A Small History of Photography  

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"Atget's Paris photos are the forerunners of Surrealist photography"


"Was ist eigentlich Aura? Ein sonderbares Gespinst von Raum und Zeit: einmalige Erscheinung einer Feme, so nah sie sein mag."/"What is aura? A peculiar web of space and time: the unique manifestation of a distance, however near it may be."


"These photographs [Urformen der Kunst] reveal an entire, unsuspected horde of analogies and forms in the existence of plants. Only the photograph is capable of this." --"News about Flowers" (1929), Walter Benjamin

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"A Small History of Photography" (Kleine Geschichte der Photographie, Petite Histoire de la Photographie, Short History of Photography) (1931) is an essay by Walter Benjamin.

Walter Benjamin introduces his concept of aura in this essay.

Full text

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Kleine Geschichte der Photographie

Der Nebel, der iiber den Anfangen der Photographie liegt, ist nicht ganz so dicht wie jener, der iiber den Beginn des Buch- drucks sich lagert; kenntlicher vielleicht als fur diesen ist, dafi die Stunde fiir die Erfindung gekommen war und von mehr als einem verspiirt wurde; Mannern, die unabhangig voneinander dem gleichen Ziele zustrebten: die Bilder in der camera obscura, die spatestens seit Leonardo bekannt waren, festzuhalten. Als das nach ungefahr fiinfjahrigen Bemiihungen Niepce und Da- guerre zu gleicher Zeit gegliickt war, griff der Staat, begiinstigt durch patentrechtliche Schwierigkeiten, auf die die Erfinder stiefien, die Sache auf und machte sie unter deren Schadloshal- tung zu einer offentlichen. Damit waren die Bedingungen einer fortdauernd beschleunigten Entwicklung gegeben, die fiir lange Zeit jeden Riickblick ausschlofi. So kommt es, dafi die histori- schen oder, wenn man will, philosophischen Fragen, die Aufstieg und Verfall der Photographie nahelegen, jahrzehntelang un- beachtet geblieben sind. Und wenn sie heute beginnen, ins Be- wufitsein zu treten, so hat das einen genauen Grund. Die jiing- ste Literatur schliefit an den auffallendenTatbestand an, dafi die Bliite der Photographie - die Wirksamkeit der Hill und Came- ron, der Hugo und Nadar-in ihr erstes Jahrzehnt fallt.Das ist nun aber das Jahrzehnt, welches ihrer Industrialisierung vor- ausging. Nicht als ob nicht bereits in dieser Friihzeit Markt- schreier und Scharlatane der neuen Technik aus Erwerbsgriinden sich bemachtigt hatten; sie taten das sogar massenweise. Aber das stand den Kunsten des Jahrmarkts, auf dem die Photogra- phie ja bis heute heimisch gewesen ist, naher als der Industrie. Die eroberte sich das Feld erst mit der Visitkarten-Aufnahme, deren erster Hersteller bezeichnenderweise zum Millioniir wur- de. Es ware nicht zu verwundern, wenn die photographischen Praktiken, die heut zum erstenmal den Blick auf jene vorindu- strielle Bliitezeit zuriicklenken, in unterirdischem Zusammen- hang mit der Erschutterung der kapitalistischen Industrie stiin- den. Darum jedoch ist es urn nichts leichter, den Reiz der Bilder, die in den schonen jiingst erschienenen Publikationen alter Photo- graphie 1 vorliegen, fiir wirkliche Einsichten in deren Wesen

1 Helmuth Th[eodor] Bossert und Heinrich Guttmann: Aus der Friihzeit der Pho-


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nutzbar zu machen. Oberaus rudimentar sind die Versuche, der Sadie theoretisch Herr zu werden. Und so viele Debatten im vorigen Jahrhundert iiber sie gefiihrt wurden, im Grunde haben sie sich nicht von dem skurrilen Schema freigemacht, mit dem ein chauvinistisches Blattchen, der »Leipziger Anzeiger«, glaub- te, beizeiten der franzosischen Teufelskunst entgegentreten zu miissen. »Fliichtige Spiegelbilder festhalten zu wollen, heifit es da, dies ist nicht blofi ein Ding der Unmoglichkeit, wie es sich nach griindlicher deutscher Untersuchung herausge- stellt hat, sondern schon der Wunsch, dies zu wollen, ist eine Gotteslasterung. Der Mensch ist nach dem Ebenbilde Gottes geschaffen und Gottes Bild kann durch keine menschliche Ma- schine festgehalten werden. Hochstens der gottliche Kunstler darf, begeistert von himmlischer Eingebung, es wagen, die gott- menschlichen Ziige, im Augenblick hochster Weihe, auf den hoheren Befehl seines Genius, ohne jede Maschinenhilfe wieder- zugeben.« Hier tritt mit dem Schwergewicht seiner Plumpheit der Banausenbegriff von der »Kunst« auf, dem jede technische Erwagung fremd ist und welcher mit dem provozierenden Er- scheinen der neuen Technik sein Ende gekommen fuhlt. Dem- ungeachtet ist es dieser fetischistische, von Grund auf antitech- nische BegrirT von Kunst, mit dem die Theoretiker der Photo- graphie fast hundert Jahre lang die Auseinandersetzung such- ten, natiirlich ohne zum geringsten Ergebnis zu kommen. Denn sie unternahmen nichts anderes, als den Photographen vor eben jenem Richterstuhl zu beglaubigen, den er umwarf. Da weht eine ganz andere Luft aus dem Expose, mit dem der Physiker Arago als Fursprecher der Daguerreschen Erfindung am 3. Juli 1839 vor die Kammer der Deputierten trat. Es ist das Schone an dieser Rede, wie sie an alle Seiten menschlicher Tatigkeit den Anschlufi findet. Das Panorama, das sie entwirft, ist grofi genug, um die zweifelhafte Beglaubigung der Photographie vor der Malerei, die auch in ihm nicht fehlt, belanglos erscheinen, viel- mehr die Ahnung von der wirklichen Tragweite der Erfindung sich entfalten zu lassen. »Wenn Erfinder eines neuen Instru- mentes, sagt Arago, dieses zur Beobachtung. der Natur anwen-

tographie. 1840-70. Ein Bildbuch nadi 200 Originalen. Frankfurt am Main 1930. - Heinridi S&warz: David Octavius Hill. Der Meister der Photographie. Mit 80 Bildtafcln. Leipzig 193 1.


