Psychology of French Literature  

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Psychologie der französischen Literatur (1884), (English: Psychology of French Literature) is a work by Eduard Engel.

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att NSI TI DOMIMINA NUSTIO ILLU MEA TAYI © N O ATAREP . F. 510 +8 A147 1| 11 ( !1 Pſychologie der Franzöſiſchen Literatur. } 1 } Pſychologie der S ranzöſiſchen Uiteratur Von Eduard Engel. Salon: The Bibliothek. Wien und Teſchen. K. k. Hofbuchhandlung Karl Prochaska. STITUTION TAYLOR LIBRARY 20 SEP 1954 UNIVERSIOF OXFORD Ule Rechte vorbehalten . Meinem lieben freunde Léon Dupleſſis, franzöſiſchem Vizekonſul in Königsberg, in herzlicher Verehrung zugeeignet . E. E. Berlin , im October 1884 . . Jnhalt. 1 28 30 67 81 95 112 123 İ. Die franzöſiſche Sprache II. Charakter der franzöſiſchen Literatur III . Literariſche Strömungen IV. François Rabelais ( 1483 – 1553) V. Michel de Montaigne (1533—1592) VI. Nicolas Boileau ( 1636 1711) VII. Der Herzog de la Rochefoucault ( 1613—1680 ) . VIII. Jean de Lafontaine ( 1621---- 1695 ) . IX . Corneille ( 1606—1684 ) . X. Molière ( 1622--1673) · XI. Montesquieu ( 1689–1755) XII. Voltaire ( 1694-1778) . XIII. Jean Jacques Rouſſeau ( 1712–1778) XIV . Diderot (1713-1784) XV. Beaumarchais ( 1731--1799) . XVI. Beranger ( 1780--1857) 137 144 160 173 195 209 220 230 Inhalt . 243 257 XVII. Alfred de Muſſet ( 1810–1857) . XVIII. Victor Hugo ( Geboren 1802) XIX. Ulerander Dumas Sohn ( Geboren 1824 ) XX. Honoré de Balzac (1799-1850) XXI. Emile Zola (Geboren 1840) 272 282 296 I. Die franzöſiſche Sprache. m Jahre 1783 ſetzte die königlich -preußiſche Aka : demie der Wiſſenſchaften ' zu Berlin, mit aller : höchſter Genehmigung friedrichs des Großen, einen Preis auf die beſte Urbeit über die Urſachen der Welt herrſchaft der franzöſijchen Sprache.“ Un der Thatſache dieſer Weltherrſchaft ſelbſt zweifelte damals weder die preußiſche Akademie mit ihrem franzöſiſchen Präſidenten , noch ſonſt eine gelehrte Anſtalt in Europa. Ein geiſts reicher franzoſe, der Graf Rivarol, gewann den Preis durch ſeine Schrift „ Ueber die Univerſalität der fran : zöfiſchen Sprache , " -- ein liebenswürdiges, bei all ſeiner philologiſchen Naivetät recht geſcheites Büchlein , welches heute mit Unrecht ſo gut wie vergeſſen iſt oder höchſt beſcheiden fortlebt durch ein ihm entnommenes Citat : „ Was nicht klar iſt, das iſt nicht franzöſiſch ." Engel, Pſychologie. 1 2 Die franzöſiſche Sprache. Rivarol ließ dieſen Satz mit lauter Initial- Buch. ſtaben drucken : er fühlte, daß er in ihm das Geheimniß der Weltherrſchaft des franzöſiſchen in knappen aber kräftigen Worten ausgeſprochen. Wer ſich von der natürlichen Abneigung des franzöſiſchen Sprachgeiſtes gegen alles Unklare, Verſchwommene überzeugen will, der verſuche einmal gewiſſe deutſche philoſophiſche Schrift: ſteller oder Dichter ins franzöſiſche zu überſetzen : Wörter: buch wie Satzbau werden es ihm unmöglich machen. Kant und Schopenhauer laſſen ſich überſetzen , -- Hamann und Hegel ſind der franzöſiſchen Sprache unzugänglich ; und das liegt keineswegs an ihrer ſogenannten „ Urmut“ . Es gibt keinen großen franzöſiſchen Schriftſteller, deſſen Werke eines Commentars zum vollen Verſtändniſſe bedürfeit. Welchen letzten Gründen die einzige Klarheit des franzöſiſchen zuzuſchreiben iſt, läßt ſich nur ahnen . Viele ſeiner andern guten Eigenſchaften : die Straffheit der Wortſtellung in erſter Reihe, die feine Nüancirung der Gewißheit und der Ungewißheit ( durch Indicativ und Subjonctiv ), dazu die Mehrzahl ſeines Wortvorrats hat es mit andern romaniſchen Sprachen gemeinſam , und dennoch übertrifft es ſie alle durch die Schärfe des Uusdrucks für Dinge wie für Gedanken . Die Quellen, aus denen das franzöſiſche bei ſeiner Entſtehung ſchöpfte, kennen wir : ſie waren vorzugsweiſe Latein und Celtiſch (Galliſch ). Über dem Latein wird ſchwerlich ein unbefangener Sprachpſychologe eine ganz beſondere Die franzöſiſche Sprache. 3 Klarheit zuſchreiben : weder ſeine formenlehre noch ſeine Wortſtellung, noch ſeine ſonſtige Syntar zeichnen ſich durch hervorragende Starrheit aus. Zahlreiche lateiniſche formen haben „ Nebenformen " ; die Wort: ſtellung, zumal die in der Poeſie, iſt alles andere nur nicht regelmäßig, und die Syntay weiſt annähernd ſo viele Ausnahmen wie Regeln auf. – Auch dem Cels tiſchen rühmen die Celtologen keine der höheren Eigen ſchaften des franzöſiſchen nach . Die Miſchung der beiden Sprachelemente iſt es geweſen, welche dieſes wunderbare Werkzeug menſch licher Geſelligkeit zu Stande gebracht: das lateiniſcheMate: rial, aufgenommen und verarbeitet von einem celtiſchen Volke, hat als Kreuzungsproduct eine Sprache erzeugt, welche bis vor Kurzem dieſelbe Rolle ſpielte , wie bis ins frühe Mittelalter das Latein. Wie ſo häufig, iſt es auch in dieſem Falle eine halbſinnloſe Phraſe geweſen , welche die Phyſiologie der franzoſen und ihrer Sprache verdunkelt hat : die Phraſe von der „ lateiniſchen Race“ , von den „ romaniſchen Völ kern " . Die franzoſen gehören nicht zur lateiniſchen Race, ſie ſind kein romaniſches Volk im ethnologiſchen Sinne, – ſo wenig wie Spanier, Portugieſen , Rumänen und franzöſiſche oder rhätiſche Schweizer „ Romanen “ ſind. Die franzoſen ſprechen zwar eine Sprache, welche überwiegend lateiniſchen Urſprungs iſt, mit einer Syntar, welche vielleicht celtiſch, ſicher nicht lateiniſch , noch weni: ger fränkiſch iſt; – aber in ihren Adern rollt das Blut, 1 * 4 Die franzöſiſche Sprache. welches die Jrländer Jrlands, die Gälen Schottlands, die „Welſchen “ von Wales zu ihren Stammesgenoſſen macht, vermiſcht mit einigen, aber ſehr wenigen Tropfen römiſchen Blutes. Daß der alte Udel frankreichs , aber nur dieſer, halbgermaniſch iſt, dürfte bekannt ſein . Die Engländer ſind germaniſirte Celten , die fran 30ſen latiniſirte Celten ; beide Nationen glänzende Bei: ſpiele deſſen, was ich „ geiſtige Racenkreuzung“ nennen möchte. Entgegen der landläufigen Meinung behaupte ich , daß die franzoſen von den Römern faſt nur das Roh: material ihrer Sprache empfangen haben, den Wortſchatz. Das iſt keine Kleinigkeit, denn die celtiſche Urſprache hat nur wenige hundert Worte, die mächtige fränkiſche Einwanderung noch nicht tauſend zum franzöſiſchen beigetragen ; alles Uebrige iſt römiſchen Urſprungs. Die griechiſchen und ſonſtigen Beſtandtheile der Sprache ſind verſchwindend an Zahl, ſelbſt gegenüber den celti . ſchen und fränkiſchen Ueberbleibſeln . Dagegen iſt das charakteriſtiſche Merkmal der franzö fiſchen Syntar, die Flare logiſche Wortfolge : Subject - Verbum Object, weder lateiniſch noch fränkiſch. Ob das franzöſiſche ſie dem Celtiſchen verdankt, wird nie entſchiedert werdeit ; aber daß das Celtiſche dieſelbe Wortfolge zur Regel hatte , iſt ein mehr als zufälliger Umſtand. Die jetzt gültige franzöſiſche Syntar ſtammt aus dem Ende des 16. Jahrhunderts ; ſolche Abſonder lichkeiten wie der Article partitif 3. B. ſind erſt damals feſter Sprachgebrauch geworden , und auch die Wort Die franzöſiſche Sprache. 5 ſtellung hat erſt um jene Zeit die letzten Spuren des fränkiſchen Einfluſſes abgeſtreift. Reun Kriegszüge hatte Cäſar in den Jahren 59—51 . Chr. gegen Gallien geführt, ehe er das mutige Volk unter die Botmäßigkeit des Imperium Romanum brachte; in Cultur und Sprache waren die Gallier bezwungen , das Wörterbuch Roms herrſchte von Pariſii bis Maſſilia, aber die innerſte Natur des Volkes , ſeine Volksſeele widerſtand dem äußeren Druck, ja der eigenen galliſchen „ Neuerungsſucht“, wie Cäſar ſie nannte. Und wer ſich überzeugen will, daß Gallien felbſt ſprachlich niemals ſo völlig von Rom unterjocht worden iſt, wie die andern Culturvölker romaniſcher Zunge, der vergleiche das Italieniſche und Spaniſche mit dem franzöſiſchen auch nur bezüglich des Wörter: buchs. Jch nenne z . B. formen wie padre gegenüber père, rè, rey gegenüber roi , vedere und ver, amare und amar gegenüber voir und aimer, gegenüber cher. Wer Latein kennt, erräth die meiſten italieniſchen und ſpaniſchen Vocabeln ; mit den franzö fijchen ſollte ihm das ſchwerer werden. Die franzöſiſche Sprache iſt genau ſo reich wie jede andere Culturſprache, d. h . die franzoſen können jeden ihrer Gedanken, jede ihrer Empfindungen genau ſo verſtändlich für franzoſen ausdrücken, wie Deutſche die ihrigen für Deutſche. Ob das Wörterbuch der französ ſiſchen Akademie in ſeiner letzten Auflage nur 27000 Wörter enthält gegenüber den 100000 Vocabeln des caro 6 Die franzöſiſche Sprache. engliſchen Wörterbuchs von Webſter oder den vielleicht 250000 des dermaleinſt zu vollendenden Grimm'ichen Wörterbuchs, was liegt daran ? Einem franzöſiſchen Schriftſteller haben die Worte noch niemals gefehlt, und man hat nicht gehört, daß die Redner der conſti tuirenden Nationalverſammlung während der franzö fiſchen Revolution , trotz der fülle der auf ſie einſtür menden neuen Ideen, um das treffende Wort verlegener geweſen wären , als die deutſchen Redner des frank furter Parlaments von 1848. Der Charakter des franzöſiſchen erſcheint nur dem Uuge des Lateinkundigen lateiniſch , dem Ohre eher griechiſch, wie auch ſeine ſtiliſtiſche Grazie weit mehr ans Griechiſche erinnert. Die feine, weltmänniſche Jronie hat ſchwerlich je zwei beſſere Sprachgefäße gefunden als das Griechiſche und das franzöſiſche. Die franzöſiſche Sprache iſt eine der demokratiſchſten Sprachen , nicht erſt ſeit der großen Revolution. Der Abſtand zwiſchen der Sprechweiſe eines franzöſiſchen Schriftſtellers und einer Verkäuferin in den Pariſer Centralhallen wenn ſie nicht bei ſchlechter Laune - iſt geringer als der zwiſchen der Sprache des deutſchen Adels und des niedern Bürgerſtandes. Und was das Wichtigſte: die Kluft zwiſchen der Schrift- und Druck : ſprache - und der geſprochenen Sprache aller Stände iſt in frankreich nicht annähernd ſo groß wie zwiſchen der Bücherſprache und der Umgangsſprache ſelbſt der gebildetſten Kreiſe in Deutſchland. Die geſellſchaftlichen Die franzöſiſche Sprache. beteren Kaſten beſtehen jenſeits der Vogeſen mindeſtens ſo ſtarr: geſondert wie diesſeits ; was ſie eint, das iſt die nämliche Sprache, an deren liebevoller Pflege alle Stände bewußt oder unbewußt mithelfen. In Deutſchland muß man ſchreiben und drucken laſſen, um von Ullen ver ſtanden zu werden ; wir ſprechen mindeſtens drei ſehr verſchiedene Sorten