschieden- artige Bedeutung für die beiden Künstler. Für Michel Angelo waren die Probleme in der Mechanik des Körpers gegeben, die durch das klarste und bestimmteste Ver- ständnis des Knochenbaus und Muskelspiels gelöst werden sollten ; seine Form ist bei all ihrer Grösse so unübertrefflich fein und gründlich, weil er selber der Entdecker dieser Form ist. Rubens fand diese Arbeit fertig vor, ihm bot sie keine Probleme mehr. Ihm lag überhaupt der innere, organische Bau des Körpers nicht am Merzen : wie oft findet man nicht z. B. einen Arm von ihm so gemalt, dass er aussieht wie ein Holzklotz, der von aussen mit saftigem Fleisch und Fett bekleidet ist! Wo haben seine verrenkten Handgelenke und Ellenbogen in der Natur ihren Ursprung  ? Er lernte die Sprache der Form, wie er Latein oder Italienisch lernte, so dass er es mit grosser Fertigkeit sprechen und schreiben und alles ausdrücken konnte, was er sagen wollte, aber ohne besonderen Respekt vor Lexikon und Grammatik. Er verteilt Licht und Schatten mit überlegener Sicherheit, macht sich ohne die geringste Angst an die schwierigsten Aufgaben, — /.. B. Verkürzungen — gibt überhaupt immer ein ganz bestimmtes Bild von einer Form, eine andere Frage aber ist es, ob die Form



— 377 —


wahr, geschweige denn, ob sie schön ist. Wohl hat er, der ja überhaupt konnte, was er wollte, einzelne wirklich vornehme und vorzügliche Formpartien gemalt, so den Über- körper von Christus, der sich dem Thomas offenbart (Antwerpen), einzelne sogar sehr feine und vollendete, wie den Kopf — namentlich Stirn, Nase, Wangen — und die Hände auf dem Porträt des Abtes lrselius, aber solche Partien sind selten: P>r <«  in der Regel sind nicht einmal seine Porträthüpfe so korrekt gezeichnet, wie z. B. die des Velasquez*. In der Regel fühlt man sogar schon an dem Gang der Linien in sei- nen Figuren, wie er der Hand und dem Pinsel die Zügel schiessen lässt, «die Manier» in des Wortes wahrster Bedeutung.

Das Resultat, das Rubens aus der Bewegung zieht, betrifft, im Gegensatz zu Michel Angelo, nicht so sehr die Form als den Stoff des Körpers. Infolge ihrer Korpulenz und zu reichlicher Rundlichkeit, die sich sogar auf die Gelenke des Körpers (Knöchel, Kniee, Ellenbogen, u. s. w.) erstreckt, fehlt der Oberfläche seiner Figuren die Klarheit und Deutlichkeil als Abglanz eines inneren organischen Baues, der erst recht das Interesse für die Form erwecken kann. Aber dieser üppige Stoff an sich interessiert ihn; insofern folgt er mehr Tizians Richtung, und wenn man einen ein- zelnen Künstler als seinen Vorgänger hervorheben will, so hat Tizian noch mehr Anspruch darauf als Michel Angelo. Aber selbst nach dieser Richtung hin Unter- streicht, karikiert er die Italiener: diese sind nüchterner in der Wiedergabe des Stoffes, feiner und bestimmter in der Angabe seiner Begrenzung; Rubens Figuren sind loser, feuchter in ihrer Komplexion, haben einen üppigeren Ueberschuss in allen Formen. Er kann sich nicht wie Tizian damit begnügen lassen, nur durch die Mittel der Farbe das ruhige, vegetative Leben in den Stoffen des Körpers zu verherrlichen ; er hebt den Stoff als etwas für sich hervor, fordert auf, ihn mit den Händen zu betasten, und feiert auf alle Weise die Orgien des animalischen Lebens, das Verlangen und Begehren, das iu den Säften siedet und die starken Bewegungen erzeugt, und die Bewegung, die wiederum das Leben des Stoffes erhöht. Hierin hat er mehr gemein mit seinem jüngeren Zeitgenossen Bernini als mit irgend jemand von den älteren Italienern; die ganze Richtung in ihrem Extrem gehört überhaupt dem sieb- zehnten Jahrhundert an, und Rubens ist ihr Hauptvertreter.

Rubens ist deswegen ein erklärter Liebling all der Form, die im Grunde keine Form ist, weil sie nicht von innen heraus bestimmt ist, sondern von aussen durch Druck, Klemmen, Falten der Stoffe hervorgebracht werden muss. Man sehe nur, wie die eine Grazie ihre Finger in den fetten Oberarm der andern hineindrückl! Wie die Viktoria (Dresden) ihren dicken Körper so wendet, dass die Oberflächen des Bauches und des Schenkels sich gegeneinander pressen! Eine solche Figur erinnert im Stil an diese dicken, gewundenen Säulen, die Rubens zweifelsohne aus der 'spätesten) antiken Kunst und von Raffael kennen gelernt hatte, die er aber mit offenbarer Vorliebe bei der Architektur seiner Bilder anwendet. Aber Rubens geht mit noch grösserem Uebermut auf das Animalische und Materielle los. Man sehe diesen Saturn in der Galerie zu Madrid, dies phantastisch gierige Ungeheuer, das mit seinen Zähnen das Fleisch des kleinen Kindes zerreisst, während die plumpe Begehrlichkeit aus



— 378 -

dem Vornüberbeugen des Körpers und der Stellung der Heine mil den gekrümmten Fi*. 157. Knieen spricht! Oder den grinsenden Neger in Silens Gefolge, (auf dem Ge- mälde in München), — eine mehr venetianische als antike Mythologie, — der seinen Scherz mit dem betrunkenen Alten treibt, indem er in die Haut seiner schwabbeligen Lende greift und daran herumzerrt zur höchsten Wonne der Satyren, die ihm folgen! Dies Bild ist eins der glänzendsten und genialsten, die Hubens gesehalTen hat, ein von Uebermut wiederhallender Dithyrambus zu Khren der Säfte des Körpers, die hier freilich einen starken Zusatz von Wein erhalten haben. Der nackte Silen erinnert an alle die zärtlichen Kosenamen, die Shakespeare Prinz Heinrieh seinem alten Freund John FalstalT zuerleilen lässt: dieser Wein-Ohsenkopf, dieser Fest-Ochse mit Hudding gestopft u.s.w. u s. w. An der Krde im Vordergrunde liegt vornübergebeugt eine völlig betrunkene Mänade, die ihrem hoffnungsvollen Kinde die Hrust reicht, dieses liegt ebenfalls an der Erde und füllt sich mit weinhaltiger Milch, eine Ernährung, die seinein Körper das unbestimmte Aussehen eines kleinen Menschenklumpen gibt.  »Uns ist ganz kanibalisch wohl, als wie fünfhundert Säuen.» Den Rausch der Wollust, seine stärkste Begierde hat Hubens in einem andern Hilde in München gemalt, wo der Satyr die Nymphe belastet. Hubens war ein guter Katholik, der jeden Tag mit dem Anhören der Messe begann, aber niemand wird doch dergleichen Uilder als Illustra- tionen zu dem kirchlichen Begriff von den Lastern der Völlerei, der Wollust oder der Trunkenheit aufTassen. Sie sind Produkte eines ganz offenherzigen, aber zugleich ein wenig spielenden humoristischen Humanismus. Rubens' grosse, gesunde, liebens- würdige, nordische Gesinnung schlägt über die Stränge, ohne dass jedoch jemand auf den Gedanken kommen könnte, Anstoss daran zu nehmen. Das hatte er vor Hernini und vor den meisten Zeitgenossen in Italien voraus, wo man sich durch den Humanismus nicht mehr so recht befriedigt fühlte.

Wie weit sich Hubens in Wirklichkeit von Tizian entfernt hatte, trotz der ge- meinsamen Grundrichtung, und obwohl er ihn vor allen andern kopierte und studierte, kann man in den Einzelheiten genau abmessen, wenn man Hubens Kopieen und Ti- zians Originale vergleicht. Die Galerie in Madrid bietet hier den Vorteil, dass sie- im Besitz von Titians Bild vom Sündcnfall (Fig. IX)): Eva, die die Frucht pllückt, und Adam, der sie warnt, — und von der Kopie ist, die Rubens während seines zweiten Aufenthalts in Madrid, 1028 — 2!),' danach ausführte, also zu einer Zeit, wo sein«' eigene Entwicklung sich schon lange ganz befestigt hatte.' Strenge genommen ist Hubens Adam ganz und gar nicht nach Tizians Adam kopiert : es ist eine freie Bear- beitung, nach jeder Richtung hin in Hubens eigenem Stil gemall  ; den dramatischen Ausdruck in der Figur hat der flandrische Muler hervorgehoben und eindringlicher und augenblicklicher gemacht. Eva ist dagegen auf Hubens Bilde wirklich  ;ds


1 Alfrod Mieliiols : Huben» et l'ecole d'Anvers, S. .'tl.r>.

  • Die etwas mangelhafte Erhaltung vun Tizians Gemälde, vun dem übrigens Crowe und

Uavalcascllo in ihrem Werk vun dem Künstler eine gan» übertriebene und irreleitende Beschreibung geben, wird in der Madrider Galerie gut gemacht durch den reichen Eindruck, den man im übrigen von Tizians Figurcnsul erhält.



- 379 -


Kopie beabsichtigt; um dieser Figur willen hat Ruhens die Arbeit gemacht, und sie ist auf Tizians Bilde auch unbedingt das beste. Aber Rubens hat die Figur ein wenig kürzer und plumper gemacht, die Arme ein wenig stärker, obwohl sie schon bei Tizian voll genug sind. Ueberall machen sich die Einzelheiten der Form hei Rubens mehr gellend und sind ausdrücklicher hervorgehoben: eine ganz grosse Form bei Tizian teilt er mit grosser Weisheit in viele kleinere ein. Dies beruht wohl darauf, das» er auch ein wenig bei den Meistern in die Schule gegangen ist, deren Vorzug die Analyse der Form war; aber diese vielen Nebenformen und Falten auf der Ober- fläche lassen seine Figur fetter, schlaffer, älter erscheinen, während Tizians Eva, so üppig und mächtig sie auch entwickelt ist, doch viel mehr von der jugendlichen Festigkeit und Strammheit der Form hat. Ein ähnlicher Unterschied soll, wie man mir auf meine Anfrage mitgeteilt hat, zwischen Tizians schöner «Ariadne» auf dem Bacchanal zu Madrid und Rubens Kopie 'derselben Figur in Stockholm existieren ; eine so frische und jugendliche Form wiederzugeben, wie sie Tizian hier geschaffen hat, war für Rubens wohl eine Unmöglichkeit, selbst bei dem besten Willen. Nicht weniger charakteristisch ist der Unterschied zwischen den beiden Evas in bezug auf die Farbe. Tizians Karnation der ganzen Figur ist viel wärmer und einfacher und grösser durchgeführt. Dasselbe Verhältnis wird man überall wiederfinden, wo man Rubens Farbe des weiblichen Körpers mit der Tizians vergleichen kann: sie ist weisser, kühler, geht mehr auf das Blendende aus.' Durch den stärker accent liierten Ausdruck für die Form erhält Rubens mehr Verwendung für die Glanzlichter als Tizian: der kühlere Ton im Halblicht spielt eine grössere Rolle, die Reflexe sind lichter, klarer, transparenter und breiter als bei Tizian." Ueber Rubens Verhältnis zu Tizian und seiner Farbe gilt überhuupt etwas Aehnliches wie über sein Verhältnis zu Michel Angelos Form und Bewegung. Es setzt sich kühn hinweg über die Ver- tiefung in das Nuturstudium und seine zahllosen Probleme und macht sich ein Rezept für seine Karnation. Aber er ist doch weit mehr der Künstler des Kolorits als der Form, und wenn auch sein Rezept lange nicht so viel wert ist wie Tizians Farbe, so ist es doch ein Produkt der ausserordentlichslen malerisch-praktischen Genialität, eine ganz selbständige und eigentümliche Verherrlichung eines Fleisches, das nie einen andern Zustand als das üppigste Wohlsein gekannt hat, einer Haut, deren Zartheit


> Als hervorragende Beispiele für seine weiblichen Figuren will ich anführen : Andromeda im Isabellen-Saal zu Madrid, lebensfrohe Figur, und dasselbe Thema, aber ganz anders und in kleinem Massstab dargestellt, in der Berliner Galeric; die letztgenannte Andromeda ist vielleicht die leichteste, zarteste und blendendste Figur, die er gemalt hat. Ausserdem Kallisto in der Ga- lerie za Kassel (aus seiuer früheren Zeit, ziemlich jungfräulich und ziemlich michclangclcsk tu der Form), die drei Göttinnen auf dem «Urteil des Paris» in der National-Galcrie zu London (Skizze zu Dresden). Kleine entzückende Figuren von rührenden Nymphen in München. Ich hebe hier nur das hervor, was mir als das Vorzüglichste vorschwebt. Im übrigen beziffert sich die Zahl nach Le- gionen.

  • Will mau den Vergleich zwischen den beiden Bildern etwas weiter ausdehnen als auf die

Figoren, z. B. auf die Pflanzenform, so wird man einen starken Eindruck von Tizians Uebcrlegeii- heit in bezug auf Feinheit und Wahrheit des Naturstudiums und von Rubens fluchtigerem, mani- riertcrem Wesen erhalten



— 380 -


nie durch Schmutz verdunkelt worden ist. Er liebt wohl ebenso wie Tizian da.«  breite, klare, volle Tageslicht, das die Lokalfarbe, die Farbe des Körperstoffes, positiv vor das Auge treten lässt, aber er konzentriert doch das Licht ein wenig stärker, namentlich auf den Kopf und den Oberkörper und liisst mit Vorliebe die unteren Partien der Figuren in einem Halbschallen sehen. Die stärkeren Bewegungen und die mannigfaltigere Form hatten nicht nur mehr Glanz auf der Haut im Gefolge, sondern auch viel mehr Schatten ; er kann weniger als Tizian den Schatten entbehren, aber infolge seiner Tendenz, den Stoff zu verherrlichen, macht er ihn farbenreicher als irgend ein anderer^ Maler. So wird die Tonfolge in seiner Karnation, der Leber- gang von dem höchsten Licht zu Schatten und Reflex, in der Farbe stärker gebrochen, deutlicher variiert als bei den Venetiancrn, und er hat eine ausgeprägte Tendenz, für alle Töne im Uebergang so reine und strahlende Farben wie nur möglich zu wählen mit Ausnahme der neutralen, geschweige denn der schmutzigen.1 Die Glan zli ch ler setzt er fett mit einer blendend gelblich-weissen Farbe auf, die übrigens häufig der Haut einen gewissen Charakter von Atlas oder poliertem Metall, Kupfer oder Messing verleiht. Diese starken und reichlich angewendeten Glanzlichter tragen auch mehr als alles andere dazu bei, den Kupferstichen von Rubens selber wie auch von der Reihe ausgezeichneter Künstler, die sich ihm anschlössen (Pontius, Vorstermann. Holswert u. s. w.) ihren eigentümlichen, prachtvollen, malerischen Charakter zu ver- leihen. Der Lokal t on der vollbeleuchleten Partien des Körpers ist rötlicher, indem das Blut hindurchschimmert, ohne dass irgend welcher Glanz auf der Haut die Wir- kung davon beeinträchtigt; er ist von frischer und häufig überraschend wahrer Farbe, und namentlich auf ihn muss man wohl Guido Renis Kompliment zurückführen, dass Rubens Blut in seine Farbe zu mischen scheine — eine Eigenschaft, deren man Guido Reni selber sicher nicht beschuldigen könnte. Die kühleren Mitteltöne im Uebergang zwischen Licht und Schatten haben bei Rubens ungewöhnlich zarte Farben, häufig wie ein feiner, stark bläulicher Rauch. Dann folgt der schmale tiefste Schatten mit einem warm bräunlichen Ton, der im Verhältnis zu den Lichtpartien sehr dunkel wirkt, und endlich das breite Reflex licht, bei dessen Behandlung Rubens wie bei dem Mittelton häufig ganz auffallend von dem Herkömmlichen ab- weicht, indem er, auch ohne dass er durch die Umgebungen der Figur motiviert ist, sie mit den feurigsten, transparenten roten Tönen illuminiert, die ausserordentlich zu der Prachtwirkung des Ganzen heil ragen, freilich aber auch, wenn sie missbraucbl werden, einen falschen, juwelen- oder glasartigen Effekt hervorrufen können. Winckelmanns interessante Beobachtung,* dass Rubens Fleischfarbe der Röte eines Fingers ähnelt, den man gegen die Sonne hält, bezieht sich wohl im Grunde haupt-

> Bei der nachfolgenden Analyse hatte ich namentlich vor Augen seine Figur de«  Christo», der zusammen mit Maria sich einem knieenden Mönch (St. Franziskas?) offenbart; das Gemäld«  befindet sich in der St. Fernando Akademie in Madrid. Sowohl was Form als was Farbe anbelangt, bietet es ein höchst lehrreiches Stadium. — - Aber was es lehrt findet natürlich in weit grosseren Umfang Anwendung.

a Von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst und dem Unterrieht in der- selben, Dresden 17IJ3. (Werke herausgegeben von C. L. Fernow, II, 4'20).



381 -


sächlich auf seine Behandlung des Reflexes, in dem das Licht sich häufig mehr als durchschimmernd denn als reflektiert ausnimmt. Ueberhaupt ist wohl Rubens Auf- fassung der Karnation bis zu einem gewissen Grad von der Wirkung bestimmt, die der nackte Körper ausübt, wenn er sich in vollem Sonnenlicht bewegt ; dann entfaltet er ja auch seinen gröbsten Glanz uml seine höchste Pracht in der Farbe. Doch gibt Rubens Farbe keineswegs ein realistisch, genau oder konsequent durchgeführtes Bild dieser Wirkung; es ist nur die Rede von einem Eindruck, der sein Auge beein- flusst hat. Er benutzt alle Elemente von Pracht, wo sie sich ihm auch darbieten, ohne allzustrenge zu fragen, ob sie sich mit innerem logischen Zusammenhang ver- einigen lassen.

Alle diese klaren Farben stellt Rubens frei und frank mit dem ihm eigentüm- lichen Pinselslrich nebeneinander, bei der Modellierung der einzelnen Formen wie . des ganzen Körpers. Man hat zuweilen den Eindruck, dass er das Fleisch und die Haut des Körpers auf seiner Palelte zurechtgemacht und es von da direkt auf die Leinwand übertragen hat, — im Gegensatz zu Tizian, der in der Regel gerade erst auf der Leinwand selber alle seine feinen Töne zu einem wahren Mysterium für das Auge zusammenarbeitet, das von weitem den gesamten Farbeneindruck auf- nimmt und erst bei näherer Untersuchung ahnt, aus welchem Reichtum es in je- dem einzelnen Punkte besteht. Die Venetianer geben mehr einen Eindruck davon, wie das Licht von dem Stoff des Körpers eingesogen wird, Rubens lässt es mehr von der Oberfläche zurückwerfen, seine Wirkung kann zuweilen hart und grell werden. Und selbst wenn er in seiner Jugend etwas von Caravaggio lernte, entwickelte er doch allmählich den stärksten Gegensatz zu ihm  : während dieser mit schonungs- loser Wahrheitsliebe die prosaische Wirklichkeit in Form und Farbe herausbringen will, legt Rubens alles darauf an, den Eindruck des menschlichen Körpers fest zu einem Ganzen zu gestalten.

Ein Schriftsteller, der seinen kräftigen und farbenreichen Stil selber nach Ru- bens Palette gebildet zu haben scheint, und der sein eifriger, aber einseitiger Bewun- derer ist, nämlich Taine, hat mit treffender Wahrheit geäussert,1 dass er mehr als jeder andere das Fleisch als veränderliche Substanz schildert, die unablässig im Be- griff ist, sich zu erneuern, was auch besser zu dem lymphatischen, blutreichen, gierigen Körper der nordischen Niederländer passt, als zu den trocknen Fibern und der natürlichen Nüchternheit der Südländer. Taine hebt hervor, dass niemand ein so treffendes Bild wie Rubens von der Blüte des Lebens und von der Auflösung des Lebens in ihrem Gegensatz zu einander gegeben hat, und rühmt mit Recht seine Schilderung der Leiche mit ihrer bleichen, bleiartigen Farbe, ihrem geronnenen Blut und stockenden Säften, ihrer schlaffen, schwerfälligen Form mit den Kenn- zeichen des Leidens, einem im Mundwinkel sitzen gebliebenen Blutklumpen, mit den glasartigen Augen, mit todfarbenen, angeschwollenen, entstellten Händen und Füssen, die dem Tode früher zu Raub gefallen sind als alles Uebrige. Unter einer ausser-


1 Philosophie de l'art dans les Pays-baa, Paris 1861», S. IXt.



- 382 -

-

ordentlichen Menge von Beispielen für seine Meisterschaft in der Darstellung der [.eiche kann man vielleicht namentlich hervorheben «le Christ ä la paille» im Mu- seum zu Antwerpen. Im Gegensatz dazu vergisst Taine auch nicht, die kleinen Fi» ir*. K i n der g estal t eu auf Rubens Bildern hervorzuheben, die ja auch durch ihre appetitliche Frische und pralle Rundlichkeit vorzüglich mit seinem malerischen Ge- schmack übereinstimmen müssen. Doch will es uns scheinen, als habe er den Kirrder- kürper reichlich als delikate Speiseware gemalt, und als ob das vorzüglich gemalte Bild in der Louvre-Galerie, wo man die Madonna von einer dichten Kinderschar umringt sieht (die heiligen kleinen Märtyrer aus Bethlehem), in der Entfernung ein wenig an das Schild eines Fettwarenhändlers erinnerte. Ganz sicher war Rubens, wie Taine bemerkt, in bewunderungswürdigem Masse Herr über den Gegensatz zwischen dem Bilde des Lebens und des Todes, und man kann hinzufügen, das» er es auf die genialste Weise verstanden hat, den Uebergang von dem Zustand des Lebens zum Tode in der Farbe der Figur des auferweckten Lazarus (in der Berliner- Galerie) darzustellen, aber man kann auch nicht umhin zu bemerken, dass er zu- weilen gänzlich den Uebergang zwischen Leben und Tod vergessen konnte. Sein Sebastian (in derselben Galerie) hat, wenn auch sterbend und ganz von Pfeilen durchbohrt, die blühendste gesunde Fleischfarbe.

Doch, wir wollen uns nicht mit Ausnahmen aufhalten, sondern Taine, der je- denfalls das grosse Verdienst hat, dass er die Kunst von wesentlichen Gesichtspunk- ten aus aulTasst, willig einräumen, dass Rubens wirklich in bezug auf diesen Punkt ein unübertrefflicher Meisier ist. Aber wir müssen doch auch fordern, dass das, was das Vorzügliche und Eigentümliche an Rubens Schilderung des Menschen ist, seinen rechten Namen erhält und in seiner rechten Begrenzung aufgefasst wird. Taine will behaupten, dass Rubens, kraft der von Taine selbst hervorgehobenen Eigenschaft, .besser als irgend ein anderer den wesentlichen Charakter des organischen Lebens . verstanden hat, dass er in diesem Punkt die Venetianer übertrifft, wie wiederum diese die Florentiner übertreffen», und dass des Künstlers grossartiger Blick für das Momentane im Seelenleben seiner malerischen Psychologie einen einzig in seiner Art dastehenden Wert verleiht. Nein, gerade nicht in dem organischen Leben hat die Auffassung Rubens ihre starke Seite, sondern viel mehr indem chemisch- animalischen Leben in der Substanz; dieses feiert, entfaltet, erhöht, potenziert er, und die potenzierte Wirksamkeit desselben wirft ihren Glanz auf die seelischen Aeusserungen seiner Gestalten. Dies ist seine ungeheure Einseitigkeit, und weil Taine vielleicht selber eine besondere Sympathie dafür hat, hat er doch nicht das Recht, sie zu mehr zu machen, als sie ist. Und selbst in der Durchführung dieses Programms ist Rubens — was Taine mit keinem Wort erwähnt — flüchtig, manieriert, oberflächlich, wenn auch immer genial. Er gehört zu den grossen Männern der Kunst, die im Besitz eines eigentümlichen Menschenbildes gewesen sind, aber sein Mensch ist ihm keineswegs eine so wichtige Aufgabe für die künstlerische Darstellung gewesen, wie es der Mensch der Griechen oder der älteren Italiener oder gar der italienischen Naturalisten für diese gewesen ist. Er hat etwas von der



- 383 -

flüchtigen Natur einer farbenslrahlenrlen Seifenblase. Bei all der ausserordentlichen primitiven Kraft seines Genies merkt man doch, dass er einem Zeitalter angehört, wo das humanistische Interesse kurz vor dem Punkte der Erschöpfung stand, und er gehört einer Nation an, die sich das wohl aneignen könnte, aber doch, wenn sie ihr Ideal realisieren sollte, die prachtvollen Federn mit denen sie sich schmückte, von den Italienern entleihen müsslc.

Dass Kubens selber bescheidenere Vorstellungen darüber halte, was ihm zu geben gelungen war, geht aus einigen uns erhaltenen Aeusserungen von seiner Hand über das Verhältnis zwischen der Bildhauerkunst, namentlich der antiken, und der Malerei hervor, und zwar ergeht er sich hier gerade über die Behandlung der menschlichen Figur. Die grösste und wichtigste dieser Aeusserungen ist aufbe- wahrt in de Piles' Cours de peinture par prineipes, das zum ersten Mal im Jahre 100X1 in Paris erschien. Ich gebe hier nicht das ganze Stück wieder (der Text ist auch an einzelnen Stellen ziemlich dunkel), sondern hebe nur das Bedeutendste seines Inhalts hervor.

Der Aufsatz enthält weder in seiner Ueberschrift (de imitatione statuarum) noch in seiner ersten Partie irgend eine bestimmte Andeutung darüber, dass Kubens bei seinen Aeusserungen die Antike allein vor Augen gehabt hat  ; diese können hier auf alle Fälle auf die Bildhauerkunst in grösserer Allgemeinheit bezogen werden. Er geht nämlich davon aus, das Gefährliche, ja Verderbliche hervorzuheben, das für den Muler darin liegt, wenn er beim Studium von Skulpturwerken keinen gehörigen Unterschied macht zwischen dem Stoff und der Form, zwischen dem Stein und der Figur, zwischen dem Marmor als notwendig gegebenes Material und der eigentlichen Kunst des Bildhauers. In dieser Warnung erkennen wir so recht den grossen Muler der Stoffe des menschlichen Körpers ; und wenn er darüber klagt, dass Anfänger bei dem Studium namentlich weniger hervorragender Skulpturwerke sich oft nichts weiter aneignen als etwas gewisses hartes, scharf Begrenztes und Beschwerliches in der Form, und eine unkleidsame Anwendung der Anatomie, dass sie ihre Farben an-

' Oeuvres divers de M. de Piles, II (Amsterdam. Leipzig, Paris 1707) S. 127 etc. T>o Piles teilt Rubens originellen Text lateinisch und eine französische Uebersetzung und Umschreibung mit. — Ungefähr die erste Hälfte des Stückes ist von Waagen in seiner Abhandlung über Kobens, in Raumers Historischem Taschenbuch 18.'J3 auch deutsch wiedergegeben. Warum Waagen gerade in der Mitte stehen geblieben ist, ist nicht recht zu begreifen, da das Eigentümlichste erst am Schlüsse kommt. Waagen verteidigt übrigens, und sicher mit Fug und Recht, die Echtheit des Stückes gegen ganz unberechtigte Angriffe; ein Nachahmer würde gerade vor den inneren Gegensätzen in Rubens Geist, die das Stück offenbart, die aber keineswegs unvereinbar mit dem menschlichen Charakter sind, zurückgeschreckt sein.

Ausser diesen theoretischen Betrachtungen hat man ein Werk : Theorie de la figure humaine etc., traduit du latin de P. P. Rubens, avec XLIV planches d'apres les dessins de ce celebre artiste ; Paris 1773. 4ft. Leider befindet sich dies Werk in keiner öffentlichen Bibliothek in Kopenhagen, weder in den grossen universellen noch in den speziellen. Waagen, der den Titel citiert, verrät nicht, dass er mehr als eben diesen davon gekannt hat. Die Blätter der Rubenschen Studien, die Paul Pontius gestochen hat, kenne ich ebenfalls nicht Indem ich diese Lücke in meinem Wissen bedanre, muBB ich doch hervorheben, dass der Anblick und das Studium von vielen hunderton von gemalten und gezeichneten Figuren ans Rubens Hand eine sichere Auffassung begründen müssen, selbst ohne volle Kenntnis seiner theoretischen Betrachtungen.



wenden, um Marmor statt Fleisch zu malen, — so müssen wir anerkennen, das.«  diese Vorwürfe mannigfache Anwendung auf die ältere und zeitgenössische nieder- ländische Malerei gehabt haben; erst Rubens lehrte seine Landsleute Fleisch malen. Er hebt den Unterschied hervor, der zwischen dem Marmor und dem wirklichen Körper besteht, sowohl in bezug auf die Wirkung des Schattens wie des Lichtes: wie ein scharfes Licht auf dem weissen Marmor den Formen der Oberfläche ein weit stärkeres Relief verleiht und jedenfalls sehr viel mehr blendet, als da, wo das Licht auf den Körper selber fällt: wie das Fleisch, die Haut und die Knorpel durch ihre Un- durchdringlichkeit für das Licht die Schatten mildere, die auf dem dichten und harten Stein viel schwärzer erscheinen. Ferner, dass man in der Natur gewisse weiche, volle Partien 1 findet, die sich je nach der Bewegung verändern, und sich infolge der Ge- schmeidigkeit der Haut bald mehr ausgeglättet, bald mehr zusammengepackt zeigen. Partien, die von weit grösserer Bedeutung für die Malerei sind (die sie jedoch mit Massigkeit darstellen soll) als für die Skulptur, obwohl man findet, dass gerade die hervorragendsten Bildhauer sie zuweilen verwendet haben.

In all diesem spricht Rubens ganz aus dem Geist heraus, in dem seine eigenen Bilder gemalt sind, und hebt gerade seine eigenen wichtigsten Charaktermerkmale hervor, die farbenreiche Lichtbrechung auf dem lebenden Stoff und die leicht gleitende, bewegliche Oberfläche. Aber auf der andern Seite räumt er auch ein, ja verlritt sogar die Ansicht, dass der Maler, wenn er nur richtig zwischen Stoff und Form zu unter- scheiden vermag, die Statuen studieren soll, seinen Geist richtig von ihr durch- dringen lassen soll, ja, dass dies für die höchste Vollkommenheit in der Malerei notwendig ist. Und hierbei denkt er, — wie das aus dem Schluss der Abhandlung hervorgeht, — allein an die Antike. Und warum soll man denn die Antike studieren? Weil das Bild des Menschen, das sie uns zeigt, unendlich vollkommener ist als das, was wir in unserer Zeit im Leben sehen. Unser Geschlecht ist verringert, unser Geist ist flach, und es sind Zeiten der Verirrungen, in denen wir leben, verglichen mit dem heroischen Geist und der Einsicht des Altertums. Wie ist es mit dem Menschengeschlecht ergangen? Ist unser Zeitalter von einem Nebel geblendet? Wird das immer schlimmer? Altert die Welt, wird das menschliche Geschlecht schwächer auf Grund eines unaufhaltsamen. Verfalles? War die Menschheit im Altertum der ursprünglichen Vollkommenheit näher, und konnte sie daher der Kunst ein Bild von Festigkeit und Zusammenhang bieten, das jetzt durch hinzugestossene Uebel ver- ringert ist, so dass nichts von seinem ursprünglichen Wesen zurückgeblieben ist? Ist die ursprüngliche Vollkommenheit auseinandergefallen infolge der Laster, die sie abgelöst haben? Wenn man liest, was die allen heiligen und weltlichen Schriftsteller von einem Zeitalter berichten, wo Heroen, Giganten und Kyklopen lebten, ist allerlei Grund zu der Annahme vorhanden, dass der Wuchs des menschlichen Körpers nach


' Rubens gebraucht den Ausdruck maccature. Das Wort ist nicht lateinisch, sonders Waagen leitet es sehr glücklich von dem italienischen macca: Menge, ücberfluss ab. Seine eigene, sehr wortreiche deutsche Uebersetzung des Wortes scheint mir jedoeh weder mit dem ita- lienischen Wort noch mit Rubens Aulfassung des Körpers in Einklang tu stehen.



- 385 -


und nach abgenommen hat; wenn sie auch allerlei Fabeln erzählen, so berichten sie doch zweifelsohne auch viel Wahres.

Ist es nicht sonderbar, Rubens, dessen Gedanken wir hier in der Hauptsache mit seinen eigenen Worten angeführt haben, von einem Art < Weltschmerz» ergriffen anzutreffen, ihn, die Hand unter dem Kinn, als Beute nagender Zweifel zu sehen : ob es nicht stark bergab geht mit dem Menschengeschlecht? In seinen Gemälden herrscht wahrlich kein skeptischer Geist vor; man kann sich keine künstlerische Physiognomie denken, die so von Gesundheit, von frischer und positiver Starrköpfigkeit strotzt, wie die seine. Noch auffallender wird der Unterschied zwischen seinem künstlerischen Stil und seinen Aeusserungen, wenn er fortfährt :

«Der wichtigste Grund, weshalb die Menschen unseres Zeitalters so verschieden von denen des Altertums sind, ist die Trägheit und die ganze Lebensweise, die nur darauf ausgehl zu essen und zu Irinken, ohne dass irgend welche Sorgfalt auf die körperlichen Uebungen verwendet wird. Dadurch wird der Bauch dick und hängend, eine Beschwerde für den Körper, indem die unablässige Gier ihn gefüllt hat, die Beine werden kraftlos, und die Arme werfen sich selbst ihren Müssigang vor.» Er äussert sich darauf über die Bedeutung der gymnastischen Ausbildung im Altertum, wie diese dazu beigetragen die bei der Bewegung untätigen Partien, namentlich den Bauch, zu vermindern, und dahingegen die aktiven zu vermehren und zu entwickeln, wovon man sich im Einzelnen überzeugen kann, indem man in der antiken Kunst wie auch im wirklichen Leben Figuren sehen kann, bei denen einzelne Glieder durch ununterbrochene Uebung eine besondere Entwicklung erhallen haben (die Arme der Gladiatoren, die Beine der Tänzer u. s. w.).

Wenn man zufällig diesen Bericht läse, ohne zu ahnen, wer der Verfasser ist, würde man da nicht weit eher auf den Gedanken kommen, dass er von einem Manne stamme, der der sogenannten klassischen Richtung aus dem Ende des achtzehnten (»der dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts angehöre, von einem Bundesgenossen Winckclmanns, Davids oder Thorwaldsen, der, indem er das Altertum auf Kosten der Jetztzeit pries, namentlich einen missbilligenden Blick auf Rubens Figurenstil würfe, als auf denjenigen, der in Sonderheit die Gebrechen der neueren Zeit zur Schau trug?