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den, so ist das, was sie davon gehofTt haben, immer eine Kleinig- keit im Vergleich zu der Reihe nachfolgender Entdeckungen, wovon das Instrument der Ursprung war.« In grofiem Bogen umspannt diese Rede das Gebiet der neuen Technik von der Astrophysik bis zur Philologie: neben dem Ausblick auf die Sternphotographie steht die Idee, ein corpus der agyptischen Hieroglyphen aufzunehmen.

Daguerres Lichtbilder waren jodierte und in der camera obscura beiichtete Silberplatten, die hin- und hergewendet sein wollten, bis man in richtiger Beleuchtung ein zartgraues Bild darauf er- kennen konnte. Sie waren unica; im Durchschnitt bezahlte man im Jahre 1839 fiir eine Platte 25 Goldfrank. Nicht selten wur- den sie wie Schmuck in Etuis verwahrt. In der Hand mancher Maler aber verwandelten sie sich in technische Hilfsmittel. Wie siebzig Jahre spater Utrillo seine faszinierenden Ansichten von den Hausern der Bannmeile von Paris nicht nach der Natur, sondern nach Ansichtskarten verfertigte, so legte der geschatzte englische Portratmaler David Octavius Hill seinem Fresko der ersten Generalsynode der schottischen Kirche.im Jahre 1843 eine groKe Reihe von Portrataufnahmen zugrunde. Diese Aufnah- men aber machte er selbst. Und sie, anspruchslose, zum internen Gebrauch bestimmte Behelfe, sind es, die seinem Namen die historische Stelle- geben, wahrend er als Maler verschollen ist. Freilich fuhren tiefer noch als die Reihen dieser Portratkopfe in die neue Technik einige Studien ein: namenlose Menschen- bilder, nicht Portrats. Solche Kopfe gab es langst auf Ge- malden. Blieben sie im Familienbesitz, fragte man hin und wie- der noch nach den Dargestellten. Nach zwei, drei Generationen aber ist dies Interesse verstummt: die Bilder, soweit sie dauern, tun es nur als Zeugnis fiir die Kunst dessen, der sie gemalt hat. Bei der Photographie aber begegnet man etwas Neuem und Sonderbarem: in jenem Fischweib aus New Haven, das mit so lassiger, verfuhrerischer Scham zu Boden blickt, bleibt etwas, was im Zeugnis fiir die Kunst des Photographen Hill nicht aufgeht, etwas, was nicht zum Schweigen zu bringen ist, unge- bardig nach dem Namen derer veriangend, die da gelebt hat, die audi hier noch wirklich ist und niemals ganzlich in die »Kunst«  wird eingehen wollen. »Und ich frage: wie hat dieser haare zier | Und dieses blickes die friiheren wesen umzingelt! | Wie


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dieser mund hier gekiifit zu dem die begier | Sinnlos hinan als raucli ohne flamme sich ringelt!« Oder man schlagt das Bild von Dauthendey, dem Photographen, auf, dem Vater des Dich- ters, aus der Zeit des Brautstands mit jener Frau, die er dann eines Tages, kurz nach der Geburt ihres sechsten Kindes, im Schlafzimmer seines Moskauer Hauses mit durchschnittenen Pulsadern liegen fand. Sie ist hier neben ihm zu sehen, er scheint sie zu halten; ihr Blick aber geht an ihm voruber, saugend an eine unheilvolle Feme geheftet. Hat man sich lange genug in so ein Bild vertieft, erkennt man, wie sehr auch hier die Gegensatze sich beriihren: die exakteste Technik kann ihren Hervorbrin- gungen einen magischen Wert geben, wie fur uns ihn ein gemal- tes Bild nie mehr besitzen kann. Aller Kunstfertigkeit des Pho- tographen und aller Planmafiigkeit in der Haltung seines Mo- dells zum Trotz fuhlt der Beschauer unwiderstehlich den Zwang, in solchem Bild das winzige Flinkchen Zufall, Hier und Jetzt, zu suchen, mit dem die Wirklichkeit den Bildcharakter gleich- sam durchgesengt hat, die unscheinbare Stelle zu finden, in welcher, im Sosein jener langstvergangenen Minute das Kiinfti- ge noch heut und so beredt nistet, dafi wir, ruckblickend, es ent- decken konnen. Es ist ja eine andere Natur, welche zur Kamera als welche zum Auge spricht; anders vor allem so, dafi an die Stelle eines vom Menschen mit Bewufitsein durchwirkten Raums ein unbewufit durchwirkter tritt. Ist es schon iiblich, dafi einer, beispielsweise, vom Gang der Leute, sei es auch nur im groben, sich Rechenschaft. gibt, so weifi er bestimmt nichts mehr von ihrer Haltung im Sekundenbruchteil des »Ausschreitens«. Die Photographie mit ihren Hilfsmitteln: Zeitlupen, Vergrofierun- gen erschliefit sie ihm. Von diesem Optisch-Unbewufiten erfahrt er erst durch sie, wie von dem Tnebhaft-Unbewufiten durch die Psychoanalyse. Strukturbeschaffenheiten, Zellgewebe, mit denen Technik, Medizin zu rechnen pflegen - all dieses ist der Kamera ursprunglich verwandter als die stimmungsvolle Landschafl oder das seelenvolle Portrat. Zugleich aber erofTnet die Photo- graphie in diesem Material die physiognomischen Aspekte, Bildwelten, welche im Kleinsten wohnen, deutbar und verbor- gen genug, um inWachtraumenUnterschlupf gefunden zu haben, nun aber, grofi und formulierbar wie sie geworden sind, die DifTerenz von Technik und Magie als durch und durch histori-