Deutſch, je nach der Bildungsſchicht, der wir angehören ; in frankreich ſind die Zeitung, das Buch nur die ſichtbare firirung deſſen, was das Ohr überall in faſt gleicher Vollendung vernimmt. franzöſiſch iſt vor allem die Sprache der Geſellig . keit ; es hat die Vorzüge und die fehler der Vorzüge dieſer ſeiner beſonderen Eignung. Die Geſelligkeit ver : langt Rückſichten, Opfer ; das ſtarke Wort könnte verletzen oder mindeſtens befremden : ſo tritt denn die feine Andeutung, die Verſchleierung ein , welche nichts unterdrückt, aber alles leiſe verhüllt. Die Sprache um gibt die Geſellſchaft mit einem Dunſtkreis billiger Höflichkeit, in welchem Empfänger wie Geber ſich gleichmäßig wohlfühlen . Durch dieſe fortgeſetzte Uebung und wechſelſeitige förderung haben die Franzoſen es wirklich dahin gebracht, daß es kaum einen Stoff gibt, er ſei noch ſo bedenklich, ja geradezu anſtößig , -- über den ſich nicht in guter Geſellſchaft ohne Anſtands: verletzung zur Not plaudern ließe. Man kann auf franzöſiſch alles ſagen, nicht weil die Sprache keuſcher iſt als andere, ſondern weil ſie abgeſchliffener, viel : deutiger, conventioneller iſt. Wer könnte ohne Ekel 8 Die franzöſiſche Sprache. die deutſche Ueberſetzung gewiſſer franzöſiſcher Romane des 18. , und nun gar des 19. Jahrhunderts leſen, - im franzöſiſchen Original find ſie zwar keine angenehme Lectüre, aber ſie ſind nicht ſo phyſiſch abſtoßend für Auge und Ohr. In welcher anderen Sprache als in der franzöſiſchen wäre Guſtave Droz’ » Monsieur, Madame et Bébé« möglich ?! Welch eine Preisgebung aller: intimſter Geheimniſſe einer werdenden familie, und dennoch wird kein Leſer bei der Lectüre unwillig ge: worden ſein : der Zauber der Sprache läßt ihn ver geſſen, welche tiefe Unkenſchheit ſich unter dem be: ſtechend anmutigen Gewande verbirgt. Jn einem Punkte ſcheint die franzöſiſche Sprache den Dienſt 311 verſagen : die zarteſten Gefühle des menſchlichen Herzens, zu deren Ausdruck ſelbſt das Deutſche das Lied benutzen muß, ſolche Gefühle, wie ſie uns aus Göthes, Heines , Uhlands, Storms, Eichen dorffs Liedern entgegenklingen, ſcheint das franzöſiſche nicht ausdrücken zu können . Jedoch das liegt nicht an der Spradze : nur die Kunſt poeſie frankreichs entbehrt dieſer tiefen Herztöne, und ſelbſt die Kunſtpoeſie nur in den letzten drei Jahrhunderten , erſt ſeitdem die franzöſiſche Poeſie ſich in den Dienſt des Hofes begeben und damit ihre urſprüngliche Innigkeit zum großen Theil eingebüßt hat. Bis ins 16. Jahrhundert hinein hatte die franzöſiſche Sprache auch in der Kunſtpoeſie alle die Eigenſchaften, die wir an der inſrigen rühmen . Hier eine Probe dafür, weiſen die franzöſiſche Sprache an Die franzöſiſche Sprache. 9 Innigkeit fähig iſt, oder doch einſt war, - ein einfaches Liebeslied, welches françois Villon ( 1431-1484) zu : geſchrieben wird : Adieu ! vous dis , la larme à l'oeil , Adieu, ma très gente mignonne, Adieu , sur toutes la plus bonne, Adieu ! vous dis, qui m'est grand deuil. Adieu, adieu, m’amour, mon vueil ( voeu) , Mon pauvre coeur vous laisse et donne , Adieu ! vous dis, la larme à l'oeil . Adieu , par qui du mal recueil (je recueille] Mille fois plus que mot ne sonne ; Adieu , du monde la personne Dont plus me loue et plus, me dueil. Adieu ! vous dis, la larme à l'oeil . Nein, Schuld der Sprache iſt es nicht, wenn fran zöſiſche Poeſie uns meiſt den Eindruck der Rhetorik macht ; es iſt vielmehr die Schuld der Abwendung der Dichter ſelbſt vom lanterſten Quell aller Poeſie : vom Volksliede. In der Volkspoeſie, verachtet und vergeſſen wie ſie iſt, zeigt die franzöſiſche Sprache, daß auch ſie eine echte Lyrik hätte hervorbringen können, wenn nicht ſeit den Tagen Malherbe’s , des Hofdichters Heinrichs IV. , die Schriftſteller die Aufgabe der Poeſie in dem mehr oder weniger bewußten Gegenſatz zur Volksdichtung geſucht hätten. so oft in der Zeit ſeit dem Jahre 1600, dem Erſcheinen von Malherbe’s Gedichten, ein Dichter volkstümliche Töne anſchlug , hat die Sprache ſich als ein williges Werkzeug dafür erwieſen. Was 10 Die franzöſiſche Sprache. fann es z . B. Jnnigeres und Entzückenderes geben , als das weltbekannte Liedchen des Pagen Cherubin in Beaumarchais „ Hochzeit des figaro" : Mon coursier hors d'haleine - (Que mon coeur, mon coeur a de peine ! ) J'errai de plaine en plaine , Au gré du destrier. Au gré du destrier, Sans varlet, n'écuyer ; Là, près d'une fontaine, - ( Que mon coeur, mon coeur a de peine ! ) Songeant à ma marraine, Sentais mes pleurs couler. Sentais mes pleurs couler. Prêt à me désoler, Je gravai sur un frêne - ( Que mon coeur, mon coeur a de peine ! Sa lettre sans la mienne . Le roi vint à passer. etc. etc. Uuch bei Victor Hugo finden ſich einige Lieder, deren Sprache durch ihren echtlyriſchen Tonfall jedes Herz rührt, und in den ſeltenen fällen, wo Alfred de Muſſet ſich an das Volkslied anlehnt, gelingen ihm ſolche Perlen wie das Lied fortunio's in » Le chandelier « , dem ein Deutſcher kein höheres Lob nacizurühmen weiß als : das könnte deutſch ſein Si vous croyez que je vais dire Qui j'ose aimer, Je ne saurais pour un empire Vous la nommer. Nous allons chanter à la ronde Si vous voulez, Que je l'adore , et qu'elle est blonde Comme les blés, Die franzöſiſche Sprache. 11

Je fais ce que sa fantaisie Veut m'ordonner, Et je puis, s'il lui faut ma vie , La lui donner. Du mal qu'une amour ignorée Nous fait souffrir, J'en porte l'âme déchirée Jusqu'à mourir . Mais j'aime trop pour que je die Qui j'ose aimer, Et je veux mourir pour ma mie Sans la nommer. Wenn wir Deutſchen uns trotzdem hartnäckig ein : bilden , die franzöſiſche Sprache ſei unfähig zu einer Lyrik, wie wir ſie im deutſchen Volksliede, in den Liedern Göthes beſitzen , nun, die folgenden Ueber: ſetzungen einiger deutſcher Liedeskleinodien , allerdings von einem Meiſter franzöſiſcher Ueberſetzungskunſt, mögen zeigen , daß wir der Sprache der franzoſen Unrecht tun , wenn wir ihr lyriſche Begabung oder kurzweg „ das Gemüt" abſprechen . Eduard Schuré hat in ſeinem vortrefflichen Buche über das deutſche Volkslied : » L'histoire du Lied« (Paris 1868) durch die Tat bewieſen, daß es eitel Vorurteil iſt, einer der wichtigſten Culturſprachen den lyriſchen Ton abzuſtreiten . Hier iſt z . B. das Göthe’ſche „ Dem Schnee, dem Regen, dem Wind entgegen “ Par la grêle et l'orage Par la foudre et l'éclair , Par l'abîme sauvage Par le ciel sombre ou clair , 12 Die franzöſiſche Sprache. Par la neige et le vent En avant ! en avant ! Plutôt souffrir, Mille douleurs Que de subir Tant de bonheurs . Oh ! les faiblesses Qu'ont les coeurs pour les coeurs, Que d'étranges tristesses Dans leurs douceurs ! Die Ueberſetzung läßt an Treue zu wünſchen , - aber kann man in ihrer Sprache den Ton tiefſter Empfindung vermiſſen ? Hier ferner einige Strophen aus dem „ Sänger" : „ Was hör ich draußen vor dem Thor " Qu'entends- je aux portes du castel ? Un luth vibrant qui sonne . Quel est ce joyeux ménestrel Dont le doux chant résonne ? Le roi le dit , le page y va , L'enfant accourt, le roi cria : Qu'on fasse entrer le barde . Salut à vous, nobles seigneurs, Salut, ô belles dames. Quel firmament ! que de splendeurs ! Que d'or et que de flammes ! Mais sous ces lustres éclatants Fermons les yeux ; il n'est pas temps D'admirer ces merveilles . Je suis l'oiseau , le gai chanteur De la forêt immense. Le chant qui jaillit de mon coeur, Voilà ma récompense ! Mais veux tu me combler encor, Qu'on me verse en ta coupe d'or Le vin aux flots de pourpre . Die franzöſiſche Sprache. 13 Daß ein Lied von der Gemütsinnigkeit wie in Schenkendorffs freiheit, die ich meine, Die mein Herz erfüllt“ fich auf franzöſiſch wiedergeben laſſe, welcher Deutſche möchte das glauben ? Klingt aber Liberté que j'aime Qui remplit mon coeur – wirklich ſo ſehr viel weniger gemütvoll und echtlyriſch als das Original ? – Und iſt ein großer Unterſchied zwiſchen dem ſtiirmiſchen Schwunge des Urndtſchen „ Der Gott, der Eiſen wachſen ließ “ und der franzö: fiſchen Nachahmung ? - : Le Dieu qui fit pousser le fer N'a pas voulu d'esclaves , Il mit pour foudre et pour éclair Le glaive au poing des braves. Il mit l'audace dans leur coeur Le verbe dans leur bouche ; Il fit à l'homme un front sans peur Jusqu'à la mort farouche. O monte, monte, feu sacré En flamme triomphante ! Notre étendard est arboré, La liberté le plante . Exaltez vos coeurs jusqu'au ciel , Levez-vous tous , courage ! Jurez d'un élan fraternel : „ Il n'est plus d'esclavage ! " So könnte ich wohl noch ein Dutzend tiefempfun. dener deutſcheſter Lieder in franzöſiſcher Wiedergabe vorführen ; aber ich hoffe, der Leſer hat aus dieſen wenigen Proben ſchon ſo viel gemerkt, - wenn er es noch nicht gewußt haben ſollte , — daß die franzöſiſche 14 Die franzöſiſche Sprache. Sprache nicht bloß die Sprache der Salons, der Diplos matie und der Kochkunſt iſt, ſondern ſich zum Ausdruck faſt alles deſſen eignet, was wir für ein ausſchließliches Erbrecht unſerer Nation zu betrachten erzogen werden. Daß die franzöſiſche Nationalliteratur nicht oft genug von dieſer Eigenſchaft ihrer Sprache Gebrauch macht, ſteht auf einem anderen Blatt ; das hängt mit der poetiſchen Stimmung des Volkes und ſeiner Dichter zuſammen, — die Sprache iſt unſchuldig daran. Dieſe poetiſche Stimmung iſt allerdings grundver: ſchieden von der deutſchen ; aber darüber nütt ein Streit ſo wenig wie über den größeren Reiz dunkler Augen oder blauer Augen. Es iſt nicht jedem Volke gegeben, über ein Lied wie : „ Maikäfer, fliege, Dein Vater iſt im Kriege“ Tränen aufrichtiger Rührung zu vergießen , und nur Deutſche fragen ſich bei einer beſonders heiteren Luſtfahrt ganz ernſthaft : Ich weiß nicht, was ſoll es bedeuten , Daß ich ſo traurig bin ? Das franzöſiſche iſt, außer durch ſeine Klarheit, berühmt durch ſeine Höflichkeit. Uuch hier liegt eine Verwechſelung von Urſache und Wirkung vor : es gibt keine noch ſo höfliche Redensart, die ſich nicht aus eleganteſtem franzöſiſch in eleganteſtes Deutſch über ſetzen ließe. Uber dem franzoſen iſt dieſe Redens: art die Scheidemünze des gewöhnlichen Lebens, und zwar in folge einer jahrhundertlangen geſellſchaftlichen Erziehung ; dem Deutden iſt ſie ein vollwichtiger Henkel Die franzöſiſche Sprache. 