Nun muss man freilich darauf Rücksicht nehmen, dass der Gegensatz, den der Künstler mit elegischer Stimmung hervorhebt, nicht direkt der antiken und der modernen Kunst gilt, sondern vielmehr den Bedingungen, die da«  Leben im Altertum und zu seiner Zeit den Künstlern geboten hat. Während wir beim Lesen von Rubens Werken geneigt sind, jene allzu wohlgenährten Gestalten mit den dicken Bäuchen, den schlalfcn Beinen und den trägen Armen in Rubens eigenen Gemälden illustriert zu finden, ist es sehr wohl möglich, dass er gerade der Ansicht gewesen ist, in seiner eigenen künstlerischen Praxis den Bedingungen entgegengearbeitet zu haben, die ihm das Lebeu bot, — wo die Aufgabe es erforderte, ein veredeltes Bild des Menschen seiner Zeit gegeben zu haben Ausserdem muss man bedenken, dass die Vorstellung von der Antike für ihn einen etwas andern Inhalt hatte als für uns. Wenn wir an die Antike denken, tritt sogleich die reine und feine Form der höchsten

26



- 386 -

griechischen Kunst, in den Skulpturen des Parthenon, in dem Hermes des Praxiteles und der Aphrodite von Melos vor unser geistiges Auge: die kannte Rubens aber nicht, für ihn war die Antike vielmehr durch den schwerfälligen, kolossalen und übertriebenen Farnesiscben Herakles, den mächtigen Heraklestorso aus Belvedere, den effektvollen und blendenden vatikanischen Apollo, die Laokoongruppe mit ihrem heftigen, aufre- genden pathetischen Gefühl, oder durch die späteren Satyrtiguren repräsentiert. Von einigen von diesen Satyrgruppen wie auch von dem Farnesischen Herakles (Fig. 25) kann man bestimmte Nac hwirkungen bei Hubens spüren. Der Gegensatz zwischen der antiken Kunst und seiner eigenen ist also nicht so gross gewesen, wie er für uns ist, Huben* ist nicht imstande gewesen, ihn in seinem ganzen Umfang und seiner ganzen Tiefe zu ermessen. Aber er ist doch dagewesen, und er hat auch antike Werke gekannt, ja sogar sehr genau gekannt und lebhaft bewundert, in denen der Gegensatz zu seinem eigenen Stil so hervortritt, dass er sich dessen notwendigerweise bewusst geworden sein muss. Sein ganzes Künstlerleben hindurch war er ein eifriger und erfolgreicher Sammler allerlei antiker Sachen, und schon in seiner Jugendzeit sah er in Rom das damals kürzlich gefundene antike Gemälde «die Aldobrandinische Hochzeit-, das in der Welt der Künstler und der Gelehrten ein ausserordentliches Aufsehen erregte. Dies Gemälde, das freilich nur flüchtig und dekorativ behandelt ist, aber doch eine gute Vorstellung von der eigentümlichen Leichtigkeit des antiken Figurenstils, von seiner Würde und seiner feinen Anmut gibt, prägte sich derartig in Rubens Sinn ein, das? er «loch, nachdem er es zwanzig Jahre lang nicht gesehen hatte, in einem Briefe an seinen Freund Peiresc eine sehr deutliche Beschreibung davon geben konnte und, abermals mehrere Jahre später, ausserordentlich erfreut war über den Empfang einer kolorierten Zeichnung danach. Er hätte, schreibt er, kein Geschenk erhalten können, das ihm angenehmer wäre und besser mit seinem Sinn und seinen Wünschen über- einstimmte; und ^obwohl die Hand des Kopisten nicht hervorragend ist, hat er sich dennoch Mühe gegeben, das Original getreu nachzuahmen und hat sein Kolorit un<l seine Manier sehr gut wiedergegeben.»1

Dem Eindruck dieses Gemäldes und den Schlussfolgerungen, die man daraus ziehen könnte in bezug auf alles das, was jetzt verloren ist, schuldet Hubens wohl vorzugsweise seine hohen Begriffe von antiker Malkunst, denen er in einem an- deren bekannten Ausspruch, der uns von ihm erhalten ist, Worte verleiht. Der Philologe Franziskus Junius sandle Rubens seine gelehrte lateinische Schrift «über die Malerei der Alten >- und druckte bei der Herausgabe der Schrift einen Brief des grossen niederländischen Malers und Antiquars ab, den dieser in grosser Eile am 1. August 16.57 in Antwerpen geschrieben hatte. Rubens beginnt mit Dank- sagungen und Komplimenten, die sicher aufrichtig gemeint sind. Er fordert darauf den Verfasser auf, mit einer ähnlichen Darstellung der italienischen Malerei fort- zufahren, die den Vorzug habe, dass ihre Werke erhalten sind, dass man mit dem


• Gachet, Lettre«  infcdites de P. P. Rabens, S. 126. 275.

2 Fraacisci Junii, De pieturs veter um libri tres Ritrodami MDCXLIV.



— 387 —

Finger darauf zeigen und sagen kann : da sind sie. Denn die Lektüre von .lunius" Werk hat einen starken Eindruck bei ihm hinterlassen, wie unzulänglich das Wort ist, wo es sich darum handelt, die rechte Vorstellung von einem Kunstwerk zu geben. Ks geht mit solchen nur durch Worte ausgedrückten Vorstellungen wie es dem Or- pheus mit Eurydikes Bild erging: man greift dreimal vergebens danach, der Schatten entschwindet, und enttäuscht steht man mit seiner Erwartung da. Ich rede also aus Erfahrung — fährt er fort — «denn wenn man wirklich versuchen will ein berühmtes Werk von Apelles oder Timanthes, das uns Plinius oder ein anderer Schriftsteller beschreibt, auf eine dem Original würdige Weise wieder herzustellen wer von uns würde da nicht etwas ganz Geschmackloses hervorbringen, oder etwas, das auf alle Fälle von der erhabenen Grösse der Antike weit entfernt ist V Denn in- dem ein jeder seinem Genius folgt, bringt er an Stelle jenes alten Opimianischen Weines,' der Kraft und Süssigkeit verbindet, einen jungen, ungegohrenen Wein her- vor und beleidigt dadurch jene grossen Künstler, deren Vorbild ich mit der tiefsten Ehrfurcht verfolge, indem ich mich doch mehr dabei begnügen muss, die Spuren ihrer Fusslritte zu ehren, als dass es mir jemals auch nur mit einem Gedanken ein- fallen sollte, — ich bekenne das offen — dass ich sie erreichen könnte. >

Waagen, der stark hervorhebt, wie 'unendlich verschieden» Hubens Formgebung von der der Antike ist, fasst seine Aeusserung über die Kunst der Antike als Beweis dafür auf, dass Rubens «das Höchste war, was ein Künstler sein kann, nämlich ein Genie». «Denn so wie das Meer, wie gewaltig es auch von den Stürmen aufgeregt wird, doch in seinen Tiefen ruhig bleibt, so wird auch in dem künstlerischen Genie das leichtbewegliche Element der Phantasie durch lausende seine Natur ergreifende Motive zu den bewegtesten und leidenschaftlichsten Schöpfungen angeregt, während im Innersten des Geistes Klarheil und ungestörtes ruhiges Beschauen herrscht. Ebenso ist es ein besonderes Kennzeichen des Genies, dass es wohl von allem Ausgezeich- neten lebhaft angezogen und begeistert wird, ohne dass es sich doch in seinen eigenen Produktionen selbst von dem Allcrvortreffliehslen irreleiten lässt, insofern als es das seiner Eigentümlichkeit Fremde empfindet.. — Ich glaube nun allerdings nicht, dass man es auf dieser Erklärung beruhen lassen kann. Es ist freilich wahr, dass z. B. ein Dichter, dessen Poesie lauter Feuer und Flamme ist und von feuriger Lebenslust oder von Enthusiasmus überströmt, als Persönlichkeit nicht nur «ein vernünftiger Mensch», sondern auch eine stille, kontemplative Natur sein kann. Ueberhaupt ist die menschliche Seele voller Widerspruch, und das Genie am allermeisten. Aber es ist hier die Bede von zwei grundverschiedenen Idealen, von Grundauffassungen des Menschen, von denen wir die eine aus der Praxis des Künstlers, die andere aus seiner Theorie kennen. Es kann doch nicht ein besonderes Merkmal des Genies sein, dass seine Oberfläche eine Beute von Wind und Sturm ist und in Strömungen mit fortgerissen wird, von denen seine Tiefe nichts kennt; man sollte vielmehr


1 Der in Opimius' Konsulatsjahr gewachsene Wein wird von römischen Dichtern als Beispiel eines edlen alten Weins genannt



- 388 -

glauben, dass seine Bewegungen aus seiner eigenen Tiefe hervorgingen. Der Wider- spruch beruht hier gewiss darauf, dass zwei grosse historische Richtungen, von denen die eine aus der Vergangenheit hervorgegangen ist, während die andere auf die Zukunft hinweist, sich in Kubens Seele kreuzen — was ihn in Wahrheit nir-ht weniger würdig macht, ein Genie genannt zu werden : gerade in den grössten (ieistern kämpfen die Strömungen der Gesehichte miteinander, gerade sie erleben die Geschichte und ihre Individualität verhüllt ihr ihre Form.

Den Brief an Franziskus Junius schrieb er in seinem sechzigsten Jahr, drei Jahre vor seinem Tode  ; das Fragment bei de Piles hat kein Datum, aber seine sichere Ueberlegenheit im Ton, die auf seine Weise tiefe kritische Betrachtung der Entwick- lung der Menschheit oder ihr Verfall, deuten jedenfalls nicht darauf hin, dass der Verfasser jung ist; eine kunsltheoretische Aeusserung kommt am natürlichsten von dem älteren Meister, namentlich wenn sein ganzes Leben sozusagen in einem Atemzug, ununterbrochen durch Produktion in Anspruch genommen, dahingegangen ist. Liegt es da nicht nahe anzunehmen, dass das Gefühl der grossen Ueberlegenheit des Altertumsmenschen über den Menschen der Mitwelt, wenn auch die Momente dazu schon zum Teil durch die Eindrücke gegeben waren, die der Künstler in seiner Jugend in Italien empfangen hatte, allmählich durch Studium und Denken bei ihm ausgearbeitet und erst in einem späteren Zeilpunkt seines Lebens zu klarem Bewußt- sein erwacht ist? Es ist mir ganz unmöglich zu denken, dass das, was im Grunde Rubens' Kunst ihren Charakter und ihre Richtung verliehen hat, die Umarmung, mit der sein Genius ursprünglich den Menschen umfing, auch nur im Geringsten abge- schwächt oder abgekühlt sein sollte durch den Gedanken daran, dass der Mensch, den er in Fleisch und Blut und Wirklichkeit kannte, nicht der allerbeste gewesen sein sollte. Rubens ist in seiner Kunst ganz der moderne Humanist, ein Glied in der Reihe von Künstlern, die den moderneu Menschen, den zeitgenössischen Menschen entdeckten und ihn in künstlerischer Darstellung feierten. Aber er ist eines der letzten grossen Glieder in der Reihe. Und in seinem Leben sind allmählich auf Grund seiner seltenen und umfassenden Intelligenz Gedanken aufgetaucht, die eine grosse Zukuntt hatten, die kraft ihrer eigenen Konsequenzen den modernen Humanismus in der Kunst unterminierten, indem sie auf die Antike zurückwiesen als auf das, was für die Kunst doch einen grösseren Wert besüsse. Der grosse Maler, der in seinem Wesen im wesentlichen naiv war und blieb, und der mit dem Blick des Liebhabers an der Welt hing, die er sah, in seinen älteren Tagen namentlich an der schönen jungen Gattin, die er heimführte, war in seinen müssigen Stunden ein gelehrter Antiquar es war Dilettantismus, wenn man will, aber auf diesem Wege wurde die Kenntnis des Altertums vorbereitet, die über ein Jahrhundert später der Kunst neue Gesetze diktierte, Gesetze, die in erster Linie dazu führen mussten, Rubens eigene Auffassung von dem Menschen zu verwerfen. Aber es ist wert zu bemerken, dass er, wie hoch er auch das Altertum im Verhältnis zu seiner Zeit schätzt, sich noch bestimmt gegen die praktische Konsequenz weigert, die später aus dieser Schätzung gezogen wurde, dass man nämlich seine eigene Kunst nach der des Altertums bilden sollte. Die*



— 389 -


liegt ihm noch ganz lern: es ist auf alle Fälle nur <lcr äussere Apparat des Alter- tums, seine Namen, seine Fabeln, seine Allegorien, seine Attribute, die er in seine Kunst aufgenommen hat; er hat sich nicht ihrem Blick auf den Menschen unterge- ordnet. Der moderne Humanismus hatte noch zuviel selbständigen Flug in sieh; die Zeit war noch nicht gekommen, wo die Kunst ein gehorsamer und rezeptiver Lehr- ling der Antike werden konnte; es waren jedenfalls nur ganz vereinzelte Künstler, wie Nicolas Poussin, die bedeutungsvollere Versuche nach dieser Richtung hin machten.


VAN DYCK.

Als Nachfolger von Rubens hat Anthony van Dyck grössere Bedeutung als Jordaens. Er ist eine gedämpftere Natur als Rubens und Jordaens, er hat nicht ihre stürmende Lebensfreude, ihren Heisshunger auf das Fleischliche. Er wird von Rubens titanischer Macht, seiner blendenden Einbildungskraft, seinem Reichtum an drama- tischem Ausdruck in den Schatten gestellt, aber sein Geist und seine Naturauffassung sind weit harmonischer, wohlklingender. Van Dyck ist nicht Humanist in derselben Bedeutung wie Rubens: obwohl er mehr Anlage zu einer vollständig k ü n st ler i seh e n Bildung hatte, fehlten ihm doch Rubens allesumfassendes humanes Interesse. Da sind ganze Provinzen von Rubens' grossem künstlerischen Gebiet, auf die sich van Dyck nur sehr spärlich einlässt, und zwar gerade solche wie die Mythologie und die Allegorie, die eine so kräftige Aufforderung an die Darstellung der nackten Figur ergehen lassen. Die Spanne Jahre, die er jünger war als Ruhens, hat wohl auch dazu beigetragen, seiner Kunst einen andersartigen Operalionsgrundwall zu verleihen  : als van Dyck hinzutrat, war der alte, fröhliche Humanismus schon sehr geschwächt und eine stark religiöse Reaktion war eingetreten.

Van Dycks Darstellungen der nackten menschlichen Figur linden wir deshalb — ebenso wie in der alten niederländischen Kunst — ganz überwiegend innerhalb des Gebiets der religiösen Vorwürfe. Es sind die Heiligen der katholischen Kirche, (St. Hieronymus, Johannes der Täufer und namentlich Sebastian), diese und jene Gestalt aus dem Allen Testament (Simon), vor allem aber doch Christus in Szenen aus der Leidensgeschichte oder als Leiche.

Die Porträtmalerei nahm ja ausserdem fast seine ganze Tätigkeit in Anspruch. Kein Wunder, dass alle herbeistürmten, um ihr eigenes Spiegelbild in diesem Geist zu erblicken, der jedes Antlitz mit einem Abglanz seiner eigenen be- zaubernden Liebenswürdigkeit, der Poesie seines jugendlichen Herzens wiedergab. Es liegt nicht nur etwas wirklich Vorzügliches auf dem Boden dieses Geistes - etwas, was man jedem Staat und jedem Individuum wünschen möchte, etwas Feines, Gut- herziges, Offnes und Ritterliches, sondern es kam noch ein einzig in seiner Art da- stehender Sinn für etwas hinzu, das im Grunde gar nicht so viel wert ist und den Ein- druck des Individuellen abschwächt, aber nun doch einmal den Menschen in die



— 390 -


Augen stiehl : etwas Hübsches, Anziehendes und Elegantes. Van Dyck konnte in der Beziehung wohl etwas von den Venetianern lernen, wer aber hat sich so wie er auf die malerische Koketterie verstanden, mit der das Haar über der Stirn herabfallen oder der Bart gestrichen werden kann? Wer hat sich so wie er auf eine vornehme Haltung, auf schön geformte, müssige Hände und feine Manieren verstanden? Der Aristokratie und der modernen Fürstenmacht konnte mit ihm als Porträtmaler besser gedient sein als mit dem kräftigen und oft so plumpen Hubens oder mit den bürger- lichen Holländern — oder auch mit Velasquez, dessen Hofstellung ihn nicht verhinderte, beinahe dämonisch wahr zu sein. Van Dycks Porträtstil hat sicher viel dazu beige- tragen, eine feste Tradition für aristokratische und fürstliche Manieren zu schaffen, eine Tradition, deren Einfluss man noch auf lange Zeit hinaus spürt.

Obwohl das Studium der ganzen und nackten menschlichen Gestalt also keinen grossen Platz in van Dycks Kunst einzunehmen scheint, hat er doch selber offenbar einen grossen Wert uuf dies Studium gelegt, ja, es sogar liebkost. So kommt es denn, dass er, wunderbar begabt, wie er ist, zuweilen etwas schafft, das sowohl grossen künstlerischen als historischen Wert hat. Unter allen den nordischen Künstler- naturen innerhalb der Grenzen der Benaissance ist er derjenige, der den meisten Schönheitssinn besitzt, aber sein Blick für die Schönheit ist freilich stark bedingt durch den Zeilgeist, der ihn umgibt.

Der Grundlage für die Auffassung, die ihm als Bubens' Lehrling gegeben war, wird er niemals untreu. Aber es kam doch offenbar ein Augenblick, wo er zu sich selber sagte, dass er in dem Eigurenstil des Meisters so wie er war keine Befriedigung linden könne — wo er seine Uebertreibungen, seine plumpen Verstösse gegen Natur und Wahrheit und Schönheit einsah, wo sein aristokratisches Wesen und sein feineres Auge namentlich für die Form ihr eigenes Hecht forderten. Dann stellte er allmählich etwas Neues an dessen Stelle, weniger kraft eines neuen und energischen Naturstudiums — denn ein eigentlicher Naturalist wurde 'er nie — als durch eine Bückkehr zu jenen künstlerischen Quellen, aus denen Rubens geschöpft hatte; sein Horizont erweiterte sich, als er in Italien der übrigen modernen und antiken Kunst ansichtig wurde, und namentlich, als ihm Gelegenheit war, Tizian genauer zu studieren.

Nirgends, glaube ich, wird einem das Auge so für diesen Entwicklungsgang erschlossen wie in der Galerie in Berlin, wo man sowohl hervorragende Beispiele von Bubens' Figurenstil als auch zwei von van Dycks vorzüglichsten historischen Bil- dern aus verschiedenen Perioden in seinem Leben findet. Das frühere dieser beiden, kik. im», die grosse Komposition von Christ i Verhöhnung isi noch in hohem Grade Bubcnsisch im Stil. Der junge van Dyck ist trotz seines sicheren Griffes in bezog auf die Mittel der Malerei noch nicht Herr in seinem eigenen Hause. Die Farbe ist warm und stark, die Form, sowohl die der Chrislusligur wie die der rohen Soldaten und Henkersknechte, ist übertrieben und herkulisch. Die Zeichnung hat noch etwas von dem Hohen und Klotzigen an sich, das so häufig Hubens Figuren entstellt. Doch spürt man schon die beginnende Verwandlung kraft einer andern Individua-



— 391 -


lität, und selbst wo die Form bei van Dyck barock ist, ja selbst wo sie manieriert und hastig hingepinselt ist, tritt uns doch ein feineres Verständnis für die Logik des Körperbaus und der Bewegung, mehr unwillkürliche Richtigkeit entgegen, als bei Hubens; die Farbe ist in den Lokallünen des Körpers weniger saftig, da sind viel weniger von den kalten llalbtönen und den warmen Hellexen. — In dem späleren Hilde: Der Leichnam Christi, fast nackt, in sitzender Stellung, gegen Kig. ieo Johannes gelehnt, von der Mutter und Magdalena beweint, haben wir van Dyck in seiner ganzen Eigentümlichkeit, seiner feinen lyriseh-|M>clischen Empfindsamkeit, aus der der Rubensche Sinn für einen stark herausfordernden Charakter ausgeschieden ist. Der Leichnam Christi ist ein wahres Meislerwerk in bezug auf künstlerische Durcharbeitung, eine der hervorragendsten Figuren aus der ganzen Kunst des sieb- zehnten Jahrhunderts. An dem breiten, überlegenen, leicht malerischen Vortrag merkt man, wie van Dyck — ebenso wie bei der Behandlung desselben Themas für die Hekollektkirche zu Antwerpen — Hubens Stil durchkulliviert hat; es zeigt sich noch eine grössere Gewaltigkeit und ein stärkeres Aceenluieren der Form als dies den Christusfiguren Tizians eigentümlich war; aber der Stil ist durch den ganzen Körper schöner, feiner, ausgewählter geworden als bei Hubens, und zugleich richtiger, logischer in bezug auf die Form, weniger willkürlich. Die Sc hultern sind freilich stark aber nicht ungeschlacht, da sind keine verrenkten Ellenlwgen, keine plumpen Füsse; die Zeichnung ist schön, harmonisch, aus einem Guss. Stall Hubens blendender und leuchtender Fleischfurbe ist ein gedämpfter, gräulicher, silberartiger Ton hinein- gekommen.

Die Wendung, die van Dycks grosses Talent der Entwicklung des Figutcnslils gab, erhielt einen nicht geringen Einlluss. Sie besteht, wie gesagt, in keinem Urach mit seinen historischen Voraussetzungen, in keiner selbständigen revolutionären Hückkehr zu dem reinen Naturstudium. Im Gegenteil: er hält sich in dorn Strom, der durch Tizian und Hubens geht; und was Nalursludien anbetrifft, so ist jedenfalls keine Rede von einer solchen Gründlichkeit und Tiefe, dass sie ihn vor einer gewissen Manieriertheit bewahren könnten, von der er sich niemals ganz befreit ; sie tritt zu- weilen leichter, zuweilen deutlicher auf mit dem Gepräge von Hast und Flüchtigkeit in der Zeichnung, das überhaupt so vielem von der Kunst des siebzehnten Jahrhun- derts seinen Stempel aufdrückt (die grosse Figur des heiligen Hieronymus in Dresden). Die Bedeutung, die er für seine Mitwelt und zurh Teil für die Nachwell erhielt, steht gerade in Verbindung mit dieser Manieriertheit, die bei ihm einen eigenen verlocken- den Strich von Eleganz hat. Er gehörte überhaupt zu den Naturen, die einen ange- borenen glücklichen Griff für alles haben, und die alles beneidenswert gut kleidet. In ('ebereinstimmung mit dem eigentümlich Junkerhaften in seinem Wesen (>il cava- liere pittore>) stellte er die modern-aristokratische, verfeinerte Schönheil in der männ- lichen Figur dar, die schon bei Tizian vorkam, und verlieh ihr infolge seiner Hubens- schen Voraussetzungen eine neue und eigenartige Schattierung, die in Flandern wie auch in Spanien Nachahmungen fand. Ein schlagendes Beispiel für eine Jünglingsligur einer so veredelten Rasse, weisser von Teint und fleischiger - und vielleicht nordi-



— 392 -

scher — als die Tizians bietet van Dycks Bild von dem heiligen Sebastian in der Münchener Pinakothek. Kr kann Küsse von einer fast unnatürlichen Eleganz zeich- . nen, und die grosse Menge seiner Porträts weist Heispiele der aristokratischsten weissen und langfingerigen Hände auf, die unmöglich ein getreues Bild der Hände der wirklichen Personen geben können.

Was van Dyk in beziig auf die durchgeführte Behandlung der menschlichen Gestalt geleistet hat, beschränkt sich, wie gesagt, im wesentlichen darauf, was er an katholisch-christlichen Vorwürfen, namentlich aus der Passionsgesehichle gibt. Auch die Mythologie hat er gestreift, aber ohne selbständige Bedeutung. Wunderharerweise folgt er weder Bubens noch Tizian in dem Interesse für die nackte weibliche Gestalt, die er nur ausnahmsweise gemalt hat ; ein Bild wie das in Dresden, das ihm noch zugeschrieben wird, von der Danae, die nackt auf dem Lager ruhend den goldenen Hegen empfängt, ist offenbar nicht von ihm und trägt nicht einmal das Gepräge einer Kopie nach einem Werk von ihm.


DIE HOLLÄNDER.

Als sich Holland politisch von Belgien trennte (Utrechter Bund 1579) galten noch wesentlich dieselben Traditionen hier wie dort. Aber nur ein Menschenalter war ver- strichen, als auch schon das Leben in Holland neue Formen angenommen hatte, und auch die Kunst (d. h. die Malerei) sich so eng und fest und auf eine so reiche und allseitige Weise dem Lande und dem Volke angeschlossen hatte, dass keine frühere Kunst in der Welt auf gleiche Weise ein Spiegelbild der wirklichen Zustände der Mitwelt gegeben halle wie jetzt die holländische. So entfaltete sich die berühmte holländische Malerei ungefähr zwischen den Jahren 10'JO und 1(170. Nicht nur durch die nordische Nationalität war die Kunst in Holland von der südeuropäischen getrennt : eine kaum geringere Bedeutung hatte die reformierte Beligion, die die Holländer nicht nur von den Völkern Süden nipas sondern auch von den Belgiern trennte. Doch wurde die rein künstlerische Verbindung mit Italien nie ganz abgebrochen, indem viele holländische Maler nach dem Süden reisten; aber dies waren nicht die leitenden Meister, und auch die Nachwelt hat sie nicht zu den grüssten gezählt.

Niehls ist klarer, als dass die Holländer gerade dadurch, dass sie jenes Band zerschnitten und sich eine selbständige Stellung als rein nordisch-germanische Nation schufen, zu jenem Mangel an künstlerischem Interesse für die menschliche Gestalt zurückkehrten, die den germanischen Nationen im Gegensatz zu den Italienern von Anfang an eigentümlich gewesen war. Dies ist um so deutlicher, als" die holländische Malerei nach allen andern Beziehungen hin so reich, so hervorragend, so originell ist. Die Holländer hatten der Welt viel, und viel Neues und Eigentümliches über den Menschen mitzuteilen. Aber dies bewegte sich keineswegs in der Richtung eines durchgearbeiteten Verständnisses, geschweige denn einer Verherrlichung der menschlichen Gusluit; sie geben die Menschen ganz so, wie



— 393 —

sie sie im Leben vorfinden, die Bauern mit ihren ärmlichen .lacken und Hosen, die Kavaliere und Damen mit ihrer stattlichen Kleidung. Sie haben ein lebhaftes Ver- ständnis für die individuelle Physiognomie, Einige von ihnen (z. R. Rembrandt oder Jan Steen) sind zugleich hervorragende Psychologen; aber ihre Gedanken bewegen sich nicht gern auf Gebieten, wo die Rede davon ist, wie die Menschen im vollendeten Zustande der Glückseligkeit aussehen müssen. Da ihnen die nakte menschliche Gestalt im wirklichen Leben kaum vor Augen kam, liegt sie auch überhaupt über die Grenze ihrer Kunst hinaus.

Studiert man unser spezielles Thema in den prächtigen Gemäldesammlungen in Holland selber, oder wo man sonst holländische Malerei reich vertreten sieht, so merkt man gar bald, dass man sich Gewalt antun muss, um einen Gesichtspunkt festzuhalten, von dem aus es einem schwer wird, das zu erblicken, was der hollän- dischen Malerei ihre ganze eigentümliche Anziehungskraft , ihre ganze Bedeutung und Ehre in der Geschichte verliehen hat. Man muss sich die ganze Zeit hindurch bemühen, nicht zu vergessen, was man von der mächtigen Tradition der antiken und der italienischen Kunst gelernt hat, und dass die holländische Malerei doch nur ein Produkt eines kleinen Landes und einer eng begrenzten Periode ist; sonst würde es ärgerlich und langweilig sein, sich für die untergeordneten Talente zu interessieren, die das jüngste Gericht, Mythologien und Allegorien malen, statt sich an den hervor- ragenden Meistern zu erfreuen und zu erheitern, die Porträts, häusliche Szenen oder Prügeleien in Schankstuben darstellen. Man merkt ausserdem gar bald, dass hier ein fast rein dualistisches Verhältnis stattfindet zwischen den beiden verschiedenen künst- lerischen Interessen für den Menschen — mag man sie Idealisinus und Realismus nennen, wir haben nichts dagegen: eine Ehre für den «Idealismus» würde es keines- wegs sein. Sie verwischen sich ebenso wenig wie Oel und Wasser  ; nur hin und wieder einmal können sie sich zufällig einmal in demselben Kunstwerk begegnen, wie z. B. wenn Nicolas Berchem — der oft sehr mythologisch ist — ein grosses Bild von Europa und dem Stier malt, und beim Malen dieses Stieres Vorteil aus seinen Studien und seiner Uebung als Tiermaler zieht. Endlich ist es beinahe überall un- verkennbar, dass die Holländer, wenn sie sich darauf einlassen, die nackte Figur zu malen, — mag es nun in grossem oder in kleinem Massstab sein — sich bestimmt an das halten, was sie im Süden gelernt haben. Es herrscht in diesem Punkt kein warmes unmittelbares Verhältnis zwischen dem Künstler und dem VowuiT, woraus sich ergiebt, dass man auch das Kunstwerk mit einem ziemlich kühlen Interesse betrachtet.

Bei all ihrer scheinbaren Vielfältigkeit bewegt sich also die holländische Ma- lerei innerhalb sehr enger Grenzen in bezug auf das Psychologische. Ausgesehlossen ist jegliches Gefühl, das unter das Erhabene gehört, der starke Schwung in der Stimmung. Selbst der religiöse Ausdruck, den wir in den biblischen Bildern finden, ergreift uns mehr durch seine tiefgehende Gründlichkeit, seinen Ernst und seine Echtheit, als durch eine starke lyrische Bewegung. Der Ausdruck der ruhigen, ge- sammelten Andacht, oder der Reue und der Zerknirschung, des stillen Zitterns und



Hebens gelingt den Holländern am besten. Darin liegt etwas, was überhaupt cha- rakteristisch für die niederländische Nationalität ist, wenn sie nicht unter italienischem Einfluss steht. In dein Ausdruck für das Möse und Leidenschaftliche /.. Ii. bei Christi Henkern und dergl. findet man bis weit in das siebzehnte Jahrhundert hinein eine Nachwirkung der rohen Vorliebe für die Kehrseite, die aus dem Anfang des .sech- zehnten Jahrhundert stammle.

Aber in der Schilderung des wirklichen und zeitgenössischen Lebens, die ja den grössten Platz, gleichsam den Mittelpunkt der holländischen Malerei bildet, tritt weder das eine noch das andere dieser Eigentümlichkeiten in die Erscheinung. Dort bewegt man sich in einer andern Skala. Der Mittelpunkt und der Hultpunkt de? Ganzen ist die nüchterne, für das praktische Leben tüchtige Verständigkeit des Ge- schlechts und der geselligen Sphäre, für die der Künstler eigentlich arbeitete. Diesen Zug linden wir durchgehend» auf der Art von Mildern, in denen uns die hervorragendsten und bedeutendsten Menschenschilderungen der holländischen Malerei entgegentreten: im Porträt. Wir sehen hier ein Geschlecht von lebensfrohen, weltlich gesinnten, aber tüchtigen und mutigen Männern, die die Waffe zu führen wissen, wo es sich um ihre Stadt oder ihren Staat handelt, die die Müeher zu führen verstehen, ihre eigenen wie auch die der Gilde oder der Zunft, in deren Leitung sie einen Sitz haben, und die sich endlich auch auf eine gute Tafel verstehen und ihr Glas zu leeren wissen, wenn alles nach Wunsch geht. Da sind Porträts von ehrbaren, tüchtigen Mürgcrsfrauen, die nicht nur gewiegte Hausfrauen sind, sondern auch sehr wohl öffent- liche Angelegenheiten leiten können, wenn sie als «Hegentinnen» irgend einer milden Stiftung um den Vorstaudstisch bei Protokoll und Geldbeuteln versammelt sind. Man könnte glauben, dass bei solchen Mildern die Gefahr des Philiströsen und Langwei- ligen nahe läge; aber es lag so viel gesunder Humor in der Generation wie in den Malern, dass diese Furcht überflüssig war, — namentlich hat es nie einen Mann gegeben, der weniger Philister war als der Altmeister der holländischen Porträtmaler. Franz Hals. Auch verschmäht die Kunst ebensowenig wie das Leben in Holland die Mittel, die die Natur oder die Kultur bietet, um die Stimmung zu steigern und das Mint schneller durch die Adern Iiiessen zu machen ohne dass man deswegen gleich in solche Orgien hineingerät, wie sie Hubens mit Vorliebe schildert. Die Offi- ziere der bürgerlichen Waffenkorps lassen sich gern von dem Pinsel des Malers ver- ewigen, während sie gegen Ende eines Festmahls beim Nachtisch und bei mit Hhein- wein und Champagner gefüllten Pokalen sitzen  ; sie Irinken sich zu und drücken sieh die Hände, diesem oder jenem glühen die Wangen ein wenig, sein Gang ist ein wenig sehwankend — schändet das einen guten M ärger bei einem festlichen Gelage? Wohl zu beachten, es liegt niemals jemand unter dem Tisch, es ist auch niemals jemand so überwältigt von Macclius' Gaben, dass seine bürgerliche Ehrbarkeit dadurch bcfleekl oder dass er deswegen zum Gespült werden würde. Leber die eigentlich cynischen Wirkungen des Weines oder vielmehr des Mranntweines und des Mieres mochte man wohl gerne hüben, doch suchte man sie lieber in den Schenken auf dem Lande auf. denn es lässt sich nicht leugnen, dass in dem republikanischen Holland ein ebenso



— 395 -


strenger Slnndesuntei schied /wischen den Grossbürgern in der Stadt und dem Mann ans dein Volke oder dem Hauern herrsehte, wie sonst irgendwo, ja wohl sogar ein strengerer als in Italien und Spanien. Die Kunst arbeitete für den Grosshürgcr und sah mit seinen Augen unverkennbar auf den kleinen Mann und den Bauern herab: deren Bestimmung war es im wesentlichen den Grossen zur Belustigung zu dienen.


ZWKI BILDKB VON HEMBBANDT.

Hembrandls «Dunac» in der Kremitage zu St. Petersburg gehört nach dem ki«. kühlen, im Ganzen grünlichen Karbenton und dem ziemlich verschmolzenen Vortrug zu schliessen zu der früheren Periode des Meisters (um das Jahr 1<»-10). Das Bild zeigt uns eine nackte Frau — in voller Lebensgrösse — die auf einem kostbaren Lager ruht. Dahinter steht ihre alle Dienerin oder Amme, den Schlüsselbund über dem Arm, und zieht einen Vorhang zur Seite, indem sie erwartungsvoll nach jemand tnler nach etwas ausschaut, das aus dem Halbdunkel da drinnen kommen soll, das unten dunkler ist, allmählich aber, nach oben zu heller wird. Diese mystische Klar- heit wirft ein starkes Licht von oben auf die nackte Figur auf dem Lager. Sie wendet sich unruhig um, von dem zu Erwartenden ab, dreht aber den Kopf doch ein wenig und streckt den rechten Arm nach der Bichtung bin aus, als wolle sie ihn noch einen Augenblick fern halten. Ein scharfes, lebensvolles Lächeln umspielt den Mund und eine schimmernde Klarheit, eine Mischung von Lust und Angst liegt in dem Blick; sie ist nahe daran einen kleinen Schrei auszustossen.