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sche Variable ersiditlich zu machen. So hat Blofifeldt 2 mit seinen erstaunlichen Pflanzenphotos in Schachtelhalmen alteste Sau- lenformen, im Straufifarn den Bischofsstab, im zehnfach ver- grofierten Kastanien- und Ahornsprofi Totembaume, in der Weberkarde gotisches Mafiwerk zum Vorschein gebracht. Darum sind wohl audi die Modelle eines Hill nicht weit von der Wahr- heit entfernt gewesen, wenn ihnen »das Phanomen der Photo- graphie« noch »ein grofies geheimnisvolles Erlebnis« war; mag das fur sie audi nichts als das Bewufitsein gewesen sein, »vor einem Apparat zu stehen, der in kiirzester Zeit ein Bild der sichtbaren Umwelt erzeugen konnte, das so lebendig und wahr- haft wirkte wie die Natur selbst.« Man hat von der Kamera Hills gesagt, dafi sie diskrete Zuriickhaltung wahre. Seine Mo- delle ihrerseits sind aber nicht weniger reserviert; sie behalten eine gewisse Scheu vor dem Apparat, und der Leitsatz eines spateren Photographen aus der Bliitezeit: »Sieh nie in die Ka- mera« konnte aus ihrem Verhalten abgeleitet sein. Doch war damit nicht jenes »sehen dich an« von Tieren, Menschen oder Babys gemeint, das den Kaufer auf so unsaubere Weise einmengt und dem nichts besseres entgegenzusetzen ist als die Wendung, mit welcher der alte Dauthendey von der Daguerreotypie spricht: »Man getraute sich . . . zuerst nicht, so berichtete er, die ersten Bilder, die er anfertigte, lange anzusehen. Man scheute sich vor der Deutlichkeit der Menschen und glaubte, dafi die kleinen winzigen Gesichter der Personen, die auf dem Bilde warea, einen selbst sehen konnten, so verbliiffend wirkte die ungewohnte Deutlichkeit und die ungewohnte Naturtreue der ersten Daguerreotypbilder auf jeden«.

Diese ersten reproduzierten Menschen traten in den Blickraum der Photographie unbescholten oder besser gesagt unbeschriftet. Noch waren Zeitungen Luxusgegenstande, die man selten kauf- lich erwarb, eher in Cafehausern einsah, noch war das photo- graphische Verfahren nicht zu ihrem Werkzeug geworden, noch sahen die wenigsten Menschen ihren Namen gedruckt. Das menschliche Antlitz hatte ein Schweigen um sich, in dem der Blick ruhte. Kurz, alle Moglichkeiten dieser Portratkunst beru- hen darauf, dafi noch die Beriihrung zwischen Aktualitat und

2 Karl Bloflfeldt: Urformen der Kunst. Photographische Pflanzenbilder. Hrsg. mit einer Einleitung von Karl Nierendorf. 120 Bildtafeln. Berlin 0. J. [1928].


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Photo nidit eingetreten ist. Auf dem Edinburgher Friedhof von Greyfriars sind viele Bildnisse Hills entstanden - nichts ist fiir diese Friihzeit bezeichnender, es sei denn, wie die Modelle auf ihm zu Hause waren. Und wirklich ist dieser Friedhof nach einem Bilde, das Hill gemacht hat, selbst wie ein Interieur, ein abgeschiedener, eingehegter Raum, wo, an Brandmauern ge- lehnt, aus dem Grasboden Grabmaler aufsteigen, die, ausge- hohlt wie Kamine, in ihrem Inhern Sdiriftziige statt der Flam- menzungen zeigen. Nie aber hatte dies Lokal zu seiner grofien Wirkung kommen konnen, ware seine Wahl nicht technisch begriindet gewesen. Geringere Lichtempfindlichkeit der friihen Platten machte eine lange Belichtung im Freien erforderlich. Diese wiederum liefi es wiinschenswert sdieinen, den Aufzuneh- menden in moglichster Abgeschiedenheit an einem Orte unter- zubringen, wo ruhiger Sammiung nichts im V/ege stand. »Die Synthese des Ausdruckes, die durch das lange Stillhalten des Mo- dells erzwungen wird, sagt Orlik von der friihen Photographie, ist der Hauptgrund, weshalb diese Lichtbilder neben ihrer Schlichtheit gleich guten gezeichneten oder gemalten Bildnissen eine eindringlichere und langer andauernde Wirkung auf den Beschauer ausiiben als neuere Photographien.« Das Verfahren selbst veranlafite die Modelle, nicht aus dem Augenblick heraus, sondern in ihn hinein zu leben; wahrend der langen Dauer die- ser Aufnahmen wuchsen sie gleichsam in das Bild hinein und traten so in den entschiedensten Kontrast zu den Erscheinungen auf einer Momentaufnahme, die jener veranderten Umwelt ent- spricht, in der es, wie Kracauer treffend bemerkt hat, von dem- selben Bruchteil einer Sekunde, den die Belichtung dauert, ab- hangt, »ob ein Sportsmann so beriihmt wird, dafi ihn im Auftrag der Illustrierten die Photographen belichten«. Alles an diesen friihen Bildern war angelegt zu dauern; nicht nur die unvergleichlichen Gruppen, zu denen die Leute zusammentra- ten - und deren Verschwinden gewifi eins der prazisesten Symptome dessen war, was in der zweiten Halfte des Jahrhun- derts in der Gesellschaft vorging - selbst die Falten, die ein Gewand auf diesen Bildern wirft, halten langer. Man betrachte nur Schellings Rock; der kann recht zuversichtlich mit in die Unsterblichkeit hiniibergehen; die Formen, die er an seinem Trager annahm, sind der Falten in dessen Antlitz nicht unwert.


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Kurz, alles spricht dafiir, Bernard von Brentano habe mit seiner Vermutung recht, »dafi ein Photograph von 1850 auf der glei- chen Hohe mit seinem Instrument stand« - zum ersten- und fur lange zum letztenmal.

Man mufi im iibrigen, urn sich die gewaltige Wirkung der Da- guerreotypie im Zeitalter ihrer Entdeckung ganz gegenwartig zu machen, bedenken, dafi die Pleinairmalerei damals den vorge- schrittensten unter den Malern ganz neue Perspektiven zu ent- decken begonnen hatte. Im Bewufitsein, dafi gerade in dieser Sache die Photographie von der Malerei die Stafette zu iiber- nehmen habe, heifk es denn auch bei Arago im historischen Riickblick auf die friihen Versuche Giovanni Battista Portas ausdriicklich: »Was die Wirkung betrifft, welche von der unvoll- kommenen Durchsichtigkeit unserer Atmosphare abhangt (und welche man durch den • uneigentlichen Ausdruck >Luftperspek- tive< charakterisiert hat), so hoffen selbst die geiibten Maler nicht, dafi die camera obscura« - will sagen das Kopieren der in ihr erscheinenden Bilder - »ihnen dazu behilflich sein konnte, dieselben mit Genauigkeit hervorzubringen.« Im Augenblick, da es Daguerre gegliickt war, die Bilder der camera obscura zu fixieren, waren die Maler an diesem Punkte vom Techniker ver- abschiedet worden. Das eigentliche Opfer der Photographie aber wurde nicht die Landschaftsmalerei, sondern die Portratminia- tur. Die Dinge entwickelten sich so schnell, dafi schon um 1840 die meisten unter den zahllosen Miniaturmalern Berufsphoto- graphen wurden, zunachst nur nebenher, bald aber ausschliefi- lich. Dabei kamen ihnen die. Erfahrungen ihrer urspriinglichen Brotarbeit zustatten, und nicht ihre kunstlerische, sondern ihre handwerkliche Vorbildung ist es, der man das hohe Niveau ihrer photographischen Leistungen zu verdanken hat. Sehr all- mahlich verschwand diese Generation des Obergangs; ja es scheint eine Art von biblischem Segen auf jenen ersten Photo- graphen geruht zu haben: die Nadar, Stelzner, Pierson, Bayard sind alle an die Neunzig oder Hundert herangeruckt. Schlieft- lich aber drangen von uberallher Geschaftsleute in den Stand derBerufsphotographen ein, und als dann spaterhin dieNegativ- retusche, mit welcher der schlechte Maler sich an der Photogra- phie rachte, allgemein liblich wurde, setzte ein jaher Verfall des Geschmacks ein. Das war die Zeit, da die Photographiealben