15 dukaten , den man ungern wechſelt. An der Sprache kann ein aufmerkſames Ohr mehr Culturgeſchichte, ja ſelbſt politiſche Geſchichte lernen , als aus dicken Büchern mit Jahreszahlen. Die Sprache iſt das Echo der Volksſeele. Das franzöſiſche iſt eine höfliche, aber keine knech : tiſche Sprache. Man kann in ihr beim beſten Willen nicht untertänigſt erſterben " und nur annähernd fo etwas wie „allergnädigſt geruhen “. Selbſt zur Zeit des ſchrankenloſeſten Despotismus, unter Ludwig XIV. wie unter Napoleon I. , hat der ſchnörkelhafte Byzan tinerſtil im Verkehr mit dem Monarchen , wie wir ihn von dem öſterreichiſch -römiſch-deutſchen Kaiſertum leider übernommen haben, keine Nachahmung gefunden. Die franzöſiſche Sprache hätte auch das , wie alles andere, geleiſtet, der Volksgeiſt ließ es nicht zu . Man ver: gleiche einmal Briefe Molière's an Ludwig XIV. , oder Beaumarchais' an Ludwig XV. und XVI. mit der entſprechenden Correſpondenz deutſcher Schriftſteller ! Ein Brief Molière's an den König in Sachen der Auf: führung des „ Tartuffe" beginnt einfach und würdig : „ Sire, die Pflicht der Komödie beſteht darin , u . 1. w. , und ſchließt: „ Mir genügt es, meine Intereſſen in den Händen Eurer Majeſtät zu wiſſen, und ich erwarte von ihr, mit Achtung ( ! ), alles was ihr darüber zu befehlen gefallen wird. Molière.“ Sehr merkwürdig iſt ein gewiſſer ſprachlicher Ata : vismus im franzöſiſchen, eine Art von Rückfall aus 16 Die franzöſiſche Sprache. dem höchſtgeſteigerten Schliff in plumpe Rohheit. In der beſten Pariſer Geſellſchaft kann man alltäglich Wörter hören, bei denen ſich einem Nichtfranzoſen, zu: mal einem Engländer oder Deutſchen, die Haare ſträuben. Ein ſehr wohlſchmeckendes Backwerk 3. B. heißt im franzöſiſchen » pet de nonne« ; ein leichter Hausrock: » pet en-l'air « , und das Wunderbarſte iſt, daß dieſe foſſilen Ueberbleibfel einer derberen Zeit dem Gehege der zier. lichſten Damenzähne ohne jedes Bedenken entſtrömen. — Zahllos ſind ferner die Zuſammenſetzungen mit dem Worte für einen der unentbehrlichſten Körperteile. Was hat Voltaire geeifert gegen dieſen häßlichen Miß brauch der » Welches« , wie er ſeine franzoſen nannte , wenn er recht böſe auf ſie war ! Es hat ihm gar nichts geholfen : nach wie vor lieſt, ſchreibt und ſpricht alle Welt in Frankreich von » cul de sac « , » cul de lampe« , » cul de jatte « , und was folcher ſchamlosdrolligen Zuſamutenſetzungen mehr find . Das Wort Cam bronne's in der Schlacht bei Waterloo hat bekanntlich ganz anders und zwar viel kürzer gelautet als das claſſiſche, aber leider dem Treppenwitz der Welt geſchichte zuzuſchreibende : „ Die Garde ſtirbt, aber ſie ergibt ſich nicht . " – Welchen abſcheulichen Mißbrauch ſelbſt gebildete franzoſeit mit Worten wie bigre, bougre und noch ſchlimmeren fortwährend begehen, ſei nur angedeutet. Entſchuldbarer, aber immerhin bezeich niend für die zu Grunde liegende Denkart iſt die Offen : heit des Uusdrucks für ſehr berechtigte, aber in der Die franzöſiſche Sprache. 17 Umgangsſprache andrer Länder vermiedene oder behut : ſam umſchriebene Zuſtände : eine franzöſin trägt kein Bedenken, von ihrer grossesse zu ſprechen, und in der beſten Bücherſprache kommt das rückſichtsloſe enceinte vor, wo der Engländer kaum vom in the family way zu ſprechen wagt, der Deutſche ſich mit dem poetiſchen ,,fich -Mutter- fühlen “ aus der Verlegenheit hilft . Ein fra nzofe hat das Wort : »j'appelle un chat un chat geſchrieben, man muß der Literatur der franzoſen das zu Gute rechnen , was durch die naivere Denkweiſe des Volkes über viele natürliche Dinge ſeine Ent ſchuldigung findet. Die „ Univerſalität“ des franzöſiſchen, welche im 18. Jahrhundert Rivarol ihr mit Recht zuerkannte, iſt faſt ſo alt, wie die franzöſiſche Literaturſprache über haupt. Das älteſte Poeſiedenkmal frankreichs, die Chanſon de Roland, ſtammt aus der Zeit zwiſchen 1050 und 1100 , und ſchon zweihundert Jahre ſpäter verfaßte Dante's Lehrer, der Italiener Brunetto Latini, ein encyklopädiſches Werk in franzöſiſcher Sprache , weil, wie er ſelbſt in der Einleitung ſagte, dieſe , die in Europa am allgemeinſten bekannte Sprache“ ſei . Von welchem weltbeherrſchenden Einfluß franzöſiſche Literatur und Sprache im Mittelalter, ja bis tief ins Engel, Piychologie. 2 18 Die franzöſiſche Sprache. 16. Jahrhundert hinein geweſen ſind, lehrt jede Litera: turgeſchichte. Alle Welt weiß, wie ſehr die politiſche Centraliſa tion in Frankreich zu Befeſtigung und Ausbildung der Sprache beigetragen. Seit den früheſten Zeiten fran zöſiſchen Literaturlebens ſehen wir, wie die eigentliche franzöſiſche Sprache, die langue d'oïl, die Sprache Nordfrankreichs und beſonders der Isle- de- France alle anderen Dialecte unterdrückt, auch ſolche, die ſich ſchon literariſch ausgeprägt hatten : das Picardiſche und das Burgundiſche. Nachdem vollends durch den entſetzlichen Vernichtungskreuzzug gegen die provençaliſchen Albi genjer die Literaturblüte der langue d'oc, die poeſie und Sprache der Troubadours ausgerottet oder zum ver achteten Patois erniedrigt worden, gab es für die Allein herrſchaft des Nordfranzöſiſchen keine Nebenbuhler und keine Schranken mehr. Wie ganz anders in Deutſchland, wo ja eigentlich erſt durch Luthers deutſche Bibel eine gemeinſame deutſche Sprache geſchaffen wurde, und auch da zunächſt nur für die Leſenskundigen . Die Erhebung der franzöſiſchen Sprache zum Range eines internationalen Verſtändigungsmittels, zur Diplomatenſprache, erfolgte um die Zeit, in welcher frankreich ſeine ,, claſſiſche Literaturperiode ſah, als Boileau durch ſeine Lehre, Corneille durch ſein Beiſpiel eine Art von Canon der Sprache begründeten . Seit dem friedensvertrage von Nymwegen ( 1679) hat das Latein endgiltig aufgehört, die Sprache vertragſchließender Die franzöſiſche Sprache. 19 Mächte zu ſein, und noch bis zur Stunde werden friedens- oder handelsverträge zwiſchen zwei Ländern verſchiedener Zunge in franzöſiſcher Sprache abgefaßt. Nur im diplomatiſchen Notenverkehr iſt in neuerer Zeit das Verfahren eingetreten , daß ſo ſelbſtbewußte Regirungen wie die deutſche und die engliſche an den franzöſiſchen Miniſter des Auswärtigen in ihren Landes: ſprachen ſchreiben : die erſte Breſche in das Bollwerk der „ Univerſalität der franzöſiſchen Sprache“ . Daß aber nach wie vor die Sprache vieler, wenn nicht aller, deutſcher Höfe und höfchen, und zwar nicht bloß im Verkehr mit Uusländern, ganz ohne Not die fran: zöſiſche geblieben iſt, ſoll nicht verſchwiegen werden ! -- Rivarol, der beiläufig als Flüchtling der Revolution in Berlin geſtorben iſt, ſagt in ſeiner ſchon erwähnten Schrift: „ Von den Deutſchen hat Europa gelernt, die deutſche Sprache gering zu ſchätzen . “ Bitteres Wort, und leider noch heute zum Theil berechtigt. Die franzoſen , dieſe feingebildeten Chineſen Eu: ropas , könnten uns durch ihr Beiſpiel lehren , wie man ſeiner Mutterſprache Uchtung und Verbreitung ver ſchafft. Ihre Selbſtgenügſamkeit und Selbſtbewunderung hat um ihr geiſtiges und namentlich ihr literariſches Leben eine chineſiſche Mauer aufgetürmt, hinter welcher ſie nunmehr ſeit drei Jahrhunderten ein höchſt zufriedenes Leben führen und ihre Sprache zu jener feinheit künſtleriſcher Uusbildung gebracht haben. Der fran: 30ſe vor dem Kriege von 1870 kümmerte ſich um die 2* 20 Die franzöſiſche Sprache. lebenden fremden Sprachen ſo gut wie gar nicht, und noch heute iſt die Kenntniß fremder Literatur in frankreich das ausſchließliche Beſitztum einiger Spezialiſten . Auf keinem Theater in Paris - dieſem „ Hirn der Welt" nach Victor Hugo ! – wird ein Stück von Shakeſpeare, von Schiller oder von einem der Spanier aufgeführt. Nicht aus nationaler Ruhmredigkeit, ſondern zur Her vorhebung einer einfachen volkspſychologiſchen Tatſache führe ich an, daß jüngſt in Berlin an einem und dem : felben Abend an fünf verſchiedenen Theatern aufge: führt wurden : „ Was ihr wollt“ von Shakeſpeare „ Donna Diana “ von Moreto, „ Der Richter von Zalamea " von Calderon, „ Der Reviſor“ von Gogol, und „ feenhände“ von Scribe. Die franzoſen haben aus dieſer anſcheinenden nationalen Schwäche viel von ihrer literariſchen und ſprachlichen Kraft gezogen , und es iſt ſehr fraglich, ob die jetzt angebahnte officielle Erlernung von fremd ſprachen den zukünftigen Schriftſtellern frankreichs mehr Gewinn als Einbuße an mutterſprachlicher Bildung bringen wird ! In Deutſchland ſind wir jetzt glücklich ſo weit , daß man im geſellſchaftlichen Verkehr die Bildung eines Mannes und nun gar einer Dame ! Maße der Kenntniß fremder Sprachen abſchätzt; in frankreich gilt heute wie vor zweihundert Jahren die Vollkommenheit in der Handhabung der Mutter: ſprache als edelſter Beweis für die Zugehörigkeit zur nach dem Die franzöſiſche Sprache. 21 geiſtigen Uusleſe der Nation. Ich ſchwanke keinen Nugenblick, mich in dieſem Punkte für die franzöſiſche Uuffaſſung zu entſcheiden. In feinem andern Lande der Welt huldigt man ſo ſehr wie in Frankreich dem Grundſatz, daß es kein einziges beſſeres Erziehungs: und Bildungsmittel gibt als die Mutterſprache und wieder die Mutterſprache. So ernten denn die fran: zoſen in der Weltbedeutung ihrer Sprache nur das , was ſie weiſe gefäet haben . Einem ſolchen in ſich kern geſunden Princip verzeiht man ſelbſt einige Ausſchrei tungen . Dem Durchſchnittsfranzoſen gilt jede fremde Sprache als ein wüſtes »baragouin « (Kauderwälſch) oder ein » charabia « , d. h. wenn ſie unter ſich ſind, denn bekanntlich gibt es keine nachſichtigeren und gedul: digeren Zuhörer des Radebrechens der Mutterſprache als die franzoſen. freilich ſo weit gehen ſie darin nicht, wie wir Deutſchen , die wir unbegreiflicher Weiſe einen beſonderen Reiz an der Deutſchverderbung im Munde von Uusländern entdecken und dennoch ganz gemütlich fingen : „Mutterſprache, Mutterlaut, Wie ſo wonnejam , jo traut !" Die franzoſen in Canada ſprechen noch hente, nach zwei Jahrhunderten, ihr altes franzöſiſch, wie viele Deutſche in NewYork oder Milwaukee vermögen nach zehnjährigem Aufenthalt drübeni ' noch einen Satz in richtigem Deutſch zu ſchreiben, wenn ſie ſich nicht über 22 Die franzöſiſche Sprache. haupt ihrer fo wonneſamen und ſo trauten Mutter ſprache ſchämen ! In Frankreich fingt man nichts dem ſchönen Schenkendorff'ſchen Liede Uehnliches , aber man lernt ſeine Sprache von früheſter Jugend bis ins Mannes: alter, und zwar nicht nur ſolche formalien wie die ,, ſtarke “ oder „ ſchwache" Conjugation, wie in Deutſch land, ſondern alle heimlichkeiten der Sprache, ihre zar : teſten Eigenheiten , ihre Höhen und Tiefen . Wie kläg . lich nimmt ſich der Unterricht im Deutſchen an einem unſerer Gymnaſien aus neben dem im franzöſiſchen an einem Lycée ! Und wie noch kläglicher die auf vielen Unſtalten erzielten Reſultate ! Ein über allem Zweifel erhabener Zeuge, Karl Hillebrand, ſagt in dem Muſter werk unparteiiſcher Volfspſychologie , frankreich und die franzoſen" über dieſen Punkt: „ Ein franzöſiſcher Pri : maner ſchreibt ſeine Sprache geſchmackvoller, componirt namentlich ſeinen Aufſatz gefälliger und überſichtlicher, als mancher deutſche Schriftſteller ." Er hätte hinzufügen können : „ und graminatikaliſch richtiger.