Ganz zweifelsohne hat Hembrandt hier ein einzelnes Modell wiedergegeben, ver- mutlich dasjenige, das ihm unter denen, die ihm in Amsterdam zugänglich waren, am besten gefiel: daher das ganz porträt massige, individuelle Gepräge, das freilich nicht das geringste mit der Vorstellung von der Danae zu tun hat, so wie diese ursprünglich gedacht ist. Der Kopf, der von Leben und Ausdruck strahlt, hat eine hohe, weisse Stirn und eine ziemlich scharf vorspringende Nase, nicht viel Fülle oder Masse weder in den Wangen noch im Haarwuchs; das Haar ist dunkel und lockig, ein wenig in Unordnung und ein wenig dünn. Die Form der Brust deutet wohl darauf hin, da.ss sich Hembrandt hat an einem Modell genügen lassen müssen, das bereits Mutter ist: indem der linke Arm der Figur auf einem der Kissen des Bettes ruht, presst sich die Hand gegen die eine Brust, die so weich und schlulT nachgibt, als sei es ein lebendiger Sack mit Milch : die andere Brust zeigt sich infolge der Stellung der Figur ein wenig strammer. In dem Bau des Körpers und der Glieder wird das Auge freilich nicht durch Plumpheit verletzt, so lange die Figur liegt : wenn sie sich erhöbe, würde sie kaum das Bild eines schönen Wuchses darbieten, die Arme sind allerdings sehr schön. Etwas an den Händen erinnert an das gewöhnliche Modell, namentlich wenn man sie im Geiste mit der göttlieh-schöiieii Hand der Tizianisehen Venus in derselben Galerie vergleicht. Es sind ja keineswegs herbe Arbeils-



-  :m -


bände,  »her dem U;ui der rötlichen Finger hal'tel etwas Dünnes, Armseliges, Mageres, wenig Regelmässige* an ; sie sehen ausserdem aus, als seien sie «'in wenig feucht anzufühlen. Kin kleiner Zug scheint von der armseligen Wirklichkeit direkt in die Mythologie ühergegangen zu sein: ein kleiner, grauer, eiserner Hing, oder was es nun sein mag, an einem der Finger der linken Hand: er passt schlecht zu den prächtigen Armbändern mit zinnoberroten Schleifen und den IVrleiibändern, die Danae um die Handgelenke trägt. Die Form der Hände ist übrigens nicht vollkommen wieder- gegeben, namentlich die ausgestreckte Hechte ist zu llach, zu ausgeschnitten, und be- sitzt nicht Huridung und Masse genug.

Die Figur ist rein malerisch gesehen und aufgefasst, in unauflöslicher Ver- bindung mit der ganzen Lichtwirkuiig und Farbenslimmung des Bildes. Der Künstler mall, was sein Auge sieht, und wie es sieht ; er fragt nicht im Geringsten nach der organischen Form' kraft eines allgemeinen Verständnisses des Organismus, geschweige denn kraft einer wissenschaftlich anatomischen Kenntnis desselben. In gewissen Partien, Lenden und Knieen, macht sich wohl eine gewisse Unbestimmtheit in den Flächen geltend (die Füsse und das untere der Heine verhüllen die Betttücher), aber im Ganzen ist die Figur, vom malerischen Standpunkt aus betrachtet, ausgezeichnet modelliert und gezeichnet ; auch die Verkürzung des rechten Unterarmes ist gut. Nicht allein rundet sich die Figur vorzüglich als Gegenstand im Haum, nicht allein sind Bewegung und Ausdruck durchgehend* mit unübertrefflichem Leben, Wahrheit, Kiiihcit aufgefasst — worüber man sich eigentlich nicht wundert, wenn man die rechte Vorstellung von Hembrandt malerischem Genie hat, aber Heinbrandt hat hier auch Auge für etwas an der nackten Form gehabt, was ich mich kaum entsinne, je anderwärts so meisterhaft aufgefasst gesehen zu haben, ausgenommen in den hervor- ragendsten antiken Marmorstatuen, nämlich für den Unterschied des Charakters der Oberlläche, je nachdem das Darunterliegende weniger hart oder weich ist. Die Härte der Stirn und der Kniee, das unbeschreiblich Weiche und Nachgiebige an der Brust, der eigenartige Grad von Flastizität in den Armmuskeln oder der Muskeldecke über der Hohlheit des Bauches ist mit einer solchen Illusion wiedergegeben, dass man es alles fühlen zu können meint. Ohne Ueppigkeit, und ohne dass der Stolf des Körpers auf künstliche Weise hervorgehoben ist, wie es Hubens oder Bernini hätte einfallen können, liegt eine beinahe unanständige Naturgelreue in der Schilderung dieses Körpers. Man sieht es, man fühlt es, man riecht es.

So hervorragend und so vollkommen selbständig und originell Rembrandts Figur ist, fordert sie zu einem Vergleich mit denjenigen der ersten italienischen Koloristen, Tizians und Corrcggios auf; sie haben ja auch ihre Danae gemalt. Tizians weib- lichen Figuren steht sie jedoch fern, sie ist ebenso bürgerlich oder bäuerisch demo- kratisch, wie sie olympisch vornehm sind: auch in bezug auf die malerische Auf- fassung herrscht ein gründlicher Unterschied. Viel mehr Aehnlichkeit linden wir mit Corrcggio: ja in der Form und in dem Gegensalz zwischen den wärmeren Lieht- partien und den breiten Schattenmassen über dem Körper, die in grünlichen Tönen variieren, liegt sehr viel, was an Coricggio erinnert. Auch das Augenblickliche



- 397 -

in der Bewegung, das stark Agitierte, Kitzelnde im Gefühl haben die beiden Maler gemein. 1

In seinem Hilde von der heiligen Familie in St. Petersburg — wie in is*. seinen andern Bildern, die dasselbe Thema behandeln, in Paris, Cassel, Florenz — führt uns Rembrandt als Nordländer zwischen die vier Wando, in die trauliche Stube des Zimmermanns, des einfachen Handwerkers, wo das Feuer im Kamin brennt. Ks ist ein klarer, stiller Vormittag. Der gute Joseph steht dort zwischen seinem Werk- zeug und arbeitet fleissig um das tägliche Brot für sich und die Seinen, er ist gerade dabei, mit seiner Axt ein Stück Holz zu glitt len. Unter allen andern Tugenden be- sitzt er auch die, dass seine Figur sich so schön von den dämmernden, verschwim- menden Tönen des ferneren Hintergrundes abhebt. Die Wiege ist mitten in die Stube gestellt in das hellste Tageslicht, das so schön auf seinem Korbgeflechl perlt ; das Kind liegt schlafend darin, seine kleine Hand ruht auf dem Kissen. Als fürsorgliche Mutter hat Maria eine rote Decke mit Pelzfutter, vermutlich ihren eigenen Mantel, über die Kissen der Wiege gebreitet. Während das Kind schläft, sitzt sie selber daneben, den Fuss auf einem Schemel und hat sich in die Lektüre des heiligen Buches ver- tieft, das aufgeschlagen auf ihrem Schosse ruht. Josephs Arbeit macht nicht so viel Lärm, dass es sie oder das Kind stört, ein Augenblick verrinnt so still wie der andere. Aber es schien ihr doch plötzlich, als höre sie etwas, einen ganz leisen Laut, vielleicht eine summende Fliege; sie wendet sich um und sieht, ob das Kind ruhig schläft, indem sie mit der Hand nach einer Decke langt, die über der Kalesche der Wiege liegt, um es zuzudecken. Aber es war keine Fliege, es war etwas Geistiges, ein Summen, das nicht jedes Ohr hört: kleine Engel gucken auf das schlafende Kind herab, der vorderste schwebt mit ausgebreiteten schirmenden Händen auf die Wiege nieder.

Man wird nie so vertraut mit Rembrandt, dass nicht die Art und Weise, wie er die biblischen Vorwürfe aufTasste, beständig von neuem Staunen erregt. Er will sich gar nicht darüber belehren lassen, was er doch ganz gut hat wissen müssen, dass es in der Kunst Traditionen gibt ; mit einer unverbesserlichen Naivität gibt er uns alles in den Formen seiner eigenen Lebenserfahrung. Und wir wollen ihm da- für danken, denn einen Abklatsch von der Tradition kann jeder geben, dazu gehört kein Genie; weit seltener und köstlicher ist es, den Ausdruck des inneren, persön- lichen Lebens zu sehen. Jeder kennt aus seiner eigenen Erfahrung, wie man, nament- lich als Kind, in seiner Phantasie allerlei Geschichten, die man hört oder liest, in das Wohnzimmer der Mutter, auf den Hof, in den Garten am Hause, oder wo es auch sei innerhalb des engen Gesichtskreises, den man überschaut, einquartiert. Könnte man die Einbildungskraft der Kinder tatsächlich aufschliesscn, würde man

1 Es ist charakteristisch für die Kritik einer neueren Zeit, dass sie eine Figur wie diese als Parodie auf das betrachtet, was ihr Name besagt, and was sie offenbar darstellen soll. «liier haben wir es», sagt Waagen von der «Danae» (die Gemäldesammlung in der Kaiserliehen Eremi- tage 7.0 St. Petersburg, München IHM, S. 17«) «offenbar mit einer Art Parodie diese«  mythologischen Themas 7.0 tun», und dasselbe wird ja jeden Augenblick von Rcmbrandts Ganymed in Dresden gesagt. Man findet die Figuren nicht schön genug, um als mythologische Personen r.n fun- gieren.



- 398 -


die wunderlichsten Illustrationen zur biblischen Geschichte sehen. Aber die starke Seite und die Illusion in der kindlichen Phantasie zeigt sich doch darin, dass sie ihre Szenerie aus dem zusammenstellt, was sie wirklich kennt ; die historisch gebildete Einbildungskraft, die sich mit Formen tummelt, die sie nicht aus erster Hand kennt, ist matter. Rembrandts Phantasie geht ganz nach der kindlichen Methode zu Werke  ; daher stammt die Innigkeit seiner Bilder und ihre Wunderlichkeit, ihre un- vergleichliche Ehrlichkeit, und ihre magische Ueberrcdungskunst. Wir haben so ein Bild keine Minute angesehen, ehe wir uns schon ganz in der Gewalt des Künstlers fühlen und alle Einwendungen gegen seine Art und Weise, die Bibel zu lesen, völlig vergessen haben. Er greift immer den allerinnerslen Kern der Sache an, nur gegen das, was die Schale betrifft, sündigt er.


DEB DEUTSCHE BALTHASAR DENNER.

Nach einer bestimmten Richtung hin wird die Darstellung des Menschen durch die nordischen Völker, so wie sie sich seit der Zeit der van Eycks entwickelt hatte, durch eine besondere Spezialität der deutschen Kunst aus der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts abgeschlossen, nämlich durch die Porträts von Balthasar Denn er (1(585 1 7 19) und einzelnen Nachfolgern, namentlich von Christian S i e b o 1 t (1703—1708). Das Interesse an denselben beschränkt sich fast ausschliesslich auf die Behandlung des Kopfes (des Gesichts) von alten Männern und Frauen von einem gewissen unfrischen hospitalartigen Aussehen. Hierin gibt Denner ein non plus ultra von mikroskopischer Abrechnung in bezug auf den Charakter 'der Oberfläche? . die Poren der Haut, die weissen Bartstoppeln an dem rasierten Kinn alter Männer, Sommersprossen und Alterstlecken, die bald bräunliche und schmutzige, bald gellM're, bald rotere und saftigere Farbe, ihr trockner und welker oder fettiger Glanz, die unzähligen Runzeln, die in der Tiefe das Blut hindurchschimmern lassen, die eigentümliche Zusammengezogenhcit der alten Lippen, die feuchte Blank- heit des Auges, die feinen, roten Adern in seiner weissen Netzhaut und die Badien in seiner Iris, die roten Ränder des Augenlides und die einzelnen Haan' an denselben und in den Brauen. All dergleichen ist in Denners besten Arbeiten wirklich mit einem hohen Grad von vortrefflicher Illusion geschildert. Wenn man gleichzeitig anerkennen muss, dass er zuweilen auch dem ganzen plastischen Volumen des Kopfes, der Lage seiner Flächen zu einander, ja sogar dem Charakter und dem Ausdruck Gerechtigkeit widerfahren lässl, so muss dies doch mehr als Beigabe aufgefasst werden, die beweist, dass sich der Künstler eine allgemeine ma- lerische Bildung angeeignet hat. Was er hinzuzufügen hatte, war allein die Mikros- kopie der Haut. Darauf ging sein besonderes Interesse aus, und daran knüpft sich das historische Interesse an seinen Bildern.

Schon die van Eyck geben Anlass, eine Tendenz für Mikroskopie in der nordischen Kunst hervorzuheben. Ein so herrliches Porträt wie Jan van Eycks Bild des alternden



— 399 -

Mannes mit der Nelke in der Hand und der Pelzmütze auf dem Kopf (in der Ber- liner Galerie, aus der Sucsmondlschen Sammlung) sehlägt sehon gewissermaßen den Weg ein, der zu Denner führt, steht aber ebenso sehr über Denners Porträts in bezug auf die Macht und Frische der Charakteristik wie es in bezug auf durchgeführte Mikroskopie hinter ihnen zurückbleibt. Dürer malt am liebsten jedes Haar auf dem Kopf und im Bart für sich, und sein Blick bohrt sieh oft so ein in die Einzellteilen der Form und der Oberfläche, dass jede Hunzel an einem alten Kopf ein Abgrund für ihn wird. Selbst bei einein seiner besten Porträts (Holzschuher, jetzt im Museum zu Berlin) scheint der Blick des Künstlers, namentlich bei der Behandlung des Auges ganz in die Details untergetaucht zu sein, um die vollendete Illusion herauf zu holen; er versäumt hier nicht, das Spiegelbild des Fensters in der blanken Fläche des Auges auszupinseln. Ein älterer niederländischer Künstler, der sich Denner wirklieh sehr nähert, ist Marinas von Roymeswale, namentlich vielleicht mit seinem Kopf des allen St. Hieronymus, in der Akademia di San Fernando in Madrid (1533). Und die Bilder, auf die wir hier hinweisen, sind nur typische Betspiele von einer in der nordischen Kunst durchgehenden Tendenz für das Mikroskopische, das so recht eigentlich erst der italienischen Einimpfung weicht. Auch nicht im siebzehnten Jahrhundert, als sich die Niederländer im übrigen den breiten malerischen Blick und Griff aneigneten, wird diese Tendenz ganz verdrängt, selbst nicht, wo man in grossem Masstab arbeitel. Rembrandt legt häufig Wert darauf, einen Eindruck von einem .schimmernden Reichtum in Details von Lichlpartien zu geben; auf seinen frühesten Gemälden, selbst noch auf der «Anatomie» im Haag führt er das Detail aus, auf den späteren gibt er nur ein malerisches Phänomen davon.

Diese Richtung wird bis auf das Aeussersle von Denner zugespitzt, der auf Grund seiner Stellung in der Kunstgeschichte dadurch Vorteil aus der allseitig und geschmeidig entwickelten Technik des siebzehnten .Jahrhunderts ziehen kann. Er dringt noch ein wenig tiefer als irgend jemand vor ihm in die Hautrunzeln ein; sie wird ihm eine ganze kleine Welt, für deren Abwechslungen in bezug auf Stoff, Farbe und Lichtbrechung er der eigentliche Entdecker ist. Nun ja, das ist immerhin etwas; und es ist unleugbar etwas von der physischen Natur des Menschen. Aber durch die Tiefe einer Runzel dringt man doch nicht in das ein, was den Menschen zum Menschen macht. Die Oberdäche des alten Menschengesichts ist ihm gerade nur eine interessante Oberfläche, eine eigenartige und abwechselnde Brechung von Licht und Stoff, eine Erzählung von dem Gerinnen der Säfte und dem Hinsterben des Lebens. Das Interesse, das er dafür hat, ist näher verwandt mit dem, das sich in den wenig interessanten «Stillleben» olTenbarl, die die damalige Zeil so liebte, — ein hölzerner Tisch mit einem Leuchter, einem versiegelten Brief und ähnlichen leblosen Gegenständen — als mit dem eigentlichen Interesse für die Darstellung des Menschen. Unter allen Künstlern, die den Menschen dargestellt haben, steht Denner dem griechisch-italienischen Humanismus am fernsten : der Mensch ist ihm eigentlich nichts anderes oder nichts mehr als jeder andere Naturgegenstand.



DIE KUNST FRANKREICHS IM ZEITALTER LUDWIGS XIV. UND

LUDWIGS XV.


Die französische Kunsl ist im siebzehnten Jahrhundert ganz überwiegend idea- listisch, sie hat wohl auch dieses oder jenes aufzuweisen, was den niederländischen Lebensbildern entspricht, dies«  oder jene Beeinllussung der italienischen Naturalisten von der Richtung Caravaggios', aber das ist doch nur verschwindend. Und die Kunst in Frankreich, die sich mit der menschlichen Gestalt in grösserem Massstab be- schäftigt, besitzt eine weit geringere künstlerische Eigentümlichkeit und viel weniger Wert als die gleichzeitige niederländische, spanische oder italienische. Der breite elektrische Strom kam aus Italien; und wie sich der im Einzelnen in die über- lieferten Elemente mischte, ist von nur untergeordneter Bedeutung.

Aber aus diesem Eklektizismus taucht doch etwas auf, was der französischen Kunst in dieser Periode eigentümlich wurde, und was Bedeutung für den Kurs erhielt, den die Kunstgeschichte steuerte. Das verbindet sich in erster Linie mit dem Namen Nicolas Poussin (1591 -l(i(J5i. Dass dieser Name so berühmt ist, bedeutet jedoch keineswegs, dass derjenige, der ihn trug, eine grosse und ursprünglich künst- lerische Kraft war in gleicher Weise wie seine Zeitgenossen Hubens, van Dyck, Rembrandt, Velasquez, Ribera — man möchte sogar hinzufügen Bernini. Er hat nicht jene Art von Interesse aus erster Hand für die menschliche Gestalt in ihrer wirklichen Natur wie jene Künstler, und deswegen üben seine Gestalten auch eine viel weniger unmittelbare Macht auf das Gemüt aus. Es ist ein trockner und einsichtiger Geist, einer von denen, die mehr veranlagt sind, Auswüchse zu besehneiden und Aus- schreitungen zu korrigieren als selber zu gemessen und zu spenden. Er ist auch von Anfang an Eklektiker so gut wie irgend Einer, namentlich entwickelt durch das Studium RafTaels und Tizians, obwohl die Frische und der Glanz des Letzteren so wenig mit seiner eigenen Natur in Einklang standen. Aber allmählich lenkte er von dem Wege der modernen Tradition ab, indem er seinen Stil nachdrücklicher als irgend ein anderer nach dem der Antike bildete. In einem der ersten Jahre des Jahrhunderts



- 401 -

fand man in Rom ein antikes Wandgemälde, dir spülcr sogenannte < Aldobrandinische Hochzeit-, die bedeutendste Figurenmalerei ans dem Altertum, die man bisher kennen gelernt hatte. Es ««riegle grosses Interesse in der Künstlerwolf, auch l>ei Künstlern, deren eigener Stil den diametralen Gegensatz zu der Antike bildete, wie z. Ii. bei Rubens. Poussin übte sieh in dem Stil dieses Hildes, indem er es genau kopierte und er eignete ihn sieh in höherem Masse an als irgend ein anderer. Kr war auch auf die Art seiner Zeit vertraut mit antiker Literatur und Arehilologie und verwandle seine Gelehrsamkeit mehr in seiner Kunst als seine Zeilgenossen, seine eigentümliche künst- lerische Bedeutung verlieh ihm aber der Umstund, dass ihm durch Studien in antiker Malerei und Architektur wirklich die Augen aufgingen für den tiefen und durch- greifenden Unterschied zwischen der modernen Renaissance und der Auflassung der Antike von der menschlichen (iestalt, die bisher wesentlich ineinander geflossen waren, und dass er ganz bestimmt den sirengeren, ethischeren Charakter der Antike vorzog. Er halte seiner Natur nach mehr Sinn für ihre strenge als für ihre ergötzliche Seite, und sie musste für seine eigene Kunst mehr ein Korrektiv für die Renaissance als eine volle Aeusserung des wirklichen Wesens des Altertums sein; aber er hat Figuren gemalt, die, wenn sie auch nicht zahlreich sind, doch zeigen, dass er das Altertum wirklich verstand. Gestalten, die die Namen der allen Götter und Heroen trugen, besass man zum Urberlluss zu jener Zeil, aber die Griechen und Römer würden ihre eigene Vorstellungen kaum bei andern als bei Poussin wiedererkannt haben, - d. h. auch bei ihm nur hie und da.

Schon seit dem Mittelalter sind in langen Zwischenräumen Bestrebungen aufgetaucht, die darauf ausgingen die moderne Kunst wenn möglich ganz und gar nach der antiken zu gestalten. So im dreizehnten Jahrhundert Nicolo Pisano ; haupt- sächlich aber um das Jahr 1501) die paduauisclicu Künstler (Andrea Mnntegna in seiner späteren Zeit, Andrea Riccio), gegen die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts Poussin. Es war dieselbe Richtung, die um das Jahr 1800 zu ihrem grösslen Umfang und ihrer höchsten Macht gelaugle (David, Flaxman, Thorwaldsen etc.).

Vorläufig konnte diese Richtung die moderne Tradition nicht verdrängen. Doch wurde ein Teil der französischen Kunst — die Skulptur wie auch die Malerei — gleichzeitig mit Poussin und bis an das Ende des siebzehnten Jahrhunderts näher zu der Antike hingezogen, als dies in den übrigen Ländern der Fall war. Wohl nur sehr seilen entdeckt man in dem Stil der einzelnen Figuren eine so treue Auffas- sung des Wesens der Antike, wie man sie bei Poussin linden kann; aber die Kom- jHisition im Relief wie in der Malerei nimmt häutig eine einfachere und ruhigere Haltung an, jede Figur (rill deutlicher hervor. Man hat in Frankreich Rück für die antiken Kunslformen und will sich gern ihr edles, plastisch beherrschtes Wesen aneignen. Aber zu gleicher Zeit machte sich ein so entgegengesetzter Einlluss wie der der flandrischen Malerei geltend, der seit jener Zeit, als Rubens seine grosse Reihe historisch-allegorischer Gemälde aus dem Leben der Königin Maria von Mediei für den Luxemburger Palast ausgeführt hatte, in Frankreich tiefe Wurzeln fasste. Das frischere, lebhaftere, derbere Wesen des flandrischen Stils und seine glänzende, blen-

2ti



402


detido Farbe halle dann einen Kampf mit dem strengeren, edleren Stil der Poussiii- sehen Hichtung zu bestehen: der erstere war moderner, befriedigt«' mehr das aktuelle Leben ; der andere war kritischer, wissenschaftlicher, behielt sich eine tiefere Ansicht darüber vor, wie die Dinge eigentlich sein sollten — und hatte die fernere Zukunft für sich. Kin ähnlicher Kintluss, wie ihn Hubens auf die Malerei ausübte, ging in der Hildhauerkunst von llernini aus, der auch Krankreich besuchte. Seine Hichtung ward auch von überwiegender Hedeutung für den grossen Virtuosen in der Skulptur, Pierre Fuget aus Marseille (Ui'Ä— !M). Kr gehört so wie Hernini ganz der modernen, pathetischen Hichiung in der Skulptur an und ist nicht weniger schwülstig und barock als der italienische Künstler. Aber er übertrifft ihn und vielleicht alle Hildhauer des Jahrhunderts durch das energische und reiche Studium der Körper- form, ein Naturstudium aus erster Hand, wenn es auch durch die vorausgehenden Ilaliener in Schwung gekommen war; dadurch erhielt Puget auch eine grosse Hedeu- tung für die zeitgenössische und nachfolgende Hildhauerkunst in Kuropa, weit über die (irenzen Krankreichs hinaus.

Seit der Zeit Ludwigs XIV. wurde die Kunst Frankreichs die leitende für ganz Kuropa. Mit der nationalen und selbständigen Kunst der Niederländer war es vorbei, bald auch mit der Spaniens. Italien bewahrte wohl eine gewisse Selbständigkeit und Anziehungskraft neben Krankreich, doch mehr um seiner Vergangenheit und seines Altertums als um seiner Gegenwart willen: das eigentlich aktuelle Leben in der Kunst, den Kndpunkt des noch immer weiter gesonnenen Fadens der Tradition rnussle man in Paris suchen. Die französischen Künstler, die die menschliche Ge- stalt in grösserem Massstab darstellen wollten, reisten in der Hegel nach Italien, um sich auszubilden; in den übrigen Ländern Kuropas verschrieb man Künstler aus l'aris, oder man reiste nach Paris, um französischen Geschmack zu lernen ; damit wurde dann häutig auch eine Heise nach Italien verbunden. Der Grund zu Frank- reichs führender Macht in der Kunst lag nicht so sehr in einer eigentlich künstle- rischen Ueberlegenheit als in der allgemeinen sozialen und politischen Hedeutung der französischen Monarchie. Dort erhielt die moderne Monarchie ihre Farbe und ihren Glanz, der das Ideal der übrigen Staaten wurde; und dort trat auch die Kunst in den Dienst der Monarchie als deren Schmuck und als Organ ihrer Selbstverherrlichung. Dies hatte zur Folge, dass die Kunst nicht so wie bisher aus dem Hoden des Volkes hervorwuchs, sondern von obenher, von der sou verainen Staatsmacht, administriert wurde. Das Mittel hierzu waren die Kunstakademien; sie wurden überall in Kuropa nach dem Vorbilde der Akademie zu Paris gestiftet, die 10 IS gegründet war und sich mit einer Filiale in Horn verband. Der ursprüngliche Zweck der Akademien war nicht, die natürlichen Fähigkeiten des Volkes zu fördern, sondern vielmehr, dem Königreich zu jeder Zeit die erforderlichen künstlerischen Kräfte zu sichern.

Für das künstlerische Studium der menschlichen Gestalt wurden die Akademien von grössler — wenn auch nicht immer von glücklichster — Hedeutung: dies Stu- dium war ja die gemeinsame Grundlage für beinahe die ganze Hildnerei, gleich not- wendig für Hildhauer, Maler, Zeichner, Kupferstecher, Medailleure etc. etc. Die Aka



- io:5 -

demien wurden Pllanzschulen, die das Studium aklhnn tisiei Ion, wo es bisher nicht heimisch gcwiiMJii war, namentlich in dem nördlichen und östlichen Kuropa. Aber überall, auch in den allen Heimstätten der Kunst, führten die Akademien eine ratio- nellere Melhode ein, mehr Arbeitsteilung im I ' ul«M rii-lit . Die krallige, einseitige Indivi- dualität eines hervorragenden Meislers halte jetzt weniger Spielraum, weniger Kin- lluss  : die Leitung der Kunslsehule y inj; von einer einzelnen Persönlichkeit auf ein ganzes Kollegium über, Dies musste dahin führen, dass man mehr (lewicht auf allsei- tige Vorzüge in der Knnsl, weniger auf den kräftigen Kindruck der Persönlichkeit legte. Die frühere Periode der Akademien war am h merkwürdig arm an grossen, glänzenden Künstlernamen, von solchen, die die Well in Kbren gehalten hat, während die Zahl derer, die die Kunst ausübten, doch ohne Zweifel in stetem Steigen begriffen war. Aber in beziig auf alles, was unpersönliche I Hilfsquellen und Apparate anbetrilTt — eine regelmässige Modellschulc, anatomische Demonstrationen, Kenntnisse antiker Skulptur — Ixilen die Akademien mehr als bisher, in den meisten Fällen weit mehr, und sicherten der breiten Künstlermenge durchgehend ein höheres Niveau, wo es sieh um die Darstellung der mens«  blichen t leslall handelte.


Aber die Akademie existierte, wie gesagt, vorläufig des Hofes halber, und der Hol balle bis ungefähr zur P.eformationszoil eine entschiedene licdeulung für den Charakter der Kunst. His zu Ludwigs XIV. Zeil behielt noch der ruhigere und edlere klassische tieschmack die Lcberhaml. Aber ungefähr vom Jahre 1700 an und während der ganzen Zeil Ludwigs XV. bildete sich ein ganz eigenartiger französischer Holst il aus, der sich über ganz Kuropa ausbreitete und v dien her lief in die ge- sellschaftlichen Schichten herabdrang. Ks entspricht genau dem, was mau in der Haukunst und Dekoration Hokokostil nennt.

Kuropa, und namentlich die romanischen Nationen, hallen sich allmählich aber gründlich eine gewisse Aeslhetik in bezug auf die menschliche (ieslalt, ihre Haltung, Hewegung und Linien angeeignet. Nach der grossen italienischen Kunst in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts war es mit der Naivität der Kunst in dieser Hezichung vorbei  : man wusste bald auswendig an den Kingern herzuzählen, wie das Schöne sein sollte, und namentlich, dass es im (legensalz zu allem bestand, was steif und einfach, geradlinig in der Hewegung war. Die Formeln des Wendens und Drehen«, des Hiegcus und des Koutraposls waren Knldeckiingen, die man nicht ver- gebens gemacht hatte. Die eklektische Strömung in der Kunst, die diese Lehren mit sich führte, breitete sich mehr und mehr aus; noch um die Mille des sieb- zehnten Jahrhunderts hallen der spanische und der holländische Keulismus Künstler wie Vclasquoz und Hernbrandl — ihren breiten Kücken dagegen stemmen können, aber seit der Zeit Ludwigs XIV. halte sie eigentlich ganz Kuropa übcrllufet. Man litt hei der Auflassung der menschlichen Figur an zuviel Kunst  : selbst ganz naive Seelen sahen zu dem «Künstlichen* wie zu dem Schönsten au!.

Ks kam noch etwas hinzu, was die Hewegung in dieser Dichtung beschleunigte.



- 404 -

Kr blieb nämlich nicht Ihm Skulptur und Malerei und Hergleichen Kunst : von der Aesthetik, die sich in der Hildnerei entwickeil hatte, war ein Niederschlag auf das wirkliche Lehen ausgegangen — natürlich in erster Linie auf das höhere, verfeinerte gesellige Lehen. Die Anschauungen der Kunst darüber, was in bezug auf Bewe- gungen und Stellungen schön war, hatten Kinlluss auf die Tanzschulen und auf die Kegeln für geselligen Anstand erhalten.1 Lud je mehr die Monarchie und ihre Um- gebungen zu Höhen hinausschoben wurden, wo sie nicht mehr in frischer Verbin- dung mit den besseren, volkstümlichen Schichten der Menschheit stehen konnten, eine um so grössere Alleinherrschaft musste jene Schule für schöne Manieren auf den Höhenpunkten des Lebens gewinnen. Alle Lehensäusserungen werden manieriert, voller Formeln und Phrasen und zierlicher Schwingungen  ; das gilt ebenso sehr von der Schreib- und Hedeweise als von der Art und Weise, wie man stand und ging und sich iHMiahm. Ks kam nicht darauf an, einer ganzen und soliden Ansicht, einer von innen kommenden Hingebung Ausdruck zu verleihen: es kam nur darauf an, ge- sellschaftlich zu sein.

Und dies hatte wiederum seine Hückwirkung auf die Kunst, die die Manieriert- heit in zweiter Polenz aus dem Salon und der Tanzschule aufnahm.

Es war freilich nicht das erste Mal, dass die Menschenschilderung der Kunsl von den gesellschaftlichen Manieren der höheren Stände beeinlhisst worden war. Dies ist z. H. in der venetianischen Kunst des sechzehnten Jahrhunderts, namentlich in Paolo Veroneses (!cmaldcn der Fall; im übrigen Italien findet man auch Züge davon bei Parmeginnino und Baroeeio, später l>ei Pietro da Corinna, bei dem es schon einen ziemlich rokokoartigen Anstrich hat. Nicht weniger deutlich tritt es im siebzehnten Jahrhundert in die Erscheinung bei van Dyck als Maler des englischen Hofes und bei seinen Nachfolgern in dieser Stellung wie Peter Lely (siehe sein Por- trät von der Dame mit der Hose im Kopenhagener Kunstmuseum). Das englische lloflcbet) unter den Stuarts scheint überhaupt weiter vorgeschritten gewesen zu sein in der Dichtung des manierierten Wesens als das gleichzeitige französische unter Ludwig XIII., ja noch unter Ludwig XIV. in seiner früheren Zeit; und zwar obwohl der französische Hof und seine Kunst schon früher, in der zweiten Hälfte des sech-

> Ich kenne keine .schelmischere und gutmütigere Kritik hierüber als folgenden Dialog mag Alfred de Musset«  «II ne faut jurer de rien>:

Her Tanzlehrer: Warum wollen Sie doch den Kopf nicht ein wenig drehen und die Arme ein wenig winden, mein Fräulein?

i'iicilie: Ja, aber wenn man doch nicht gern fallen will, muss man doch gerade aussehen.

Der Tanzlehrer: Das ist doch entsetzlich! Sehen Sie mich an! Falle ich? Sie bewehren sich nach rechts und sehen nach links; das ist doch so einfach wie nnr möglich.

So schrieb Mussei um die Mitte des Ii». Jhdts., aber das Prinzip des Tanzlehrers, das der Dichter wohl seiner Zeit und der Wirklichkeit entnommen hat, ist noch reines Rokoko, und zwar trotz der grossen Umwälzungen, die sich inzwischen in der übrigen Kunst geltend gemacht hatten. F.s konnte sich verlohnen zu wissen, aber es ist sehr schwierig zu untersuchen, inwiefern die Tanzkunst, namentlich der Theatertanz im l'.t. Jhdt. mit der Entwicklung der Bildncrei Schritt ge- halten hat, oder ob er nicht in seinem Stil wesentlich als unmittelbare Fortsetzung des Rokoko- Stils zu betrachten ist, obwohl er Vorwürfe behandelt, die gänzlich im Widerspruch mit dem Charakter dieses Stils stehen.



- 105 -


zehnten Jahrhunderts, unter den letzten Königen de* Hauses Valois einen bedeutenden Hang xu koketten Affiliationen in der menschlichen Gestalt an den T:ig gelegt halten: man kann solche Züge bei den Uildhauern jener Zeit, namentlich bei Germain Pilou 1 beobachten.

Aber erst in Ludwigs XIV. späteren Jahren gelangten die feinen Sitten in dem Treibhaus des französischen Hofes zu voller Hlüle, und erst um das Jahr 1700 be- herrschten sie die Kunst derartig, dass ein erbt und natürlich empfundener Ausdruck eine wahre Ausnahme ist. Von dort breiteten sie sieh dann durch eine Art psychischer Ansteckung über das übrige Kuropa aus; dass die Menschen eigentlich immer zu dem Geschlecht der Affen gehört haben, hat man schon lange vor Darwin beobachten können. Die Ursache war nicht allein in der unermesslichen sozialen Höhe des fran- zösischen Hofes zu suchen ; der spanische war früher wohl ebenso vornehm gewesen, aber er war in seiner abgeschlossenen Arroganz steifer, trübseliger, langweiliger. Der französische Hof dagegen war bis in seine höchste Spitze gefällig: Le Roy .soleil strahlte über einem Firmament kleinerer Wellen  ; dadurch erhielt dieser Hof eine so ausserordentliche Autorität als Schule der Geselligkeit in ganz Kuropa. Da- durch erhielten auch die Manieren, wie künstlich eingeübt sie auch sein mochten, einen gewissen nationalen Charakter; sie haben etwas von der französischen Eigen- tümlichkeit an sich, das alle Umwälzungen überdauert, durch die verschiedensten, ja untereinander entgegengesetzten Systeme von Manieren hindurch: dies Spitze, Klein- liche, Pikante und Provokante, das das Leben gleichsam in die Fingerspitzen und Zehenspitzen hineintreibt, während die Manieren der Italiener, wie affektiert und deklamatorisch sie auch sein konnten, weit mehr Handlichkeit und Grösse bewahrten.