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sich zu fiillen begannen. An den frostigsten Stellen derWohnung, auf Konsolen oder Gueridons im Besuchszimmer, fanden sie sich am liebsten: Lederschwarten mit abstofienden Metallbeschlagen und den fingerdicken goldumrandeten Blattern, auf denen nar- risch drapierte oder verschniirte Figuren - Onkel Alex und Tante Riekchen, Trudchen wie sie noch klein war, Papa im ersten Semester - verteilt waren und endlich, urn die Schande voll zu machen, wir selbst: als Salontiroler, jodelnd, den Hut gegen gepinselte Firnen schwingend, oder als adretter Matrose, Stand- bein und Spielbein, wie es sich gehdrt, gegen einen polierten Pfosten gelehnt. Noch erinnert die Staff age solcher Portrats mit ihren Postamenten, Balustraden und ovalen Tischchen an die Zeit, da man der langen Expositionsdauer wegen den Modellen Stiitzpunkte geben mufite, damit sie fixiert blieben. Hatte man anfangs mit »Kopfhalter« oder »Kniebrille« sich begniigt, so folgte bald »weiteres Beiwerk, wie es in beriihmten Gemalden vorkam und darum >kiinstlerisch< sein mufite. Zunachst war es die Saule und der Vorhang«. Gegen diesen Unfug mufiten sich f ahigere Manner schon in den sechziger Jahren wenden. So heifit es damals in einem englischen Fachblatt: »In gemalten Bildern hat die Saule einen Schein von Moglichkeit, die Art aber, wie sie in der Photographie angewendet wird, ist absurd; denn sie steht gewohnlich auf einem Teppich. Nun wird aber jedermann uber- zeugt sein, dafi Marmor- oder Steinsaulen nicht mit einem Tep- pich als Fundament aufgebaut werden.« Damals sind jene Ate- liers mit ihren Draperien und Palmen, Gobelins und Staffeleien entstanden, die so zweideutig zwischen Exekution und Represen- tation, Folterkammer und Thronsaal schwankten und aus denen ein erschutterndes Zeugnis ein friihes Bildnis von Kafka bringt. Da steht in einem engen, gleichsam demutigenden, mit Posa- menten iiberladenen Kinderanzug der ungefahr sechsjahrige Knabe in einer Art von Wintergartenlandschaft. Palmenwedel starren im Hintergrund. Und als gelte es, diese gepolsterten Tropen noch stickiger und schwiiler zu machen, tragt das Modell in der Linken einen unmaftig grofien Hut mit breiter Krempe, wie ihn Spanier haben. Gewifi, dafi es in diesem Arrangement verschwande, wenn nicht die unermefilich traurigen Augen diese ihnen vorbestimmte Landschaft beherrschen wiirden. Dies Bild in seiner uferlosen Trauer ist ein Pendant der friihen


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Photographic auf welcher die Menschen nodi nicht abgesprengt und gottverloren in die Welt sahen wie hier der Knabe. Es war eine Aura um sie, ein Medium, das ihrem Blick, indem er es durchdringt, die Fiille und die Sicherheit gibt. Und wieder liegt das tedinische Aquivalent da von auf der Hand; es besteht in dem absoluten Kontinuum von hellstem Licht zu dunkelstem Schatten. Audi hier bewahrt sich im ubrigen das Gesetz der Vorverkundung neuerer Errungenschaften in alterer Technik, indem die ehemalige Portratmalerei vor ihrem Niedergange eine einzigartige Bliite der Schabkunst heraufgefiihrt hatte. Freilich handelte es sich in diesem Schabkunstverfahren um eine Repro- duktionstechnik, wie sie sich mit der neuen photographisdien erst spater vereinigte. Wie auf Schabkunstblattern ringt sich bei einem Hill miihsam das Licht aus dem Dunkel: Orlik spricht von der durch die lange Expositionsdauer veranlafiten »zusam- menfassenden Lichtfuhrung«, die »diesen friiheren Lichtbildern ihre Grofie« gibt. Und unter den Zeugenossen der Erfindung bemerkte schon Delaroche den friiher »nie erreichten, kostlichen, in nichts die Ruhe der Massen storenden« allgemeinen Eindruck. Soviel vom technischen Bedingtsein der auratischen Erscheinung. Besonders manche Gruppenaufnahmen halten ein beschwingtes Miteinander noch einmal fest, wie es hier fur eine kurze Spanne auf der Platte erscheint, be vor es an der »Originalaufnahme«  zugrunde geht. Es ist dieser Hauchkreis, der schon und sinnvoll bisweilen durch die nunmehr altrriodische ovale Form des Bild- ausschnitts umschrieben wird. Darum heifit es diese Inkunabeln der Photographie mifideuten, in ihnen die »kunstlerische Voll- endung« oder den »Geschmack« zu betonen. Diese Bilder sind in Raumen entstanden, in denen jedem Kunden im Photogra- phen vorab ein Techniker nach der neuesten Schule entgegentrat, dem Photographen aber in jedem Kunden der Angehorige einer im Aufstieg befindlichen Klasse mit einer Aura, die bis in die Falten des Burgerrocks oder der Lavalliere sich eingenistet hatte. Denn das blofie Erzeugnis einer primitiven Kamera ist jene Aura ja nicht. Vielmehr entsprechen sich in jener Friihzeit Objekt und Technik genau so scharf, wie sie in der anschliefien- den Verfallsperiode auseinandertreten. Bald namlich verfugte eine fortgeschrittene Optik iiber Instrumente, die das Dunkel ganz uberwanden und die Erscheinungen spiegelhaft aufzeichne-