“ Es klingt wie eine Trivialität und iſt doch der Auszug jeglicher form kritik , was Boileau aus dem Herzen aller franzöſiſchen Schriftſteller mit den Verſen geſagt: » Sans la langue , en un mot, l'auteur le plus divin Est toujours, quoi qu'il fasse, un méchant écrivain . « Als Muſſet einſt das ungeheure Verbrechen beging, in einem Verſe » tu es « zu ſchreiben , was nach fran zöſiſcher Verskunſt des Hiatus wegen ſtreng verpönt Die franzöſiſche Sprache. 23 er iſt, hielt er es für nötig, ſich in einer ganzen Strophe deswegen ſcherzhaft zu entſchuldigen. Ach , kein deutſcher Schriftſteller entſchuldigt ſich , wenn er nach einem Com parativ ,wie " ſtatt „ als " geſetzt, ſondern beruft ſich , bei Vorhaltungen darüber, auf Schiller und Göthe ; aber er würde ſich für entehrt halten, wenn er in einem franzöſiſchen Brief 3. B. geſchrieben hätte : »J'ai plus que quarante ans. « Daß unſer Zeitungsdeutſch nachgerade zum Himmel ſchreit, wiſſen wir alle . Jn frankreich wäre der letzte Winkelblattredacteur ſofort um ſein Brot, wenn nicht mindeſtens grammatiſch richtiges franzöſiſch -- oft ſeine ganze geiſtige habe - beſäße. Ein deutſcher Redacteur weiß in 9 von 10 fällen eher, daß quoique den Subjonctiv regiert, als daß nach „ und“ im Deutſchen keine Inverſion zuläſſig iſt. ") Nicht nur im Punkte der nationalen Abſchließung gleichen die franzoſen auffallend den Chineſen , ſie ähneln ihnen auch durch die Einſeitigkeit, mit der ſie in der Erlernung ihrer Mutterſprache den Anfang und das Endziel ihrer nationalen Bildung ſehen. Bis in die unteren Schichten der Bevölkerung hinein kann man die freude an der eigenen Sprache wahrnehmen ; man ſetzt eine Ehre drein , ſich gewählt auszudrücken. Die ſtillſchweigende Vorausſetzung jeder literariſchen Betätis gung iſt in frankreich die, daß man vorzügliches fran 1 ) Dieſer Fehler findet ſich ſogar in der deutſchen Reichsver: faſſung ! 24 Die franzöſiſche Sprache. zöſiſch ſchreibe. Nicht einen Gegenſatz dazu, ſondern die Beſtätigung bildet die komiſche Tatſache, daß faſt jeder franzöſiſche Schriftſteller oder Kritiker vom andern behauptet, er verſtehe nicht franzöſiſch. Ohne Schulzwang, bei 50 procent Unalphabeten, ſteht frankreich dennoch in der ſprachlichen Bildung hoch über den andern großen Culturnationen . Die Sprache iſt mehr als irgendwo ſonſt das geiſtige Band der ganzen Nation ; es iſt nicht zu ermeſſen, wie viel zu dem ſchnellen, allgemeinen Umſichgreifen neuer Ideen, und allerdings auch revolutionärer Bewegungen, in frankreich dieſe faſt gleichmäßige ſprachliche Durchbil dung des Volkes beigetragen. Dabei will ich nicht zu er wähnen unterlaſſen, daß von den 37 Millionen Ein: wohnern frankreichs 11 Millionen noch eine andere Sprache als franzöſiſch ſprechen , und zwar hiervon die Mehrzahl neuprovençaliſch. Die „ Ukademie “, von deren Nachahmung man in einigen Kreiſen Deutſchlands das Heil erwartet, hat in frankreich wenig zu dem hohen Stande der Sprachcultur beigetragen . Die wahre Ufademie der franzöſiſchen Sprache war ſtets und iſt noch heute der ſprachliche Künſtlerſinn der Schriftſteller. Die Akademie iſt eine ſchöne Decoration , oder vielmehr ſie iſt ein Symbol: nicht die Afademie hat die franzöſiſche Sprache fünft. leriſch ausgebildet , – ſondern der künſtleriſche Sprach. ſinn der Nation fand ſeinen ſymboliſchen Ausdruck in dieſer Schöpfung Richelieu's. Gefördert hat die Uka Die franzöſiſche Sprache. 25 demie zu keiner Zeit weder die Literatur noch die Sprache; ſie hat alles Neue, Hervorragende zuerſt ver dammt, und niemals war ſie wirklich der Sammel, punkt der größten Schriftſteller Frankreichs. Nicht zur Ukademie gehört haben unter andern : Descartes , Pascal, La Rochefoucault, Molière, — Rouſſeau, Diderot , Beau marchais, — Béranger, Balzac, Flaubert. Daß Alphonſe Daudet nicht Mitglied iſt, wiſſen die Leſer vielleicht ebenſo wenig, wie daß -- der Herzog von Uumale Mit glied iſt. Die Akademie iſt das conſervativſte Inſtitut frankreichs : ſie hinkt der ſprachlichen Entwickelung meiſt um einige Menſchenalter nach. So hat ſie z . B. die Einführung des Circumfleres erſt im Jahre 1740 gutgeheißen , nachdem er ſchon über zwei Menſchenalter im Gebrauch geweſen . Uehnlich verfährt ſie bei der Uufnahme von neuen Wörtern, von denen kein Menſch außer ihr mehr fühlt, daß ſie Neubildungen ſind. Man kann die Akademie feinesfalls eine Entſcheidungsbehörde in ſprachlichen Streitfällen nennen , denn ehe ſie über irgend eine Frage ſchlüſſig wird, hat der Sprachgebrauch der Schriftſteller und der gebildeten Leſer längſt ent ſchieden . Nein, nicht die Akademie iſt es, welche der französ fiſchen Sprache ihre hohe Ausbildung gegeben ; es iſt auch keine vor andern Sprachen bevorzugte natürliche Beſchaffenheit der franzöſiſchen , welche ihr die Welt: herrſchaft errungen , ſondern einzig die politiſche, litera riſche und allgemein culturelle Bedeutung der französ 26 Die franzöſiſche Sprache. ada fiſchen Nation. Un Wohlklang und Leichtflüſſigkeit wird ſie vom Stalieniſchen, an Beweglichkeit und freiheit vom Deutſchen, an Energie vom Engliſchen , an Wortreichtum von den meiſten Culturſprachen übertroffen. Die franzöſiſche Sprache verdankt ihren Hauptvorzug : die Klarheit, auch nicht etwa dem ſo oft betonten analytiſchen Charakter ihres Gefüges. Anas lytiſch ſind alle romaniſchen Sprachen , und auch das Engliſche iſt es ſo ſehr, daß franzöſiſch daneben wie eine der „ alten Sprachen “ ſich ausnimmt mit ſeinen vielen flexionsformen, namentlich beim Verbum. Selbſt das Deutſche wird vom franzöſiſchen in der Auflöſung der flerionsformen nicht übertroffen : formen wie j'aimerai und j'aimerais müffen im Deutſchen durch ana: lytiſche Umſchreibungen erſetzt werden ; der Subjonctip ſtirbt bei uns mehr und mehr ab, das Participium iſt bei uns ſchon geſchlechtlos, und was dieſes Uufgebens der flerion mehr iſt. Man ſollte ſich überhaupt entwöhnen, in der Sprache die Erklärung für die Richtung der Volksſeele zu ſuchen, vielmehr iſt die Denkart einer Nation beſtimmend für die Richtung ihrer Sprachentwicklung. Die fran: 30ſen ſind ein rationaliſtiſch , nüchtern , phantaſielos dent: kendes Volk ; fie legen ihre Gedankenwege behutſam zurück und ſetzen den fuß nicht eher vorwärts, als bis der durch den letzten Schritt gewonnene Boden geſichert iſt. Der franzoſe bildet daher keinen längeren Satz, als die leichte Ueberſichtlichkeit zuläßt; er fällt nicht Die franzöſiſche Sprache. 27 aus der Conſtruction “, weil der vorangegangene Satz abgeſchloſſen iſt, bevor der Nebenſatz beginnt; er läßt das Verbum nicht ſo lange in der Luft ſchweben , bis alle andern Satzangelegenheiten wohlgeordnet ſind, mit einem Wort : er ſpricht klar, weil er klar denkt. Der Umſtand, daß es auch einige franzoſen gibt, welche unklar ſchreiben, beweiſt, daß es nicht auf die Sprache allein ankommt. Ja, man kann ein Herrſcher der frant zöſiſchen Sprache ſein und dennoch ſo unklar ſchreiben , wie nur irgend ein deutſcher Philofoph und Romantiker, Victor hugo iſt ein Meiſter auch dieſer Kunſt. Ob übrigens nicht auch die längere Herrſchaft der Cenſur in Deutſchland zur Verjumpfung des Denkens und ſomit zur Trübung des ſprachlichen Uusdrucks bei : getragen , iſt eine wohl aufzuwerfende frage. II. Charakter der franzöſiſchen Literatur. eine Literatur iſt ein ſo deutliches Ubbild der ethno logiſchen Geſchichte eines Volkes, wie die franzö : fiſche. Die Geſchichte der Literatur frankreichs iſt die Geſchichte des Kampfes zwiſchen celtiſchem Geiſt und römiſchem Geiſt. Wie bei einem ſchönen anatomiſchen Präparat kann man die beiden neben einander oder durch einander laufenden Nervenfäden des zweifarbigen Gewebes verfolgen . Hier und da zeigen ſich ſchwache Spuren eines dritten, fremden Elements, des germa: niſchen : ſo athmen namentlich die älteſten epiſchen Heldendichtungen der franzoſen, die Chansons de geste, germaniſches Leben ; jedoch nach einer einmaligen üppigen Blütezeit iſt es mit dieſer Epik für immer vorbei , und Voltaire, welcher von der Literatur des Mittelalters keine Ahnung hatte, durfte mit einigem Recht ſagen : die franzoſen haben keinen epiſchen Kopf. Charakter der franzöſiſchen Literatur . 29 Die franzoſen fühlen ſelbſt ſehr wohl dieſes Zwie: ſpältige ihrer Literatur (und auch der bildenden Künſte ). Sie nennen mit offenbarem Racebewußtſein alle Er ſcheinungen , welche ihnen als der unverfälſchte Ausdruck nationaler Empfindung gelten, - : gaulois. „ Welch ein robuſter Gaulois ! " ſagen ſie von Rabelais ; „ welche reizende Gauloiſerie“ ! lautet das Urteil über die Er: zählungen Lafontaine's. - für den Gegenſatz zum Genre » gaulois « haben ſie kein ſo ſcharf ausgeprägtes Wort ; ſie ſchwanken zwiſchen „claſſiſch“ , „ akademiſch “ und ähnlichen äſthetiſchen Uusdrücken . Die richtigſte Bezeichnung wäre : „ römiſch " ! Noch weniger als in der Sprache iſt in der Lite ratur die Eroberung Galliens durch die Römer jemals eine vollſtändige geweſen. In den erſten Jahrhunderten nach der Beſitzergreifung durch Cäfar gab es zwar einige Gallier, welche ſich ihrer Nationalität gänzlich entäußernd römiſche Proja und Verſe ſchrieben : ſo Uuſonius, um den talentvollſten zu nennen ; aber ſie teilen das Schickſal aller ſolcher literariſchen Ueberläufer, mehr ein culturhiſtoriſches als ein poetiſches Intereſſe zu erregen . Nur oberflächliche Voreingenommenheit kann in der franzöſiſchen Literatur im Ganzen betrachtet eine Nachahmung oder fortſetzung der römiſchen finden . Scheinbar iſt die lange periode vom Ende des 16. Jahr hunderts bis in die Mitte des 18. eine römiſche Periode der Literatur, etwa wie ein Durchbruch des lange latent 30 Charakter der franzöſiſchen Literatur. gebliebenen römiſchen Blutgiftes. Aber nur ſcheinbar: jene römiſche Periode trat nicht in folge eines unwider: ſtehlichen Dranges der Geiſter ein, ſondern ſie war durch die Renaiſſance des Altertums in ganz Europa vorbereitet, durch einige rein formale Neuerer gepredigt und endlich durch das Beiſpiel eines gejchmackloſen, unliterariſchen Monarchen zur herrſchenden Hofmode erhoben worden, welche verſchwand, nachdem ſein mon : archiſches Syſtem verſchwunden war. Man könnte eher behaupten, daß die franzoſen von allen großen Cultur: völkerit am wenigſten den Einfluß des wahren Geiſtes des claſſiſchen Altertums geſpürt haben, daß ſie ihre eigene Literaturrichtung, wenige Schwankungen abge rechnet, am ſtrengſten innegehalten haben, vom Uus gang des Mittelalters bis auf unſere Tage. Wie denn überhaupt grindliche Kenner der franzoſen lehren, daß es wenige Völker gibt, die ſo wenig den Kernbeſtand ihrer geiſtigen Nationalität ändern , mögen ſie auch noch ſo oft mit den äußeren formen in Staat und Cultur wechſeln . So war auch die lange „ römiſche Periode“ unter den beiden Ludwigen ( XIV. und XV. ) nur eine ganz äußerliche Nachahmung falſchverſtandenen Römertums, und auch die hat ſich, gemäß dem damals vollendeten Abſolutismus und Centralismus, auf Paris oder genauer geſprochen auf die hofgeſellſchaft und ihr literariſches Gefolge beſchränkt. Sobald der äußere Zwang eines den Römer ſpielenden Monarchen aufhört , bricht der unverfälſchte galliſche Geiſt mit ungeſchwächter Charakter der franzöſiſchen Literatur. 