Es stimmt am besten mit dem sozialen Charakter dieser Kunst überein, dass man in erster Linie betrachtet, wie sie den K ö n i g schildert — wir meinen natürlich den König aller Könige, Ludwig XIV. In alten Zeilen hatte man einen König ganz im selben Geiste dargestellt wie jeden andern Menschen, natürlich und einfach. Nicht nur im Mittelalter, oder im fünfzehnten Jahrhundert, sondern noch im grösstcu Teil des sechzehnten war den Königen im Allgemeinen von ihren Porträtmalern so wenig geschmeichelt worden, dass wir von dem Staudpunkt späterer Zeiten aus häutig in Erstaunen geraten können, dass so viel Ehrlichkeit geduldet wurde. Dies halte sich in der Folgezeit langsam geändert; und mit dem Anfang des achtzehnten Jahrhunderts hatte die Kunst der  »Schmeichelei* ihren Höhepunkt erreicht.

Die französischen Hofmaler, z. U. llyacinlhe Higaud, nahmen als eine Art allge- mein gültiger Formel für das Köuigsporlrät eine Stellung an, deren Grundzug man recht häutig schon auf Hcrrenporträls früherer Zeiten fand: die eine Hand in der Hüfte, die andere auf den Knopf eines hohen Stockes gestützt, den Kopf keck auf die Seite geworfen, den einen Fuss in einem männlichen Schrill vorgesetzt. Dies


1 Siehe in der Abgusssaminlung der Kunstakademie) zu Kopenhagen dieses Bildhauers Monu- ment für König Heinrichs II. Herz, mit den drei ziemlich hofdanienmassigen Figuren von — man weiss nicht recht, ob es die Grazien sein sollen oder die drei christlichen Tugenden  : Glaube Liebe, Hoffnung.



— 106 —


Resultat war nicht auf einmal entstanden: man kann verfolgen, wk: sich die ein- zelnen Züge Her Stellung, jeder für sieh, vom Anfang des sechzehnten Jahrhundert- an entwickeln. Fast ein Jahrhundert später sind alle Züge zu einem typischen Ganzen gesammelt  : so malle z. 15. Franz Mals gern seine von Keckheit und llel«>r- mul slrnlzenden Kavaliere; mit vornehmerer Diskretion und mehr Krnsl ist das Motiv von Philippe de Champaigno hei einein Porträt Ludwigs XIII. und von van Dyck hei seiner herühmten Porträt (ig ur Kails I. von Kngland henutzl. .letzt kann man fast geometrisch die Ports.«  drille in der Uichtung des Manierierten messen, wenn man mit diesen königlichen Porträts lligatids Prachlporlräl (im Louvrct von Ludwig XIV. ai^

hr im. seinen späteren Jahren 1701) vergleicht. Die Hauptlinien der Stellung sind dieselheu wie hishcr, denn es macht keinen Unterschied in dieser Peziehung, dass der König ilie Hand nicht mehr auf den langen Stock sondern auf das königliche Szepter stützt, dessen unteres Knde auf einem mit den ührigeu Hegalien hedecklen Tische ruht. Aher der Kopf und die Schultern sind mehr hinlcnühergelchnl : der ticsiehlsausdru«  k ist zugleich mehr vornehm heranlassend, gnädig und holdselig lächelnd, mir zahnlosem Munde, die Küsse stehen mehr auswärts, der Körper halanzierl künstlich auf den langen dünnen Deinen in hellen seidenen Strümpfen. Hierzu kommt dann noch die ganze, bombastische Ausstattung mit den Syrnholeri der K«>nigswür«ie und eine superlativisch grosse Allongeperücke: man sollte fast glauU'n, dass (ioelhe hierauf angespielt hätte mit den frechen Worten: Selz dir Perücken auf von Millionen Lorken, du bist doch immer, was du bist.

Hier ist also das Motiv, das früher als Charakteristik einer kecken, ein wenig kriegerisch herausfordernden Männlichkeit galt, zu einer Mischung der grössten Prätentionen und der zahmsten ( icsellschafllichkeil erweitert, es ist ein Löwe und «tili Schaf, ein Donnergott und ein alles Weil» in innigem Verein.

So erhält sieh die Mode noch eine Weile, bis ins achtzehnte Jahrhundert hinein; sogar hei Porträts fürstlicher Knaben wird dasselbe Motiv angewendet, obwohl es mit der kindlichen Natur ganz unvereinbar ist.'

Allmählich fordert mau immer mehr Leichtigkeit in der Haltung. Ludwig XV. steht — selbst wo es sich um Statuen mit monumentaler Pestiuimung handelt, wie ein Tänzer da, auf dem Sprung, sich auf das Parkett hinauszustürzen. Seine Gemahlin und seine Mailressen sollten eigentlich so leicht erseheinen wie Flocken, die man weg- blasen kann. In dieser Deziehung ist der Hokoko-Slil wirklich weiter gelangt als die Kunst irgend einer Periode, z. IV in Figuren wie Hudlauine (Houstons Statue der

Ki«. im. Königin Maria Leczimska i lTüh, oder de la Tours Paslellbild von Madame Pom-

1 Für mich, «tor ielt «las obige vor ein paar J;»hren, nach einem Aufenthalt in Paris nieder- geschrieben halte, war es eine Itefricditruntr, ein ganz, reines Exemplar diese» Typus von Küttigs-

l-'u 164. purträte, nämlich «las hier wiedergesehene (icmalde Fried richtt V. in <ter Gaunö-Samuilung /.u linden. Es gehört zu den spätesten Exemplaren des Typus und wie mnn sieht, ist hier nicht* mehr von einem Sonnengott zu verspüren; das Schaf hat den Löwen verschlungen Wo so viel durch Modo und Konvenicnz von aussen aufgegeben .ist, kann man natürlich auch keine wirklich charakteristische Aehnlichkeit mit der dargestellten Persönlichkeit voraussetzen. (Vergl. auch die

Kig iisr». Figur Friedrichs IV.)



— 107 -


padour (1755), beide im hon vre, und beide in ihrer Art hervorragend talentvolle Arbeiten.

Ks war überhaupt völlig zu Ende mit dem derben und wahrheitsgetreuen Porträtstil aus Velasquez' und Kombrandts Zeit, <Jie doeh erst kurze Zeit zurücklag. Ks gehörte nicht zu den» guten gesellschaftlichen Ton, mit einem Gesieht vor die Oeucntlichkeil zu treten, das das Gepräge kräftiger tiefühle oder eines ernsten Willens trug: aller Charakter sollte ausgelöscht, puluiert, verallgemeinert werden, Ks handeil sich darum zu gefallen; es ist die Welt des Schmciehelns, Schminkens, des hüchelns und der Komplimente. Schon die Porträts aus hudwigs XIV. Zeit verfolgen uns mit ihrem einförmigen, zugleich kordialen und schalkhaften häeheln ; selbst ein aller Feld- herr wie Turenne, der grausamste- Hund in der ganzen Christenheit, ein Schrecken und eine Geissei für die häuder, durch die er seine Armeen führte, und der auf wahrheitsgetreuen Porträts, wie z. H. «lern von Philippe de Champaigne in München aussieht wie ein Tolcnkopf, wird in Nanleuil mit einem so milden häeheln dargestellt, als handle es sich um eine gemütliche Grossmutter in ihrem hehnstuhl. Ks ist überhaupt oft erstaunlich zu sehen, wie die Jlerrenporträls — Generäle und Minister — ebenso wie Geistliche und Gelehrte - Mienen wie alle oder junge Damen an- nehmen. Zu der gesellschaftlichen Forderung gehörten ja«lesris, les jeus et les bons mols>, jedenfalls eine gewisse strahlende, glänzende Heiterkeit der Mienen (gaiete): verbannt ist nicht nur alles, was mürrisch und verstimmt ist, sondern auch was tief ist. Jeder Ausdruck soll empressiert sein, alles soll auf der Oberfläche aus- gespielt werden. Dadurch wird der Kindruck hervorgerufen, als habe die Seele nur einen Nachen Grund.

Dass die Kunst ihr Gepräge von den entwickelten Gewohnheilen des Menschen- lebens erhält, ist etwas, das wir bis zu einem gewissen Grad zu jeder Zeit linden, nicht am wenigsten in den allerältesten Civilisalionen, z. 15. in denen der Aegypler. Aber man kann sich keine grösseren Gegensätze vorstellen als zwischen der ägyp- tischen Kunst und dein Rokoko-Stil. Das kommt daher, dass die älteste Kunst ruhige Gewohnheiten kryslallisiert, während der Kokoko-Stil gerade die aller leb- hafteste Ihiruhc, das lliessendste Wesen zu seiner Gewohnheit macht. Aber darin liegt ein Widerspruch, und das ist nicht nur ermüdend, sondern auch leer und unwahr.


Man braucht nur die allgemeinen bekannten Züge der damaligen Modelracht : die Fischbeine, den Schnürleib, die Perücken u. s. w. zu nennen, um daran zu erinnern, wie willkürlich die Modo die natürliche menschliche Gestalt umformte. Solche Modelrachten setzen geradezu affektierte Manieren in Haltung und Hewegungen voraus und würden ohne sie umlenkbar sein. Insofern hellseht also eine gewiss«' ästhetische Harmonie, so lange die Kunst die Menschen ihrer Zeit in ihrem eigenen Kostüm darstellt: man fühlt, dass das eine dem andern entspricht. Anders aber stellt sieh die Sache, wo der Hokokoslif alle jene modernen Manieren auch auf die nackte Gestalt überträgt oder auf Gestalten in dem von der Antike



- 40S -


vererbten freieren Kostüm, rl. Ii. : auf Personen aus einer idealen Well, die für ganz unberülirl von den Gesellschaftsmaniereu des achtzehnten Jahrhunderls gelten sollten, — mag es nun der Olymp des Altertums oder die Meroenwell, mögen es weltliche oder kirchliche Allegorien sein. Dies eidspricht dem bekannten Stil in der französi- schen Tragödie, wo Personen aus dem lleldenlebcn des Altertums einander mit Monsieur oder Madame anreden und andere Redensarten aus den modernen Sah ms im Munde führen. Auf diese Weise kommt es, dass die Kunst gleichsam die Behauptung enthält, dass dies ganze gekünstelte Wesen zu der Natur des Menschen, /,u seinen dauernden und tiefer liegenden Grundzügen gehört; aber hierin lag eine Unwahrheit, die sich im Laufe der Zeit mehr und mehr fühlbar machen musste, und die in Wirklichkeit auch der Stein des Anslosscs wurde, über den der Rokokostil strauchelte.

Man hatte bereits früher in der Renaissanceperiode Altertum und Gegenwart, Ideales und Reales vermischt, indem man die Personen seiner Zeit als Gestalten aus dem Altertum in dessen Kostüm, mehr oder weniger nackt, auftreten Hess. Diese Gewohnheil war im Zunehmen begriffen. Zur Zeit Ludwigs XIV. wurde es sogar ganz allgemein, dass der Monarch als Jupiter oder Apollo dargestellt wurde, z. U. zu Pferd, einen Donnerkeil in der Hand : das ist eine Mischung der Tradition des Alter- tums und der Ritterzeit, denn das Altertum hatte sich den Donnergott niemals auf einem Pferderücken vorgestellt. Aber in Ludwigs XIV. älterer Zeit (»lein sieb- zehnten Jahrhundert) hatte man doch in der Regel die Gestalten und Gebärden der modernen Person ein wenig nach «lern Vorbilde der antiken klassischen Kunst umge- modelt, um eine gewisse majestätische und |H>mpöse Würde zu erzielen. Vom Anfang des achtzehnten Jahrhunderts an schlägt man in der Regel den entgegen- gesetzten Weg ein: selbst wo die Gestalt in einer antiken Rolle auftritt, modelt man sie nach den eleganten und galanten Maniereu des modernen Gesellschaftswesens Fig.^M um. 1 Wie der König Jupiter sein sollte, so sollte die Königin Juno, sollten Prinzes-

1 I>er hier angedeutete Unterschied zwischen älterem und neucrem Stil ist in Kopenhagen recht deutlich illustriert durcli die beiden königlichen Reitcrstatucn  : Abu Cesar Amon&eux' Christian V. auf dem Königs-Neumarkt und Jacques Franc^ Saly's Frederik V. auf dem Amalicnberger Schloss- platz. Beide Monarchen sind in römischem Imperatoren-Kostüm dargestellt. Beim Vergleich raus«  man nur vor Augen haben, dass das schwerfällige und pompöse Wesen des älteren Stils hier un- gewöhnlich talent I u s durch das Blei-Pferd auf dem Könips -Neutnarkt, und die Eleganz des neu- eren ungewöhnlich talentvoll durch das Bronze-Monument auf dem Amalicnberger Schlossplatz repräsentiert ist. Das letztgenannte gehört, sowohl in bezug auf Komposition als auf Ausführung zu den besten Werken der Plastik aus der Rokokozeit, die man sehen kann. Eine Tradition erzählt. Thorwaldsen sei in seinen älteren Jahren bewundernd davor stehen geblioben; und er, der  »elber ■ grosse Reiterstatuen ausgeführt hatte, hat zweifelsohne Blick für viel mehr Anerkennenswürdigcs daran gehabt, als wir es zu haben vermögen. Aber wenn man in erster Linie nach der Auffassung des Menschen in Friedrichs V. Figur fragt, muss doch zugegeben werden, dass es sich nicht über die allgemeine Flachheit und Larve des Zeitalters erhebt. Der menschlichen Gestalt wird Thorwaldsens Bewunderung auch nicht gegolten haben, denn 6einc eigenen Figuren sind ja in einem ganz anderen Geiste aufgefasst. Dcbrigens muss bemerkt werden, dass Saly's Werk — jedenfalls in bezug auf die Komposition — wenig originell ist: es steht in einem auffallend nahen Verhältnis zn Frang. Girardons Reiterstatue von Ludwig XIV., die 1 * »i*9 in Paris aufgestellt, aber während der Revolution zerstört wurde. (Siehe das Bronzemodell im kleinen Massstab im Louvre.)



— 409 -


sinnen und Marquisen Diana sein: diese Travestie der strengen jungfräulichen Göttin der Keuschheit, der .lägerin mit der hochgeschürzten Tunika, gab jedenfalls den Damen Gelegenheit, ihre schönen Beine zu zeigen. Aber unter der Verkleidung ver- leugnen sie keineswegs ihr rein modernes Wesen. Mochte nun ein Porträt einer Dame verlangt sein, die der Künstler als antike Göttin oder Nymphe auftreten Hess, oder mochte die Aufgabe auf eine Göttin oder eine Nymphe lauten, der der Künstler die Form und Gebärden einer Dame gab, wenn er auch keine Porlrälähn- lichkeil mit einer bestimmten Person suchte, so ist das Resultat vom künstlerischen Gesichtspunkt aus das gleiche: der Stil ist anfalle Fälle modern. Man lindet sogar Göttinnen des Altertums, die mit Puder im Haar gemalt sind.

Der Olymp war der Hof, und der Hof war der Olymp. Um ein Reispiel zu wählen: Bouehcr malt Apollon, der vor seine Mutter Lelo hintrilt, um ein Lied zu ihrer Khre zu singen. Der Gott schreitet mit würdigen, grossen Schritten daher, wie ein Kavalier des königlichen Hauses, sehr auswärts und mit sehr spitzen Füs- sen. Er lehnt sich gegen eine Wolke an seiner Seile wie gegen ein Kissen und streckt die linkt; Hand nach der Lyra aus, die ein kleiner, dienender, belhigeller Genius in Bereitschaft hält; von der Hand streckt er nur die mittleren Kinger aus, während die äusseren gleichsam in der Luft Hullern. Mit der rechten Hand erklärt

er höflich seine Absicht: Erstaunen Sie nicht, Madame —

So etwas nimmt sich in der Beleuchtung der antiken Kunst, die die wirklichen Apollos ausführte, verkehrt und lächerlich aus, aber es lässl sich doch nicht leugnen, dass die Kunst dos Rokokosiiis, indem sie alle Gestalten im Geist ihrer Zeit auHasste wie engherzig und frivol dieser Geist auch war — ihnen ein gewisses und un- mittelbares und aktuelles Leben verleiht, das wir in der Kunst aus Ludwigs XIV. früherer Periode in der Regel vergebens suchen : diese war gelehrter, mehr aus zweiter Hand, glanzloser. Von einem rein ästhetischen Gesichtspunkt aus könnte du» als ein Vorzug des Rokokos aufgefasst werden. Aber eine Aesthetik, die den Dingen mehr auf den Grund geht, würde doch all dies Verkleiden und Entkleiden nicht gut heissen können. Die nackten Figuren sehen nicht so aus, als gehöre es naturgemäss zu ihrer Existenz, dass sie nackt sind: sie sehen mehr aus wie die feine Gesellschaft, die sich ausgekleidet hat. Und das hatte faktisch eine ganze Menge Misslichkeiten im Gefolge. Nicht selten musste die Kunst die Rolle eines ver- schlagenen Kammerdieners oder eines Maitre de plaisir übernehmen, der mittels einer intriganten Anwendung antiker Namen und idealer Begriffe den niedrigeren Neig- ungen der höheren Gesellschaft Botendienste leistet; aber dies ist ja nicht die Be- stimmung der Kunst hier auf der Welt.

Von der Mythologie und der übrigen idealen Well wurde überhaupt verlangt, dass sie ihr freundlichstes Gesicht zeigen sollte; man wollte ungern das kitzelnde Wohlbehagen des Lebens stören. Daher eine Vorliebe für das Weiche und Feine, für das junge und jüngste Aller, die an Correggio erinnert — freilich ohne seine Originalität. Daher ein Gewimmel von Liebesszenen, von Nymphen und Amoretten und munteren Allegorien, als kleine Kindergestalten personiliziert, oder von Kindern



— 410 —


allein, ohne allegorische Redeulung. Seit der Mille dos achtzehnten Jahrhunderts werden die Hirtenszenen sehr allgemein — man muss hierbei freilich nicht an die beschei- dene und nützliche Tätigkeil, Kühe und Schale zu hüten, denken ; denn daran denken Bouchers Hirten und Hirtinnen am allerwenigsten. Sie sind ganz jung und verlieht und viel zu bequem, um auf ihren Meinen zu stehen  ; sie liegen lieber im (iras wie zwischen Daunenkissen im Hell oder wie die (lütter auf ihren Wolken. Kine Anweisung auf diese Art von idyllischen Hirlenszeneii war ja in den bukoli- schen Gedichten des Altertums gegeben; aber damit verbinden sich vermutlich auch Gedanken, die dieselbe Richtung einschlagen wie das neue Rousseuusche Evangelium von der Herrlichkeit des Naturlehens im Gegensatz zu dem Elend der Civilisation. Es sollte ■Natur- sein. So kann man hier schon ein dämmerndes Erwachen der Sympathie für das Volksleben spüren, das zu den zahllosen Hauern- und Fischerbildern unseres Jahrhunderts geführt hat. Aber wir heliuden uns hier freilich nur in einem Kinlei- tuiigsstudium, das noch nicht in den Kern der Sache eingedrungen ist. Man ist unendlich weil entfernt von dem wirklichen Volksleben, das man nie gesehen zu haben meint, und ist nicht weiter gelangt, als dass man seinen eigenen, völlig selbst- geschalTeneii Vorstellungen von seinem Reiz den Hof macht.

Es fehlt auch nicht ganz an Kraftfiguren: hier sind kämpfende Herkulesse, leidende Prometheuse, gestürzte Titanen, etc. - Anstrengungen, die bis zum Aetis- i*fi sersten gelrieben werden, Leidenschaften, die zu der wildesten Raserei aufgestachelt werden. Man wird hier auch daran erinnert, dass die Rokokoperiode die Krbin der Vorliebe der Renaissance für das unbeherrschte Pathos ist, und man merkt zugleich, dass das Tempo der Leidenschaft im Laufe der Zeit immer schneller, die Gemüts- bewegung immer kurzatmiger geworden ist. Aber in all' diesem Rasen und Lärmen liegt keine Tiefe des Gefühls und deswegen keine wirkliche Fähigkeit zu imponieren oder mit fortzureisseu. Man sieht zu deutlich, welche verzweifelte Anstrengungen die Kunst macht, um das ganze Meer der Seele zu bewegen, dass es sich zu einer ein- zigen Welle erhebt, es soll nämlich eine Leidenschaft sein, derengleichen man nie zuvor gesehen hal. Und es macht auch den Eindruck einer sehr grossen Welle — die aber einem ganz kleinen Meer entstammt.

Ueberall zerstückelt man die Seele in augenblickliche Klickte und spitzt gern den Ausdruck zu einem Wortwechsel zu, der so deutlich sein soll, als wäre er wirk- lieh geführt. Auf Grabmälern, wo die Kunst früher mit der grössten Ruhe auftrat, werden jetzt die lebhaftesten dramatischen Szenen, sinnreiche Pantomincn zwischen dem •Toile» (als Knochenmann,), 'der Ewigkeit-, .der Zeil', 'dem Leumund-, -der Geschichte, 'der Gerechtigkeit - und einem grossen Haufen von Allegorien aufgeführt Ks ist eine Art Rebus, mit Personifikationen in Szene gesetzt. Ks gibt kaum eine Ställe, wo so vioJe und so grossartige dramatische Grabmäler dieser Art aus dem achtzehnten Jahrhundert gesammelt sind, wie in der Westminsler Abtei in London, im übrigen lindel man sie überall in derselben Weis«;. Der Kern in ihnen ist eigentlich irgend eine Sentenz, die sich zum Ausdruck in Worten eignet, ein witziges poin- liertes Epigramm, ein hon mol. Zu Klircn eines verstorbenen Khreiimanncs verbinden



- 411 -


/.. Ii. die Kraft- (Herkules) und die * Weisheit. - (Minerva) ihre Embleme mit einander die Keule, den Spiegel, die Schlange und hängen sie an dem Medaillon des Verstorbeneu auf. Aber damit diese schönen Pointen dem Desehauer nicht verloren gehen, agieren die handelnden Personen viel stärker, als es die einlache Handlung eigentlich erfordert : sie unterstreichen und übertreiben ihren eigenen Ausdruck. Da- durch kommt es, dass selbst Kompositionen von so tüchtigen Hildhauern wie Dou- biliae (»der Pigalle zum Lachen reizen, was ja eigentlich nicht der Zweck von Grab- malen) ist. Wohl ist es immer eine Ehre für den Künstler gewesen, wenn es ihm gelang, seine stummen Figuren s p r e «• h e n d darzustellen, aber die beste Dcred- samkeil hört gerade da auf, wo das hörbare Wort beginnt. Will mau mit Macht und Gewalt die plastischen oder gemalten Gestalten bestimmte Aeusscrungen aussprechen oder Sentenzen illustrieren lassen, so ruft man zu leicht den Dämon des Lachens hervor; man niuss jedenfalls einen sehr starken llnlerstiom bewegten Gefühls spüren können, um ihn lern zu halten. Aber hier handelt es sich weit mehr um ein Spiel der Hellexion als um Gefühl.

Es war überhaupt ein literarisches Element in die Kunst hineingeraten. Sie arbeilet in weit höherem Masse als bisher mit der Literatur zusammen, sie macht Vignetten und Illustrationen zu gedruckten Dächern. Lud nachdem sich die moderne Literatur entwickelt hatte, halle die Dcdeutung des Wortes und des Gedankens das üebeigewichl und den Eindruck der Gestalt selber gewonnen, sie darf jetzt häufig nur noch als Glied in einem Satze gelten. Schon in Dübens grosser Galerie Medicis ist vieles, was in Worte übersetzt werden muss, um verslanden zu werden; dort machen aber die gewalligen grossaiigcleglen Gcslult.cn doch einen überwältigenden Eindruck. Allmählich schrumpfen dann die Gestalten zusammen, während die Dellexiou sich stärker und stärker entwickelt.


Der Dnki'koslil starb so zusagen eines gewaltsamen Todes so wie der monar- chische und aristokratische Geist, der ihn beseelt halle. Er wurde uril liefer Ver- achtung von der Nachwelt hei Seile geworfen, von der Zeil, die mit der grossen Devolution schwanger girrg, noch eine geraume Zeil ehe diese zur Welt geboren war. Nachdem er dann SO ill) Jahre mit Schande bedeckt gewesen, kamen seine Erzeug- nisse in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts wieder zu Ehren und Würden, namentlich in Krankreich und England: sie wurden von Sammlern gesucht und stiegen im Geldwert, und hervorragend talentvolle Federn rührten ihre Verteidi- gung und hielten das Interesse für sie auf dem Siedepunkt. Es isl von Wichtigkeil für die Kunstgeschichte, solche Schwingungen im Geschmack zu verfolgen, sie linden überall statt, gelangen aber in Frankreich zum kralligsten Ausdruck, - das ist von Wichtigkeit, gerade weil man sich nicht davon irre leiten lassen muss.'

Der Streit dreht sich z. D. um den Namen D o u c h e r: er war zu Ludwigs XV.

— - t

' Vor^l. Julius L«n x?; Thorwalilscn? I>an>lellnnu Oos Menschen, Geori; Steinen«. Verlag Berlin lSi»4, Vorwort..



- 412 -


Zeit von der Welle tles Glückes am höchsten getragen, um dann später mehr als alle andern Gegenstand der Verachtung zu werden. Wenn man jetzt behauptet, dass dieser Künstler eine dauernde licdeulung hat als Repräsentant für sein Zeitalter um! dessen Gesellschaftsordnung, so hat man sicher Hecht: die Geschichte sieht sich wirklich gezwungen, sich mit ihm und den übrigen Hokokomalern zu beschäftigen, was auch wir eben getan haben. Die Geschichte muss ja auch von Ludwig XV reden, der während eines halben Jahrhunderts zweifelsohne eine bedeutungsvolle Persönlichkeit für Kuropa war; aber für Ludwig XV. selber wäre es vielleicht besser, wenn die Geschichte nicht von ihm redete. Die Geschichte führt ihre Arbeit nicht des Vergnügens halber aus: sie würde keine Geschichte sein, wenn sie nicht aner- kennte, dass ihr Slnlf gegeben ist, mag sie nun Geschmack daran finden oder nicht.

Indessen darf nicht übertrieben werden, was man in rein historischer lleziehum: von den Künstlern des Rokokostils lernen kann. Wenn man auch zugeben muss, dass sie ein Ausdruck ihrer Zeit sind, so darf man dies jedoch nicht in der Rcdcntung uuirassen als ob ihre Schilderung von dem Leben und den Menschen ihrer Zeit der Wirklichkeil entsprächen. Sie waren erstens völlig blind in beziig auf die niederen Schichten der Gesellschaftsordnung, so wie sie in Wirklichkeit waren, für Alles das. was aus dem Hoden des Volkes herauswuchs und gährte, und das gegen Knde des Jahrhunderts seine ungeheure Macht zeigte, indem es die ganze oberste Gesellschafts- sehichl, in der die Kunst ihr Schniarolzerleben geführt hatte, sprengte. Jenes freie und kühne Denken, das die grössle Khre des achtzehnten Jahrhunderls bildet, findet nichts entsprechendes in seiner Kunst vor dem Knde des Jahrhunderts. Aber ausserdem ist das Rild, das der Rokokostil von der höchsten Gesellschaftsschicht gibt, selber in höchstem Grade einseitig und entspricht keineswegs in dem Masse der Wirklichkeit wie z. II. die holländische Malkunst des siebzehnten Jahrhunderts. Da ist natürlich anderes und mehr gewesen als lauter gesellschaftliches Lächeln. Nein, der kultur- historische Wert dieser Kunst beschränkt sich darauf, Alles - Reales wie Ideales mit den Augen einer einzelnen, herrschenden, aber sehr begrenzten Gesellschafts- klasse zu sehen, und uns zu lehren, was diese Augen gern sehen wollten. Aber auch dies ist eine Weisheit, die die Geschichte nicht unterschätzen darf.

Wir verlangen jedoch mehr von der Kunst, als dass sie ihre Zeit und ihre Gesellschaftsordnung repräsentiert, und erkennen sie nicht an, nur weil sie das tut. Phidias war ein Repräsentant seiner Zeit und Moucher der seinen, — kann mau etwa daraus schliessen, dass Roucher und l'hidias gleich grosse Künstler waren V Ks handelt sieh also um den Wert dessen, was sie repräsentieren und dem sie Aus- druck verleihen. Gibt es aber heutzutage einen Menschen, der allen Krnstes der Gesellschaftsordnung das Wort reden will, die der Rokokosiii wiederspiegelt  ? Km schrecklicher Sumpf ohne Ablauf und Ziilluss, wo die Seerosen als üppig wucherndes Unkraut sprossten  ? Wie sollte die Menschheit von neuem atmen können in jener parfümierten Atmosphäre, jener Welt von geschminkter Unechtheit, von geistiger Feigheit und Schlaffheit, von Kilelkeil und Alfektalion, von Lnbedeulendheit und l~n- wirklichkeit und Oberflächlichkeit, nachdem sie ihr einmal glücklich entronnen war V



- 413 -

Li vulgarite elegante — so hal Rouehers talentvollster Verteidiger (Goncourl) seine Auflassung des Menschen deliniert; und dieser ausserordentlich treffende Aus- druck gilt ganz sicher nicht nur von diesem Künstler sondern von der Kunst des Zeitalters überhaupt. Es fehlt la distinclion — abermals führt der Verteidiger das Wort — , und Goncourt schliessl sein Plaidoyer, indem er seine Ansicht zu dem offenherzigen Salz zusammenfasst : kurz — il est canaille. Ganz recht, es sind Dutzendmenschen, billige Ware, die uns Roueher vorführt, und ihre eleganten Manieren verleihen ihnen nicht mehr wirklichen Wert. Wie tief ist nicht der Wert des Menschen seit der ersten Zeit der Renaissance gesunken, seit den Tagen Masaecios und van Eyeks! Oder Giovanni Rellinis, und Mantegnas, Leonardos und Michel Angelos, Quinten Massys und Holbeins Tagen! Aber wenn die Rildnerei um so besser ist, je höher sie die menschlichen Werte ansetzt, so ist und bleibt die Kunst der Rokoko- zeit die schlechteste, die die Geschichte bisher gekannt hat.

Man wird vielleicht Einspruch dagegen erheben, dass soviel von Boucher als dem Repräsentanten des Rokokostils die Rede ist und daran erinnern, dass es einen weit besseren gibt, nämlich den genialen Watteau aus dem Anfang der Periode. Und ganz sieher ist in ihm auch mehr Stimmung, Phantasie und Originalität enthalten als in allen den andern. Er hat entzückende Sachen gemalt, und er besitzt sowohl Anmut als Laune in der Schilderung der Manieren seines Zeitalters. Rei ihm ver- söhnen wir uns auch leichter mit ihnen, weil er uns mit Vorliebe in eine Welt ein- führt, wo die Manieren hingehören, zwischen Komödianten und Gaukler und allerlei lustige Personen, deren Privilegium darin besteht, sich zu «machen», wie man zu sagen pflegt. Er hat auch Funken einer wirklichen und liebenswürdigen Naivität. Aber auf der andern Seite hebt er sich doch' nicht über seine Zeit empor, insofern als die grosse Menge seiner Gestalten wirklich ein angenommenes Wesen haben  : sie spielen Komödie mit ihren Figuren und stellen sich in gekünstelten Attitüden auf  : und sie haben die beste Gelegenheit dazu, da Watteau unablässig Spiel und Tand malt. Man vergleiche ein ländliches Fest von einem der alten Venelianer mit einem von Watteau — wie unbedeutend, puppenhaft und kleinlich werden da die Figuren des Franzosen, — lauter Nippsmenschen !

Da ist etwas bei Watteau was an den schwedischen Barden Rellman oder an gewisse Seilen Goethes (z. R. im Wilhelm Meister) oder an Mozart erinnert. Obwohl er einer viel früheren Zeit als sie angehört, gehört er doch in ihre Gesellschaft, — in die beste des achtzehnten Jahrhunderts. Aber wenn Rellman anfängt, ernsthaft oder wehmütig zu werden, geschweige denn, wenn Mozart den Kommandanten die Treppe hinaufgehen lässt, oder sobald Goethe das Tiefere in der Mcnschenseele berührt so flüchtet der leichte Watteau und gehört nicht mehr zur Gesellschaft.1

Man könnte mit grösserem Recht J. R. Chardin (den Genremaler) als Künstler


1 Ich mochte hier an Emil Hannovers BchöneB Ruch über Watteau erinnern. Die Abschätzung Watteaus durch diesen Verfasser ist sehr nüchtern, aber ich glaube trotzdem, dass er ihn y.o hoch stellt oder nicht recht auf das in seinem Wesen eingehen will, das bei all seiner Liebenswürdigkeit doch unbedeutend und klein ist und bleibt.



— 11 1 -


anführen, der sich übel sein*' Zeil erhebt und unberührt von ihrem inan'n-i i<-rten Wesen dasteht. Aber von ihm gilt dasselbe wie von Watteau und dessen Nachfolgern, ilass sie überhaupt keinen bedeutenden Anteil au der kunsthislorischcn Entwicklung haben und ihr auch nieht den Weg gezeigt haben. Bas konnten die (ienremalei am allerwenigsten in einer Periode wie diese, wenn auch die Nachwelt mehr Vergnügen an den Cieriremalem findet z 15. auch (lornelis Troosl, Hogarth und (ein wcnijr später) (ihodowieeki — als au denen, die < bitter und Allegorien malten.

Meistens llössl die Bildncrci der Rokokoknnsl nicht einmal die Achtung ein. auf die das fleissige Verliefen in die Arbeit, das eifrige Studium des Themas An- spruch erbebt. Ihre Abfassung ist ebenso oberflächlich, wie ihre Produktion facil ist. Namentlich macht sich die Malkunst das [.eben sehr leicht. Sie lebt in «lieser Periode wie ein reduzierter (irand Sergneur und steht in bezug auf ' Fleiss und Tüch- tigkeit weit zurück hinler ihrem eigenen Diener und Nachahmer, der Kupfersliehkunst, der eigentlichen (iravierkunst. Audi die Bildhauerkunst steht durchschnittlich hoher als die Malkunst  : eine ganze Beihe von Bildhauern machten ernste und gründliche Sludieu in der menschlichen (ieslall als körperlicher Organismus. Nach dieser Rieli- tung hin kann man viel Tüchtigkeit in (hm Figuren finden, die in bezug auf .seelischen Ausdruck ganz versunken sind in Manierismus und Affekt ation.

Pierre Pagets energisches Beispiel hatte grosse Bedeutung für das achtzehnte Jahrhundert, und die Akademien stellten ernste Forderungen an die Bildhauer. Davon haben wir viele Beweise, vor allem aber mnss .1. B. Pigalle aus dem Hude der Periode (geb. 1711, | l7s!Y) genannt werden: er ist überhaupt einer der Meister, die es in rein naturalistisch forschender Beobachtung des menschlichen Körpers am wei- testen gebracht haben. Kr gehört wie Ribera zu denen, die sich mit vollem Interesse in die durch Alter und Welkheit abschreckende Form vertiefen können, was er in seiner Statue von Voltaire als uraller, nackt dargestellter Mann besser zeigte, als irgend ein anderer, lleberhaupl ist die zweite Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts eine von den Perioden, in denen das plastische ^ntercsse für die menschliche Gestalt am lebhaftesten und regsten gewesen ist, wenn es auch nicht dahin gelangte, die ganze Kunst zu beherrschen. Im Anfang äusserte es sich mehr naturalistisch und modern; dann schlug es zu erneuter Kraft um in der Aneignung des Stils der Antike

Aber damit beginnt dann eine neue Periode.