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ten. Die Photographen jedoch sahen in der Zeit nach 1880 ihre Aufgabe vielmehr darin, die Aura, die von Hause aus mit der Verdrangung des Dunkels durch lichtstarkere Objektive aus dem Bilde genau so verdrangt wurde wie durch die zunehmende Entartung des imperialistischen Burgertums aus der Wirklich- keit - sie sahen es als ihre Aufgabe an, diese Aura durch alle Kunste der. Retusche, insbesondere jedoch durch sogenannte Gummidrucke vorzutauschen. So wurde, zumal im Jugendstil, ein schummeriger Ton, von kiinstlichen Reflexen unterbrochen, Mode; dem Zwielicht zum Trotz aber zeichnete immer klarer eine Pose sich ab, deren Starrheit die Ohnmacht jener Genera- tion im Angesicht des technischen Fortschritts verriet. Und doch ist, was iiber die Photographie entscheidet, immer wieder das Verhaltnis des Photographen zu seiner Technik. Ca- mille Recht hat es in einem hubschen Bilde gekennzeichnet. »Der Geigenspieler, sagt er, mufi den Ton erst bilden, mufi ihn suchen, blitzschnell finden, der Klavierspieler schlagt die Taste an: der Ton erklingt. Das Instrument steht dem Maler wie dem Photographen zur Verfugung. Zeichnung und Farbengebung des Malers entsprechen der Tonbildung des Geigenspiels, der Photograph hat mit dem Klavierspieler das Maschinelle voraus, das einschrankenden Gesetzen unterworfen ist, die dem Geiger lange nicht den gleichen Zwang auferlegen. Kein Paderewski wird jemals den Ruhm ernten, den beinahe sagenhaften Zau- ber ausiiben, den ein Paganini geerntet, den er ausgeiibt hat.« Es gibt aber, um im Bilde zu bleiben, einen Busoni der Photogra- phie, und der ist Atget. Beide waren Virtuosen, zugleich aber Vorlaufer. Das beispiellose Aufgehen in der Sache, verbunden mit der hochsten Prazision, ist ihnen gemeinsam. Sogar in ihren Ziigen gibt es Verwandtes. Atget war ein Schauspieler, der, an- gewidert vom Betrieb, die Maske abwischte und dann daran ging, audi die Wirklichkeit abzuschminken. Arm und unbe- kannt lebte er in Paris, seine Photographien schlug er an Lieb- haber los, die kaum weniger exzentrisch sein konnten als er, und vor kurzem ist er, unter Hinterlassung eines ceuvre von mehr als viertausend Bildern, gestorben. Berenice Abbot aus New York hat diese Blatter gesammelt, und eine Auswahl von ihnen erscheint soeben in einem hervorragend schonen Bande 3 ,

3 E[ug£ne] Atget: Liditbilder. Eingeleitet von Camille Reclit. Paris u. Leipzig 1930.


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den Camille Recht herausgegeben hat. Die zeitgenossische Pu- blizistik »wufite nichts von dem Mann, der mit seinen Bildern zumeist in den Ateliers herumzog, sie fur wenige Groschen ver- schleuderte, oft nur fur den Preis einer dieser Ansichtskarten, wie sie um 1900 herum die Stadtebilder so schon zeigten, in blaue Nacht getaucht, mit retuschiertem Mond. Er hat den Pol hochster Meisterschaft erreicht; aber in der yerbissenen Bescheidenheit eines grofien Konners, der immer im Schatten lebt, hat er es unterlassen, seine Fahne dort aufzupflanzen. So kann mancher glauben, den Pol entdeckt zu haben, den Atget schon vor ihm betreten hat.« In der Tat: Atgets Pariser Photos sind die Vorlaufer der surrealistischen Photographie; Vortrupps der ein- zigen wirklich breiten Kolonne, die der Surrealismus hat in Be- wegung setzen konnen. Als erster desinfiziert er die stickige Atmosphare, die die konventionelle Portratphotographie der Verfallsepoche verbreitet hat. Er reinigt diese Atmosphare, ja bereinigt sie: er leitet die Befreiung des Objekts von der Aura ein, die das unbezweifelbarste Verdienst der jiingsten Photo- graphenschule ist. Wenn »Bifur« oder »Variete«, Zeitschriften der Avantgarde, unter der Beschriftung »Westminster«, »Lille«, »Antwerpen« oder »Breslau« nur Details bringen, einmal ein Snick von einer Balustrade, dann einen kahlen Wipfel, dessen Aste vielfaltig eine Gaslaterne uberschneiden, ein andermal eine Brandmauer oder einen Kandelaber mit einem Rettungs- ring, auf dem der Name der Stadt stent, so sind das nichts als literarische Pointierungen von Motiven, die Atget entdeckte. Er suchte das Verschollene und Verschlagene, und so wenden audi solche Bilder sich gegen den exotischen, prunkenden, romanti- schen Klang der Stadtnamen; sie saugen die Aura aus der Wirk- lichkeit wie Wasser aus einem sinkenden Schiff. - Was ist eigentlich Aura? Ein sonderbares Gespinst von Raum und Zeit: einmalige Erscheinung einer Feme, so nah sie sein mag. An einem Sommermittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Betrachter wirft, bis der Augenblick oder die Stunde Teil an ihrer Er- scheinung hat - das heifk die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen. Nun ist, die Dinge sich, vielmehr den Massen »naher- zubringen«, eine genau so leidenschaftliche Neigung der Heuti- gen, wie die Oberwindung des Einmaligen in jeder Lage durch