31 Kraft wieder hervor : man ſtelle ſich die Entwickelung dar von Corneille über Molière, Voltaire auf Beau: marchais, und man ſieht, wie die ſiegreich bleibende Ten : denz der franzöſiſchen Literatur die galliſche war und iſt. Die Spuren, welche das römiſche Beiſpiel in der Poeſie frankreichs zurückgelaſſen, find überwiegend auf formalem Gebiet zu finden und werden weiterhin er: wähnt werden . Was iſt denn nun der literariſche Gaulois , was die berühmte oder berüchtigte Gauloiserie ? In neueſter Zeit verſtehen einige franzöſiſche Aeſthetiker darunter das Vorwalten des geſchlechtlichen Wikes, ſo daß alſo » Gauloiserie « faſt gleichbedeutend wäre mit » Polisson nerie « . Nichts kann einſeitiger und hiſtoriſch falſcher ſein als dieſe Auffaſſung. Es gab ausgezeichnete Ver: treter des echtgalliſchen Geiſtes, denen geſchlechtlicher Cynismus fernab lag , wie z . B. Montaigne, — andere Schriftſteller, auf deren Namen die Brandmarke der ſittlichen Rohheit ruht, haben keine Spur von echtem Gauloistum aufzuweiſen, fo Crébillon. Der Gaulois iſt kein ſo einfaches Weſen, wie man nach dem allerneueſten Sprachgebrauch meinen ſollte. Ich erblicke in dem Mangel an Ernſt das Hauptmerk: mal des ſpecifiſchen Galliertums in der Literatur. Der Gaulois will nichts beweijen , ſondern er will den Gegen: ſtand nur von allen Seiten betrachten und dann über ihn ſpotten. Dieſer Spott iſt gelinder oder ſchärfer, je nach dem Temperament, aber er fehlt bei keinem 32 Charakter der franzöſiſchen Literatur. wahren Vertreter der Nationalliteratur. Durch alle Jahrhunderte hindurch hört man ein helles Auflachen in der franzöſiſchen Literatur ; nur von dem Schriften: tum der Zeit nach 1870 behaupten viele franzoſen, daß die gaité - ein anderes Wort für gauloiserie aus ihr entſchwunden ſei. Man iſt jetzt bei unſern Nachbarn zur Linken ſcheinbar ſehr ernſt geworden, und der ſimpelſte Roman ſpielt ſich jetzt auf das „ Wiſſen ſchaftliche" und ,, Experimentelle" hinaus ; doch zweifle id gar nicht daran, daß die Unverwüſtlichkeit des celtiſchen Leichtſinns wieder die Oberhand gewinnen wird. frank. reich hat ſchon öfter ſolche kurze Unfälle von Ermüdung des Galliertums erlitten : ſo unter Ludwig XIV. , ſo unter Napoleon I .; aber auf Ludwig XIV. folgte die Regierung Voltaire's , und nach dem Sturze Napo: leons erklang das Lied der Spottdroſſel Béranger. Die franzoſen täuſchen ſich in dem Punkte nicht über ſich ſelbſt: Boileau's Vers : „ Der franzmann, boshaft von Natur, erſchuf das Vaudeville “ und das Witzwort des 18. Jahrhunderts : ,, frankreichs Verfaſſung iſt : eine abſolute Monarchie gemildert durch das Vaudeville (Spottlied) " — ſind Sprüche weiſer Selbſt erkenntniß. Die Spott- Literatur frankreichs iſt die größte , welche irgend eine Nation aufzuweiſen hat. Ein franzoſe, Rabelais, war es , der das ſchöne Wort geſprochen : Beſſer vom Lachen als Weinen zu ſchreiben , Iſt doch das Cachen das menſchlichſte Ding . Charakter der franzöſiſchen Literatur. 33 Schon in der Periode der ernſten Heldenepik ( 12. -14 . Jahrhundert), regt ſich die Spottlaune : es gibt mehrere lange Epopöen, welche nichts ſind als Parodien deſſen, was in den alten Heldendichtungen mit gläubigem Enthuſiasmus beſungen wurde : ſelbſt Karl der Große, der Mittelpunkt der altfranzöſiſchen Heldengedichte, ent geht der unbändigen Lachluſt nicht. Daß die Dichtung vom Renart (Reineke fuchs), dieſe großartigſte Satire des Mittelalters , franzöſiſchem Boden entſproſſen , iſt durch die neueren forſchungen mehr als wahrſcheinlich gemacht: die Namen der wich: tigſten Tiere im „ Reineke“ (z . B. Nobel) ſowie die meiſten darin vorkommenden Ortsnamen ſind fran zöſiſchen Klanges. - Renart der fuchs iſt der literariſche Stammvater einer ſchier unüberſehbaren Reihe dichteri ſcher figuren, die, alle von echten Gaulois geſchaffen , beſſer als die längſten pſychologiſchen und äſthetiſchen Uuseinanderſetzungen uns das Weſen des Gaulois förperlich vorführen . Da iſt z . B. die prächtige Schöpfung des Advokaten Patelin in der Farce gleichen Namens, dieſe Ver: menſchlichung des ränkekundigen Renart, noch heute eine Lieblingsfigur der literariſch -gebildeten franzoſen. — Bei Rabelais wird daraus der Begleiter des etwas pedan tiſchen Pantagruel, der föftliche Taugenichts in der hanswurſtjacke, der unvergleichliche Panurg, der Held der unſterblichen Anekdote von den „ Hämmeln des Panurg" . - Molière erfindet ſeinen Sganarelle, der Engel, Pſychologie. 3 34 Charakter der franzöſiſchen Literatur. namentlich im „ Urzt wider Willen“ deutliche Spuren des Patelin - Charakters aufweiſt. Ein Jahrhundert ſpäter lebt dieſe typiſche figur mit geſteigerter Kraft auf im figaro Beaumarchais' und in Diderot's Neffen Rame a u's , und ſelbſt der mehr römiſch-pathetiſche als celtiſch - frivole Victor Hugo hatte dieſes uralten Gallier geiſtes einen Hauch verſpürt , als er im „ Ruy Blas " in der figur des Don Céſar de Bazan das Höchſte leiſtete, was ihm die komiſche Muſe eingegeben . Etwas Straßenjungenhaftes, moraliſch wie äußer lich Jerlumptes, unglaublich Leichtlebiges ; dazu eine ſtarke Portion frechheit gepaart mit cyniſchem Witz, ebenſo viel Kühnheit wie feigheit, je nach der Gelegen: heit ; fchrankenloſer Egoismus, ein Körnchen Rühr: ſeligkeit ertränkt in einem Meer tollſter Uusgelaſſen heit ; das iſt der Charakter dieſes Univerſalhelden , der nun ſchon mehr als 600 Jahre literariſchen Lebens zählt und immer noch in ſtets neuen Menſchwerdungen erſcheint . Im figaro und im Neffen Rameau's ſcheint ſie ihre höchſte Entfaltung gefunden zu haben, aber ſo lange Celtenblut in franzöſiſchen Dichteradern rinnt, iſt eine Ueberbietung ſelbſt jener figuren nicht aus: geſchloſſen . Natürlich miſchen ſich in die Spottluſt noch andere Elemente, aber keine damit in Widerſpruch ſtehenden . Das Vorwiegen des Seruellen in der franzöſiſchen Literatur iſt viel weniger die folge einer ungezügelten Sinnlichkeit als der Luſt am Lachen : die franzoſen Charakter der franzöſiſchen Literatur . 35 ſind nicht feruell- leidenſchaftlich , fondern feruell-witzig. Das ſchamloswitzigſte Buch der römiſchen Literatur, das verrufene Liber Satiricôn (mit der Epiſode „ Das Gaſtmahl des Trimalchio“ ) ein Gallier hat es geſchrieben : Petronius Arbitex , der Sündengenoſſe Nero's , gebürtig aus Marſeille ! Die Schwänke und Liebesaventiuren des Mittelalters , unter dem Namen der Fabliaux bekannt, enthalten nirgends auch nur eine Spur echter, glühender Sinnlichkeit; ſie ſind ſchmunzelnd, fauniſch - lächelnd vorgetragene Hiſtörchen bedenklichſten Jnhalts . Die ewige Zielſcheibe des Witzes in dieſen Fabliaux iſt die Figur des betrogenen Ehe manns; nun, man kennt Molière's „ George Dandin “ , und auch in der neueſten Boulevard -Komödie trägt der Ehemann die weſentlichen Koſten der Heiterkeit ſelbſt des männlichen Zuſchauervolks. Auch Rabelais , bei dem kaum eine Seite frei iſt von geſchlechtlichen Anſpielungen oder Deutlichkeiten , hat das Geſchlechtsverhältniß ent: weder knotigderb, ohne jede ſchlimme Nebenabſicht, oder zur Befriedigung der eigenen und des Publicums Lachluſt behandelt ; von Leidenſchaft, Ernſt, oder andererſeits von ſchlüpfriger Nebenabſicht keine Rede. Aehnlich ſteht es mit einem der ſchlimmſten Bücher dieſer Urt aus alter Zeit : den „ hundert neuen Novellen“ von Antoine de la Sale (um 1450) . Grenzenloſe Ungenirt heit, ſchamloſer Witz, aber nichts, was wie ſinnliche An : teilnahme an den Perſonen und Situationen ausſieht. Auch das berühmte »Heptaméron der Marguerite de 3 * 36 Charakter der franzöſiſchen Literatur . Valois (die „ Erzählungen der Königin von Navarra “ ) find leidenſchaftslos geſchriebene Schwänke, die da handeln von allerlei Liebesabenteuern zwiſchen Damen , Herren und Mönchen. Die Gauloiſerie iſt, wie man an dieſem Beiſpiel ſieht, nicht ausſchließliches Eigentum des franzöſiſchen Männergeſchlechtes. Schon dieſer Umſtand, daß eine hochgeſtellte, tugendhafte frau an der geſchlechtlichen Literatur einen ſo ſtarken Unteil hat, könnte das verhältnißmäßig harmloſe dieſer Richtung lehren . Man darf ſich nur nicht durch ſolche Neben ſtrömungen irre machen, wie ſie namentlich gegen Ende des 18. Jahrhunderts in den ſcheußlichen Schmutzereien Crébillons des Jüngeren, des Marquis de Sade und in einer Verirrung Diderot's ſich offen baren : dergleichert ſtammt nicht aus dem wirklichen Weſen der Nation und iſt nur die folge eines beſonders verderblichen Beiſpiels von höchſter Stelle ( Ludwigs XV. ) . Uebrigens hat jede andere Literatur, die deutſche nicht ausgenommen , ganz ähnliche Unflätereien aufzuweiſent; kein Mann von Geſchmack und Sittlichkeit wird zwiſchen der oberflächlichen, ſpaßhaften Sinnlichkeit Paul de Kods - und der ſentimental lüſternen Niedertracht Claurens um die Wahl verlegen ſein. Entſcheidend für den ethiſchen Geiſt aller Literatur iſt ſelbſtverſtändlich die Auffaſſung der weiblichen Natur. Charakter der franzöſiſchen Literatur . 