Hätte unsere Aufgabe hier darin bestanden, den -RokokosliB im allgemeinen in seinem ganzen Finning zu schildern und zu schätzen, so hätten wir ihm zweifels- ohne weit mehr einräumen können. Wenn man vom Rokokosiii spricht, hat man hauptsächlich die Architektur und die dekorative Kunst vor Augen. Und an der Architektur dieser Periode ist jedenfalls von einem rein aesthetischen Standpunkt aus das zu rühmen, dass er in ganz seltenem Masse als selbständiger Stil ausge- prägt ist, konsequenter und eigentümlicher ausgeprägt ist als irgend eine andere Stil- art seit dem Altertum, allein mit Ausnahme der (iotik Hie Fähigkeit, den Bingen



- 115 -

im Kleine n wie i in G rossen Fasson zu geben, die der menschlichen Natur so viel Unrecht zufügte, und die z H. in der Gartenkunst ein so despotisches Regiment über die ländliche Natur führte, war ein architektonisches Talent, das der Haukunst zu gute kam. Das Wesen des Zeitalters war in ungewöhnlichem Mass*' darauf angelegt, eine aesthetisehe Schale, eine kalte, aber glänzende und prachtvolle Schale anzusetzen. Hoch muss der Hegrifl" «Zeitalter» hier mit derselben Reschränkung uufgefasst werden wie bei der Malkuusl und bei der Skulptur : es handelt sich eigentlich ausschliesslich um die Spitze der Pyramide und um die gesellschaftlichen Schichten, die sich dieser Pyramide am meisten näherten. Her zweite, dritte und vierte Stand halte nur Teil an diesem Stil insofern, als sie vornehm tun wollten und an der -honetten Ambition, litten. Die Schale ist aber jedenfalls schöner anzusehen als der Kern, - wenn man hier über- haupt von einem Kern reden kann.



DEIl NEU-KLASSIZJSMUS.


BÜGKBLIC.K AUF NICOLAS DOUSS1N - LOUIS DAVID.

Den äusserstcn Platz auf dorn rechten Flügel in der Kunstwelt des siebzehnten Jahrhunderts hatte der Fran/ose Nicolas Doussin eingenommen.

hnissins Kunst schlug ihn: eigentümliche Richtung während seines Aufenthalte:? in Italien ein; aber schon ihm ging es so, wie es später häufiger der Fall gewesen ist. wenn tramonlane Künstler nach dem Süden kamen  : es wird ihnen als Fremden leichter, die Einseitigkeiten der Italiener zu sehen und dagegen zu reagieren, als dies den Italienern selber wird. Seit den ersten Tagen der Renaissance hatte man eine nicht genauer bestimmte Bewunderung und Khrfureht für die Antike genährt. Darin unter- schied sich Poussin noch nicht von den Italienern seiner Zeit, aber er sah klarer wie irgend jemand zu seiner Zeit, wie weil von der Antike entfernt die moderne Kunst in Wirklichkeit war. Ihm erschien es mehr und mehr als höchstes Ziel der Kunst, die ethische Haltung der Antike, ihren Ernst und ihre Würde im Figurenstii wieder zu gewinnen. Kr wurde ein früher Verkünder der strengeren, mehr objektiv antikisierenden Richtung, die erst ungefähr anderthalb Jahrhunderte nach ihm die Kunst Europas beherrschen sollte. Ilm das Jahr 1800 stand vielleicht auch sein Ansehen auf seinem Höhepunkt.

Sein Repertoire unterscheitlet sich im wesentlichen nicht sonderlieh von dem seiner Zeit. Aber er führte kühn antike Traditionen in Vorwürfe ein, wo sie niemals hingehört hatten. So lässt er die Göttin Victoria David nach seinem Siege über Goliath bekränzen (Gemälde in Madrid), und er versäumt nicht, nach Art des klassischen Altertums die Apostel bei dem heiligen Abendmahl zu Tische liegen zu lassen (die sieben .Sakramentsbilder im Rridgewaterhousc in London). Er war darin seiner Zeit voraus, dass er der klassischen Literatur neue Themata entnahm, so Lukians mo- ralische Erzählung von dem armen und Uigendsamcn griechischen Bürger Eudami- das, der auf dem Todeslager die Sorge für seine Mutter und seine Tochter den



- 4M -

Freunden leslamentiert (das Original befindet sich in Graf Moltkes Sammlung in Kopenhagen) — ein Thema, dessen strengem ethischen Ernst in Verbindung mit der knappen Ausstattung Poussin mehr als irgend sonst jemand Gerechtigkeit wider fahren lassen konnte — in starkem Gegensatz zu dem Geiste, der sonst in der Auf- fassung der damaligen Zeit von antiken Vorwürfen herrsehte.

Aher Poussin beschäftigte sich auch wirklich eingehender mit dem Körperstil als seine Zeitgenossen. Man bewunderte damals allgemein das kürzlich gefundene antike Wandgemälde, 'die Aldobrandinische Hochzeit-. Poussin begnügte sich nicht mit der Bewunderung, er kopierte das Bild. Man slösst bei einigen seiner eigenen Kompo- sitionen aur Spuren davon, wie z. B. bei der schönen Zeichnung von Moses und .lelhros Töchtern imLouvre. er verstand sich nicht nur auf das wirklich antike Ge- wand, sondern auch auf antike Typen und Profile. Sein Kudamidos ist nach Lao- koons Vorbild geformt und einzelne seiner Satyrfiguren, z. B. auf dem sehr guten Gemälde «die Erziehung des kleineu Jupiter» (in Berlin I gehen ganz, und gar antike Satyrtypen wieder. Eines seiner besten und anlikisierendslen Gemälde ist Meleagers und Atalantes Jagd in Madrid. Er geht bei solchen Bildern wirklich weit objektiver und richtiger auT den antiken Körpersiii ein als irgend ein früherer oder ein Zeit- genosse — einzelne Figuren des alten Mantegna vielleicht ausgenommen.

Aher bei alledem kann die Antike dennoch nicht als eigentliche Grundlage für l'oussins Körperstil aufgefasst werden. Er ist im wesent liehen ein moderner Künstler, der auf den Schul lern Balfacls und Tizians steht, und der sehr viel mit. Annihale Caraeei gemein hat. Er fasst die Antike nur selten als neues [»ositives Prinzip auf; die Ausbeute, die er sonst daraus zieht, besteht ausschliesslich darin, dass er sie als Zügel für die Ausschreilungen der Ilaliener, als kühlen Dämpfer für ihre schwellende Fülle benutzt. Es lag von Natur etwas Strenges, etwas Hestringierendes in seiner Seele ; man erhält einen Eindruck davon, wenn man die mürrische und trockene, wenn auch sehr bedeutende Physiognomie auf seinem bekannten Selbstporträl im Louvre betrachtet. Daraus entstehen denn sonderbare innere Widersprüche in seiner Kunst. Als echter Sohn des siebzehnten Jahrhunderts malt er mit Vorliebe Orgien mit Bacchus, Satyren und Nymphen; aber es fehlt ihm im Grunde an jener über- strömenden Sinnenlusl und noch mehr an dem Naturalismus, der sonst dergleichen Werke durchglüht. Mars und Venus auf dem Buheluger sind in seiner Darstellung (im Louvre) ein sehr kühles Liebespaar; der <Hauh der Sabinerinnen» (eben- k*. ig» daselbst) enthält nichts von der Lust oder Lustigkeit, der das Getümmel und den Kampf in der Behandlung dieses Themas durch Bubens oder die Italiener durchströmt haben würde: alles ist ernsthaft, fast unheimlich. Man spürt hier sehr oft l'oussins direkt«; Studien nach Tizian  : nicht nur erkennt man in seinen Kinderfiguren fast regelmässig Tizians entzückende Lockenköpfe, sondern auch Tizians nackte, ruhende, goldhaarige Frauen haben ihn zur Nachahmung (in geringerem Massstab) gereizt. Aber wie steif, trocken und kalt wird nicht diese Nachahmung selbst wo sie am deutlichsten ist, wie in der ruhenden Flussnymphe des Helikon auf einem Gemälde vom «Parnass«  in Madrid! Kr steht dem warmen Siunenleben der Venctinner eigentlich ganz

27



- 418 -

fern un<l fremd gegenüber. Er ist aucli von Nalnr nicht als Kolorist begabt, und er ist schliesslich als malerischer Techniker erfolglos, sodass alle seine Bilder jetzt nach- gedunkelt sind und ihre ursprüngliche malerische Haltung verloren haben: sein Tageslicht sieht auf den ersten Blick zuweilen aus wie Mondlicht.

Noch mehr als von Tizian ist er jedoch durch Raffaels späteren Stil beeinflussl. Das gilt nicht allein von der Zeichnung und der Form seiner Figuren, sondern noch mehr von deren äusserer Anordnung — man vergleiche z. B. die Komposition in seiner Galalhea in St. Petersburg mil Halfaels Fresko in der «Farnesina» — und namentlich von ihrem innem dramatischen Verhältnis und mimischen Ausdruck. Kr hat sich olfenbar stark in die dramatische Seite von Baffaels Darstellung des Men- schen vertieft, namentlich wie sie sich in den Tapeten (Szenen aus der Apostelge- schichte) offen barl. Poussin, der überhaupt sehr sinnender Natur ist, ist fruchtbar an Bellexion in derselben Bichfung, wie Balfael fruchtbar an Inspiration war. Wenn fip. i7n Poussin Davids Kinzug nach dem Siege über Goliath malt; (Gemälde in der Dulvieh-Galerie in London), so lässt er z. B. eine der Nebenfiguren, einen älteren Mann, der Augenzeuge der Begebenheit gewesen ist, diese seinem Nachbarn erzählen, indem er mit dem Finger auf die Stirn zeigt (wo nämlich der Stein den Biesen ge- troffen hat» und mit der andern Hand eine Bewegung machen als würfe sie mit der Schleuder. Der Maler drückt also hier durch die Bewegung der Figur eine Erzählung mit Worten aus, die das vorausgegangene Ereignis mitteilt. Kr macht das Tein und deutlich — wohl zu beachten: für den, der die (ieschichte im Voraus kennt. Solche Triumphe der Malkunst gehören nicht in ihr eigentliches Gebiet, die Kunst suc ht hier ihre Ehre darin, der epischen Erzählung soweit wie möglich auf ihr Gebiet zu folgen. Wenn Poussin später den Ehrennamen der 'philosophische» Maler erhielt, so hat man wohl namentlich au dergleichen Zeugnisse von einer feinen und scharfen Bellexion gedacht, ausser der ganzen gelehrten und ernsten Haltung, dem Gepräge von Bewusst- heil im Stil und dem gleichartigen idealistischen Ton, der darin durchgeführt ist.

Aber in Irczug auf das, was für die Kunst in der Schilderung des Menschen liegt, gehört Poussin, wenn auch zu den historisch beachtenswerten, doch nicht zu den grossen Meislern. Er ist nicht in des Wortes wahrer Bedeutung original: er fassl die Natur nicht aus erster Band auf, ja, selbst seinen Studien in der Antike und den allen Meistern fehlt es an einer gewissen durchgreifenden Energie und Präzision. Sein Ei nst, seine Bildung, sein tiefes Denken konnten den frischen Eindruck des un- mittelbaren Lebens nicht ersetzen. Es gilt von Poussin in höherem Grade als von den gleichzeitigen italienischen Eklektikern, dass seine Kunst mehr als eine Art Aeslhetik denn als eigentlich bildende Kunst aufgefasst werden muss. Ehe sich die Aesllielik in abstrakte Gedanken hinauswagt, demonstriert sie ihre Lehren darüber, wie die Kunst sein soll, durch die eigenen Mittel der Kunst, durch Zeichnen und Malen, und ihre Besullatc erhalten so eine täusc hende äussere Aehnlichke.it mit Kunst- werken, während doch die Geisleslätigkeit, die diese Besultate hervorbringt, wesentlic h verschieden von derjenigen isl, die in Wirklichkeit Kunstwerke schafft.



- 419 -

JACQUES LOUIS DAVID ( 1748-l.X^r».

|Das Material zu den folgender Studie ist der Louvre-Galerie entnommen. Die Bilder, die in bezug auf unser Thema in erster Linie in Betracht kommen, sind  : 1 die grosse «Figure aeademiquc» i<Hektor-) 1771) in Horn gernalt, eine männliche Modellfigur, auf dem Rücken liegend, den Kopf zu unterst und vornean auf dem Hilde. — Le serment des Horaees (Horn 1781): die drei jungen römischen Helden legen dem Vater, der ihr Schwert hält, den Eid ab; zur Seile die trauernde Schwester, die Mutter u. s. w. Ein Gemälde von grössler Bedeutung in bezug auf den Figurenstil des Künstlers, mit dem gründlichsten Studium in der grösslen Energie durchgeführt. — Les amours de Paris et d Helene (Paris 17SS>. - Le serment du jeu de pnume (Paris 1791). Die Deputierten der Bürgerschaft, die sich im «Ballhause«  versammeln, legen den Eid ab, Frankreich eine Verfassung zu gehen. Grosses ange- fangenes Gemälde in der Handzeichnungsnnnnlung. Die Figuren, die ja alle Gestallen aus der Zeit des Künstlers darstellen, und natürlich bestimmt sind, mit Kleidern dargestellt zu werden, sind hier vorläulig nackt aufgezeichnet, in einem einfachen über sorgfältigen Umriss mit grossen Strichen und mit einer leichten Angabe des Schaltens. Während die Leinwand sonst gar nicht mit Farbe bedeckt ist, sind einige Köpfe und Hände fertig gemalt, was sehr bezeichnend für Davids Arbeitsmethode ist im Gegensalz zu derjenigen der jetzigen französischen Malerei, die in erster Linie auf die malerische Totalwirkung ausgeht, und sich dann später mit den einzelnen Figuren und Dingen eingehender beschäftigt. Les Sabines (lT'.HM: Während des Hachekampfs der Sabiner gegen Horn, nachdem die Kömer ihre Frauen geraubt hatten, traten diese nun als römische Gallinnen und Müller versöhnend zwischen die kämpfenden Männer. — Unvollendetes Porträt von Madame Kecamier (ISOüi (ganze Figur liegend), — Leoni das a u x Thermopyles (181-1): Der spartanische König und seine Mannen warten den lelzlcn Kampf fürs Vaterland ab, ebenso wie «les Sabines» ein grosses Gemälde mit vielen nacklen Figuren und Partien. — Hinblick auf die kolossalen, für Napoleon ausgeführten zeitgenössisch-historischen Gemälde in Versailles: die Kniserkrönung und Austeilung von Adlern. |


David ist derjenige von allen Malern, der zuerst und am nachdrücklichsten Heschluss macht mit der Periode des künstlerischen Humanismus, der sich aus dem fünfzehnten Jahrhundert bis an das Ende des achlzehnten erstreckl, und eine neu«' und ganz andersartige Periode beginnt. Nicht nur was er selber hervorgebracht hat, besitzt historische Bedeutung, sondern auch sein direkter Einlluss ist ausserordentlich gross und wird in seiner eigenen Zeit in einem weiteren Umfang empfunden, als


1 I>aa früheste Bild von David, das die Louvre-Sammlung enthält: Combat de Minerve contre Mars (Konkurreii7.arbe.it aus dem Jahro ITTli vor des KiimUlers Aufenthalt in Rom gemalt, war nicht in der flalerie aufgehängt, aU ich 1S7n dort studiert«;, und ich habe versäumt es in Augenschein zu nehmeu.



420 —


dies vielleicht rnil irgend einem andern Maler der Fall gewesen ist. Ks liegt ausser- dem etwas in diesem Kinlluss, was an die Militnrdespolie erinnert, unter der er diente Kr hat seine Schüler gut exerziert und diszipliniert, dass man von dem einen Knde Kuropas bis zum andern leicht die Davidsche Uniform wiedererkennt, am meisten in der Darstellung des Nackten. Wenn sein Kinlluss ebenso anhaltend gewe- sen wäre, wie er kräftig und umfassend war, würde sich niemand in künstlerischer Bedeutung mit ihm messen können. Aber er halle gar bald ein Knde, namentlich in seinem eigenen Vaterland  ; und jetzt steht er in der Krinnernng wesentlich als der- jenige da, der die Fäden der Vergangenheil zerschnitten hat.

Ks liegt nämlich in Davids Kunst wie der seiner ganzen Zeit, am meisten aber doch in der seinen ein Kleinen! von Kritik und Protest, das nicht direkt hervortritt, aber doch fühlbar wird. Das, wogegen er protestiert, ist natürlich in erster Linie die verzärtelte, weichliche Plnisirmalerci, ihr unwürdiger, untergeord- neter llofdiensl  : dann aber gilt der Protest den älteren Ilaupirepräsentanten der Ucppigkcits-Bichlung, denen, die uiiclhisch den Stoff im menschlichen Körper hervor- heben (Dübens und namentlich Dernini «ceraser In ipieuc du Bernin. >; endlich im Gründe auch - was David selber vielleicht weniger hewusst gewesen ist - der ganzen Dichtung in der grossen italienischen Kunst, die zuerst auf die Verherrlichung fies Stoffes ausging, und die damit endigle, die Kunst zur Dienerin der Fiirslcninachl zu erniedrigen (namentlich Tizian l. hu Gegensatz zu alledem gehl David ilarauf aus, ein entschieden ethisches Ideal d e r in e n s c h I i ch e n tiestall darzustellen, die Helden bürgerlicher Tugenden, vaterländischer Tugenden zu schildern, mag er sie nun mit Kleidern seiner eigenem /eil ausstatten, oder wie er das schon vor dein Ausbruch der Devolution getan hat sie nackt oder in antikem Kostüm dein griechischen und römischen Altertum entnehmen mag. Man kann ihm seine Bewun- derung nicht vorculhall.cn: es gehören grosse Kigcnschaflen dazu, um auf eine so deutliche klare Art und Weise, wie er es getan hat, Kpoche zu machen ; die mensch- liche Gestillt, die in der Malkunst des Rokokos gänzlich in Schlaffheil zusammenge- sunken war, schiesst auf seinen Bildern - wie beim Klang des Rollens eines Theater- donners gleichsam kraft eines neuen Geistes in die Höhe; sie tritt gross, willens- kräftig, männlich, streng gesammelt von Kopf zu Fuss, fest auf ihren eigenen Beinen stehend, auf. Aber es ist auch etwas Trocknes, Armseliges über sie gekommen der ganze Bcichlum an träumenden Möglichkeilen, der in den Figuren der allen Italicner strotzt, und ihnen so viel poetisch-musikalische Anziehungskraft verleiht, ist ver- dunstet; und statt ihrer gibt uns David gar oft nur Schwüre und Versicherungen von Opferfreiidigkeit und Heldenmut, harte und klingende Interjektionen. Seine Figuren drücken ♦reine» ungemischte Gemütsbewegungen aus, haben dafür aber ein weniger wahres, natürliches und sympathisches Leben als die des älteren Humanismus; die menschliche Seele wird nicht, ohne dass man ihrer Natur Gewalt antut, so einfach, wie sie David schildert.

Auf Davids Gemälden kommen häufig geradezu politische Tendenzen zum Worte Während seiner kurzen politischen Laufbahn als fanatischer Jakobiner in der Bevo-



— V4\ —

luhotiszcil wollte er "»itii als wirklicher Hedner auftreten, halle ahor als sicher m der Hegel kein lilück, zum Teil wogen eines organischen Fehlers (einer Lähmung in der einen Wange). Fr hesass aueli weit grössere (iahen, um Heden inil seinein Pinsel /.ii hallen; mit dem wollte er den Patriolismus und all«' rcpuhlikanischen Tugenden eiilllanimen: mit dem Pinsel wollte er seiner Zeit das Ideal der durch «'in strenges und genügsames Lehen entwickelten Helden krall zeigen. Die Tendenz greift lief ein in seine Kchandlung der menschlichen (Jestall und ihrer Formen, und sie gihl ihm seine Vorwürfe, seine Texte ein. In Anlass des (iemäldes von dem Kampf der Sahiner i'uc. wi. und der Horner und ihrer Versöhnung durch die llazwischeiikunn der Frauen ( 171)0) erzählt ein zeitgenössischer Schriftsteller:1 dieser Auftritt regle meine Einhildungs- krafl an: es war mir, als sähe ich die Franzosen der verschiedenen Parteien im HegrilT, einander mit ihren eigenen Händen zu morden, und das Vaterland als ihre gemeinsame Muller sich erhöhen, zwischen sie stürzen und rufen: haltet ein! Als ich dem Künstler die Idccnvcrhiudung mitteilte, die sieh mir aufdrängte, er- widerte er: das war ja gerade mein (iedanke, als ich zum l'insel griff; möchte mau mich doch hören! - (ianz deutlich halten auch noch andere seiner hcdeulendslcn (icmäldc die Ahsichl, Heden au ihre Zeitgenossen zu halten.* Von Seilen des Künstlers ist sicher viel Krnst in dieser Hhelorik enthalten, aher die Ahsichl tritt zu deutlich hervor. Hie Figuren, die den Künstler nicht um ihrer seihst willen hegeistern, sondern Organe für die Aeusserimgen seiner Tendenz werden, machen häutig auf uns den


1 L'haussard, tc Pausuuius Franc,ai:> . angeführt in J. Kcuonvicr  : histoirc de l'Art peudant tu revolulion, Paris iNKt, S S.

1 Dceluze: Louis David, son ecole et son tomps I S. I'..h. |»cii ■>:>. Hnnnuirc au Il-lt'i Nov. 1 7*»:t) hielt David als Mitglied des ccomite «t'iimlruct itin publique» folgende Rede an dm National- Konvent :

Bürger, Euer Ausschuss für den öffentlichen Unterricht hat alle «lie Verhältnisse in Erwägung gezogen, infolge derer die Künste dazu beitragen müssen, die Fortschritte des menschlichen Geiste» y.u vermehren, die ergreifenden Beispiele von den Anstrengungen eines grossen Volkes, wenn es t» ich von der Vernunft und der Philosophie leiten l;isst, und wenn es die Herrschaft der Freiheit, der Gleichheit und der Gesetze auf die Welt zurück! ihrt, zu verbreiten und sie der Nachwelt zu über- liefern. Die Künste haben also einen mächtigen Beitrag zu dem öffentlichen Puterrichi zu liefern 7m lunge haben die Tyrannen, die die Bilder der Tugenden fürchten uud selbst den Gedanken in Fesseln schlugen, die zügellosen Sitten ermuntert und das (ienie erstickt. Die Künste >ind Nachahmungen des Schönsten und Vollkommensten, was die Natur bietet  ; ein Gefühl (ein Streben nach Voll- kommenheit), das tief in der menschlichen Natur begründet ist, zieht sie zu einem verwandten tiegenstand hin. Nicht nur indem sie das Auge bezaubern, haben die grössten Werke der Kunst ihr Ziel erreicht, sondern auch indem sie die Seele durchdringen, indem sie einen tiefen Eindruck hervorrufen, einen Eindruck, der dem wirklichen Beben entspricht. Da werden Züge von Helden- mut und bürgerlichen Tugenden, den Blicken des Volkes dargestellt, ihre Seele elektrisieren und ihn im Keime aussehen zu dem Streben nach Ehre, zur Aufopferung für das Vaterland und alte diese edlen Leidenschaften. Der Künstler niuss also alle Triebfedern des MenschenherzenH studiert haben; er niuss eine grosse Naturkenutnis besitzen; er inuss mit einem Wort Philosoph sein. Sokratcs, der ein tüchtiger Bildhauer war. Jean Jacques Rousseau, der ein guter Musiker war, der unsterbliche l'oussin, dessen Bilder die erhabendslen Lehren der Philosophie wiedergeben, zeugen alle davon, dass der Genius des Künstlers keinen andern Leitstern haben soll als dio Fackel der Vernunft.

Nach diesem Prinzip arbeitete David mehrere Jahre vor dem Ausbruch der Revolution. Er gehört zu den Sturmvögeln, die ihr vorausgingen.



- 422 -


Eindruck von Schauspielern, /uvveilen ähneln sie mich hohlen Pappfiguren. Ihre Be- wegungen sind reflektierend und von dem Künstler angeordnet, ehe die Figuren selber sie machen. Ein geistreicher Franzose hat gesagt : es geht mit Davids Gemälden wie mit der klassischen Tragödie: um gerecht gegen sie zu sein, muss man sie mit dem Verstand fühlen. 1

Und doch liegt hierin viel, was die Fanzosen selber oft unbewusst vorüber- gehen lassen, was aber andere Nationen, am meisten vielleicht die dänische, gleich als theatralisch empfinden. Wen von uns stösst nicht das vorher Verabredete, das

fib. ira. Einstudierle in der Art und Weise, wie die drei jungen lloratier, indem sie dem Vater ihren Eid ablegen, sich in einer Weise aufstellen, ein Bein in martialischem Schritt vorgesetzt, mit je einem ausgestreckten Arm, so dass Beine und Arme parallele Linien bilden! Es elektrisiert uns auf den ersten Blick durch seine Kraft und seinen Aplotnb, aber wir merken sehr bald, dass hier an der Schnur gezogen wird. David selber war bis au sein Ende stolz auf diese Gruppe* und komponierte nach demselben Bezept ein ähnlic hes Bild von Lconidas. Und wie nachdrücklich wird uns nicht die Figur des sitzenden Leonidas auf demselben Bilde als das Ideal eines Helden vor- geführt! Welche theatralisch geformten Gruppen und deklamierten Bewegungen in der

«••>«••«  Komposition der Eid-Ablcgung im Ballhause! Da steht Einer, der vorlauter Erregung die Beine gewaltsam spreizt, indem er Oberkörper und Kopf zurücklehnt, den rechten Arm schwörend in die Höhe hält, den linken mit der geballten Faust steif vor sich hinstreckt. Ein anderer, ebenfalls in gespreizter Stellung mit steif vor- gestreckten Beinen, die Zehen sogar vor Begeisterung gekrümmt, schlägt seine beiden Handflächen gegen seine Brustmuskeln, legt den Hals zurück und starrt nach oben, an einem Uebcrmass von moralischem Gefühl leidend, dass ihm innerlich Schmerzen zu verursachen scheint. Zuweilen ist der Künstler so krampfhaft bemüht, diesen ganzen Ausdruck in seine Figuren hineinzulegen, dass er undeutlich wird  : ein Greis steht mit gekrümmten Knieen da und hält die Hände, die inneren Flächen zusammen- gelegt vor das Gesicht, genau sn, wie jemand, der die Absicht hat, kopfüber ins Wasser zu springen ; nur der Ausdruck des leuchten, gen Himmel gewandten Blicks


' «II faut les sentir avec la raison.» L. Vitct: Etudes sur l'histoire d'art, III, Paris IHK», ■ä Delecluzc, 1-20:

In den Jahren 1 7t** > — IHK), als David ganz davon in Ansprach genommen war, die leitenden Prinzipien der griechischen Kunst wieder zu linden, bcnrteilte er seine lloratier mit einer vorurteils- freien Strenge, die sehr merkwürdig ist. Was die Komposition betraf — die Vereinigung der beiden Gruppen, die der Manner and der Krauen zu einem Hilde — so zerhieb er den Knoten, indem er sie für theatralisch erklärte ; die Zeichnung fand er kleinlich und ängstlich (er benutzte die Aus- drücke petit. nx'squin) in ihrer gebuchten Wiedergabe der anatomischen Einzelheiten ; endlich fällte er da& Urteil über das Kolorit, das aus lauter Karbenlappen bestand und die Schönheit und EinheiU- wirkung der Lokalfarbe zerstörte. «Diesem Werk» sagt er weiter, «merkt man die Vorliebe für die römischen Monumente an, die die einzigen waren, die man während meines Aufenthalts in Italien studierte. Ach, könnte ich meine Studien von neuem beginnen, jetzt wo das Altertum besser gekannt und studiert ist, dann würde ich gleich bis zum Ziel gehen, ohne die Zeit zu ver- geuden, die ich ehemals gebraucht, habe, um mir den Weg zu bahnen, den ich gehen wollte. Aber schliesslich, fügt er mit edlem Stolz hinzu, sich an seine Schüler wendend, liegt Energie in dem Gemälde, und die Gruppe der Horatier ist etwas, dessen ich mich niemals schämen werde.



- 423 —


und der ein wenig geöffnete Mund erzählt von demselben ethischen Pathos wie hei den andern Figuren. Eine sein- ähnliche, gewaltsam deklamierende Rhetorik lindet man in dem Bilde von den Repräsentanten der Armee, die die Adler von Kaiser Napoleon in Empfang nehmen.

Es fehlt nicht an französischen Figuren aus der Rokokozeil, die schreien und deklamieren, aher sie haben keineswegs einen ethischen Zweck wie die Davids und gleichen ihnen auch in vielen andern Beziehungen nicht. Weil eher linden wir in der strengen Hichlung der französischen Kunst des siebzehnten Jahrhunderts, z. B. bei Poussin, etwas, das auf David hinzeigen könnte. Wenn wir forschen, welche Vor- bilder für den französischen Meister bei der Entwicklung seines Figurenstils von Bedeutung gewesen sind, dürfen wir nicht übersehen, dass er jedenfalls einmal i vielleicht mehr- mals) ein Motiv von Raffael benutzt hat: nämlich den schreibenden Schüler aus der Schule zu Athen, der in die «  Ei d es a b I o g u n g im Ballhause* übergegangen ist. Mit BafTaels späterem rhetorischen Stil («Die Feuersbnm.st im Borgo>, «Die Trans- ligurnlion» u. s. w.) konnte er sich im Ganzen wohl sehr gut zurechtfinden, l ud doch sind seine Figuren wesentlich ganz anderer Art als die Baffaels; das sanft Gebogono, spiralarlig gewundene in den Fignrculinicn Ballaels und seiner Zeilgenossen bezeichnet schon den Unterschied. An Michel Angelo konnte er sich noch weniger anschliesscn ; es liegt ein durchgreifender Gegensatz in ihrer lirundaulfassung von dein Menschlichen und dem Männlichen  : während der alte Florentiner den Menschen über Zeit und Baum erhebt und ihm einen Ausdruck und eine Gestalt verleiht, die gar nicht für das bürgerliche Eeben geeignet ist, geht Davids Ideal des Menschen völlig in Staalsbürgerplliehlcn auf. Mau kann im hon vre so recht den Gegensalz empfinden, wenn man, nachdem man Michel Angelos jugendlichen, einsam träumen- den -Sklaven- mit seinem reichen Stiuimiingsleben zwischen Davids Helden mit ihrem fast zu wachen Pllichtgefühl gesehen hat. Nicht allein der ganzen Bichtung der Zeil nach, sondern auch im Einklang mit einer wirklichen und liefen l'cberein- slimmungiu der Betrachtung des Menschen mussle David sein Vorbild ganz überwiegend in der Anti ke suchen. Hätte das alle Bom oder hätte Sparta in seiner früheren Zeil uns eine plastische Kunst hinterlassen, die ihr Wesen vollkommen abspiegelt, so würde David noch festeren Boden unter den Füssen gehabt haben, als dies der Fall war: jelzl tnusstc er von der sanfteren und späteren antiken Kunst ausgehen, die er ver- stand, und von dem Studium derselben und aus der Natur auf das zurückschliessen, was er nicht kannte. Aber die Art und Weise, wie er die Schlüsse zog, erinnert freilich doch au die Bcllexionsarbeil der modernen Zeit. Kr hat es selber ausge- sprochen, dass er bei dem Bilde von den Sabinerinnen darauf ausgegangen war, die antiken Sitten und Charaktere mit einer solchen Genauigkeit zu malen, dass die Griechen und Börner, wenn sie das Gemälde hätten sehen könnten, die Schilderung hätten treffend linden müssen.'

Eine Aehnlichkeit mit der Antike und zugleich ein charakteristischer Gegensatz

1 Renouvicr, S. HJ.



— 424 —


zu der italienischen Renaissance /«-igt sich darin, dass David kein Freund von der Verkürzung der Figuren ist. Er hat sie natürlich geübt, wie man das auch an seiner grossen Modells! udie aus dem Jahre 1771» sieht; aber er macht, olTenhar absichtlich, einen so massigen Gebranch davon, wie es Tür einen Maler, der grosse historische Rilder komponier!, nur möglich ist. Kr geht in dieser Reziehung so weit, dasa er ein (icinälde vollkommen in Ucbcrciustimmuiig mit einem antiken Relief komponiert, nämlich «Paris und Helena», auf dem die sitzende Parisfigur sogar so streng reliefartig entfaltet ist, dass man die Reine von der rechten Seite im Profil sieht und den Kopf infolge der Wendung der Figur ebenfalls im Profil, aber von der linken Seite. Thorwaldsen hätte sich bei seiner Wiederbelebung des antiken Re- liefstils, die noch dazu etwas später fällt, sehr wohl von diesem Gemälde belehren lassen können. Auch Davids grössere Gemälde sind in hohem Masse auf einer Fläche komponiert, und viele von den Figuren sind ganz reliefartig angelegt (die Moratier). Für ihn existiert überhaupt kein Wesensunterschied zwischen der plasti- schen und malerischen Auffassung der Figur und der Regebenheit ; zuweilen gibt er seinen Figuren geradezu antike statuarische Motive (der sitzende Leonidas). 1 Aber die Plastik des Zeitalters sah auch nicht annähernd so viel in dem Gegensatz zwischen der plastischen und der malerischen Ausdrucksweise, wie man später oft auf eine ganz verschrobene Art und Weise hat hinein legen wollen; in einer Aus- stellungskrilik aus dein Jahre 17(i"> stellt Diderot die damals sehr kühne Rehauptung auf, dass Roucher keinen Geschmack hat, und fügt hinzu: «Unter der unendlichen Menge von Reweisen, die ich hierfür anführen könnte, kann ich mich mit einem einzigen begnügen, dass nämlich unter der ganzen Menge von männlichen und weib- lichen Figuren, die Roucher gemalt hat, sich kaum vier befinden, deren Charakter sich für das Rasrelief, geschweige denn für die Statu«  eignen würde».* Und man kann sehr gut hegreifen, wenn man das Sammelsurium von Dingen und Figuren sieht, die Roucher und seine Zeitgenossen auf ihren Gemälden veranstaltet haben, dass die damalige Zeit sich nach plastischer Deutlichkeil, nach festen und ernsten Formen sehnen musste.

Eine andere Aehnlichkeil mit der Antik«  und ein Unterschied mit der Renais- sance besteht darin, dass David als Grundgesetz für seine Kunst das gesunde und naturgetreue Mittelmass in der Korpulenz der Figuren innehält. Fell verabscheut er, er übertreibt nicht in der Richtung des Kolossalen, er entfernt sich überhaupt nach keiner Seite weil von der jugendlichen, voll entwickelten Kraft. Einige von den Fi- guren auf der Eidesabiegung im Rallhause sind freilich älter und trockener als andere, alle aber sind sie kräftig und muskulös gebaut ; er ist weit entfernt von der Riberasehen Magerkeit. Wie idealistisch die zeitgenössische Schule französischer Maler die Figur aufiassl, ersehen wir auch aus Guerius Gemälde von Marcus Sextus

1 Das Motiv ist uns eigentlich nur auf einem geschnittenen Stein aus dem Altertum fiberlie- fert, aber es gibt sicher eine Statue wieder.

» Diderot, Observation«  sur le salou de pelntures de t7rtT». Essays sur le peinture, Paris, l'an IV de la Republ. p. 1Ü7.