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deren Reproduzierung. Tagtaglich macht sich unabweisbarer das Bediirfnis geltend, des Gegenstands aus nachster Nahe im Bild, vielmehr im Abbild habhaft zu werden. Und unverkenn- bar unterscheidet sich das Abbild, wie illustrierte Zeitung und Wochenschau es in Bereitschaft halten, vom Biide. Einmaligkeit und Dauer sind in diesem so eng verschrankt wie Fliichtigkeit und Wiederholbarkeit in jenem. Die Entschalung des Gegen- stands aus seiner Hulle, die Zertnimmerung der Aura ist die Signatur einer Wahrnehmung, deren Sinn fiir alles Gleichartige auf der Welt so gewachsen ist, dafi sie es mittels der Reproduk- tion audi dem Einmaligen abgewinnt. Atget ist »an den grofien Sichten und an den sogenannten Wahrzeichen« fast immer vor- ubergegangen; nicht aber an einer langen Reihe von Stiefellei- sten; nicht an den Pariser Hofen, wo von abends bis morgens die Handwagen in Reih und Glied stehen; nicht an den abge- gessenen Tischen und den unaufgeraumten Waschgeschirren, wie sie zu gleicher Zeit zu Hunderttausenden da sind; nicht am Bor- dell rue ... no j, dessen Fiinf an vier verschiedenen Stellen der Fassade riesengrofi erscheint. Merkwiirdigerweise sind aber fast alle diese Bilder leer. Leer die Porte d'Arcueil an den fortifs, leer die Prunktreppen, leer die Hof e, leer die Cafehausterrassen, leer, wie es sich gehort, die Place du Tertre. Sie sind nicht ein- sam, sondern stimmungslos; die Stadt auf diesen Bildern ist ausgeraumt wie eine Wohnung, die noch keinen neuen Mieter gefunden hat. Diese Leistungen sind es, in denen die surrealisti- sche Photographie eine heilsame Entfremdung zwischen Umwelt und Mensch vorbereitet. Sie macht dem politisch geschulten Blick das Feld frei, dem alle Intimkaten zugunsten .der Erhel- lung des Details fallen.

Auf der Hand liegt, dafi dieser neue Blick am wenigsten da einzuheimsen hat, wo man sich sonst am lafilichsten erging: in der entgeltlichen, reprasentativen Portrataufnahme. Anderer- seits ist derVerzicht auf den Menschen fiir die Photographie der unvollziehbarste unter alien. Und wer es nicht gewufk hat, den haben die besten Russenfilme es gelehrt, dafi auch Milieu und Landschafl unter den Photographen erst dem sich erschlieEen, der sie in der namenlosen Erscheinung, die sie im Antlitz haben, aufzufassen weiE. Jedoch die Moglichkeit davon ist wieder in hohem Grad bedingt durch den Aufgenommenen. Die Genera-


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tion, die nicht darauf versessen war, in Aufnahmen auf die Nachwelt zu kommen, eher im Angesicht soldier Veranstal- tungen sich etwas scheu in ihren Lebensraum zuriickzog - wie Scliopenhauer auf dem Frankfurter Bilde um 1850 in die Tiefen des Sessels - eben darum aber diesen Lebensraum mit auf die Platte gelangen liefi: diese Generation hat ihre Tugenden nicht vererbt. Da gab zum erstenmal seit Jahrzehnten der Spielfilm der Russen Gelegenheit, Menschen vor der Kamera erscheinen zu lassen, die fur ihr Photo keine Verwendung haben. Und augenblicklich trat das menschliche Gesicht mit neuer, unermefi- licher Bedeutung auf die Platte. Aber es war kein Portrat mehr. Was war es? Es ist das eminente Verdienst eines deutschen Photographen, diese Frage beantwortet zu haben. August San- der 4 hat eine Reihe von Kopfen zusammengestellt, die der gewaltigen physiognomischen Galerie, die ein Eisenstein oder Pudowkin eroffnet haben, in gar nichts nachsteht, und er tat es unter wissenschaftlichem Gesichtspunkt. »Sein Gesamtwerk ist aufgebaut in sieben Gruppen, die der bestehenden Gesellschafts- ordnung entsprechen, und soil in etwa 45 Mappen zu je 12 Licht- bildern veroffentlicht werden.« Bisher liegt davon ein Auswahl- band mit 60 Reproduktionen vor, die unerschopflichen Stoff zur Betrachtung bieten. »Sander geht vom Bauern, dem erdge- bundenen Menschen aus, fiihrt den Betrachter durch alle Schich- ten und Berufsarten bis zu den Reprasentanten der hochsten Zivilisation und abwarts bis zum Idioten.« Der Autor ist an diese ungeheure Aufgabe nicht als Gelehrter herangetreten, nicht von Rassentheoretikern oder Sozialforschern beraten, sondern, wie der Verlag sagt, »aus der unmittelbaren Beobach- tung«. Sie ist bestimmt eine sehr vorurteilslose, ja kiihne, zu- gleich aber auch zarte gewesen, namlich im Sinn des Goethi- schen Wortes: »Es gibt eine zarte Empirie, die sich mit dem Gegenstand innigst identisch macht und dadurch zur eigentlichen Theorie wird.« Demnach ist es ganz in der Ordnung, daf$ ein Betrachter wie Doblin gerade auf die wissenschaftlichen Mo- mente in diesem Werk gestofien ist und bemerkt: »Wie es eine vergleichende Anatomie gibt, aus der man erst zu einer Auffas- sung der Natur und der Geschichte der Organe kommt, so hat

4 August Sander: Antlitz der Zeit. Sechzig Aufnahmen deutscher Mensdien des 20. Jahrhunderts. Mit einer Einleitung von Alfred Doblin. Munchen o. J. [1929].


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dieser Photograph vergleichende Photographie getrieben und hat damit einen wissenschaftlichen Standpunkt oberhalb der Detailphotographen gewonnen.« Es ware ein Jammer, wenn die wirtschaftlichen Verhaltnisse die weitere Veroffentlichung dieses aufierordentlichen corpus verhinderten. Dem Verlag aber kann man neben dieser grundsatzlichen noch eine genauere Aufmunterung zuteil werden lassen. Uber Nacht konnte Wer- ken wie dem von Sander eine unvermutete Aktualitat zuwach- sen. Machtverschiebungen, wie sie bei uns fallig geworden sind, pflegen die Ausbildung, Scharfung der physiognomischen Auf- fassung zur vitalen Notwendigkeit werden zu lassen. Man mag von rechts kommen oder von links - man wird sich daran gewohnen miissen, darauf angesehen zu werden, woher man kommt. Man wird es, seinerseits, den andern anzusehen haben. Sanders Werk ist mehr als ein Bildbuch: ein Obungsatlas. »Es gibt in unserem Zeitalter kein Kunstwerk, das so aufmerk- sam betrachtet wiirde, wie die Bildnisphotographie des eigenen Selbst, der nachsten Verwandten und Freunde, der Geliebten«, hat schon im Jahre 1907 Lichtwark geschrieben und damit die Untersuchung aus dem Bereich asthetischer Distinktionen in den sozialer Funktionen geriickt. Nur von hier aus kann sie welter vorstofien. Es ist ja bezeichnend, dafi die Debatte sich da am meisten versteift hat, wo es um die Asthetik der » Photographie als Kunst« ging, indes man beispielsweise dem soviel fragloseren sozialen Tatbestand der »Kunst als Photographie« kaum einen Blick gonnte. Und doch ist die Wirkung der photographischen Reproduktion von Kunstwerken fiir die Funktion derKunst von sehr viel grofierer Wichtigkeit als die mehr oder minder kiinst- lerische Gestaltung einer Photographie, der das Erlebnis zur »Kamerabeute« wird. In der Tat ist der heimkehrende Ama- teur mit seiner Unzahl kunstlerischer Originalaufnahmen nicht erfreulicher als ein Jager, der vom Anstand mit Massen von Wild zuruckkommt, die nur fiir den Handler verwertbar sind. Und wirklich scheint der Tag vor der Tur zu stehen, da es mehr illustrierte Blatter als Wild- und Geflugelhandlungen geben wird. Soviel vom »Knipsen«. Doch die Akzente springen vollig um, wendet man sich von der Photographie als Kunst zur Kunst als Photographie. Jeder wird die Beobachtung haben machen konnen, wieviel leichter ein Bild, vor allem aber eine