37 was Da ich es in dieſem Buche nicht mit moraliſchen Wert: ſchätzungen , ſondern mit der Erforſchung literatur: wiſſenſchaftlicher Tatſachen zu tun habe , ſo unterlaſſe ich jede Betrachtung darüber, ob das Weib in der franzöſiſchen Literatur höher oder niedriger ſteht als in der deutſchen . Das franzöſiſche Weib der Wirklichkeit iſt eben ein ganz anderes als das deutſche, Wunder, daß ſeine Darſtellung in der Literatur eine andere iſt ? „ Nicht höher, noch niedriger, ſondern anders," hat die formel ethiſcher Vergleichung zu lauten, wenig: ſtens ſolange das Idealweib itoch nicht entdeckt iſt. Unbenommen bleibt es natürlich einer jeden Nation, das eigene Weib . für dieſes Jdealweib zu halten , und zwar von Rechtswegen. Inzwiſchen aber ſteht feſt, daß ein franzoſe ſich nicht für Göthes Gretchen, ein Deutſcher ſich nicht für Manon Lescaut, noch für figaro's Suzanne begeiſtert, - es ſei denn der Neuheit wegen, für eine flüchtige Stunde. Verſpottet Ulerander Dụmas Sohn Göthes Gretchen, ſo nennt die deutſche Ueſthetik Manon Lescaut eine Dirne, dieſelbe Manon Lescaut, von welcher Alfred de Muſſet mit ſchaudernder Bewunderung ſingt: Manon, Sirene, Sphiny ; wer möchte dich ergründen, Du dreifach weiblich Herz ! So unendlich ſchwer iſt es , ſich von Nation zu Nation innerlich zu verſtehen oder auch nur gelten zu laſſen . 38 Charakter der franzöſiſchen Literatur . Zu dem Mangel an Ernſt geſellt ſich die Phan taſieloſigkeit. Ich meine damit nicht den Mangel an Erfindungsgeiſt, ſondern das fehlen eines Triebes über die Dinge der Alltäglichkeit hinaus, wie er in der deutſchen, aber auch in der engliſchen Poeſie ſich ſo kraftvoll geltend macht. Die franzoſen werfen der deutſchen Dichtung vor, fie ſei vag, nebelhaft ; wir haben der franzöſiſchen Poeſie -- nicht vorzuwerfen , aber von ihr zu conſtatiren , daß ſie niemals den Boden der Jrdiſchkeit unter den füfen verliert und nie aus dem hellen , ſcharfabgrenzenden Licht der Tagesſonne in die mondbeglänzte Jaubernacht zurücktritt, in welcher das geheimſte Leben germaniſcher Poeſie erſt recht beginnt. Wo franzöſiſche Dichter phantaſtiſch zu ſein verſuditen , entſprang dies nicht einer ureigenen Seelen : anlage, ſondern es war Abſicht, und der Leſer merkt ſie ſehr bald . Kunſtwerke hat dieſe ſtudirte Phantaſtik in frankreich nicht hervorgerufen , ſondern eher Ungeheuer lichkeiten , wie Victor Hugo's ,, Bug Jargal“. „ Was nicht klar iſt, das iſt nicht franzöſiſch" ; aber die Poeſie des Herzens will keine Klarheit, ihr iſt das un: beſtimmte Dämmerlicht der Enipfindung und des Uus: druckes gerade die liebſte Beleuchtung. Die franzöſiſche Poeſie mit ihrer Schärfe und Verſtandesklarheit ſagt alles bis aufs letzte Wort ; die deutſche Poeſie läßt das Beſte von der träumenden Seele ahnen und weiſt ihr nur die Richtung an, in der es zu ſuchen iſt. Den berechtigten Satz: ,, in aller Poeſie iſt ein Körnchen Charakter der franzöſiſchen Literatur . 39 Unſinn nötig“ gibt die franzöſiſche Ueſthetik nicht zu . Jhr ſteht am höchſten : die Vernünftigkeit, - im Drama, ja in der Lyrik ſo gut wie in der nüchternen Proſa. Die ganze Ueſthetik des claſſiſchen Zeitalters mit ihrem Hohenprieſter Boileau gipfelt in der Unpreiſung dieſer Vernünftigkeit. Der höchſte Trumpf ſeiner „ Dichtkunſt “ ſind die Verſe : Aimez donc la raison : que toujours vos écrits Empruntent d'elle seule et leur lustre et leur prix ! Natürlich hat dem gegenüber die frage zu lauten : wozu alsdann Verſe ? warum ſich nicht mit der Proſa genügen laſſen ? – Und wirklich ſah auch die claffiſche Ueſthetik den Wert der Poeſie eigentlich nur in der Beſiegung der metriſchen Schwierigkeiten , in der Verfer: tigung recht wohlklingender Verſe. Die gelegentliche Uuflehnung gegen dieſe dem innerſten Kern des neu : franzöſiſchen Weſens entſprungene Theorie und Praris iſt nur die Ausnahme, welche die Regel verſtärkt. Was hat es genützt, daß Muſſet in einem ſeiner ſchönſten Gedichte „Nach einer Lectüre " mit offenem Hohn gegen Boileau ausruft: Ma poétique , un jour, si je puis la donner , Sera bien autrement savante et salutaire Le jour où l'Hélicon m'entendra sermonner, Mon premier point sera qu'il faut déraisonner ? Muſſet hat ſeine Poetik zu ſchreiben unterlaſſen, und einſtweilen und noch für einige Jahrhunderte wird es wohl bei Boileau's „ Dichtkunſt“ in Frankreich ſein Bewenden haben. 40 Charakter der franzöſiſchen Literatur . Dieſe Vernünftigkeit hat in ihrem Gefolge die Regelmäßigkeit. Die franzöſiſche Literatur ſteht ſeit 300 Jahren unter der Zuchtrute äſthetiſcher und metriſcher Dogmen, die einen zäheren Beſtand haben, als die Dogmen der katholiſchen Kirche in Frankreich. Es iſt eines der merkwürdigſten Schauſpiele : dieſe franzoſen, bei denen die Revolution, die Emeute, faſt zu einer Staatseinrichtung geworden, beugen ſich ohne Wider. ſpruch unter einen Coder von Vorſchriften, deren innere Berechtigung durch nichts , namentlich nicht durch den Geiſt der Sprache zu begründen iſt. Die franzoſen ſind das revolutionärſte, aber zugleich das autoritäts gläubigſte Volk ; ſie haben eine wahre Angſt vor der weiſe gebrauchten freiheit des Jndividuums. Daher die ſchonungsloſe Herrſchaft der Mode, – daher die analoge Erſcheinung, daß im literariſchen Leben nie mehr als eine Strömung während einer gegebenen Zeit erkennbar iſt. Der franzoſe iſt ein erklärter fanatiker der Ord nung; nach dem Ausbruch einer Emeute begrüßt er Jeden , der ihm Ordnung ſchafft - und wäre es mit Kartätſchen und Deportationen – als den Retter der Geſellſchaft. Die Regelmäßigkeit, mit welcher die franzöſiſche Verwaltungsmaſchinerie in allen Stürmen der Revolutionen ihren gleichmäßigen Gang geht , iſt nur zu vergleichen mit der unerſchütterlichen Herrſchaft der Proſodie und des andern Regelkrams, welchen das ,, claſſiſche“ Jahrhundert, das 17. , begründet hat. Die Charakter der franzöſiſchen Literatur. 41 franzoſen feiern ihre claffiſche Literaturperiode nicht als eine des „ Sturmes und Dranges “ , ſondern ſehen im Gegenteil in ihr den Sieg der regelrechten , ſchulmäßigen Correctheit über die eigenſinnige Individualität des Mittelalters und der Renaiſſance. Boileau begrüßt in dem erſten Claſſiker Frankreichs : Malherbe, den Hereins führer der Ordnung und von ihm datirt er die fran zöſiſche Literatur ; in Deutſchland verbinden wir mit dem Gedanken an unſer claſſiſches Zeitalter im 18 . Jahrhundert den andern an die Auflehnung gegen die Herrſchaft der Perücke und des Zopfes : Göthe gegen über Gottſched ! Während aber in Deutſchland niemals eine beſtimmte Literaturrichtung ausſchließlich zu einer Zeit herrſcht, während ſich bei uns die Grenzen herüber und hinüber verſchieben und z . B. das Junge Deutſch land mitten zwiſchen den Neuromantikern ſteht, — ſind in frankreich die literariſchen Strömungen zeitlich ſo genau von einander abzugrenzen, wie etwa die Zeit der Alleinherrſchaft der Crinoline von der des eleganten Schwimmanzuges neueſter Mode. Klänge es nicht ſo bösartig was gar nicht meine Abſicht iſt —, ſo würde ich in der Geſchichte von den Hämmeln des Panurg bei Rabelais eine Symboliſirung des fran zöſiſchen Geiſtes erblicken und die franzoſen eine » nation moutornière « nennen . Zum Troſt kennt der galliſche Sprachgebrauch auch ein » mouton enragé « ! Regeln, Geſetze, Traditionen ; » cela se dit , cela ne se dit pas « , unter ſolchen Hemmniſſen leidet die 42 Charafter der franzöſiſchen Literatur . franzöſiſche Literatur, beſonders die metriſche, nun ſchon Jahrhunderte lang. Da hat man in der „ Poetik“ des Uriſtoteles die Lehre von den „ drei Einheiten “ des Dramas entdeckt, hat eine Stelle des betreffenden Tertes obendrein falſch geleſen und noch falſcher verſtanden , und fortan darf auf Menſchenalter hinaus kein Dichter es wagen, den dritten Act anderswo ſpielen zu laſſen als den erſten. Alle Welt fühlt den Zwang, ſelbſt Corneille beklagt ſich darüber ; aber die Regel will es fo . Erſt als Beaumarchais jeden der fünf Ucte ſeiner „Hochzeit des figaro“ an einem andern Orte fich abſpielen läßt, entdeckt man plötzlich, daß die Lebendigkeit der Handlung und die poetiſche Wahrſcheinlichkeit dadurch nur gewinnen, und auf einmal iſt die Regel abgeſchafft. Ein andermal wird in dem äſthetiſchen Treibhaus des Hôtel Rambouillet das Dogma beſchloſſen und von Boileau verkündet : das Drama dürfe keine chriſtlichen Stoffe behandeln ! Man traut ſeinen Uugen nicht, wenn man dergleichen lieſt. Über mehr als ein Jahrhundert lang hat dieſer Unfinn gläubige Nachbeter gefunden , und der „ Polyeucte “ Corneille’s , vor der Verkündigung jenes Dogmas gedichtet, wurde wegen ſeiner Ketzerei verdammt als ein Stück mit einem dem Chriſtentum entnommenen Conflict. Es bedurfte des Unſehens Voltaire's , um durch ſeine » Zaïre « praktiſch zu beweiſen, daß die Religion ein dramatiſches Motiv werden könne wie jedes andere. O China, Zopf und kein Ende! Charakter der franzöſiſchen Literatur . 