- 425 -


aus dem .lahre 171KS  : .Ii,. Ilnuplligur ist als grnuhürtigcr Greis dargestellt, aber doch nach einem kräftigen, gewiss jugendlichen MihIcII tnit beinahe schwellenden Formen gemalt. In den Linien der Figuren, in den Stellungen und Hewegungen ist David nicht nur weit gradliniger und strammer als die UauptmcLslcr der Dcuaissance, son- dern übertrifft hierin sogar die Antike, die keine gespreizten Stellungen, steif ausge- streckten Anne und Deine, keine forcierte Zentrifugale in der Dewegung kennt, die so viele von Davids Figuren der Antniil und der Stimmung herauht. David rechnet oft seine Figuren, z. D. den Itomulus auT den • Sabinerinnen ► nach einer einfacheren Geometrie aus, als wie sie die vollenl wickelte antike und moderne Kunst als wahr und schi.n anerkennt: aber er hat doch vor den grossten Hcuaissanecmeistero den Vorzug, dass seine Figuren sicher auf ihren Deinen stehen. Die Einzelheiten der Forin studiert er als moderner Akademiker sowohl nach der Antike wie nach der Anatomie und dem Modell. Die Antike stärkt seine Dcgriffe von einer reinen und ethischen Form, die Anatomie gibt ihm das analytische Verständnis, das Modell den unmittelbaren Kindruck des Aussehens der Wirklichkeit. Indem er rationell und verständig diese drei Vorzüge vereinigt, besitzt er doch keinen einzigen davon in dem ausserordentlichen Grad wie die Antike selber, wie Michel Angelo oder wie die späteren Naturalisten; es ist ein Kompromiss wo der eine dem andern helfen muss. Das Uebergewichl, namentlich in seiner früheren Zeil, hat doch das Nalurstudium, namentlich nach dem Modell, und vielleicht hauptsächlich durch diesen Realismus in u erhalb der Klassizität erlangte die Davidschc Schule ihre grosse Dedeu tu ng für ihre Zeit. David betrieb auch seine Figurensludien mit einer ganz ausserordent- lichen Energie und erzielte sehr bedeutende Resultate, wovon namentlich das Dilti von den lloraliern Zeugnis ablegt. Die Deine des allen Doratius auf dem Hilde sind ein ganz hervorragendes Stück Figurcnmalerei, fein, lebendig, naturgetreu ; aber es kostete den Künstler auch solche Anstrengungen, dass er, wie man erzählt, den linken Fuss mehr als zwanzig Mal ummalle. Es ist das vernünftigste Figurenstudium, das man sich vorstellen kann. Mau hat David in seiner früheren Periode vorgeworfen, dass er die Figur bei starkem Lampenlicht studierte, so dass sein Auge zu viel bei den Einzelheiten der Form verweilte. Er hat selber etwas ähnliches empfunden. Als er an den Sabinerinnen arbcilele, sagte er: «vielleicht habe ich bei den lloraliern die anatomischen Kenntnisse zu sehr betont  ; in den «Sabincrinneii«  will ich sie mit mehr Gewandtheit und Geschmack verbergen: dies Gemälde soll griechischer werden.. Kr scheint schon damals genauere Dekannlschafl mit den Skulpturen des Parthenons gemacht zu haben, wie er überhaupt die Antike eifriger studierte. 1 Der Uebergnng von der schärferen, mehr ins einzelne gehenden Hcnbachluug zu der breiteren, grösser angelegten Auffassung der Form ist ganz natürlich. Eine Frage ist es aber doch, ob nicht die jugendliche Energie im Figiirenstudium in -den lloraliern» das grösste Interesse darbietet.


» Deldcluze S. 71, vorgl. S. UM und Renouvier, S. im über die Pamen der damaligen Zeit alt» Modolle zu don Sabinerinneu.



- 420 —

Davids Hauptaufgabe liegt in der Schilderung des Männlichen und des Mannhaften, des Willens, des Vorsaly.es, der die (leslall stählt. Und doch ist er vielleicht ebenso natürlich und wahr, wo die Anstrengung ein wenig nachlässt, in der Darstellung von Jünglingen und Frauen, die in seinen Kompositionen eine mehr untergeordnete Holle spielen. Zwei ganz jugendliche Hosselen ker auf dem Bilde, das den Kampf der Suhiner und der Homer darstellt, haben weit schönere, sanfter messende, harmoni- schere Linien als der steifbeinige Homulus mitten auf der Huhne, sie erinnern fast an die Antike oder an Thorwaldsen, obwohl der Körperbau ein wenig langgestreckter ist als bei ihm. Die mittlere Frauengestalt illersilia) auf demselben (iemülde kann sehr wohl mit den Männern wetteifern in der weil ausholenden Bewegung, als bestände die höchste plastische Beredsamkeit, darin, die Arme - und auch die Beine — so weit wie möglich von einander zu strecken. Aber David hat weit weiblichere Krauen gemalt ; unter vielen will ich namentlich die junge weinende Schwester aul dem Kidschwur der Horatier hervorheben. Das ist eine wirklich schöne Gestalt ; das Heine und Kdle gehört ganz zu ihrer Natur und ihrem Charakter; das ungemischte (iefühl, das David in seinen Figuren so stark hervorhob, passl vielleicht besser für die Krau als für den Mann. Nichts trennt David und die Zeit, die er vertritt, schärfer von der früheren Kunst, als dass die Krau, die so viele Jahrhunderte hindurch ent- weder von der sinnlichen Seite oder von der religiösen, nicht selten in einer Verei- nigung von Heligiosität und Sinnlichkeit, aufgefasst war, und die in der ihm direkt vorausgehenden Kunst in der Hegel zu einer reinen Dirne geworden war, jetzt von der ethischen Seite, von der Charakterseile betrachtet wurde. Diese und mehrere andere Krauenliguren von David könnten sehr wohl Illustrationen zu den Krauen bilden, die Schiller (»der Ochlenschlüger 1 in ihren Tragödien schildern. Es gibt auch noch andere weibliche Kiguren aus der damaligen französischen Kunst, die wirklich von der Heinheil und Unschuld beseelt sind, die wir Nordländer vielleicht zu sehr geneigt sind, als spezilisch nordisches Gefühl zu betrachten, z. B. Geralds |\*yche, die von Amor auf die Stirn geküssl wird iTT'.KS).

Auf Davids grossem Meisterwerk, dem Gemälde von der K a i s e r k r ö n u n g i o V e r s a i I I e s, das so viele vorzügliche Horlräts enthält, ist die Figur der Kaiserin Josephine, die kniet und den Kopf vorbeugt, um Hie Krone aus den I binden ihres mächtigen Khegallen zu empfangen, wohl die sympathischste von ihnen allen, lud linier Davids sämtlichen Gemälden im Louvre ist wohl kaum eins, aul dem der Geist aus dem Zeilaller des Künstlers noch eine so frische und unmittelbare An- ziehungskraft ausübt, wie das unvollendete Porträt der Madame H ö c a in i c r. David hal die junge, drciundzwuuzigjährigc Schönheit halb liegend, halb auf einem Sopha sitzend gemall, auf einem jener harten Sophas, au denen die republikanisch«- Zeil gefallen fand und die sie mit dem antiken Geschmack übereinstimmend glaubte,

1 Ks kiimil«  sich überhaupt verlohnen, eine Untersuchung darüber anzustellen, ob es nicht viele ]ieriihrunir*|)unkte zwischen Schiller und Uavid gibt. Wie grossen Einftuss hat das franrö tische Kcvolutions-I.leal. w ie es in der Kunst und auf dem Theater auftrat, auf die nicht-fran/.osische Literatur gehabt? (l)ehlenschlugers Palnatekc.)



— 427 —


vielleicht weil man keines von den Sophakissen des Altertums mein- bcsass. Der Hals, die Arme und die Küsse der Dame sind naekt, sonst ist sie nur in ein langes, weisses Kleid gehüllt — sie kleidete sich in Wirklichkeit mit Vorliehe in Weiss - von ganz einfachem Schnitt, wie ihn die Mode jener Zeil ebenfalls von antiken Vor- bildern übernommen hatte.' Man sieht die Figur im Profil von der rechten Seile, der rechte Arm ruht leicht üher dem Schoss, der linke Ellenbogen wird, leicht zurück- gebogen, auf die Sopharollen gestützt, wodurch sie den Oberkörper aufrecht hält, so dass man ihn ein wenig vom Kücken aus sieht; das wunderschöne Gesicht isl wiederum dem Beschauer zugewandt. Auf diese Weise macht sich in dem oberen Teil der Figur ein eigenartiges zugleich natürliches und sinnreiches Spiel der Linien geltend, das die besten Künstler des Zeilalters auf verschiedene Weise variiert haben. Der Geist weiblicher Zärtlichkeit und Innigkeil und fast kindlicher Bescheidenheit, die Würde und Unantastbarkeit der Unschuld, die über dieser Gestalt ausgegossen liegt, gereicht nicht nur Madame Becamier und David, sondern auch dem Zeitalter, jeden- falls seiner besten Gesellschaft zu Ehre, die diese Frau als ihr verwirklichtes, in- spirierendes Ideal weiblicher Anmut betrachtete: ihr Profil soll sogar von einem der Münzmeister der Bepublik als Typus für die Freiheitsgüttin benutzt worden sein. Davids Bild muss deshalb natürlich als etwas ganz anderes denn als gewöhnliches Bestellungs- porlrät betrachtet werden. Er erhob das Porträt zwar nicht in einen mythologischen Himmel, wie Ganova, als dieser im Jahre 1805 die liegende Figur der Pauline Borgfiese (Bonaparte) in der Gestalt der halbnackten Venus mit dem Apfel ausführte; so eine gött- liche Ehre konnte sich für Kaiser Napoleons Schwester, uichl aber für die junge Ban- quiersfrau aus der Zeit der Bepublik eignen. David konnte sich an die Erde hallen und ein weil wahreres, wärmeres und anspruchsloseres Bild geben als Ganova -- und dabei doch das volle Gefühl haben, dass seine Aufgabe etwas Typisches, Ideales an sich hatte: die Aufgabe war für David ungefähr dasselbe gewesen, was sie für Ti- zian war, als er Eleonore von Urbiuo malte und sie in ganzer Figur darstellte, wie Madame Becamier auf dem Lager ruhend, aber gänzlich nackt ; es ist auch die Blüte weiblicher Schönheit. Es besieht ein mächtiger Unterschied zwischen diesen beiden Lösungen der Aufgabe, ein Gegensatz zwischen dem Zeil- und Gesellschafts- geist, aus dem sie hervorgegangen sind. Nun kann man wohl mit Beclil sagen, dass das ethische Bewusslsein und die Bildung, die Davids Auffassung des Weiblichen ihr Gepräge verleiht, sowohl von besonderer Schönheil ist, als auch einen grossen Fort- schritt in der Humanität bezeichnet, und dass man es sich deswegen sehr verbitten sollte, dass ein moderner Maler, sei er auch ein Tizian, die Porträts der hüchst- gestelllen Frauen seiner Zeit auf die nackte Natur zurückführt. Wenn aber die Bede davon ist, was das höchste Gut in rein künstlerischer Beziehung ist, was

' Rcnouvicr charakterisiert die Damenmode der damaligen Zeit mit der Acusserung eines be- kannten Damenschneiders, die freilieh von ihm sehr uneigennützig war: «(■•* qui habille Ic micux Qttc femmo, c'est le nu.» Dieser Geschmack beruhte wohl nicht allein auf der Begeisterung für die Antike. Da«  Kostüm auf Madame Rceamicrs Portrat darf indes keineswegs als frivol aufgefasst werden, was ja auch nicht mit dem Charakter der Dame übereinstimmen würde. Rcnouvicr nennt da«  Oewand tanique ä la Vcstale.



- 128 —


am meislen durch seine Form iiihI namcnllirh durch seine Farbe erfreut und inte- ressiert, so inuss «las wanne, lebendige Fleisch und Hltil der Tizianscheu Schönheit, das wiederinn die schönsten Falben in den Umgebungen der Figur, in seiner Kiu- fassung eiTordeii, <!en Preis davon tragen vor der farblosen, veslalisehen Tunika, die die französische Dame einbülll. hie Kunst bat niebl immer um ilirer selbst willen ein Interesse au den elbisebeti Fortschritten der Menschheit.1

|)ie damalige Zeit bewunderte Madame Hccamiers blendende Hautfarbe i-im cclal de leint imotnparaMc ipii cclipsail lotit.). Davon merkt man niebt viel auf Davids fort rät. Die Farbe ist allerdings sebr bell, bat aber keinen tllanz. Dass dies auf dem unfertigen Zustand des tiemüldes berubeii sollte, kann man kaum annebmen, da es ganz mit Davids übriger Farbciigebung übereiustimml. Dass er im (icgcnsatz zu jeglicher Verherrlichung des KörpcrstolTes stellt, äussert sieb vielleicbl am aller- deiilliebslen in seiner F a r b e. Kr stellt wie Tizian und Hubens die Lokalfarbe in volles Li<hl, aber seine Auffassung davon verbält sieb zu der ibren wie Prosa zu Poesie. Man betraeble z. H. Madame Heeamiers Arm. Niebt nur ist er biirter und Iroekner in der Form, als Tizian einen Arm zeiebiien würde, gar niebt zu reden von Hubens, es liegt aueb nii Iiis von Tizians perlender Saftigkeit in der Wiedergabe des Stoffes, nichts von diesem Uezauherndeu und Festlichen, das darauf beruht, dass das Liebt in den Stoff eindringt und sieb mit der Farbe vermählt, macht sie erstrahlen Auch nichts von Hubens blendendem Atlasglanz mit seiner strömenden Prachtwirkung liegt über der Haut; die Färbt; jenes Armes, den David geniall hat, macht in der Totalität den kühlen Kindruck eines feinen grauen Tons; sie hat keine Tratisparen/. Siebt man genauer hin, so unterscheidet man die weissen Lichter, den mattrötlicheti Lokallon, die leichten, kaltgrauen Mitlellöne und den wärmeren bräunlichen Schallen: die Farbe ist leicht mit dem Pinsel schrnfliert, das Hild ist ja nicht fertig. Das i-l sehr methodisch und verständig aber es liegt keine F r e u d e über der Hanl und


• Historische Aufklärungen über David* Portrat von Madame de Uecamicr timlcl nun in den angeführten Bücher» von Dileduze S. und Rennuvier S. s:{, 4f>"l, 17*1 ; und iianicnllicli in Sou- venir» et coruspoiidance de Mad. Ii., Paris lsdo, I, S. Hl. wo ein interessanter Brief von David an Mail. K. vom ti vendemiairc l'an IX cJK. Sept. IN»)) mitgeteilt ist. — Hie Fraise, warum es niemals vollendet worden ist. hat die Mitwelt uud Nachwelt gereizt und ist verschiedenartig beantwortet. Ks wird u. a. angeführt, dass Mad. II wenig zufrieden gewesen ist mit dem leichten Kostuni. das der Künstler gewählt hat und mit den nackten Füssen, weshalb sie die Arbeit abgebrochen hat. Dies scheint jedoch wenig wahrscheinlich und steht auch im Widerspruch mit D's. Brief, der ge- rade darauf ausgeht. Gründe anzuführen und zu entschuldigen, dass die Sitzungen von seiner Seite aufgehört haben, und der mit dem Versprechen schliefst, sie in einem andern Lokal wieder aufzu- nehmen, wo das Licht starker sei und weniger von oben käme; - woraus freilich nicht» geworden zu sein scheint. Wahrend David noch an seinem Porträt arbeitete, wurde ein andres bei Gerard bestellt, der Frfolg mit Danienportrats gehabt hatte. Die damalige, dem Kuchen der schrecklichen Revolution eben entronnene, lebenslustige Gesellschaft hat vielleicht Davids Auffassung der gefeierten Schönheit reichlich ernsthaft und spartanisch gefunden Scheinbar nahm D. die Bestellung bei Gerard nicht übel, aber er ist doch wohl kaum entzückt davon gewesen, mit seinem eigenen Schüler auf diesem Gebiet um die Gunst des Publikums konkurrieren zu sollen. Er hat dann seine Arbeit abgebrochen, ohne doch mit Mail, lt., die er bewunderte, brechen zu wollen ; sie ihrerseits hat gewiss durchaus nicht mit ihm brechen wollen. Man Hess dann w ohl die Sache auf stillschwei- gende Uebereinkunft hin gehen.



-y i29 -

über dem Fleisch, der Künstler reibt an einem trüben Mmwi seine Anteil nn«l gibt sich alle erdenkliche Mühe, die Parins so recht wahr zu' sehen. Wir müssen «lies Sl rohen nach Objektivität anerkennen, aber wir haben kein besonderes Vergnügen daran. Ks ist überall bei Davids Auflassung der Fleischfarbc etwas Dichtes, Saftloses, das an Kleister, Pappe, Papier oder andere schlechte Lichtleiter erinnert, selbst wenn der Karbenton in sich selber hell ist. Kr hat immer seine sichere, wohlüberlegte Methode in der Anordnung der Aufeinanderfolge der Töne von dem höchsten Licht auf der Form bis /.um Schallen und Reflex: seine «Palette' hat einen grossen euro- päischen Kinflnss gewonnen, nicht am wenigsten auf die dänisches Kunst (durch Kckersherg). Sie ist etwas verschieden in seinen verschiedenen Perioden, die grauen Millellöne können mit grünlicheren abwec hseln, in der früheren Zeit ist der Lokation warmer, loller, hat sogar «'inen gewissen goldenen Anstrich, was darauf hindeutet, dass ihm doch ein wenig von der älteren Tradition iiuhaflel (so noch in den -llora- tiern»). Aber selbst sein wärmster Ton ist doch ein hartes Zinnober, bei dem weder Saft noch Transparenz ist, und das •/.. R. auf einer vollen, jugendlichen Wange den Kindruck von aufgelegter Schminke innchen kann.

Heruht dies alles nun auf angeborenen Kigenschaften bei  »lern Künstler, auf der

individuellen Organisation seines Farbensinnes V Ks liegt gewiss etwas v ler Natur

beslünmles in der Art und Weise, wie es sieh äussert, aber was der Maler ge- konnt hat, wird auch dadurch bestimmt, was er gewollt hat. Fs ist ganz klar, dass derjenige, «ler einseitig das Kthische im Menschen hervorhebt, sich am allerwe- nigsten von dem vegetativen Leben angezogen fühlt, von dem Leben in Säften und Stoffen, von dem, was gerade die Farbe bestimmt. Dies hat nicht nur seinen guten psychologischen Zusammenhang in beziig auf den einzelnen Künstler, es licgl etwas Weltgeschichtliches darin. Ks gab unter Davids Zeitgenossen sicher grössere Kolorislen als er selber war, aber teils hatten sie doch alle etwas (iloieharliges, teils gewann er auch in der Farbengebung «len grösslen Kinflnss. Das (iraulieho in seinem Karbenion wurde als F e i n h e i t bewundert, der Mangel an Olanz bei seinen (ie- inählen als Nüchternheit und als Wirkung der Kraft, die alle Ueherlroibiing verachtet . Kurz, sein«' Mitwelt betrachtete ihn als vorzüglichen Kolorislen.

Das alle Licht in der Farbe, das noch in der P.okoknzcil geschimmert hatte, war vorläufig erloschen.


1 So schreibt Knsröiif IMacmix in i>in<>r AMiaicllniii: iil»>r 1'neHi.m. UVviie (|.<* «lenx iik.ihIi-s XVI

is4»;. s. t.ni.



SCHI.USS DES GANZEN.


Die Darstellung des Menschen durch <lie Bildnerei, die wir nun in ihrer (ie- schichle durchgenommen halten, isl wie in der Einleitung angedeutet wurde ein einzelner Teil, ein (ilied von des Mensehen Auffassung vom Menschen, das Selbst be- w u ss I sein des Menschen in weilerer und umfassenderer Bedeutung. Ks hat Teil an dem Wichtigsten, womit der Mensch seinen (ieist beschäftigt. Was hat nun die Bildnerei ihrem Wesen und ihren Bedingungen nach in Sonderheil über diese Sache zu sagen V Hud welche Belehrung hui die Menschheil ihr zu verdanken?

Die Bildnerei ist niehl die einzige menschliche Wirksamkeit, die auf die Bar- Stellung des Menschen ausgeht : die Dichtkunst stellt den Menschen auf ihre Art dar, und eine ganze (iruppe von Wissenschaften (Anatomie, Physiologie, Psychologie ete.i haben ebenfalls den Menschen als (iegenslaud der Forschung. Heber das Verhältnis zwischen Bildnerei und Dichtkunst wollen wir später reden  : hier wollen wir sie vor- läufig zusammenfassen und ihren gemeinsamen (Jegensalz zu der Wissenschaft von dem Mensehen bestimmen. Sie sind beide künstlerische Darstellungen des Menschen, d. h. Nachahmungen seines Wesens; dies gilt namentlich in direktester Bedeutung von der Bildnerei (Plastik und Malerei). Die Wissenschaft kann auch ein künstlerisches Klemenl aufnehmen und die Schilderung und Nachahmung benutzen, aber sie erreicht ihr Ziel nicht, erfüllt ihr Wesen nicht dadurch: dies tut dagegen die Kunst.

In allen Fällen, wo es sich darum handelt, sich etwas Objektives, mit «lern wir durch die Sinne Bekanntschaft machen, zum Bewusslsein zu bringen, benutzen wir in erster Linie die Nachahmung als Milte). Selbst wenn wir keine Hinsicht haben in die Bedeutung der Nachahmung für das Bewusslsein, tun wir es doch unwillkür- lich. Wenn etwas Kindruck auf uns macht, nehmen wir es in den Einzelheiten durch und prägen es so unserer Auffassung ein. Durch diese Tätigkeit bemächtigen wir uns des Objektiven in seiner Kinheit ; dann kommt erst die Analyse, die vorläufig die Sache in ihre einzelnen grossen Partien teilt, und sie allmählich in das unendlich Kleine aullöst. Das Bewusslsein macht es wie das Tier, das erst seine Beute er- greift, sie dann zerreisst, sie verzehrt, verdaut, sie in sein eigenes Fleisch und tilut



431 -


aufnimmt. Die Nnchahmungstätigkeit stellt ein Hihi von den Dingen als Ganzes dar, indem sie sie aber im Einzelnen durchnimmt, nähert sie sich ihnen und bereitet die Analyse vor. Der Zoolog oder der Hotaniker, der das Leben des Organismus ver- stehen will, vergewissert sich zu allererst, ob er das klare Hild des Organismus in sich trägt; er zeichnet mit Vorliebe das Tier oder die Pflanze ab, und selbst wenn er es nicht mit der Hand tut, tut er es doch mit dem Auge. Der Astronom muss. ehe er sieh in die himmlische Mechanik vertiefen kann, sich eine Himmelskarte zeichnen; der Sprachforscher, der die Hckanntschaft einer fremden Zunge macht, ver- gleicht ihre Laute, ahmt ihre Worte nach, ehe er ihre Lautlehre, Formlehre oder Syntax erforscht. Dass man so zu Werke geht, beruht auf einem Naturgesetz für das Hewusstsein, auf einem Gesetz, das nie aufgehoben werden kann. Das Menschen- leben wendet Tag für Tag eine unglaubliche Menge Nachahmung in verschiedenen Formen an als einleitendes Stadium bei dem Prozess sich etwas zum Hewusstsein zu bringen.

So macht es der Einzelne, und so macht es die Menschheit als Ganzes, — natürlich durch die Arbeit des Einzelnen. Die Nachahmung, die der Einzelne im täglichen Leben anwendet, um eine Sache zu verstehen und sie sich anzueignen, ist zerstreut und geteilt, roh und nicht durchgerührt und verdient nicht den Namen Kunst, ebensowenig wie sein Versuch in bezug auf Analyse und Hegriffsbitdung den Namen Wissenschaft verdient. Aber wenn man die Arbeit der Menschheit als Ganzes be- trachtet, die Kulturarbeit, so bezeichnet die Kildncrei nichtsdestoweniger das einleitende Stadium des Hewusstseins, die Nachahmung, während die Wissenschaft ihren nieab- sehliessenden Vollendungsprozess, die Analyse? bezeichnet. Kür den Einzelnen, der die Kunst ausübt, ist die Kunst kein Vorstadium, das zu einer Wissenschaft hinüber- führt, ebensowenig wie derjenige, der sich der Wissenschaft widmet, erst Künstler sein muss. Kunst und Wissenschaft haben untereinander ihre relative Selbständig- keit. Aber sie handeln doch von demselben  : die objektive Well und ihre Erschei- nungen sind Gegenstand der Hetraehtung und Darstellung des einen wie des andern. .Sie sind wie zwei grosse Departements, von denen jedes seine Heamten und Arbeiter hat.  : die Aufgabe des einen Departements ist die einleitende, nachahmende Aulfassung des Objektiven; die des andern ist die analysierende. Innerhalb seines Departements denkt jeder nur daran, was er zu tun hat : wir, die wir ausserhalb desselben stehen und Vorteil aus der ganzen Arbeil ziehen, sehen die Verbindung ein.

Die Arbeit der Kunst geht also derjenigen der Wissensehafl voraus. Wenn wir nun dies nicht nur auf das Hewusstsein der Menschheil von dem objektiven im allgemeinen, sondern auf das Hewusstsein fies Menschen vom Menschen, auf sein Selhslbewusslsein anwenden, so sehen wir gleich, dass es vollkommen mit dem über- einstimmt, was die Geschichte lehrt: denn ehe die Hede von einer wirklichen Wissen- schaft vom Menschen war, ja, ehe Sek rat es, Piaton oder Aristoteles gelehrt hatten, was sie zu lehren hallen, — was doch nur eine Einleitung war, — gab es bereils eine plastische Darstellung des Menschen, so vollendet in ihrer Art, wie nur irgend etwas, was die Menschen hervorgebracht haben. Damit war nun die künstlerische



- 432 -

Darstellung d<>s Menschen keineswegs lerlig, sie kann überhaupt niemals aufliörcn, so lange «las Sclbsthewnsslsein des Menselieti arbeitet, «leim jegliches Hewusslsein muss «las Stadium «ler Na< hnhinung «Inn hnia<h«'U. Alter «leswegen ist «  s Hur«  haus nicht ausgeschlossen, zu ileukeii, «lass sie «las Wesentlichste von «lern, was sie zu sagen hat, gesagt hal, «lass sie ihren Hölicpunkt «>rreichl hahen kann, so «lass die Arlieit «ler Naehwell immer zu «ler «ler Vergangenheit zurückgreifen muss. Währenfl «lie Wiss«ns«hafl hcsläinlig vorwärtsslrcht und keineswegs «he Aut«»ritäl «ler Arl>eit der Vergangenheit iiml ihr»' Hcsullute anerkennen will. Iilickl «lie Kunst mil elegischer Hewunderiing auf «lie Höhepunkte' «h-r Vergangenheil zunVk und gesteht zu. «lass «lie Kunst damals mehr Kunst war, als sie es jetzt ist.

Ks gab eine /eil, w«» «lie Darstellung «l«s Menschen durch die Kunst durch «lie Hildncrci wie durch «lie Dichtkunst — «lie einzige war, und es kam eine Zeit, wo sie aul" alle Kalle mehr lictK'utung als «Ii«' «l«'r Wissenschaft halte, .letzt hesbdn-n heble Departements neben einander, aber «Ii«' Wissenschaft hal ohne Krag«' mehr und mehr von der Kraft und «lein Interesse an sich  »«  zogen. Die künstlerische Darstellung «les Menschen ist nicht vollendeter gcwonlen, weil «Ii««  Wissenschaft «hm Menschen seiner llehandlung unterworfen hal : sie eullehiit kein«' Stärke von «ler Wissenschaft, weil ihre Stärke gera«le darin heruhl, «lass sie «las Vorsladium «les Hewusslseins. «lass sie -naiv ist. Sie ruft «las Verlangen nach Wissenschaft wach, wir«l aber «lein Verlang«-«) genügt, so ist «las im («runde «in Verlust für die Kunst sei her.'

Die feinere Aufgabe besteht «larin zu sehen, was di<* Hildncrci — «lie Plastik iiml «lie Malerei — im Vi-rhältnis zur Dichtkunst über «len Menschen zu sagen hat. Dies«' b«  i«l«'ii Arten «ler Kunsl gehen auf eine Nachahmung des Wesens «!«■> Menschen aus. aber ihre Aufmerksamkeit ist auf verschieden«  Seilen desselben ge- rb biet.

Ks liegt sehr nahe zu sagen, «lass «lie Darstellung des Menschen durch «lie Hil.l- nerei auf «len Körper, «lie «ler Dichtkunst jedenfalls mehr auf «Ii»' S»>cle ausgeht. Darin Ih'gt die Wahrheit, «lass «Ii«- Hildncrci in ihrer Schihlcrung unmüglbh «las Körper- liche umgehen kann, und aussprechen muss, was sn* durch «lieses auszusprechen vermag. Aber «larin liegt keineswegs, «lass si«' nicht auch «lie Seele schildern k«">nnte — wir brauehen nur an Haffael «der Hembrandt zu erinnern, um gegen jede Hc- haiiplung, die darauf hinausginge, zu protestieren: die Dildnerei kann die Seele schildern, so «lass es durch Mark und Hein geht. Ausserdem besitzt die Kunst des Wortes, «lie mehr «lirekl «las (Jedanken- und Oefuhlslcben äussern kann, viele Mittel, auch das Körperliehe darzustellen. Kndlich ist «lie HiMnerei selbst in beziig auf «hr Darstellung des Körperlichen sehr begrenzt  : sie schildert allein s«'ine Oberfläche, seine Aiissenseile, währen«! alles, was im (ichirn und im Herzen, im Magen und in der Leber vorgeht, und was «loch auch mit zum Körper gehört, ganz ausserhalb der He-

1 Siehe «He früheren AMctinitte über «Ins Verhältnis der Anatomie r.nr Bildnerei.



• — 433 -

Irachtung bleibt, oder jedenfalls nur innerhalb desselben, insofern, als es sieb auf der Oberfläche wiederspiegelt.

Genau genommen besieht also der Gegensatz nicht so sehr zwischen Körper und Seele, als zwischen dem Aeussern und dem Innern. Die Bildnerei ist in ihrer Schilderung des Menschen ganz an sein Aeusseres gebunden, so wie sich «las dem Gesichtssinne offenbart. Die Kunst des Wortes ist nicht auf dies»«  Weise an eine einzelne Art von Sinnenwahrnehmung gebunden, sondern kann alle umfassen, indem sie jedoch nur eine unbestimmte Phantasievorstellung an die Stelle des genau bestimmten Sinneneindruckes setzen kann; sie ist in bezug auf das Aeussere des Menschen vielseitiger, aber weniger exakt als die Bildnerei ; dagegen kann sie direkt in das geheime Kämmerlein des Menschen gehen und es durchforschen, was der Bildnerei keineswegs gestattet ist. Und doch, offenbaren sich nicht die feinsten Begangen im Innern des Menschen dem aufmerksamen und verständnisvollen Auge in der Form und Farbe seines Aeussern? Das, was wir den Ausdruck nennen, was eine so ausserordentliche Bolle in der Darstellung des Menschen durch die Bildnerei spielt, ist ja nichts weiter als die Offenbarung des Innern durch das Aeussere. Das Innere tritt also hervor, wird selbst zu etwas Aeusserein. Wenn schon in dem Gegensatz: Seele — Körper etwas Vages und Unbestimmtes besieht, das nicht von jeder wissenschaftlichen Betrachtung als feststehend anerkannt werden kann, so ist dies in ebenso hohem Masse der Fall mit dem Gegensatz: das Aeussere — das Innere. Was soll man überhaupt unter dem «Innern» verstehen?

Mit grösserer Sicherheit können wir gleich bestimmen, was unter dem «Aeussern» zu verstehen ist. Die nach aussen gewandte, sichtbare Oberfläche der menschlichen Gestalt existiert nur für das Auge, das sie betrachtet ; ich kann selber Teile meiner Gestalt sehen, — meine Hände meine Füsse — genau auf dieselbe Weise, wie ich andere Gegenstände im Baum sehen kann  : wer mir gegenübersteht, kann eine ganze Seile meines Aeussern sehen. Das Aeussere des Menschen, von dem wir hier reden, ist nichts anderes als der Mensch als Gegenstand der Betrachtung durch das Gesicht, der Mensch als etwas Objektives für eiu betrachtendes Auge. Die ge- naue Bestimmung des « Innern * ist — dementsprechend — , dass es die Subjek- tivität ist. Ich bin imstande, ineine eigene Subjektivität unmittelbar zu betrachten, wie ich auch einen andern unmittelbar von der objektiven Seite auffasse, nämlich sein 'Aeusseres». Die Subjektivität eines andern unmittelbar aufzufassen, ist dagegen eine Unmöglichkeit : ich bin dazu nur imstande durch eine übergreifende Bewegung in meiner Auffassung, wodurch ich meine eigene Subjektivität in sein Aeusseres hineinlege, voraussetze, dass er als Wesen meiner Art entsprechende Be- gierden, Gefühle, Gedankenregungen, Ansprüche und Becbte hat, wie ich sie selber habe. Indem ich den andern als Subjektivität auffasse, vollende ich eigentlich erst die objektive Auffassung von ihm, indem ich ihn nicht mehr nur als eine Figur auf meiner Sehfläche oder als Gegenstand im Baume, sondern als ein selbständig existie- rendes, produktives Wesen betrachte.

Obwohl nun die Auffassung des Menschen durch die Bildnerei nalurgemäss

28



— 434 —


nie etwas anders ist und werden kann als die objektive, so ist die Bildnerei doch im stände, mit mehr oder weniger Deutlichkeit, mehr oder weniger Tiefe die Vorstellung von einer Subjektivität in der Gestalt zu erwecken. Uebcrhaupt be- steht die natürliche Aufgabe für jede Kunst, die den Menschen darstellt, darin, ihn als Ganzes darzustellen; wenn sie ihn infolge ihrer Bedingungen nur von einer bestimmten Seile sehen kann, so muss sie doch verstehen, eine Vorstellung von der Seile zu erwecken, die sie nicht direkt sehen kann  ; wenn sie geradezu etwas aus- schlösse, was wesentlich mit zu dem Mcnsch-sein gehörte, würden wir das Bild gar nicht anerkennen, uns gar nicht dafür interessieren. Innerhalb der Bildnerei selber macht es gerade einen sehr eingreifenden Unterschied, ob das, was gesehen und wiedergegeben wird, rein und trocken objektiv aul'gefassl wird, oder ob man nur etwas von einer Subjektivität i einem inneren Leben) darin ahnt. Den rein leblosen Gegenstand z. B. einen Stein oder eine Wolke — lasse ich ganz kühl auf, indem ich mit der grösslen Genauigkeit danach strebe, sein Mass, seine Form, seine Farbe, das Verhältnis zwischen Licht und Schatten u. s. w. zu bestimmen. Aber so einge- wurzelt ist die Neigung des Menschen, einen Bellex der menschlichen Subjektivität auf alles zu werfen, was er sieht izu anthropomorphisieren), dass er sogar, wo er im Voraus weiss, dass keine Spur davon existiert, wie hei Steinen, Wolken und andern loblosen Gegenständen, ganz unwillkürlich danach sucht, etwas zu finden, was an ein inneres Leben erinnern kann  ; kaum hat er bei solchen Gegenständen eine zufällige Andeutung einer Miene oder eines Gesichts oder einer Figur erhascht, als auch schon die Phantasie die Andeutung sofort weilerführt. Und sonderbar: im seihen Augenblick, wo man eine solche Andeutung erhascht hat, fasst man Masse und Verhältnisse mit weil grösserer Schärfe und Genauigkeit auf als bisher, wo man den Gegenstand als etwas rein Lebloses betrachtete. Erblicke ich z. B. in den zu- fälligen Strichen auf einem Stein eine Andeutung einer lachenden oder weinenden Miene, so wird es mir nicht schwer werden, die Striche zu zeichnen, denn jede kleine Veränderung in ihrem Verhältnis zueinander bewirkt eine grosse Veränderung in dem Ausdruck, den ich sehe. Doch, so bezeichnend auch dies psychologische Gesetz ist, auch in hozug auf die Kunst, würde man sich z. B. bei einem Land- schaflsgemülde wohl hüten, Steine und Wolken an Gesichter und Figuren erinnern zu lassen. In der Pflanzenwelt dagegen ahnt man schon eine wirkliche, wenn auch nur ganz träumende Subjektivität, und es kommt deswegen ein gewisses sym- pathisches Kleinen! in die Auflassung hinein. Bei dem Blick auf die Tierwelt erhält dies Element einen noch weit grösseren Spielraum: wir verstehen das Leben des Pferdes und des Hundes, ihre Bewegungen, Mienen und Formen kraft des Entspre- chenden in unserer eigenen Subjektivität, weshalb auch unser Blick für die Tierge- stalt, unsere Aulfassung von ihrer inneren Notwendigkeit und ihrem Zusammenhang schärfer, feiner, genauer ist als unser Blick für die Pflanzen oder die tote Natur. Aber eine unendlich verstärkte Bedeutung erhält doch die sympathische Auffassung des subjektiven Lebens da, wo es sich um die menschliche Gestalt handelt ; man kann wirklic h sagen, dass wir die menschliche Gestalt mit andern Augen sehen als alles



435 -

Gebrige auf der Weil. Welche Bedeutung hat z. 15. nieht schon eine kleine, leicht skizzierte Figur in weiter Entfernung auf einem Bilde, das eine einsame Landschaft darstellt: sie wiegt fast alles andere auf; wir wissen, dass wir einen Mitwisser da- drinnen haben. Mehr verlangen wir nicht von ihr! Und das Bewusstsein von einer Subjektivität in der Gestalt, die wir sehen, macht die Auffassung des Objektiven in einem unglaublichen Grade feiner und schärfer. Zwischen den Millionen von lebenden Zeitgenossen, unter denen wir uns bewegen, sind wir im stände, mit der grüssten Bestimmtheit einen Einzelnen, Bestimmten, wiederzuerkennen, den wir nur ein einziges Mal vielleicht vor vielen Jahren gesehen haben  ; und doch bestehen alle menschlichen Figuren und Gesichter aus denselben Bestandteilen, da ist nur eine Nuance in bezug auf Mass, Form und Farbe, ein Unterschied, der uns, wo nicht von einer Subjektivität in der Gestalt die Bede ist, gar nicht zum Bewusstsein kommen würde. Guter zehn Granitsteinen könnten wir nach Verlauf einer Stunde schwerlich einen einzelnen mit voller Sicherheit wiedererkennen  ; das beste Mittel würde auf jeden Fall sein, ein Gesicht darauf zu sehen.