382 . Llterarische und asthetische Essays

Plastik, und nun gar Architektur, im Photo sich erfassen lassen als in der Wirklichkeit. Die Versuchung liegt nahe genug, das schlechterdings auf den Verfall des Kunstsinns, auf ein Versa- gen der Zeitgenossen zu schieben. Dem aber stellt sich die Er- kenntnis in den Weg, wie ungefahr zu gleicher Zeit mit der Ausbildung reproduktiver Techniken dieAuffassung von grofien Werken sich gewandelt hat. Man kann sie nicht mehr als Her- vorbringungen Einzelner ansehen; sie sind kollektive Gebilde geworden, so machtig, daE, sie zu assimilieren, geradezu an die Bedingung gekniipft ist, sie zu verkleinern. Im Endeffekt sind die mechanischen Reproduktionsmethoden eine Verkleinerungstech- nik und verhelfen dem Menschen zu jenem Grad von Herr- schaft iiber die Werke, ohne welchen sie gar nicht mehr zur Ver- wendung kommen.

W'enn eins die heutigen Beziehungen zwischen Kunst und Photo- graphic kennzeichnet, so ist es die unausgetragene Spannung, welche durch die Photographie der Kunstwerke zwischen den beiden eintrat. Viele von denen, die als Photographen das heu- tige Gesicht dieser Technik bestimmen, sind von der Malerei ausgegangen. Sie haben ihr den Riicken gekehrt nach Versu- chen, deren Ausdrucksmittel in einen lebendigen, eindeutigen Zusammenhang mit dem heutigen Leben zu riicken. Je wacher ihr Sinn fur die Signatur der Zeit war, desto problematischer ist ihnen nach und nach ihr Ausgangspunkt geworden. Denn wieder wie vor achtzig Jahren hat die Photographie von der Malerei die Stafette sich geben lassen. »Die schopferischen Moglichkeiten des Neuen, sagt Moholy-Nagy, werden meist langsam durch solche alten Formen, alten Instrumente und Ge- staltungsgebiete aufgedeckt, welche durch das Erscheinen des Neuen im Grunde schon erledigt sind, aber unter dem Druck des sich vorbereitenden Neuen sich zu einem euphorischen Auf- bliihen treiben lassen. So lieferte z. B. die futuristische (statische) Malerei die spater sie selbst vernichtende, festumrissene Proble- matik der Bewegungssimultaneitat, die Gestaltung des Zeitmo- mentes; und zwar dies in einer Zeit, da der Film schon bekannt, aber noch lange nicht erfafit war . . . Ebenso kann man - mit Vorsicht - einige von den heute mit darstellerisch-gegenstand- lichen Mitteln arbeitenden Malern (Neoklassizisten und Veri- sten) als Vorbereiter einer neuen darstellerischen optischen


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Gestaltung, die sich bald nur mechanisch technischer Mittel be- dienen wird, betrachten.« Und Tristan Tzara, 1922: »Als alles, was sich Kunst nannte, gichtbriichig geworden war, entziindete der Photograph seine tausendkerzige Lampe und stufenweise absorbierte das lichtempfindliche Papier die Schwarze einiger Gebrauchsgegenstande. Er hatte die Tragweite eines zarten, un- beriihrten Aufblitzens entdeckt, das wichtiger war als alle Kon- stellationen, die uns zur Augenweide gestellt werden.« Die Photographen, die nicht aus opportunistischen Erwagungen, nicht zufallig, nicht aus Bequemlichkeit von der bildenden Kunst zum Photo gekommen sind, bilden heute die Avantgarde unter den Fachgenossen, weil sie durch ihren Entwicklungsgang gegen die grofite Gefahr der heutigen Photographie, den kunstgewerb- lichen Einschlag, einigermafien gesichert sind. » Photographie als Kunst, sagt Sasha Stone, ist ein sehr gefahrliches Gebiet.«  Hat die Photographie sich aus Zusammenhangen herausbegeben, wie sie ein Sander, eine Germaine Krull, ein Blofifeldt geben, vom physiognomischen, politischen, wissenschaftlichen Interesse sich emanzipiert, so wird sie »schopferisch«. Angelegenheit des Objektivs wird die »Zusammenschau«; der photographische Schmock tritt auf. »Der Geist, iiberwindend die Mechanik, deu- tet ihre exakten Ergebnisse zu Gleichnissen des Lebens um.« Je mehr die Krise der heutigen Gesellschaftsordnung urn sich greift, je starrer ihre einzelnen Momente einander in toter Gegensatz- lichkeit gegeniibertreten, desto mehr ist das Schopferische - dem tiefsten Wesen nach Variante; der Widerspruch sein Vater und die Nachahmung seine Mutter - zum Fetisch geworden, dessen Zuge ihr Leben nur dem Wechsel modischer Beleuchtung danken. Das Schopferische am Photographieren ist dessen Ober- antwortung an die Mode. »Die Welt ist schon« - genau das ist ihre Devise. In ihr entlarvt sich die Haltung einer Photographie, die jede Konservenbiichse ins All montieren, aber nicht einen der menschlichen Zusammenhange fassen kann, in denen sie auf- tritt, und die damit noch in ihren traumverlorensten Sujets mehr ein Vorlaufer von deren Verkauflichkeit als von deren Erkenntnis ist. Weil aber das wahre Gesicht dieses photographi- schen Schopfertums die Reklame oder die Assoziation ist, darum ist ihr rechtmafiiger Gegenpart die Entlarvung oder die Kon- struktion. Denn die Lage, sagt Brecht, wird »dadurch so kom-