43 Uehnlich geht es mit gemiffen Dogmen der franzö ſiſchen Verslehre, die mit dem Weſen der Sprache in offenem Widerſpruch ſtehen . Sie erinnern ohne Zwang an die Verkrüppelung der Chineſinnenfüße. Weil die metriſchen Schulmeiſter des 17. Jahrhunderts die Beobachtung gemacht hatten , daß im lateiniſchen Vers Fein Hiatus geduldet wird und daß zwei aufeinander folgende Vocale am Ende des einen und am Anfang des andern Wortes metriſch zu einer Silbe verſchmolzen werden , ſetzten ſie feſt man ſtaune : eine Uuf ienanderfolge irgend welcher zwei Vocale in zwei Worten, alſo ein ſogenannter Hiatus , ſei überhaupt unſtatthaft. Daß die lebendige Sprache ſich vor dem Hiatus durchaus nicht ſcheut, es ſei denn, daß zwei ganz gleiche Vocale ihn bewirken, überſahen die Malherbe und Boileau ; ſie beachteten auch nicht, daß in der Lyrik des 15. und 16. Jahrhunderts, z . B. bei Villon, der Hiatus zweier verſchiedener Vocale ( z . B. in » voici enfants« ) etwas ganz Gewöhnliches war. Und ſo herrſcht denn bis auf unſere Tage in der Poeſie die Ungeheuerlichkeit, daß es feinen franzöſiſchen Vers gibt , in dem ſo unentbehrliche Worte wie : » tu es « , » tu as « , » tu aimes« vorkommen ! Die franzoſen haben das König tum nach mehr als tauſendjährigein Beſtehen ab: geſchafft, ſie haben die Religion hinwegdecretirt, aber das Geſetz über den Hiatus ſteht in voller Kraft ! Uuch ſolche Dichter unterwarfen ſich ihm , die das Ueberflüſſige und völlig Törichte jenes alten Popanzes 44 Charakter der franzöſiſchen Literatur . LA einſahen. Schreibt da z . B. Muſſet in ſeiner Abſchweifung über Manon Lescaut ( » Namouna« 1 60) mit fliegender feder einmal : Comme toute la vie Est dans tes moindres mots ! Ah ! folle que tu es, Comme je t'aimerais demain , si tu vivais ! um in der nächſten Strophe halb ernſthaft, halb ſpöttiſch Verzeihung für den ſchrecklichen Hiatus zu erbitten . J'ai fait un hiatus indigne de pardon . Er ſpottet, – aber zum zweiten Mal hat er dieſen ſo natürlichen, ſo unmerklichen Hiatus in feinen ſämmt: lichen Dichtungen nicht wieder begangen . Es ſind eben nicht alle frei , die ihrer Ketten ſpotten. Al die zahlloſen andern fußangeln und Selbſtſchiffe der französ fiſchen Metrit zu beleuchten , iſt hier nicht der Ort ; die obigen Beiſpiele genügen . Uehnliches gilt von den Geſetzen über den Reim. In Frankreich darf Ziiemand drei männliche Reime auf einander folgen laſſen ; man weiß nicht, warum ; keiner hats bisher probirt : Dogma, überall Dogma; oder beſſer geſagt: Routine, Etiquette, Tradition , drei echt: franzöſiſche Begriffe und Wörter. Daß vollends der Blankvers gänzlich verpönt iſt, ſetze ich als bekannt voraus: eine Tragödie in Verſen heißt allemal eine Tragödie in gereimten Verſen. Die franzöſiſche Literatur kennt nur zwei formen : die Proſa und den Reim vers ; ſie unterſcheidet ſich darin von allen andern roma: niſchen Literaturen : das Jtalieniſche kennt den Blank: Charakter der franzöſiſchen Literatur. 45 vers im Drama, das Spaniſche begnügt ſich mit der Afſonanz. Daß dieſe Starrheit der poetiſchen form gar nicht im Geiſte der franzöſiſchen Sprache begründet iſt, beweiſt die Literatur des Mittelalters und der Re naiſſance ; ſie iſt eine fiinſtlich in die poeſie hinein : decretirte Neuerung unglücklichſter Art , welche die franzöſiſche Dichtung langſam aber ſicher abgetödtet hat. Der oberflächlichſte Kenner der neueren franzöſiſchen Literatur weiß, daß es heute keine nennenswerte metriſche Poeſie mehr in Frankreich gibt ! -- eine ebenſo erſtaunliche Tatſache wie jene andere, daß eine ſo glanzvolle Literatur wie die franzöſiſche mehr als zwei Jahrhunderte ohne Lyrik, ja ohne ein einziges Lied ſich hat behelfen müſſen ! Die Lyrik, dieſer Prüfſtein aller Literaturen , iſt überhaupt das Schmerzenskind der franzöſiſchen Dichtung. Man laſje ſich nicht durch ſolche Redensarten täuſchen wie : „ Bei uns endet alles mit Chanſons “, denn unter „ Chanſon “ iſt hier das politiſche Spottlied zu verſtehen . Von ſolchen „ Chanſons“ wimmelt es freilich : aus dem 18. Jahrhundert allein beſitzen wir die ſoeben vollendete, zehnbändige Sammlung des »Chan sonnier historique « (Paris 1880-1884 ); ſie enthält faſt nichts als Couplets gegen den Hof, das Mini ſterium und die Cleriſei. Uber das eigentliche Lied fehlt . Es ſollte ſchwer halten , in Frankreich eine Sammlung ernſter und edelfröhlicher ſangbarer Lieder 46 Charakter der franzöſiſchen Literatur. zuſammenzuſtellen , wie ſie bei uns 3. B. das deutſche Studentencommersbuch enthält, eher ließe ſich ſchon ein Gegenſtück zu ,, Des Knaben Wunderhorn “ ſchaffen, nur müßte man ſich dabei auf die Zeit vor 1600 beſchränken. Denn beſeſſen hat auch frankreich eine Lyrik, ſelbſt ganz abgeſehen von der Poeſie der proven : çaliſchen Troubadours, - eine ſehr volkstümliche Lyrik , die ſich ganz gut neben dem deutſchen Volksliede ſehen laſſen kann ; aber ſie reicht nicht über das 16. Jahr: hundert hinaus , oder da , wo ſie ſich noch erhalten hat, iſt ſie zum verachteten Dörflergeſange herabgefunken , von dem die vornehme Pariſer Literaturgeſchichte keine Notiz nimmt. Deutſche Gelehrte : vornehmlich Moritz Haupt, Wilhelm Wackernagel und Karl Bartſch haben zuerſt wiſſenſchaftliche Sammlungen ſolcher altfrant zöſiſchen Volkslieder veranſtaltet, und vom Volksgefange hat Wilhelm Scheffler ( „ franzöſiſche Volks . dichtung und Sage“, Leipzig 1883–1884 ) in zwei Bänden vorzügliche Proben geliefert. Die ältere franzöſiſche Lyrik wie Epik zeichnet ſich ror der neueren aus durch ihre größere rhythmiſche Beweglichkeit: die Verſe ſind kürzer und dabei doch mannigfaltiger, die Reimverſchlingung ungezwungener und die Sprache freier von pathetiſchem Schwulſt und von Convention . Verſe mit nur drei Hebungen ſind nicht ſelten, der zehnfilbige Vers iſt der längſte über haupt zuläſſige. Man ſieht: ein ähnliche Metrik wie im deutſchen Liede , denn der ſechsfiißige (12--13 ſilbige) neueren Charakter der franzöſiſchen Literatur . 47 Nibelungenvers war dem Epos vorbehalten. Ja ſelbſt die älteſten franzöſiſchen Heldenepen kennen nur den acht: und zehnſilbigen Vers ; der zwölfſilbige Ulerandriner gehört einer verhältniſmäßig neueren Zeit als regel : mäßiges Metrum an ; er tritt als ſolches erſt im 14. Jahrhundert auf, und auch da vornehmlich im Epos. Der Alexandriner! In Deutſchland iſt er zum Schlagwort der franzoſenfeindlichen Kritik geworden, - in frankreich iſt er noch immer der faſt allein herrſchende Vers aller Dichtungsarten . Zu dieſer Ulleinherrſchaft gelangte er durch Malherbe und Boileau , -- Villon kannte ihn noch gar nicht. Er iſt, man mag ſagen , was man will, der entſprechendſte metriſche Ausdruck der Zeit, in welcher er zum Siege gelangte : was ſollte ein ſo durch und durch der Naivetät entbehrendes Jahr: hundert wie das Ludwigs XIV . mit den kurzen, kecken, flotten Verſen des 15. und 16. Jahrhunderts anfangen ? Die Poeſie unter dem „ Roi-Soleil“ iſt in erſter Reihe da : zu da , ihn , den Geber alles Guten , der Penſionen und Hofhiſtoriographenſtellen, zu beſingen , und einen ſo großen Monarchen befingt man natürlich nicht würdig in ſolchen kleinen Couplets , wie Villon ſie zum Preiſe der ſchönen Damen von Paris oder zur Verherrlichung ſeines eigenen ſtudentiſchen Zigeunerlebens geträllert. Malherbe bildet den Uebergang von der Metrik der Zeit Heinrichs IV. zu der Ludwigs XIV.: bei ihm überwiegt der Ulerandriner noch nicht den acht- und zehnſilbigen 48 Charakter der franzöſiſchen Literatur . Vers, während Boileau überhaupt keine andern Verſe als lerandriner geſchrieben . Es gereicht immerhin den franzöſiſchen Dichtern zum Ruhme, daß ſie aus dieſem pompöſen Hofmetrum ein fo gefügiges Werkzeug für die verſchiedenartigſten dichteriſchen Zwecke zu machen gewußt. Denn das ſteht feſt: der Alerandriner iſt weit beſſer als ſein Ruf bei der deutſchen Kritik. Freilich nicht jener Alexandriner , welcher als ſchaudererregendes Beiſpiel bei uns meiſt citirt wird : Je chante le héros I qui régna sur la France aus Voltaire’s Henriade, auch nicht juſt der Uleran driner der claſſiſchen Tragödie. Aber in Alexandrinern geſchrieben ſind ſolche Dichtungen wie Muſſet's „ Becher und Lippenrand “, „ Namouna“ , „ Rolla “, „ Nach einer Lectüre“ , dazu viele ſeiner allergraziöſeſten und beweg: lichſten „ Comödien und Proverben “. In Alexandrinern geſchrieben ſind die Dramen Victor Hugo's , -- aber auch viele der pikanteſten Gedichte von Banville und von Baudelaire. Ein den franzöſiſchen Romantikern congenialer deutſcher Dichter, Ferdinand freiligrath , hat die beſte Verteidigung des verrufenen Versmaßes geſchrieben in dem „ Ulerandriner“ betitelten Abſchnitt ſeiner Ge: dichte; an ſolche Alexandriner, wenn nicht an die von Muſſet und Hugo, halte man ſich, und nicht an die des 17. Jahrhunderts. Uebrigens finden ſich ſelbſt bei Charakter der franzöſiſchen Literatur. 49 Boileau Ulexandriner von überraſchendem rhythmiſchen Schwunge. Jede Poeſie hat die Metren, welche ſie verdient. Seit den Zeiten des 17. Jahrhunderts, ſeit die galliſche Muſe ſich in den Dienſt des hofes begeben und ſich die Gunſt der Großen durch Oden und Hymnen erſungen, hat ſie ihren leichtgeſchürzten Gang eingebüßt. Das freie Lied, bei dem der Sänger nicht an die gnädigen , Beifall klatſchenden vornehmen Zuhörer dachte, ward zur Declamation, zur rhetoriſchen Uebung. Seit bald dreihundert Jahren iſt die franzöſiſche metriſche Poeſie überwiegend Rhetorik, und ihr paſſendſtes Versmaß iſt mit fug und Recht der Vlerandriner. Engel, Pſychologie. 4 III . Literariſche Strömungen. m Eingang des vorigen Abſchnitts nannte ich die Geſchichte der franzöſiſchen Literatur die Geſchichte des Kampfes zwiſchen celtiſchem und römiſchem Geiſt und behauptete, daß die ſiegreiche Tendenz fich dem Celtentum zuneige. Von der Literatur bis zur Zeit der Renaiſſance gilt dies unbeſtritten : alles, was das franzöſiſche Mittelalter Großes und Nenes hervorgebracht, atmet celtiſchen , galliſchen , nicht römiſchen Geiſt. Und überall da, wo die franzoſen ſich ſelbſt überlaſſen blieben, unberührt von den Einflüſſen römiſcher Literatur , ſchufen ſie Originelles, für die Weltliteratur frucht: baręs : die Heldenepopöen des 11.- 13. Jahrhunderts ſind die Fundgrube geweſen für die Kunſtepik des ganzen mittelalterlichen Europas ; die Fabliaux haben in Italien und Deutſchland eine endloſe leichtfertige Literariſche Strömungen . 51 Literatur hervorgerufen ; das religiöſe Drama, die Wiege des geſammten europäiſchen Dramas im Frankreich des 12. und 13. Jahrhunderts iſt es entſtanden. Selbſt das Singſpiel und ſeine moderne Entartung, die Ope: rette, iſt franzöſiſchen Urſprungs : das älteſte Singſpiel „ Kobin und Marion “ ſtammt aus dem Ende des 13. Jahrhunderts. Die älteſte kunſtmäßige Lyrik des Mittelalters ſie trägt den Namen des franzöſiſchen Troubadourgeſanges. Galliſch iſt das Tierepos ; galliſch ſelbſt die bedeu : tendſte allegoriſche Did; tung des europäiſchen Mittel : alters : „ Der Roman von der Roſe.“ Welche andere Literatur hat eine Reihe folcher Geſchichtſchreiber in ſo früher Zeit aufzuweiſen, wie frankreich ſie beſitzt in Villehardonin , Joinville, froiſſart und Comines ! Und dieſe geſammte alte Literatur iſt frei von jedem römiſchen Einfluß, ganz national , ganz galliſch, ganz celtiſch ! Da kommt mit der Renaiſſance, mit der Wieder: geburt der Sprachen und Literaturen Athens und Koms ein neues Element in das galliſche Schriftentum ; die gleichmäßige; reinnationale Entwickelung wird unter : brochen, und zwar äußert das Galliſche bei der Uus. wahl zwiſchen Römiſchem und Griechiſchem ſeine größere Wahlverwandtſchaft mit Erſterem . Der franzöſiſche Claſſicismus iſt römiſchen, der deutſche des 18. Jahr: hunderts iſt griechiſchen Urſprungs.