Aber welch eine ausserordentliche Bedeutung es nun auch für die Bildnerei hat, eine Subjektivität in der Gestalt zu sehen, so ist die eigentliche und direkte Darstellung der Subjektivität doch der Dichtkunst vorbehalten, die den Menschen von sich selber «Ich» sagen, ihn aussprechen lässt, was er will, ihn fühlen und denken und die Einbildungskraft danach sich ein Bild von der Person machen lässt. Die Bildnerei dagegen geht davon aus, wie sich ein Mensch dem von aussen betrach- tenden Auge offenbart, und rührt alles darauf zurück, .la, ihre objektive Betrachtung des Menschen ist sogar einer sehr wesentlichen Beschränkung unterworfen, indem sie, um ein monumentales Werk hervorzubringen, die Gestalt in unveränderlicher Form fixiert, im Gegensatz zu der Mimik ider Pantomime, der Schauspielkunst), die ebenfalls das Aeussere der menschlichen (testalt darstellt, es aber in seinen succes- siven Veränderungen und Bewegungen darstellt. Wenn dies ein Vorzug auf Seiten der Mimik ist, so hat die Bildnerei umgekehrt nicht nur den Vorteil, monumental zu sein — was ihr eine so ausserordentliche Wichtigkeil für die historische Forschung verleiht, — sondern auch den, dass sie auf ganz anders durchgeführte und künst- lerisch exakte Weise die Gestalt im Ganzen und im Einzelnen gerade so bestimmen kann, wie sie sie haben will. Während die Mimik im Augenblick mehr mit fortreisst, dem Zuschauer aber keine Zeit lässt, so genau ins Detail zu gehen bei der Betrach- tung der Gestalt, so gibt die Bildnerei den genauesten Bescheid, liefert das gültigste Dokument darüber, wie der Künstler die Gestalt aufgefasst und verstanden hat.

Dass die Darstellung des Menschen durch die Bildnerei in einer einzigen Ge- stalt festgelegt ist, die keine Veränderung in der Zeilenfolge durchmacht, bildet einen neuen Gegensalz zu der Dichtkunst. Die Dichtkunst ist nur ein Zeitlädeu : die vielen Linien im Buche bilden eigentlich eine fortlaufende Linie, die einen Zeilabschnitt ausfüllt. Dies ist in erster Linie als eine Form, eine äussere Bedingung aufzufassen. Die Dichtkunst kann diese Form benutzen und benutzt sie beständig zu Schilderung des Zeitgenössischen: aber je mehr sie von dem Zeitgenössischen (dem Coexistie-



- 4M -

rcnden, um mit Leasing /u reden) mitnehmen will, um so undeutlicher wird sie, weil ihr Hericht darüber in fortlaufender Zeitfolge geschieht. .1e mehr die Dichtkunst in Uebereinstinnnung mit ihrer Form sieht, um so mehr heriehtet sie auch davon, was in Wirk lieh keit einen Unterschied in der Zeit angibt. Wo die Hede von der Darstellung des Mensehen ist, besteht das letzte Ziel und die höchste Aufgabe, auf die sie hingewiesen ist, darin, die innere Kntwicklung in der Subjektivität, die Kon- sequenz in der Veränderung innerhalb desselben Charakters zu schildern, eine Aufgabe, die eine unabsehbar grosse Dedeutung für die Kntwicklung der Mensch- heit hat. Hiervon ist die Hildnerei absolut ausgeschlossen: sie kann nur einen ein- zelnen Uchergangsuioment so darstellen, dass man indirekt daraus schliesst oder empfindet, was vorausgegangen ist und was nachfolgen wird. Sie wird um so undeutlicher, je weiter sie in der Zeit vorwärts oder rückwärts zeigen will. Die Kunst kann wohl, — was sie gerade in neuester Zeil versucht hat — durch eine Hei he selbständiger Hilder eine Heihe von Momenten in der Kntwicklung desselben Charakters geben:' aber der Faden, die Konsequenz in der Kntwicklung kann sie nicht angeben: sie kann sie nur durchfühlen lassen und niuss sich damit begnü- gen, eine Illustration zu der Darstellung des Wortes zu geben, die sie direkt ent- wickeln kann. Das Kild kann nur den einzelnen Wellenschlag - oder eine Windstille — in der Subjektivität wiedergeben: die Dichtkunst kann die Heihenfolge der Wellen abspiegeln und kann ausserdem direkt von den Kräften erzählen, die die Wellen treiben, von Wind und Sturm und von den verborgenen Klippen und Gründen in der Tiefe.

Fragt man nach dem Verhältnis der Bildnerei zu der Kategorie der Zeit, so kann man im allgemeinen nur mit der ganz negativen Hestimmnng antworten, dass die Kunst keineswegs imstande ist, die Zei I s uecessi on darzustellen. Wenn mau nur den HegrilT hiervon ausschliessl, wird man sehen, dass die Kunst in ver- schiedenen Formen eine Vorstellung von Zeil in ihr Hereich zwingen kann. Sie kann erstens den Moment darstellen, d. h. : den unendlich kleinen Zeilleihdas Zeitalom. den Zeitpunkt), den Augenblick, der zwischen einem Vorher und einem Nachher in fliessendem Ucbergang, in schnellerem oder langsameren Tenqwi liegt. Sie kann «das Momentane* stärker oder schwächer hervorheben, es zuspitzen oder planieren. Sie kann auch das ausdrücken, was man die stillstehende Zeil nennt, die Figur in einer rulienden Pause, in wirklichem Schlaf oder wachem Traum darzustellen, der sie für einige Zeit in derselben Stellung gefesselt hält. Ks ist eine Art Suspension der Be- wegung der Zeil. Da wir aber hier die Zeit nicht nach dem Glockenschlag auffassen, sondern in ihrer subjektiven Medeutung. können wir auch den Zeitteil, in dem man sich keiner Veränderung bewussl wird, als einen Moment l>czeiehnen, als unendlich klein, selbst wenn der Zeiger an der Uhr vielleicht die Hunde über die Scheibe macht.


1 Ich denke hierbei /.. Ii. an die Reihe von i\ ßiisten von Napoleon I, in verschiedenen Sta- dien seines Lebens, die der fran/.oMsche Hildhauer (inillaunie für Prinz Jerönie Napoleon ausge- führt hat und die in der Weltaus*|e||iini; von Paris IH'iT ausgestellt waren.



- 437 —


so lauge er währt. Aber tlie Negation der Zeitfolge kann nicht nur die Form des iinendlieh Kleinen, sondern auch des inieiidlieh Grossen annehmen. Das Stillstehen der Zeil kann bis zu einer Unendlichkeit ausgedehnt werden, von der also die Vor- stellung von Abwechslung und Veränderung ausgeschlossen ist. Michel Augelos Jeremias sitzt da und grübelt. Thorwaldsens Christus wird bis in alle Ewigkeil der Gemeinde dusselbe sagen, weil das, was die Gestalt ausspricht, gerade das unverän- derliche Verhältnis zur (iemeinde ist. Ingres' Oiicllnymphc mit der Urne auf der Schulter wird ununterbrochen so stehen und den Ouell aus dem kleinen Waldwinkel entströmen lassen. Haffaels Sixlinische Madonna ist eine Offenbarung der Mutter Gottes mit dein Kind auf dem Arm, so wie das Auge des Glaubens sie erblickt, ohne den leisesten Wunsch oder anderen Anspruch auf eine Veränderung. Dhidins' olympischer Zeus mit dem Siegesbild auf der Hand war das Uild des ewigen, unver- änderlichen Huhmcs für den Vater der Göller und der Menschen. Diese zuletzt her- vorgehobene Eigenschaft der Hildnerei macht sie überhaupt ganz besonders geeignet, der Vorstellung von der göttlichen Existenz Ausdruck zu verleihen, die über den Ver- änderungen des Lebens erhaben sein soll; ja, man kann umgekehrt sagen, dass die Vorstellung von einer solchen Existenz nichts weiter ist als ein Uild,  »las in monu- mentaler Kunslfoiin gefesselt werden kann. Die Negation der Zeit hilft der Kurist, das Menschenbild in ein Gottesbild zu verwandeln Die Darstellung der Gottheit hat deswegen immer eine viel hervorragendere Holle in der Hildtierei wie in der Dicht- kunst gespielt, die bei dieser Aufgabe beständig gegen das Hindernis hat kämpfen müssen, dass sie die Zeit mit in ihre Schilderung hineinziehen mussle. Die Zeil ist die abstrakte Form der Eidwicklung, des Leidens, des Wechsels, d. h. des Menschlichen.

Es würde jedoch sehr «'inseitig sein, wollte mau den Gegensatz zwischen der Darstellung des Menschen durch die Dichtkunst und durch die Hildtierei allein nach den Fähigkeiten der beiden Künste, das auszudrücken, was der Zeit angehört, bestim- men. Wenn man das getan hat, hat es sicher seinen Grund darin, dass man mehr Interesse für die Dichtkunst als für die Hildnerei hat, indem man die Kategorie, die der Dichtkunst eigentümlich ist, als Massstal» für die Hildnerei anwendet. Man erhält dadurch einen guten Hlick dafür, was das Doelischc, das I ichlerische in den Dar- stellungen der Malerei oder der Skulptur ist — oder doch für etwas davon — : aber man lässt dem eigentlich Künstlerischen in der Aufgabe der Hildnerei keine Gerech- tigkeit widerfahren. Mau hebt ungemein stark das erzählende Element der Hild- nerei hervor, das namentlich auf ihrer Herrschaft über den Moment und ihrer Fähig- keit beruht, ihn für die Einbildungskraft zu schwängern und fruchtbar zu machen «buch Andeutung des Voraufgcheudeu und des Nachfolgenden, auf Unkosten ihres schildernden, ausmalenden und formenden Talents. Dieses verhält sich nicht der Zeit, sonderndem Ha um zunächst, der die eigentliche Kategorie und der Tummelplatz der Hildnerei ist. Man kann eine Gegenprobe mit dieser Einseiligkeil machen, indem man sich einen Augenblick die Dichtkunst in die Kategorie des Haumcs gezogen denkt, was die umgekehrte Einseitigkeit sein würde. Die Dichtkunst kann freilich



- 438 _


auch räumliche Vorstellungen erwecken und tut das unablüssig, aber ihre eigentliche Stärke liegt nicht darin.

Der Gegensatz zwischen dem Positiven und dem Negativen in der Zeit führt uns also hinüber zu dem Gegensatz zwischen Zeit und Raum als charakteristisch für das Verhältnis zwischen der Dichtkunst und der Bildnerei. Das, was jeder Kunst als solcher eigentümlich ist, besteht darin, das» sie einen strengen Zusammenhang bewirkt, eine innere Konsequenz im Verhältnis zwischen allen Teilen untereinander und zwischen den Teilen und dem Ganzen durchführt. Die Bildnerei bewirkt diese Harmonie in der Behandlung der Raumgrösse, die Dichtkunst lenkt die Aufmerksam- keit auf die Konsequenz in der Zeitfolge. In bezug auf die Schilderung dessen, was zu dem Raum gehört, z. B. der Farbe, gibt die Dichtkunst lauter undeutliche Heeke und Punkte, ohne Anspruch auf durchgeführt künstlerische Harmonie. Dagegen ist das Verhältnis der Farben untereinander von der einen Grenze der Fläche bis zu der andern die ernsteste Aufgabe für den Maler. Sowohl der Bildhauer als auch der Maler stellen den Menschen in erster Linie als Raumgrösse dar: aber sie richten ihre Gedanken auch ununterbrochen auf das Unsichtbare: auf das Verhältnis zur Zeit und das subjektive Leben, das sich darin olfenbart. Derjenige, der z. B. die Statue einer lebenden Figur in Bewegung modelliert, soll mit einem Schlage er- reichen, dass die Raumgrösse zusammen hängend, ganz, gleichgewichtig und harmonisch ist, dass ihre verschiedenen Glieder und Teile in ihrer verschiedenen Lage und Stellung sich zu einem Zeitmoment gleichzeitig verhalten, und dass sie konsequent charakterisiert sind in bezug auf eine bestimmte Stufe in der Altersenlwicklung. Wenn wir nun zugleich sehen, dass sich die Auflassung der menschlichen Gestalt als Raumgrösse nicht in der rein geometrischen Bedeutung festhalten lässt, sondern von selber dazu führt, sie als Oberfläche eines lebenden organischen Baues aufzu- fassen, so kommen wir hier wieder zu dem Begriff Körper, womit wir die ganze Reihe von Begriffen begannen, die den Gegensatz zwischen der Darstellung des Menschen durch die Dichtkunst und durch die Bildnerei bezeichnen.

Indem wir nun einen Blick zurückwerfen auf die Reihe von Gegensätzen, die wir durchgenommen haben, erblicken wir das Verhältnis folgendermassen  :


was wiederum mit schärferer Steigerung aus- gedrückt heisst:

3. Der Mensch wie er der objektiven Be- Der Mensch, als Subjektivität aufgelasst. t rächt ung erscheint

Da das, was das Leben der Subjektivität charakterisiert, gerade die Fähigkeit zu Veränderung und Produktion ist, müssen wir die Kunstformen nach ihrem Ver- hältnis zu dem Zeit begriff folgendermassen bestimmen:


Bildnerei

1. Körper,

vi«  genauer aufgefasst heisst:

2. Das Aeussere des Menschen,


Seele,


Das Innere des Mensehen;


Dichtkunst



- W.) -


1. Der Mensch, unter negativer Zcitbc- Das menschliche Lehen als Linterschied, Stimmung ( 'Moment, Ewigkeil ) helraclitct Abwechslung und Entwicklung in der

Zeit betrachtet.

Da aber der Zeil begriff, (»osiliv uufgclässl, gerade nicht der Hildnerei eigentüm- lich ist, belrachteten wir die Fähigkeit der beiden Kunstarten,

5, Die menschliche Gestalt als Haumgrösse Das menschliche Leben als Zeitabschnitt aufzufassen. aufzufassen.

Indem also die besonderen Kategorien der Hildnerei in dieser l'cbersiehl auf der linken Seite, die der Dichtkunst auf der rechten Seite stehen, erinnern wir daran, was wir oben angedeutet haben, dass der Gegensatz nicht auf die Weise scharf und ausschliesslich ist, dass die Hildnerei nichts mit den Kategorien der Dichtkunst, die Dic ht- kunst nichts mit denen der Hildnerei zu schallen haben sollle. Im Gegenteil : jede Kunst, die von dem Menschen handelt, hat ja ihre Wurzel in dem Interesse für den Menschen als Ganzes, wie* er im Leben und in Wirklichkeit ist  : nur die begrenzten Hedingungen der einzelnen Kunst um! die daraus folgende einseitige Methode ist es, die verschiedene Seiten aus dem ganzen Menschlichen abstrahiert; aber sowohl der Künstler, der die Gestalt darstellt, als auch der Hcschaucr, der sie sieht, nehmen die der Natur der Sache nach einseitige Abstraktion als Heprüsenlanlcn des Menschlichen in seiner Vollständigkeit. Das, was wir oben auf der Seile der Hildnerei angeführt haben, ist nicht ihr ganzes Konto, sondern nur ihr Heitrag zu dem ganzen Geschäft; und in gleicher Weise verhält es sich mit dem, was wir auf der Seile der Dichtkunst aufgeführt haben. In Wirklichkeit stehen einer jeden von ihnen reichere I Hilfsquellen zu Gebote, weil jede von ihnen sich etwas von dem aneignet, was direkt unter die Huhrik der andern gehört. Aber das, was sie also entlehnt, gibt sie nicht wieder in klingender Münze aus wie das, was sie aus sich selber hat, sondern in Anweisungen aul 'die Phantasie. Da diese gegenseitige Anleihe zwischen den beiden Seilen der Durstclluugskuusl als ineinander aufgehend bezeichnet werden kann, könnten wir hier davon absehen, und gerade weil wir hier nur den Gegensatz zwischen den beiden Kunstformen charakterisieren wollen, das worin jede der andern gegenüber ihre Stärke hat, können wir es bei dem oben Dargestellten bewenden lassen.


Wir haben nun davon gesprochen, was die Hildnerei infolge ihrer Hedingungen von dem Menschen aussagen kann, im Vergleich zu dem was die Dichtung auszusagen hat. Nun bleibt noch die Krage, was sie denn in Wirklichkeit gesagt und gelehrt hat. Dies muss mit einem (ganz kurz gefasslen ,i historischen Hink blick beant- wortet werden, wobei wir namentlich den Hlick auf den Anfangspunkt und auf den vorläufigen Endpunkt richten müssen, wenn wir die Dicht ung in ihrer ganzen Aus- dehnung bestimmen wollen. Indem wir sonst auf die vorausgehende, rein historische Entwicklung hinweisen, wählen wir jetzt unsern Gesichtspunkt einzig und allein in der oben erweiterten Reihenfolge



- 440 —


Je weiter wir in der Gcschichle Her Bildnerei zurückgreifen, um .so mehr werden wir rinden, dass die Hegriffe von Zeit und von Subjektivität von ihrer Dar- stellung des Menschen ausgeschlossen sind, natürlich nicht infolge einer künstlichen, auf dem Bewusstsein von den Begriffen beruhenden Abstraktion, sondern ganz einfach, weil man nicht zu dem Bewusstsein von ihrer Bedeutung gelangt war. Am charak- terislischten in dieser Beziehung ist die älteste, ägyptische, orientalische und frühe griechische Statuen form, am meisten die ägyptische, die am weitesten zurück- reicht und am reichsten vertreten ist. Die Statue bezeichnet da nichts anderes als die Gestalt, für sich dargestellt, sodass die Arbeit des Künstlers sich auf sie konzen- triert hat, während bei dem gleichzeitigen Belief oder Gemälde die Darstellung ihren Schwerpunkt auf den Verkehr der Figuren untereinander legt, auf das, was zwischen ihnen vorgeht. Die Statue ist nun hier so ausschliesslich als Baumgrösse lndiaiidelt, wie niemals später; die Auffassung der menschlichen Gestalt, von der sie zeugt, ist ganz äusserlich, durch geometrische Messung bestimmt, und das Besultat wird weniger eine Auffassung der organischen Gestalt als eine stereomelrische Figur, in die sie gleichsam hineingeschrieben ist. Es ist nicht im Geringsten die Bede von et was Momentanem, etwas Transitorischem in der Bewegung : nicht die geringste Nachricht darüber, wie die Figur in diese Stellung hineingeraten ist, nicht die ge- ringste körperliche oder seelische Andeutung darüber, dass sie jemals aus ihr heraus- gelangen wird. Wir haben gezeigt, dass die Bildnerei direkt nie weiter als bis zu negativen Zeitbestimmungen kommen kann, dass diese aber als solche dennoch cha- rakteristisch sein können; hier gibt es überhaupt keine Zeitbestimmung; wenn der Gedankt; des Erzeugers eine göttliche, unterschiedslose Ewigkeit angestrebt hat, so ist nicht einmal das deutlich zum Ausdruck gelangt. Auf den ägyptischen, assyrischen, persischen und den ältesten griechischen Beliefs und Gemälden wird dagegen die körperliche Bewegung und Aktion dargestellt, also auch das Augenblickliche und Transilorische : die Vorstellung von der Zeil ist hier wirklich in die menschliche Gestalt mit aufgenommen. Man kann auch nicht sagen, dass in der Schilderung des Verkehrs der Figuren untereinander nichts nach der Bichtung des subjektiven Aus- drucks hin geleistet ist: wo z.B. der König den Kriegsgefangenen gerade gegenüber- steht, fühlt man wohl in ihm die Selbslerhöhung und das Selbstgefühl, in den andern die Demütigung und die Angst. In der Kunst der Aegypter linden wir auch einzelne Andeutungen eines lyrischen Ausdrucks. Aber bei der ganz überwiegenden Mehrzahl der Figuren denkt diese Kunst doch an nichts weiter, als von dem rein praktischen und mechanischen S|H>rl Bericht abzustatten und die Grenzen, innerhalb deren die Darstellung der Figuren gehalten sind, und die erst die Griechen gesprengt haben, gestatteten nicht die Schilderung eines wirklich inneren Lebens in Antlitz, Mienen oder Bewegung. Die durchgehend* falsche Zeichnung des Auges im Brohl ist in dieser Beziehung ein sehr bezeichnender Zug.

Die völlige Umgestaltung der Bildnerei durch das freie griechische Volk hatte in erster Linie die ungehinderte Möglichkeit, in der menschlichen Figur alles aus- zusprechen, was die Kunst aussprechen kann, im Gefolge. Nach dieser Bichtung


- 111 -


hin isl die griechische Kunst die Grundlage und der Lehrmeister für die spätere Kunst ganz. Europas geworden. Aber die Griechen seiher realisierten dueh nur auf einseilige Weise die Möglichkeilen, denen sie den Weg bahnten. Der Nerv in dem Uingestaltungswerk war das einzig in seiner Art dastehende politisch-ethische Interesse und die aesthetische Begeisterung für den menschlichen Körper und dessen Kidiigkeil zur Entfallung gemeinnütziger Tüchtigkeit. Es war also nicht mehr die Figur als Baumgrüsse, die das höchste Ilderesse hatte, obwohl man diesen Punkt keineswegs aus dem Auge verlor, der Mick wurde geweckt für den körper- lichen Organismus, d. h. für dessen Bcwegungsorgune, vor allem wie sie auf der Oberfläche erschienen. Man durchmusterte seine ganze Oherlläche in allen Einzel- heiten und das Interesse für die Einzelheiten erwachte erst recht durch das Ver- ständnis oder die Ahnung von deren Bedeutung für die Bewegung. Die Statue — die Figur für sich betrachtet — wurde in freier Bewegung dargestellt, d. h. : sie wurde folgerichtig im Verhältnis zu einem Zeitmomcnt durchgeführt — was seil jener Zeit das Grundgesetz für die europäische Kunst, die aidike wie die moderne, geworden ist. Dies gill nicht nur von solchen Figuren, die in aktueller Bewegung dar- gestellt sind : selbst solche, die ihrem Sinn nach das Unveränderliche, die wechsellose Ewigkeit bezeichnen sollen wir haben oben als Beispiel hierfür Phidias* Zeus an- geführt — sind mit der vollen menschlichen Möglich keil für frei«' Bewegung dar- gestellt; die Figur ist nicht, wie die ägyptische, auf einen Thron gesetzt, sondern sie hat sich auf ihren Thron gesetzt. Mit antlern Worten, es ist auf Zeit und auf Subjektivität in ihr hingewiesen; dies wird sogar verlang), damit das Un- veränderliche einen wirklich künstlerischen Ausdruck erlangen kann. Aber das In- teresse der Griechen vervollkommnete sich doch im wesentlichen in dem, wovon es ursprünglich ausgegangen war, in der Durchführung des Aeussern und Körperlichen in der Figur; in dieser Hinsicht leisteten sie in beztig auf Menge und Werl weit mehr als irgend ein Volk später geleistet hat. Wie charakteristisch es auch für ihre Gestalten ist, dass sie sich, jede für sich, frei bewegen und frei ihren Platz wählen, so geht ihre Kunst doch darauf aus, dieser Freiheit einen Ausdruck in dem Aeussern zu verleihen. Von dem, was wir nach moderner Anschauung subjektiven Ausdruck nennen würden, ist in allem, was wir von Phidias', Myrons und Polyklcts Kunst kennen, nicht viel mehr zu spüren, als in der Kunst der Aegypter und Assyrer. Dazu kommt noch, dass die Griechen in dieser Periode jedenfalls nur ganz ausnahmsweise eine wirkliehe Durchführung der Alterunterschied«; in der menschlichen Gestalt erstreben. Alles isl wesentlich jung. Das Alter hat in der Oberfläche der Figur keine Fallen und Bunzeln gegraben. Die Jugend ist hi«<r nicht als Uebergangsglied in der Entwicklung des Lehens aiil'gefasst, sondern vielmehr als die eigeid liehe und ab- solute, allein wünschenswerte Daseinslörm. Beim Anblick dn-scr Gestalten denkt man weder an eine vorausgegangene Entwicklung zurück oder vorwärts an eine be- vorstehende: es ist ein ewiger Lenz.

In der späteren Kunst des Altertums spüren wir ganz deutlich ein Sireben, das Innere und Subjektive der äusseren Gestalt einzuvcrh'ibcn : kennten wir



— 142 -


mehr von der grossen Malkunst, als es der Fall isl, wurden wir wohl einen stärkeren Kindruck von dem erhallen, was wir nach dieser Richtung hin jetzt nur durch einzelne Reproduktionen ahnen, wie durch das pompejanische Bild von Medea oder das Mosaik der Alexanderschlacht. Die spätere Skulptur legt ihr Zeugnis hierüber in Werken wil- dem Laokoou oder in Bildern von den Gullierkämpfen oder in Porträts nieder. Und doch bewahrt die Kunst des Altertums ihre einmal gegebenen Grundzüge für die Auflassung des Menschen in grossen Teilen der Bildnerei wesentlich unverändert und auf alle Fälle so, dass das subjektive Leben aus Rücksicht auf das Aeusscre und Objektive immer innerhalb enger bestimmter Grenzen gehalten wird, als in der modernen Kunsl Ks ist hier nicht die Absicht, eine kleine Kunstgeschichte zu schreiben, sondern nur daran zu erinnern, wie das der Bildnerei eigentümliche sich in ihren verschie- denen Perioden äussert. Bas Christentum gibt der Subjektivität Anweisung auf einen unendlichen Inhalt und unendliche Dimensionen und bedingt direkt und indirekt ehv ganz neue Auflassung des Mensehen. Dies verleiht schon manch einer Figur au- dem Mittelaller das Gepräge einer grösseren subjektiven Tiefe und Innigkeil, als man sie in irgend einem Werk des Altertums findet, während das Aeussere um] Körperliche niemals so durchgearbeitet isl wie in der griechischen Kunst. Als die?e Durcharbeitung allen Krnsles im fünfzehnten Jahrhundert in Italien beginnt — niehl ohne Kinlluss der gefundenen Beste der Antike meldet sich sogleich ein gewisser Dualismus zwischen dem freien und unendlich Subjektiven und der körperlichen, durch angestrengtes Naturstudium erforschten Form. Der Geist hat grösser» Schwungkraft als in der Antike, der Körper ist schwerfälliger, materieller, so zu sagen weniger durchgeistigt. Der Geist tritt mit seiner Selbständigkeit, der Körper mit der seinen auf; die unmittelbare Einheit zwischen ihnen, wie sie in der Antik, bestand, fehlt. Die Renaissance hat dennoch ihre Freude an der menschlichen Gestalt als solcher, ganz um ihrer seihst willen, wie die Antike, obwohl diese Freude einen viel geringeren Spielraum hat. Am deutlichsten und naivsten tritt dies wohl in Tizians Frauengeslalten in die Krscheinung, aber die Auflassung des Menschen im hier doch etwas niedrigerer Art als die der Antike, es ist die Verherrlichung de> Fleisches und des Stoffes. Correggio isl sinnlicher als die Antike, oder zugleich sinnlicher und geistiger. Leonardo und Raflael sind ausgesprochen geistiger, die Subjektivität hat weit grössere Tiefe und Wärme; Raflael besitzt eine besondere Gabe, uns den Dualismus vergessen zu machen  : wer aber seiner Entwicklung von dem zu schmächtigen bis zu dem zu schwerfälligen Körper folgt, der spürt ihn doch deutlich. Michel Angelo. der infolge seiner glühenden Begeisterung für die mensch- liche Gestalt namentlich die männliche die Antike am ersten ersetzen sollt, ist auf der andern Seile derjenige, bei dem man die Trennung zwischen der freien Subjektivität und der selbständig gemachten Körperlichkeit, die einander trotzen, am deutlichsten fühlt.

In der weiteren Entwicklung der Renaissance — oder in ihrem Verfall — tnti die Körperlichkeil beständig schwerfälliger, handgreiflicher, anspruchsvoller auf. während das Interesse für die formale Durcharbeitung des Körpers als Orgunisuni?



— 443 —


sich in Wirklichkeit verflüchtigt und sich an Wort ganz und gar nicht mit der Antike messen kann. Das innere Lehen, das Subjektive, das Geistige tritt als das- jenige auf, was das Körperliche beunruhigt. Schon seit dein Beginn der Renais- sance kann man ein Interesse für das Momentane spüren; es tritt immer stärker, heftiger auf und bildet namentlich einen der reichsten Gharakterzüge in der Kunst des siebzehnten Jahrhunderts (Hubens und Berninn. Die Art und Weise, wie der Zeitmnmcnl hier accentuiert wird, hat eine ganz andere Bedeutung als z. B. in Myrotis Diskoswerfer, wo er den Uebergang in der heftigen Bewegung des Körpers bezeichnet, in einer Bewegung, die in Allem und Kinem, im Ganzen und in jeder Einzelheit durch den äusseren, praktischen Zweck bestimmt wird. In der Renais- sance wird der Moment von innen heraus bestimmt, aus der Subjektivität, und bezeichnet einen gewaltigen Wellenschlag der Leidenschaft, der Begierde der Triebe. Die Künstler, die das angeerbte Interesse der Renaissance für die menschliche Ge- stalt am treucslen bewahren (die Italiener und die Flandrer) heben mit Vorliebe die Höhepunkte der Subjektivität hervor : es gibt andere Künstler, die durch ihr Interesse für ihre Tiefen auf kommende Zeiten hinweisen (Bembrandl, Velasquez) ; über bei ihnen tritt auch das Interesse für die menschliche Gestalt als solches mehr in den Hintergrund

Dann kam die Zeit, wo mau mehr und mehr zu der Erkenntnis gelangle, das* der Kigurenslil der Antike den Vortritt vor der Renaissance habe. Wie weit man Hecht halte in bezug auf diese theoretische Anschauung und auf die praktische An- wendung derselben, die man machte, darüber wollen wir gleich reden. Sicher aber ist es, dass die Kunst zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts und zu Anfang des neunzehnten wirklich auf diese Erkenntnis gegründet wurde. Wieviel Interessantes und Schönes diese Richtung in der Kunst auch hervorbrachte, so wollen wir uns hier doch nicht auf ihr eigentliches Prinzip einlassen, da dies ja mit der Auffassung der antiken Kunst von der menschlichen Gestalt, über die wir bereits gesprochen haben, zusammenfallt — oder doch zusammenfallen sollte. - Dasselbe gilt von der ganzen auf die Kunst der Vergangenheit zurückschauenden Kunst des neunzehnten Jahrhunderts, mag sie sich gegen die Antike oder gegen die frühere oder spätere Renaissance gewandt haben : sie ist ein praktischer Beitrag zu aeslhetischen Diskus- sionen, sie ist nicht die Kunst ihrer eigenen Zeit — so wie es namentlich die Antike, aber auch der Humanismus des fünfzehnten Jahrhunderts gewesen ist. Sie ist im Gegenteil ein Produkt der Erkenntnis, dass die Vergangenheil oder das Altertum in künstlerischer Hinsicht hesser waren als das eigene Zeitalter des Künstlers.

Aber neben dieser aristokratischen Strömung in der Kunst läuft eine andere, die mehr aus erster Hand den eigenen Geist der neueren Zeit ausdrückt. Sollte ich eine Figur aus unserm Jahrhundert nennen, deren Hauptvorzug nicht auf einem Ver- hältnis zu der Kunst älterer Zeiten beruht, sondern darauf, dass sie gerade gänzlich aus der Auflassnngsweise ihrer eigenen Zeit hervorgegangen ist, in der also neuer Stoff liegt und eine eigene — wenn auch einseitige — Grösse, an der die ältere Kunst



— 114 -


keinen Anteil hat, so weiss ich keine bessert? zu nennen, als Delaroches Marie Antoinetle, die, nachdem sie ihr Todesurteil gehört hat, wieder ins Gefängnis geführt wird, leb kennt; dies Bild nur aus Francois" gutem Stich, aber aus dein, was ich sonst von Delaroche als Maler kenne, sehliesse ieh, dass es in be/ug auf Form und Farbe wohl zu den guten, aber nicht zu den allerbesten Gemälden der Well gehört. Sein ausserordentlicher Vorzug beruht auf dem Ausdruck. Das Bild ist im wesent- lichen eine Schilderung einer einzelnen Figur, seine andern Personen bilden nur die Zuschauer. Es liegt in tlieser Figur eine seelische Perspektive von einer Tiefe wie kaum in einer andern. Da ist kein starkes hervorheben des Augenblicklichen, wie iu der Kunst des siebzehnten Jahrhunderts, die Oberfläche der Seele wirft keine starken Wellen; im Gegenteil, die Miene ist gleichsam zugefroren infolge einer er- zwungenen Kälte. Aber durch diese klare Eisfläche hindurch schaut man in eine Tiefe, wo man selbst die Erinnerung einer fernen Vergangenheit dämmern sieht. Sie ist und sie fühlt sich als die letzte Königin in der langen Reihe des ancien Regime, die Erbin des ganzen Glanzes und aller Juwelen bis zur Hoheit und zum llocbinui und Leichtsinn; nicht sie allein hat persönlich den bitlern Kelch der Gefangenschaft und des Todesurteils geleert, nein, die ganze Reihe, das ganze Regiment. Eine solche historische Auffassung einer Gestalt ist erst im neunzehnten Jahrhundert möglich ge- worden. Eine weil frühere und naivere Kunst pllegle die Fläche in viele Abteilungen zu teilen, jede mit ihrer Szene von der vita ante acta der Personen  ; so malle man z 11. die einzelnen Momente aus der Leidensgeschichte Christi rings um die Mittel- ligur des Erlösers am Kreuz. Später sah man ein, dass es nicht die Aufgabt» der Kildncrei war, auf diese Weist; Geschichte oder Chronik in Rildern zu schreiben, und nun ging das Interesse auf die einzelne Person oder die einzelne Szene über, deren Stimmung und Wirkung man auf eine sehr erschöpfende Weise zu ihrem Rechte kommen zu lassen suchte. Aber so viel Geschichte in eine einzelne Figur zusammen- zudrängen, einen einzelnen Moment so mit Zeit zu schwängern — das isl etwas neues in der Geschichte der Rildnerei. Und Delaroehes Bild ist in dieser Re/.iehnna weil entfernt, eine alleinstehende Erscheinung iu der Kunst unseres Zeilalters zu sein, es ist nur ein Repräsentant der eigentümlichsten Richtung in derselben. In dieser Richtung kommt man überhaupt kaum weiter, ohne dass die Formen der Rildnerei von einem Inhalt gesprengt werden, den sie nicht zu fassen vermochten.