3S4 Literarisdie und asthetische Essays

pliziert, dafi weniger denn je eine einfache >Wiedergabe der Realitat< etwas liber die Realitat aussagt. Eine Photographie der Kruppwerke oder der A.E.G. ergibt beinahe nidits uber diese Institute. Die eigentliche Realitat ist in die Funktionale ge- rutscht. Die Verdinglicliung der mensdilichen Beziehungen, also etwa die Fabrik, gibt die letzteren nicht mehr heraus. Es ist also tatsachlich, >etwas aufzubauen<, etwas >Kunstliches<, >Gestell- tes<.« Wegbereiter einer solchen photographischen Konstruktion herangebildet zu haben, ist das Verdienst der Surrealisten. Eine weitere Etappe in dieser Auseinandersetzung zwischen schopferischer und konstruktiver Photographie bezeichnet der Russenfilm. Es ist nicht zuviel gesagt: die grofien Leistungen seiner Regisseure waren nur moglich in einem Lande, wo die Photographie nicht auf Reiz und Suggestion, sondern auf Ex- periment und Belehrung ausgeht. In diesem Sinne, und nur in ihm, lafit sich der imposanten Begriifiung, mit der im Jahre 1855 der ungeschlachte Ideenmaler Antoine Wiertz der Photographie entgegenkam, auch heut noch ein Sinn abgewinnen. »Vor eini- gen Jahren ist uns, der Ruhm unseres Zeitalters, eine Maschine geboren worden, die tagtaglich das Staunen unserer Gedanken und der Schrecken unserer Augen ist. Ehe noch ein Jahrhundert um ist, wird diese Maschine der Pinsel, die Palette, die Farben, die Geschicklichkeit, die Erfahrung, die Geduld, die Behendig- keit, die Treffsicherheit, das Kolorit, die Lasur, das Vorbild, die Vollendung, der Extrakt der Malerei sein . . . Glaube man nicht, dafi die Daguerreotypie die Kunst tote . . . Wenn die Daguerreotypie, dieses Riesenkind, herangewachsen sein wird; wenn all seine Kunst und Starke sich wird entfaltet haben, dann wird der Genius es plotzlich mit der Hand am Genick packen und laut rufen: Hierher! Mir gehorst du jetzt! Wir wer- den zusammen arbeiten.« Wie nuchtern, ja pessimistisch dagegen die Worte, in denen vier Jahre spatef im » Salon von i8j9«  Baudelaire die neue Technik seinen Lesern ankundigt. Sie lassen sich so wenig wie die eben angefuhrten heute ohne eine leise Akzentverschiebung mehr lesen. Aber indem sie von jenen das Gegenstiick sind, haben sie ihren guten Sinn behalten als scharf- ste Abwehr aller Usurpationen kunstlerischer Photographie. »In diesen klaglichen Tagen ist eine neue Industrie hervorgetreten, die nicht wenig dazu beitrug, die platte Dummheit in ihrem



Der Photograph Karl Dauthendey, der Vater des Dichters, und seine Braut Photo Karl Dauthendey

Abbildung i



Fischweib aus Newhaven Photo David Octavius Hill

Abbildung 2







i.



Der Philosoph Schelling Unbekannter deutscher Photograph, um 1850

Abbildung 3



Bildnis Robert Bryson Photo David Octavius Hill


Abbildung 4



Photo Germaine Krull Abbildung 5



Photo Germaine Krull Abbildung 6


Konditor

Photo August Sander

Abbildung 7



Abgeordneter (Demokrat) Photo August Sander

Abbildung 8


Kleine Geschichte der Photographie 385

Glauben zu bestarken . . ., dafi die Kunst nidits anderes ist und sein kann als die genaue Wiedergabe der Natur . . . Ein racheri- scher Gott hat die Stimme dieser Menge erhort. Daguerre ward sein Messias.« Und: »Wird es der Photographie erlaubt, die Kunst in einigen ihrer Funktionen zu erganzen, so wird diese alsbald vollig von ihr verdrangt und verderbt sein, dank der nauirlichen Bundesgenossenschaft, die aus der Menge ihr erwach- sen wird. Sie mufi daher zu ihrer eigentlichen Pflicht zuriick- kehren, die darin besteht, der Wissenschaften und der Kiinste Dienenn zu sein«.

Ems aber ist damals von beiden - Wiertz und Baudelaire - nicht erfafit worden, das sind die Weisungen, die in der Authen- tizitat der Photographie liegen. Nicht immer wird es gelingen, mit einer Reportage sie zu umgehen, deren Klischees nur die Wirkung haben, sprachliche im Betrachter sich zu assoziieren. Immer kleiner wird die Kamera, immer mehr bereit, fliichtige und geheime Bilder festzuhalten^ deren Chock im Betrachter den Assoziationsmechanismus zum Stehen bringt. An dieser Stelle hat die Beschriftung einzusetzen, welche die Photographie der Literarisierung aller Lebensverhaltmsse einbegreifr, und ohne die alle photographische Konstruktion im Ungefahren stecken bleiben muK. Nicht umsonst hat man Aufnahmen von Atget mit denen eines Tatorts verglichen. Aber ist nicht jeder Fleck unserer Stadte ein Tatort? nicht jeder ihrer Passanten ein Tater? Hat nicht der Photograph - Nachfahr der Augurn und der Haruspexe - die Schuld auf seinen Bildern aufzudecken und den Schuldigen zu bezeichnen? »Nicht der Schrift-, sondern der Photographieunkundige wird, so hat man gesagt, der Anal- phabet der Zukunft sein.« Aber mufi nicht weniger als ein Anal- phabet ein Photograph gelten, der seine eigenen Bilder nicht lesen kann? Wird die Beschriftung nicht zum wesentlichsten Bestandteil der Aufnahme werden? Das sind die Fragen, in welchen der Abstand von neunzig Jahren, der die Heutigen von der Daguerreotypie trennt, seiner histonschen Spannungen sich entladt. Im Scheine dieser Funken ist es, dafi die ersten Photo- graphien so schon und unnahbar aus dem Dunkel der Grofi- vatertage heraustreten.


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Biblioghraphy

  • "Kleine Geschichte der Photographie", Die Literarische Welt, 7e j, n° 38, 18 septembre, p. 3-4; n° 39, 25 septembre, p. 3-4 et n° 40, 2 octobre 1931, p. 7-8, Walter Benjamin.




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