Die Bewegung, die durch die Geschichte geht und die wir jetzt von dem ägyp- tischen Altertum bis auf unsere Zeit verfolgt haben, ist im Ganzen klar und deut- lich, trotz der vielen Schwingungen und Fnregelmüssigkeilen. Sie fängt damit an. die menschliche Gcslall von der rein räumlichen und objektiven Seile aufzufassen, sie endet damit, sich ganz überwiegend für all das von dem subjektiven Leben un<l von der Zeilsuceessioii zu interessieren, was durch das Aeussere ausgesprochen werden kann. Die Griechen nehmen nicht mehr von tiein subjektiven Leben mit, als wa>



- 446 -

die äussere Gestalt vollkommen umfassl, und was dazu dient, ihren Formen Lehen und Bewegung einzublasen; das christliche Zeitalter deutet die Subjektivität in ihrer Unabhängigkeit und Unendlichkeit an.

Befindet sich denn die Darstellung des Menschen durch die Hildnerei im Fort- schritt oder im Rückgang? Wenn wir vom Standpunkt unserer Zeit die Frage be- antworten sollen, was mehr Wert hat, die rein objektive Auflassung der menschlichen Gestalt wie sie sich dem Gesichtssinn darstellt, oder der Ausdruck des subjektiven Lebens durch die Zeit, so wird die Antwort wohl zu Gunsten des letzteren ausfallen. Wir können die Kunst unseres eigenen Zeitalters nicht verleugnen  ; wenn sie nicht genau dem entspräche, wofür wir uns interessieren, würde sie ja andere Gestalten annehmen als die, die sie hat. Vom Standpunkt unserer Zeit aus fühlen wir uns aurli in mancher Beziehung sieher weit mehr von RafTael und seinen Zeitgenossen angezogen als von der Antike. Wir verstehen die Antike nicht so recht, wir sind schwach und stumpf in der Iteurteilung dessen, was sie gibt, und wir sind immer geneigt etwas in sie hinein- zulegen, was sie nicht gibt. Aber es handelt sich hier nicht darum, was uns Menschen der Gegenwart am angemessensten ist, was uns am leichtesten und unmillelbarslen zusagt, sondern was am besten dem Wesen und den Bedingungen der Hildnerei entspricht. Und da muss die Antwort, nach dem, was wir oben entwickelt haben, zum Vorteil des Altertums ausfallen. Man kann den Gang des Ganzen so ausdrücken, dass die Hildnerei, wenn sie ihren eigenen Kulminationspunkt erreicht hat, beständig mehr von dem aufgesogen hat, was eigentlich und direkt unter die Darstellung durch das Wort, unter die Dichtkunst gerechnet werden muss. Die Darstellung des Menschen durch die Hildnerei hat zwei Kulminationspunkte gehabt: einen im fünften Jahrhundert vor Christus, einen zweiten ungefähr im Jahre 1500 nach Christus, den ersten in Griechenland, den zweiten in Italien. In diesen beiden Punkten ist sie ziemlich selb- ständig gewesen und ist aus dem Bedürfnis der Generation hervorgegangen — doch natürlich zumeist im Altertum, als sie wirklich zum ersten Male in befreiter Gestalt begann: in diesen beiden Funkten ist sie auch ganz in Uebereinstimmung mit ihrem Wesen gewesen, - jedoch wiederum namentlich im Altertum, wo sie nicht mit ihrem eigenen Gegensatz, der unendlichen Geist igkeit zu kämpfen hatte. Wenn ich hier das Altertum der Renaissance gegenüber so schroff hervorhebe, muss ich in erster Linie an das ungeheure quantitative Ilebergewicht erinnern, das das Altert um in hezug auf Rilder gehabt hat, die auf die Verherrlichung der menschlichen Gestalt ausgingen, wie auch an die weit umfassendere Bedeutung, die die ganze Sache bei den Griechen gehabt hat. Was hat die christliche Zeit nach dieser Richtung hin aufzuweisen, was sie auch nur im entferntesten mit dem Wald von Bildsäulen messen kann, die man in der Altis von Olympia von Siegern bei Spielen vorfand? Die Auf- gabe, von der wir hier reden, hat im Altertum eine solide Wirklichkeit, eine Lebens- bedeutung gehabt, von der wir uns jetzt so schwer eine hinreichende Vorstellung machen können. Im christlichen Zeitalter hat sie immer mehr auf der Grenze des Lebens gestanden, hat nie recht tiefe Wurzel in demselben gehabt, sondern ist viel- mehr ein Gegenstand für das besondere Interesse der Kunst gewesen, ja war oft



446 —


ganz vcrllüehtigt. Aber auch in qualitativer Hinsicht hat die Darstellung der mensch- lichen Gestalt im Altertum den Vorrang; die Kunst hatte ein besseres, feineres, schärferes Verhältnis für das in der Gestalt, was sie ausschliesslich betraf.

Wenn ich also die Linie skizzieren soll, die den steigenden und sinkenden Wert in der Darstellung der menschlichen Gestalt durch den Verlauf der Geschichte ausdrückt, so zeichne ich die griechische Kunst als ungeheure Welle, die all das andere vor sich herlreibl. Die Welle der italienischen Kunst wird niedriger, und die anderen Wellenhöhen, — denn es gibt deren viele — werden verhältnismässig klein Nun aber die Zukunft! Kann ihr denn nicht vorbehalten sein, die Welle wieder in die Höhe zu treiben, eine neue Darstellung der menschlichen Gestalt zu schaffen, die ebensoviel Wert und Bedeutung erlangen kann wie die der Griechen? - Wer darf von der Zukunft reden? Was wissen wir darüber, was sie bringen kann  ? Ks können vielleicht totale Umwälzungen, Völkerwanderungen, soziale Revolutionen eintreten, die die ganze alte Kultur mit Petroleum vernichten und die Mens* heu zwingen, von neuem auf nacktem Boden anzufangen  : Vulkane können ausbrechen, oder ungeheure Kisschollen können sich über alle Kultur- länder schieben. Was unter soleheu Voraussetzungen geschehen kann, darüber wollen wir nicht reden. Aber wenn so etwas nicht geschieht, mit andern Worten wenn der historische Zusammenhang nicht vollständig zerrissen wird viel gründ- licher als dies früher beim Untergang des Altertums geschah wenn die Mensch- heil nicht aus dem Leihe trinkt, so wird sich die künstlerische Darstellung de- Menschen auch nie wieder zu der Höhe der antiken Kunst erheben. Das ist unmög- lich. Ohne Zwang und Gewalt strebt die Menschheit nicht nach dem Fluss des Vergessens, sondern entwickelt sich im Gegenteil mehr und mehr in der Bichtunj* des Erinnern». Aber sie lindet auch niemals solche Lebensbedingungen, die notwendig für die Entwicklung einer solchen Kunst sind. Die Grundbedingung ist ein fesler und naiver und einseiliger Glaube an die Bedeutung des Körperlichen, aber den können wir nicht schaffen, umsomehr, als wir im Grunde keineswegs den Willen haben, ihn zu schaffen. Je länger sich das menschliche Geistesleben in fortgesetzter Kontinuität entwickelt, umsomehr wird es sich auch der Bedeutung des Begriffes Entwicklung (durch die Zeil) bewussl werden, sowohl in bezug auf das Leben des einzelnen Menschen wie auf das der ganzen Generalion : aber dieser Begriff liegt, wie wir gesehen haben, gerade über der Bildncrei und wirkt verzehrend auf sie. führt von ihr zu andern Darslcllungsformen. Damit sei jedoch keineswegs gesagt, dass das Gesunde und Schöne im Leben und in der Kunst der Griechen für unsere Zeit oder für das Leben und die Kunst kommender Zeiten erstorben sein sollte. Man begann schon vor hnnderlen von Jahren durch historische Studien Blick dafür zu bekommen, und die Entwicklung wird nicht vergessen werden oder unbenutzt bleiben. Was uns die Ueberreste der Kunst des Altertums von der naiven Körper- lichkeit lehren, wird gewiss immer besser und besser in seinem Wert fürs Leben erkannt werden, gerade als Gegengewicht gegen eine einseilige Gedankenentwicklung, Es werden hoffentlich immer mehr Ueberreste ans Tageslicht gefördert werden, ihr?



- 44t —

unübertroffene Bedeutung wird klarer werden, sie werden benutzt werden, um den Schönheitssinn zu entwickeln, um das (iesieht zu schärfen und zu verfeinern. Ihr Studium wird eine ganz hervorragende Holle in der Kunst der Zukunft spielen, aber, wohl zu beachten, doc h nur als Ingredienz. Man wird vielleicht tiefer gehen -- und man ist bereits auf dem Wege dazu — man wird selber die Lebensbedingungen gross ziehen, deren Frucht die griechische Plastik ist, wird mehr Nachdruck auf gymnastische Ausbildung, auf Erziehung und Anschauung legen, es besser lernen, die Schönheit des Körpers als Pfand seiner Gesundheit und Tauglichkeit zu schätzen. Man wird sogar vielleicht eine Art olympischer Spiele einführen. Auc h daraus wird die Kunst ihre Vorteile ziehen. Aher auch dies wird — und mit vollem Hecht — nur eine Ingredienz im Lebern werden. Wenn man glaubt, dass man dadurch die Lebensbedingungen für eine Kunst wie die griec hische hervorgebracht bat, so weiss man nicht, wovon man spricht. Wir werden niemals die (Witter bewegen, unsern olympischen Spielen beizuwohnen. Was in allen Zeilen das Höchste im Leben war. die Lust der Gülter und der Menschen, eine in Sonnenschein und freier Luft wach- sende herrliehe Frucht, wird doch nichts weiter als eine Krücke in die Apotheke, wo die Heilmittel zur Selbslheilung des Menschen zu linden sind. Wir dürfen den unge- kochten Saft nicht verachten, den wir aus einem Mcdizinlöffcl zu uns nehmen, aber wir sollen uns daran erinnern, dass in Griechenland die Fruc ht selber in goldener Sc hule dargeboten wurde.

Wir sollen einsehen lernen, dass das, was den Höbepunkt der Hildnerei in der Darstellung des Menschen bezeichnet, infolge der Natur der Sache keineswegs mit dem Höhepunkt in der ganzen Entwicklung des Selbslbewusslseins des Menschen zusammenfällt, sondern im Gegenteil ein Vorstudium bezeichnet, das zurückgelegt werden muss und in Wirklichkeit längst zurückgelegt ist. Ich glaube, dass viele heutzutage che Bedingungen besitzen, dies einzusehen und sich vielleicht zuweilen selber etwas Aehnliches zugeflüstert, haben, wie ich auch überzeugt bin, dass alles wahre und von der Geschichte gründlich unterwiesene Denken nach dieser Hichlung bin führt. Aber ich nehme an, dass die meisten, selbst wenn sie ihre«  Gedanken Kunz durchdenken, nur ungern so etwas über die Kunst, diese grosse und ehrwürdige Rildungsmacht, der wir so unendlich viel verdanken, aussprechen werden. Ks ist, als wolle man ihr das Beste nehmen, als wedle; man sie hören lassen, dass sie? doch im Grunde* vom Thron gestossen ist. Ja, das ist sie meiner Meinung nach, wie es auch meine unumstösslicbe Ansicht ist, duss sie einstmals den Hochsilz im mensch- lichein Leben eingenommen hat. Aher ich glaul>e auch nicht, dass die Kunst jemals mehr gewesen ist oder werden kann als eine Aeusserungsform , die an und für sich keinen Anspruc h auf Hingebung und Begeisterung hat, ausgenommen, wie sie einen Inhalt mitteilt. Den Inhalt, den sie ihrem Wesen nach umschliessen kann, ist jetzt in der Kniwicklung der Generationen auf einen niederen Hang herabgesetzt und hat eine mehr relative Bedeutung erhalten, als sie früher balle. Darin liegt keine pessimistische Verzweiflung an der Entwicklung. Die menschlichen Aeusserungs- f'c innen wechseln und haben jede ihre Zeit. Aber — wie ich schon gesagl habe; und



- 448 -

gerne wiederholen will: — aufhören oder überflüssig gemacht werden kann die Kunst niemals. .Sie entspricht einem Stadium im menschliehen Hewusstheitslebeii, das unmöglich übersprungen oder überschlagen werden kann. Die Kunst der Zukunft wird nur mein- und mehr teils Illustration der Dichtkunst, teils rückschauende Kunst. Kunst aus /.weiter Hand werden. Der grösste unter den Männern, die die Kunst auf diese ihre (geringere) Zukunftsbnhn geführt haben, heisst Thorwaldsen.


Wenn es lange her ist, dass die Darstellung des Menschen durch die bildende Kunst ihren Höhepunkt crrciehie, so kann auf der andern Seite angenommen werden, dass es noch weithin isl, bis die Dichtkunst den ihren erreichen wird. Ich habe keine besondere Kenntnis auf diesem (iebiet, aber ich glaulie doch nicht, dass ich irre, wenn ich annehme, dass die Dichtkunst heutzutage mehr darauf ausgeht, aufzu- saugen, sich alles anzueignen, was sie sich von den besonderen Fähigkeiten der Malkunsl und Plastik anzueignen vermag, wie auch umgekehrt die Hildnerei (wie wir (dien nachgewiesen haben) darauf ausgeht, soviel wie möglich von denjenigen der Dichtkunst aufzunehmen, — dass sie mehr danach strebt, leibhaftig, naturgetreu in der Schilderung dessen zu sein, was man sehen oder auf andere Weise wahr- nehmen kann, als dass sie darauf ausgehl, den Zusammenhang in der Entwicklung der menschlichen Subjektivität durch die Zeit darzustellen. Wenn von dichterischer Charakterschilderung die Hede ist, kann dies Wort überhaupt in zwei sehr verschie- denen Hcdciilungen aufgefasst werden: entweder als Schilderung des Menschen, wie er im gegebenen Augenblick geht und steht -- das isl also das, was die Dichtkunst mit der Hildnerei gemein hat, — oder als Schilderung der konsequenten inneren Entwicklung, der Einheit in diesen Veränderungen, was die spezielle Aufgabe der Dichtkunst isl. In der ersten Hedeulung hat die Welt schon viele wunderbare dich- terische Charakterschilderungen gesehen ich will, um das grossarligsle Heispiel zu wählen, das ich kenne. Shakespeares Henrik Perey nennen. Das ist wie ein IVirlräl von Hubens oder Vclusquez. Diejenigen, die wir die grösslen Psychologen unter den Dichtern nennen, haben gewiss auch manch ein glänzendes Bruch stück der konti- nuierlichen Charakteren! wicklung bewahrt (Handel, Othello, Macbeth, Margaret«.' im Paust i; ob jemand bis heutzutage eine völlig durchgeführte Schilderung der Entwick- lung des menschlichen Charakters im Laufe der Zeil geliefert hat — wie die mensch- liche (iestalt im Kaum von Kopf zu Fuss in einer der Figuren des Parthenons durchgeführt isl — das isl, glaube ich, ungeheuer zweifelhaft. Aber es darf auch nicht geleugnet werden, dass die Aufgabe für che Dichtkunst schwieriger isl, als es die Aufgabe für die Hildnerei war. Ich für mein Teil kann wohl infolge meiner mangelhaften Literalurkenntnis unendlich viel übersehen haben; wenn ich aber sehe, was uns diejenigen unter den Dichtern unserer Zeit, die sonst mit Recht einen Huf als Psychologen haben, für sonderbare Sachen nach dieser Richtung hin bieten iz. H. Henrik Ibsen im Schluss von -Die Stützen der Gesellschaft»!, so will es mir scheinen, als (dt das Hewusslsein von dem Zusammenhang und der Konsequenz nach



- 449 -

dieser Richtung hin nicht viel weiter gekommen ist, als es in jenem fernen Altertum, als man die phantastisch zusammengesetzten Gestalten, die Sphinxen, Kimären, Greife u. s. w. schuf, auf dem Gebiete der Bildnerei war. Die Dichter glauben noch an reine Metamorphosen oder handeln jedenfalls so, als glaubten sie daran. Man kann wohl die dramatische Dichtform beschuldigen, dass sie in bezug auf die Wahrheit und die Charakterentwicklung irreführend gewirkt hat. Der letzte Akt ist in der Regel in psychologischer Hinsicht ein Haufen Unsinn. Damit die Zuschauer das Theater in angenehmer Gemütsverfassung verlassen, und nicht allzuviel zu denken haben, während sie ihr Abendbrot verzehren, soll der brennbare Stoff des dramati- schen Konllikts ganz verzehrt sein, was unmöglich ist ohne den offenbarsten Bruch in bezug auf psychologische Konsequenz. Es liegt noch so viel von einem Spiel, von einer Unterhaltung hierin.

Aber es handelt sich hier um unendlich viel mehr als um einige Reformen in der poetischen Technik. Ks handelt sich darum, dass die ganze Menschheit eine viel höhere Entwicklungsstufe gewinnt, dann wird die Reform der Dichtkunst sich schon von selber einstellen.

Denn was soll das heissen, die innere Entwicklung eines Charakters wirklich zu verstehen und schildern zu können V

Man ist hier in erster Linie darauf angewiesen, sich selbst zu beobachten  ; aber wie interessant auch persönliche «Bekenntnisse» sind — seien sie mehr oder weniger maskiert — so werden sie doch stets an dem Mangel leiden, dass die Schilderung des inneren Lebens nie recht mit der des äusseren, mit dem Plastischen an der Persön- lichkeit verschmilzt; denn während man sehr wohl das Aeussere anderer beobachten kann, kann man sein eigenes gerade nicht beobachten. Es nützt nicht einmal, sich zu spiegeln, denn dadurch lernt man nur seine eigene Physiognomie in einer Situation kennen, — nämlich wenn sie sich spiegelt. Ausserdem muss man, um wirklich sein eigenes inneres Leben zu verstehen und es von den richtigen Gesichts- punkten aufzufassen, auch wirklich das anderer verstehen: man hat nicht genug an dem Studium eines einzigen Menschen und kann nicht selbst sein eigenes bestes Modell sein.

Wie aber macht man es, um den Fadem in dem Subjektivitätsleben eines andern Menschen, in seiner inneren Entwicklung zu erkennen  ? Der unmittelbaren Betrachtung liegt er verborgen. Seine Subjektivität offenbart sich wohl nur funken- weise durch den Ausdruck seiner Gestalt und seines Antlitzes, aber das Verbindende. Uebergangene, die Motive und deshalb das Verständnis gehört wirklich seinem Innern an und ist deshalb verborgen. Das Verständnis beginnt notwendigerweise vorläufig mit einer reinen Hypothese, indem ich voraussetze, dass sein inneres Leben gänzlich meinem eigenen entspricht, und unwillkürlich einen Reflex meines Subjektivitätslebens in die für mich dunkeln Gebiete des seinen werfe, meinen Willen, mein Gefühl und mein Denken in dus seine hineinlege. Dies vorläutige Verständnis hat einen richtigen Ausgangspunkt, weil es wirklich in dem einen Menschen nichts gibt, ohne dass man etwas Entsprechendes in dem andern findet; aber es ist doch immer mangelhaft, weil

29



— 450 —


der €?ine Mensch in seiner wirklichen Entwicklung niemals inil dein andern kongruiert Aber gleich von Anfang an gibt es ein Mittel, um diesen Uebergriir zu korrigieren, etwas, das dieser notwendigen Illusion entgegenarbeitet, nämlich das Individuelle in seinem Aeussern, das, da es nicht ganz dem eines andern Menschen entspricht, auch die Vorslellung, die Ahnung an einen individuellen Charakter erweckt, der nicht identisch mit dem meinen oder mit dem anderer ist. Ich sehe ausserdem, wie er jeden Augenblick die Erwartungen in bezog auf seine Aeusserungcn und Handlungen, die ich mir infolge meiner eigenen Subjektivität gebildet halte, kreuzt. Stück für Stück muss ich meine Hypothese über seine vollkommene psychische Aehnli«  hkeit mit mir selber aufgeben, aber ich lasse ihn nicht los, ich erziehe meine Vorstellung von ihm, und zugleich erziehe ich mich selber, durch die nützlic he Uebung, aus meinem eigenen Ich heraus und in das eines andern zu gehen. Endlich löst sich mir sein Mild als selbständige Individualität aus, sein Aeusscres weist mich beständig zu einem besonderen, von mir und allen andern verschiedenen Innern hin; ich habe den individuellen Klang in seinem Wesen ganz im Ohr. Ich weiss, wie er in jeder gegebenen Situation handeln wird : ich habe den Faden in ihm erhascht und bin imstande, ihm durch die gewaltigste Krisis zu folgen, durch die schwierigste Ver- wicklung oder dort, wo er scheinbar am verstecktesten liegt. Diese Erziehung der Vorstellungen von der Subjektivität eines andern ist die lebende Moral, ihre Voraus- setzung ist die Liebe, eine unmittelbare Anziehung, ihre Frucht ist die vollkommene Gerechtigkeit, ein vollendetes Zusammenleben. Jeder weiss, dass sie ein Ideal ist, da? noch nie in seiner Vollständigkeit realisiert ist, dass es im Leben nur Hruchstücke davon gibt. Wie unendlich, unendlich weit davon entlernt ist es nicht, dass die Menschheit, wie sie es sollte, sich diese, ich will nicht sagen, Erziehung, angeeignet hat, sondern vielmehr sich ihrer nur als Ideal bewusst ist ! Unter anderm gehört dazu auch, dass jeder Glaube oder Aberglaube an Sprünge in der seelischen Entwicklung oder au das Eingreifen von Wundern in sie in seiner Unwahrheit erkannt werden soll und als das, was von der vollkommenen Liebe ablenkt, statt zu ihr hin zu führen. Erst wenn das geschehen ist, gelangt die Darstellung des Menschen durch die Dicht- kunst so recht auf ihren eigenen Grund, so wie es mit der Bildncrei bei den Griechen der Fall war.


Es gibt drei Entwicklungsstufen zwischen Mensch und Menschen.

Das rohesle und stumpfesle Verhältnis ist, dass der eine keine Subjektivität bei dem andern achtel oder anerkennt. Das ist der Urquell von allein Egoismus, aller Ungerechtigkeit, aller Uebergrill'e und aller Gewalttätigkeit. Dieser Zustand hat seine Periode in der Geschichte der Menschheit gehabt, als die ägyptischen und assyrischen Könige ihren Feinden die Zungen oder die Augen ausreissen Dessen, oder ganze Volksstämme in die Sklaverei führten. Es hat damals doch wohl ein allgemeines Ge- fühl von dem Wert des Menschen gegeben — denn weshalb sollte man sonst wohl Bilder von Menschen gemacht haben? — charakteristisch ist aber doch, dass diese Bilder



— 451 —


so wenig von einem Wiek für die Subjektivität zeugen, und dass sich die Auflassung so sehr an das Aeussere hält.

Das nächste Verhältnis ist das, dass der Mensch sich unwiderstehlich von dem menschlichen Aeussern angezogen fühlt, und dass das Bewusstsein von dem Wert der menschlichen Gestalt als solcher mit übermässiger Macht erwacht. Das ist der Standpunkt, wo die Menschheit sich in sich selbst verliebt. Die Subjektivität wird vorübergehend als das aufgefasst, was das Aeussere belebt und beseelt, aber es kommt vorläufig zu nichts weiter, als zu diesem Anfang von der Auffassung der Subjektivität : ein innerer Zusammenhang folgt nicht. Das ist der Standpunkt der Verherrlichung, der ldealisirung, nicht aber derjenige der zuverlässigen Moral. Ks ist der eigentliche Standpunkt der Bildnerei, in erster Linie der griechischen.

Das dritte endlich ist das, was durch das sympathische Verständnis der Entwicklung der Subjektivität und der verständnisvollen Sympathie damit bezeichnet wird. Das ist der Standpunkt der vollkommenen Dichtkunst. Aber bis dahin hat es noch weite Wege.



II


Julius Lange, Die menschliche Figur in der Geschichte der Kun-t


Julius Lange, Die menschliche Figur in der Geschichte der Kunst.


III


I


5. Hermes mit dem Dionysoskindc von Praxiteles.


ulius Lange, Die mcnsrhliche Figur in der Geschichte der Kunst.


7. Herakles mit Telephos auf dem Arm.


Julius Lange, Die menschliche Figur in der Geschichte der Kunst.


8. Silcn mit dem kleinen Dionysos.



VIII


Julius Lauge, Die menschliche Figur in der (Jeschiehte der Kunst.


10. Das Lcukuttca-Kelicf.



Julius Lange, Die menschliche Figur in der Geschichte der Kunst.


IX


11. Eirene und Plutos vom Kefisodotus.



I


12. Marmorgruppe der Frau mit dem Säugling.



Julius Lunge, Die menschliche Figur in der Geschichte der Kunst.


XI


13. Campanischo Statuengruppe.


14. Klruskischer Bronzespie^cl.



Julius Lange, Die menschliche Figur in der Geschichte der Kunst. Xill


19. Junger Satyr. 20. Area Ludovisi.



XIV Julius Lange, Die menschliche Figur in der Geschichte der Kunst.



Julius Lange, Die menschliche Figur in der Geschichte der Kunst.


XV


XVI Julius Lange, Die menschliche Figur in clor Geschichte der Kunst.



.hilius Lange, Die menschliche Figur in der Geschichte der Kunst. XVII


•2:i. Per TharnesUche Herakles.


I!



XVIII Julius Lange. Die inonsclilichc Figur in der fiosehichU; clor Kunst.


J


Julius Lange, Die menschliche Figur in der Geschichte der Kunst. XIX


28. Per Gallier, der sein Weib und sich selbst tötet.



XX


Julius Lange, Die menschliche Figur in der Geschichte der Kunst.


Julius Lange, Die mensch liehe Figur in der Geschichte der Kunst. XXI


90, Aphrodite mit dein weinenden Eros.



XXII Julius Lange, Die menschliche Figur in der Geschichte der Kunst.


Julius Lange, Die menschliche Figur Ln der Geschichte der Kunst. XXIH


Y2. Orest.-s uml Pylades.



XXIV Julius Laugt;, Die monsi-lilic-lic Figur iu der (Jeschiclitc der Kunst.




XXVI Julius Lunge, Di««  menschliche Figur in der Geschichte der Kunst.


Julius Lange, Die menschliche Figur iti der Geschichte der Kunsl. XXVII


3H. Ares uml Aphrodite.


35». Ein junges Mädchen, das Blumen plliiekt.



XXVIII Julius Lange, Die menschliche Figur in der Geschichte der Kunst.



Julius Lange, Die menschliche Figur in


der Geschichte der Kunst. XXIX


s


XXX


Julius Lange, Die menschliche Figur in der Geschichte der Kunst.



Julius Lange, Die menschliche Figur in der Geschichte der Kunst.


XXXI



XXXII Julius Lange, Die menschliche Figur in der Geschichte der Kunst.


Julius Lange, Die menschliche Figur in der Geschichte der Kunst. XXXIII



XXXIV Julius Lange, Die menschliche Figur in der Geschichte der Kunst.


Julius Lange, Die menschliche Figur in der Geschichte der Kunst. XXXV


f>7. Her Prophet Daniel. 58. Kru/.ilix in dir Kirche zu WecbselbuiK.


H>. Der Eiiyel Gabriel uml Maria. HO. Grafin Babe.


XXXVI Julius Lange, Die menschliche Figur in der Geschichte der Kunst.



Julius Lange, Die menschliche Figur in der Geschichte der Kunst. XXXVII


CnJ. Veronika mit dem Schwcisstuch, Wilhelm von Herlc.



XXXVIII Julius Lange, Die menschliche Figur in der Geschichte der Kunst.



Julius Lange, Die menschliche Figur in der Geschichte der Kunst. XXXIX


Iii;. Maria in der Roscnlaube uder im Roseuhag;.



XL


Julius- Lange, Die menschliche Figur in clor Geschichte der Kunst.


Julius Lange, Die menschliche Figur in der Geschichte der Kunst.


XL1


(W. (irabmal fti r~.l oht» n n <lcn Unerschrockenen von Hur^um! uml Manruerilc von Kayern.



Julius Lange, Die menschliche Figur in der Geschichte der Kunst,


69. Musesbruunen in Chuiupitiol bei I'ijon.



Julius Lange, Die menschliche Figur in der Geschichte der Kunst. XL1II



XLIV Julius Lang«'. Die menschliche Figur in der Geschichte der Kunst.



XL VI


Julius Lunge, Die menschliche Figur in der Geschichte der Kunst.



Julius Lange, Die menschliche Figur in der Geschichte der Kunst. XLVII


XI »VIII Julius hange, Die menschliche Figur in der Geschichte der Kunst.


KM. Jan van Eyck, Die Madonna des Kanzlers Rollin.



Julius Lange, Die menschliche Figur in der Geschichte der Kunst.


XLIX



Julius Lange, Die menschliche Figur in der Geschichte der Kunst.


K"). Jan van Eyck, Die heiligen Einsiedler.



Julius Lange, Die menschliche Figur in der Geschichte der Kunst. LI



Julius Lauge, Die menschliche Figur in der Geschichte der Kunst.


Lunge, Die menschliche Figur in der (icH-hichte der Kunsl.


UV Julius Lange, Die menschliche Figur in der Geschichte der Kunst.


Julius Lange, Die menschliche Figur in der Geschichte der Kunst.


Julius Lange, Die menschliche Figur in der Geschichte der Kunst.


m

f

'.'t. Roger van der Weyilen. Die Kreuzabnahme.


Jsa van Eyck, Madonna mit dein heiligen Donatian.



Julius Lange, Die menschliche Figur in der Geschichte der Kunst. LVU


1>7. Mcmling, Verlobuitir <lor heilige» Katharina.


Julius Lange, Die menschliche Figur in der Geschichte der Kunst. LIX


i>9. Dierick Bouts, St. Erasmus' Martyrium.




I,X1I Julius Lange, t)ie menschliche Figur in der Geschichte der Kunst.


106. Agostino Basti, Ga&ton de Foix.


10t». i'. hu. mi I'ilon, Heinrich 11. uml Kniliarina von Meiliri.



Julius Lange, Die menschliche Figur in der Geschichte der Kunst. LXI1I


109. Jean Cousin, Philippe de Cliabot.



LXIV Julius Lange, Die menschliche Figur in der Geschichte der Kunst.


110. Kv.tlrack, Newton.


III. Pigftlle, Harconrt.



Julius Lange, Die menschliche Figur in der Geschichte der Kunst. LXV




Julius Lange, I>ie tneiisehlielie Kimir in der Geschichte der Kunst. LXVIl


US. Lorenzo Maitani Die Toten, die aus den Gräbern auferstehen.


LXVIII Julius Lunge, F)ie menschKehc Figur in der Geschichte der Kunst.


Julius Lange, Die menschliche Figur in der Geschichte der Kunst. LXIX


1-21. (iiolto, Mailuiiiiu.



128. Michelangelo, Loreuzo Mcdicis Grabmal mit «Morgen» und «Abend».



Julius Langt', Die menschliche Figur in der Geschichte der Kunst. LXXI



LXXII Julius Lange, Die menschliche Figur in der Gesehiehle der Kunst.


132. Raffael, Disputa.



LXX1V Julius Lauge, Die menschliche Figur in der Geschichte der Kunst.


KW. Haflfacl, Die Schule zu Athen.



Julius Lange, Die menschliche Kigur in der Geschichte der Kunst. LXXV



LXXVI Julius Lunge, Die menschliche Figur in der (ieschiclite der Kunst.



Julius Lange, Die menschliche Figur in der Geschichte der Kunst. LXXVII


LXXVI1I Julius Lange, Die menschliche Figur in der Geschichte der Kunst.


Irls. Tizian. I>ie beides Krauen am Brunnen



Julius Lunge, Die rnfu -Iii i«  Im* Figur in der I lest -hirlite der Kunst. LXXIX


189 All.recht Dürer. Ritter. Tot! und Teufel. Kti|>ferMirh.



I.XXX Julius Lange, Die menschliche Figur in der Geschichte der Kunst.


Julius Lange, Die menschliche Figur in der Geschichte der Kunst. LXXXI


141. Bernini, Apollo und Daphne.



I. XXXII Julius Lange, Die menschliche Figur in der Geschichte der Kunst.




[«XXXVI Julius Laiige, Die menschliche Figur in der Geschichte der Kunst.


153. Atalante und Meloager.



Julius Laug»'. Die menschliche Figur in der Geschichte der Kunst. LXXXVII


UXXXVII] Julius Lunge, Die ineuscliliclie Figur in der Geschichte der Kunst.



r>."». Rabens, Die Pioskurcn rauben Leukippos' Töchter.


l">tJ. Rubens, Abt Irselius.



Julius Lunge, Die menschliche Figur in der Geschichte <lcr Kunst.


t

Xtlll Julius Lange, Die menschliche Figur in der Geschichte der Kunst.


Julius Lunge, Die menschliche Figur in der (h-sihwhte der Kunst. XCIII


K'»2. licmbraiidi, l>io heilige Familie.




ji«  hui ii m hu in in in um iiiiiiiiiiiiiMiiii iiiiiiiiiiii um im um im iiimiinii n im iiiiiitiiiinu


üiiiiiiiiiiiiiyiii^

l^i.iiiiiiiiiHiiiiiiiiiiiiiiililiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiilinii


lIllllliUlUilllUUliUUL


164. Friedrich V. Nacli cim ni Gemälde auf Gmrü,


It'ö. Fricilrirh IV. Aliilmsli r-Kiunr auf Schloss Kosen liorj;.


166. O. Couaton, Königin Mari«  Lce> 1*17. foyscvux, lifo I ! • i ^ ■ • u i n r.inski» als Jnnn. nm Uonrijoinir .il- Diana.


168. N. S. Adam, Promrthen«.


XCV1 Julius Lange, Die menschliche Figur in der Geschichte der Kunst.


171. David, Die Sabinerin.


VII



172. David, Der Schwur des Horatius.


17;i. Gemälde nach Entwurf: Dir«  BM«MUagUg im Ballhaus.



This book should be returned to the Library on or before the last date stamped below.

A fine is incurred by retaining it beyond the specified time.

Please return promptly.


OUE NOV l* '66 *A


Lange, Julius Jienrik


«Pie menschliche &estalt

isauco to


DA TC


{{GFDL}}

Personal tools