52 Literariſche Strömungen . Dem erſten Anprall des Römertums in der Litera: tur widerſteht das durch eine lange Blütezeit ( vom 11. -15 . Jahrhundert) gefeſtigte Celtentum . Der größte Schriftſteller der franzöſiſchen Renaiſſance : Rabelais , iſt zugleich einer der gelehrteſten Kenner des griechiſchen und römiſchen Ultertums und der trotzigſte Gaulois, der je die feder geführt. Uber Rabelais, einzig in allem , iſt auch in dieſer Widerſtandsfähigkeit gegen das Römertum einzig . Auf ihn folgt die Zeit des Abſter bens der Lyrik, auf ihn die gewaltſamen Beſtrebungen zur ſogenannten „ Bereicherung“ der franzöſiſchen Sprache und Literatur durch die römiſche, wie ſie Ronſard und ſeine Schule predigen . Montaigne, durch Jugenderzie : hung mehr Römer als franzoſe, ſchafft dennoch die echtfranzöſiſche Proſa , ein unvergängliches Vorbild für alle Nachfolger. Jn ihm hat das Römertum nur eine kiinſtleriſche Uusgeſtaltung und harmoniſche Abdäm . pfung des allzu lebhaften celtiſchen Ungeſtüms bewirkt ; Montaigne iſt ein Celte wie Rabelais, aber ein geſchmack: vollerer. Die Ronſardiſten, im Herzen gute Gallier, waren die Erſten , die bewußtermaßen römiſch - franzöſiſch ſchrieben und das heitere , naive Galliertum eines Clément Marot (1495-1544 ), des letzten altfranzöſiſchen Lyrikers , zu Grabe trugen . Aber man beachte wohl : mit der Periode Ronſards beginnt die periode der hofpoeſie für frant reich. Solange die franzöfiſchen Dichter ſich unabhängig vom Hof erhalten , ſolange ſie mitten in ihrem Volke Literariſche Strömungen. 53 ſtehen und von dieſem ihre beſten poetiſchen Unregun gen empfangen, ſo lange ſind ſie Vertreter galliſchen Geiſtes. Sie werden Pſeudorömer von dem Augenblick , da ſie eine Hofpenſion erhalten und jährlich dafür ihr Quantum officieller Lobgeſänge abliefern müſſen. Mit Ronſard fängt das an , mit Malherbe wird es fort: geſetzt, mit Boileau wird es zu einer Staatsein richtung Dieſes Römertum des 17. Jahrhunderts beſteht vor allem in der einſeitigen Pflege der ſchönen , oder vielmehr der correcten form auf Koſten des Inhalts. Malherbe, Balzac der Weltere, Voiture haben wenig oder nichts zu ſagen, aber über dieſem Nichts fitzen ſie ſo lange und feilen daran ſo fleißig, bis kleine Meiſter: werke entſtehen ähnlich den Elfenbeinkügelchen, welche die Chineſen ſo ſtaunenswert geſchickt in einander zu ſchnitzeln wiſſen . Und dennoch, auch in dieſem römiſchſten Zeitalter der Literatur bleibt der galliſche Saft triebkräftig , und nichts ſpricht eigentlich mehr für das unausrottbare Celtentum des franzöſiſchen Geiſtes als der Umſtand, daß alle wahrhaft großen Männer des 19. Jahrhun: derts nur zu einem ſehr beſcheidenen Teil und nur auf Allerhöchſten Befehl den pſeudorömiſchen Mummenſchanz mitgemacht haben. Was ganz aufging in falſchem Römertum , iſt von der Nachwelt vergeſſen : wer kennt noch Jean- Baptiſte Rouſſeau ?! Dagegen Molière : ein Gaulois unvermiſchten Blutes, — Lafontaine: der gra 54 Literariſche Strömungen. ziöſe Gauloiſerie :Künſtler ſeines Landes, Pascal : frei von jedem römiſch rhetoriſchen Schwulſt, in den » Lettres provinciales « Voltaire vorausnehmend, in den » Pensées « ein Vorbild des Hauptvertreters des galliſchen Eſprit : de la Rochefoucault's . Ueberhaupt bedarf die Phraſe vom Zeitalter Lud: wigs XIV. und ſeinem Segen für die Literatur endlich einer energiſchen Einſchränkung. Nur ein einziger namhafter Dichter gehört wirklich dem Jahrhundert Ludwigs XIV . “ (einer Erfindung Voltaires) an : Racine. Alles übrige Neue, Schöne, Große verdankte dem Könige nichts, und das war ein Glück, denn ſeine Geſchmack: loſigkeit in literariſchen Dingen wurde nur noch über: troffen durch ſeine Eitelkeit. Corneille ſtarb zwar unter Ludwig XIV. , aber ſein „ Cid“ wurde zuerſt aufgeführt zwei Jahre vor der Geburt des Königs ! Molière war ein reifer Mann, als Ludwig Xiv. den Tron beſtieg ; ſein Talent hatte wahrlich nicht gewartet , bis die Gunſt des Königs ihm ſeine Bahnen wieſe. Lafontaine hat ſich ſogar der ausgeſprochenen Ungnade Ludwigs erfreut. Uber ſelbſt bei denen , welche der Zeit nach unter Ludwig XIV. ihre höchſte Entfaltung erlebt , läßt fich, ſoweit ſie von Bedeutung ſind , die galliſche Uder ver: folgen ; ſelbſt unter den beiden Helden der Kanzel. beredtſamkeit weiſt der größere , Boſſuet, entſchieden die galliſche Verve auf gegenüber der correcten , kalten Rhetorik Bourdaloue's. Alles was im 17. Jahrhundert Literariſche Strömungen . 53 geiſtig ſelbſtändig geblieben , hat ſeine Jugend oder ſeine Mannesblüte vor Ludwigs XIV. Regiment erlebt ; der Abſolutismus dieſes Monarchen zertrat jede eigene Indi vidualität auch auf geiſtigem Gebiet. Dieſer Abſolu tismus iſt es geweſen, der in der Poeſie die Herrſchaft der Routine begründete und in Boileau den äſthetiſchen Geſetzmacher itach ſeinem Herzen fand. Wie elaſtiſch indeffen der celtiſche Geiſt der französ fiſchen Literatur iſt, ſehen wir aus der kräftigen Reaction gleich nach des Despoten Tode. freilich, die volkstümliche Poeſie iſt todt, das haben die Malherbe und Boileau richtig zu Stande bringen helfen ; in der Poeſie herrſcht die Vernunft, unumſchränkt, „ſie allein “, wie Boileau ſo eindringlich gepredigt. Uber inzwiſchen iſt die proſa erſtarkt: Pascal hat ihr Tiefe, de la Rochefoucault (dyneidige Schärfe und die Waffe der eſpriterfüllten Antitheſe verliehen , La Bruyère ihr die Glut verhaltener Teilnahme, das Gährungselement der Undeutung eingehaucht. Da erhebt ſie der durch und durch galliſche Montesquieu in den Bereich der großen Literatur und macht aus ihr die mächtigſte Waffe des 18. Jahrhunderts, den Sturmwidder, womit die celtiſche Nation das Bollwerk des nach römiſchem Cäſarenbeiſpiel errichteten Abſolutismus niederwirft. Iſt doch die ganze revolutionäre Bewegung des vorigen Jahrhunderts im Grunde ein Kampf der celtiſchen Nation gegen die nichtceltiſchen Elemente : gegen den germaniſchen Adel und das nach römiſcher Art vers 56 Literariſche Strömungen . deſpotiſirte Königtum . Montesquieu's »Lettres per sanes « ( 1721 ) eröffneten dieſen echtnationalen feldzug ; ſein ,, Geiſt der Geſetze" ( 1748) wurde das Lehrbuch für die angehenden Revolutionäre. Montesquieu bezeichnet auch dadurch den Anbruch einer Reaction gegen das Cäſarentum , daß er vom Hofe ſich nach Möglichkeit fern hielt. Das 18. Jahr: hundert iſt überhaupt das Zeitalter der Demokratiſirung der Literatur, ſomit das des Sieges des Celtentums. Weder Montesquieu noch Voltaire, und nun gar Rouſſeau, weder Diderot noch Beaumarchais ſind Hofſchriftſteller geweſen . Die Literatur hatte nach der Unterbrechung durch das 17. Jahrhundert ihre eigentliche Quelle wieder: gefunden : das Gemüt des galliſchen Volkes. Was Vol taire von der allgemein -menſchlichen Bedeutung Montes: quieu's gerühmt: ,, Das Menſchengeſchlecht hatte ſeine Rechtstitel verloren , Montesquieu hat ſie wieder: gefunden “, läßt ſich im engeren Sinne auf Montes: quiens Stellung in dem Siegeskampf des Celtentums anwenden . Vom 18. Jahrhundert ab iſt der Ausgang dieſes Kampfes nicht mehr zweifelhaft. Die Literatur hat nicht mehr nötig, in den Solddienſt des Hofes zu treten : entweder ſind ihre Vertreter ſo vornehm und wohl. habend wie Montesquieu , oder ſo induſtriell wie Vol taire und Beaumarchais, oder ſo mäßig in den Un ſprüchen an das Leben wie Jean - Jacques Rouſſeau und Diderot. So gewinnt denn die franzöſiſche Lite Literariſche Strömungen . 57 ratur in überraſchend kurzer Zeit die geiſtige und mate: rielle Unabhängigkeit zurück, welche ſie im 15. und 16. Jahrhundert, in der Blütezeit des Galliertums, genoß. Jn der „ Encyclopédie “ findet die celtiſche Ver: nünftigkeit ihren höchſten Uusdruck ; das geſammte menſchliche Wiſſen, oder was man damals dafür hielt, wird zum Tagesgebrauch des Durchſchnittsgebildeten hergerichtet. Es gibt nichts mehr, was der menſchlichen Vernunft unzugänglich iſt; über die ſchwierigſten Pro bleme der Philoſophie trägt eine bequeme „ Uufklärung“ ſpielend hinweg, und das um dieſelbe Zeit, in welcher Immanuel Kant ſich mit den Geheimniſſen des „ Dinges an ſich “, mit den Problemen von Raum und Zeit, und mit der Erforſchung der Grenzen der menſchlichen Ers fenntniß abquält. Nur noch einmal drohte der natürlichen Entwicke: lung des celtiſchen Frankreidis eine Störung: das Cäſarentum Napoleons I. lähmte für kurze Zeit die nationale Literaturbewegung. faſt ſieht es aus, als ob die Boileau und fénélon auferſtehen ſollen : die Langweile des Lehrgedichts und die Stelzbeinigkeit des claffiſchen Dramas feiern ihre letzten Triumphe. Aber das vollzieht ſich geräuſchvoll an der Oberfläche ; aus dem Schoße der Nation ringen ſich die neuen Menſchen einer neuen Zeit : in den von Napoleon I. gegründeten Lyceen militäriſchen Zuſchnitts wachſen die Romantiker heran, welche mit dem claffiſden Dramenplunder gründ. lich aufräumen werden, und unter dem Donner der 58 Literariſche Strömungen .

Jn der Schlachten werden jene unruhigen Geiſter geboren , von denen Muffet im Eingang zu ſeinen ,, Bekenntniſſen eines Kindes des Jahrhunderts " ſpricht : „ eine Generation - glühend, bleich, nervös, zwiſchen den Schlachten empfangen . “ Béranger hat ſchon unter dem Tyran: nen ſeine frohe Leier geſtimmt und in dem „ König von Yvetot“ ſich als den vollendeten Gallier gezeigt. Victor Hugo und Alfred de Muſſet tragen noch Kinderſchuhe, aber ſolche Kinder wachſen ſchnell auf . Profa erſteht in Paul- Louis Courier ein Nachkomme Rabelais ' , Montaigne's, de la Rochefoucault's und Beaumarchais’ : der Meiſter der feinen Satire, ein Spötter mit ernſtem Gemüt und begabt mit der Meiſter ſchaft über das Wort. Die neuere Entwickelung liegt klar vor Ungen : ſobald die Romantiker der Routine zu verfallen drohten, erfolgte abermals ein Vorſtoß des Galliertums, denn als deſſen Verkörperung ſehe ich den ſogenannten „ Rea: lismus “ an, welcher mit Balzac begann und über flaubert und die Briider Goncourt zu Zola führte. In der eigentlichen Poeſie iſt leider ſeit den Roman : tifern keine Neubelebung erfolgt , - die Proſa beherrſcht gegenwärtig die franzöſiſche Literatur faſt ausſchließlich . Das iſt in ganz flüchtigen Umriſſen ein Bild der Entwickelung des Celtentums in der Literatur durch die Jahrhunderte. Dieſes Bild zeigt uns aber noch eine andere Erſcheinung : keine zweite Literatur Europas hat eine ſo ununterbrochene Blüte gehabt wie die Literariſche Strömungen. 59 franzöſiſche. Vom 11. Jahrhundert bis heute nir: gends eine ſo klaffende Lücke, wie Deutſchland ſie z. B. im 17. Jahrhundert , England in der zweiten Hälfte des 17. und der erſten des 18. , Italien im 17. und 18 . Jahrhundert aufweiſt. Das 19. Jahrhundert hat zwar der franzöſiſchen Literatur eine andere Richtung für einige Zeit gegeben , aber eine Pauſe trat nicht ein ; die Kette blieb geſchloſſen von Rabelais über Mon taigne 311 Lafontaine , Molière, Montesquieu und Voltaire . Einzelne Regiſter des großen Inſtruments verſtummen für Perioden : ſo die Lyrik im 17. und 18 . Jahrhundert, das Drama in der en Hälfte des 18 . Jahrhunderts und dann ſpäter während der Revolution, aber die Geſammtwirkung wird dadurch nicht geſtört. Abgeſehen von der eigenen literariſchen Lebens kraft der Nation hat dazu beigetragen das Unſehen, welches die literariſche Beſchäftigung in frankreich ſtets genoſſen hat. In keiner Literatur finden wir ſo viele fürſtliche und hochadelige Schriftſteller wie in der franzöſiſchen : es wimmelt in ihr von Königen und Königinnen , fürſtent, Herzögen und herab bis zu den ſimpeln Grafen. Ich denke nicht hoch von der Bedeu tung Ludwigs XIV, für die Literatur ſeines Landes, aber mir ſcheint ein Unterſchied zu ſeinen Gunſten zu beſtehen zwiſchen der Urt, wie er jeden talentvollen Schriftſteller ohne Weiteres als hoffähig behandelte, und der Urt der deutſchen Höfe, zu denen Schriftſteller nur dann Zutritt haben, wenn ſie außerdem Premierlieute: 60 Literariſche Strömungen . nants-Rang in der Armee einnehmen. Friedrichs des Großen Verhältniß zur deutſchen Literatur iſt bekannt; ihm entging ſelbſt Leſſings „ Nathan der Weiſe“ , der doch ſo ſehr zu ſeinen eigenen toleranten Anſichten geſtimmt hätte, und Göthes ,, Egmont", Schillers , Cabale und Liebe“ waren für ihn nicht vorhanden . Jn frank reich war die Literatur lange Zeit überwiegend der Pflege der höchſten Stände anvertraut, — in Deutſchland ſind es noch heute die Mittelſtände, welche ſchaffend oder genießend zu der Literatur in Beziehung ſtehen : daher der mehr weltmänniſche Geiſt der franzöſiſchen , der oft etwas ſpießbürgerliche Charakter der deutſchen Literatur. In Frankreich iſt die Wechſelwirkung zwiſchen Uutor und Publicum eine viel größere als irgendwo ſonſt. Bei uns ſchreibt jeder zunächſt für ſich und allenfalls für ein paar vertraute freunde, in frankreich iſt alle Schriftſtellerei des Publicums wegen da. Der Uutor will nicht ſich ſelbſt leben , ſondern er will auf Andere wirken . Hier macht ſich die Bedeutung des höher entwickelten Geſellſchaftslebens in frankreich, die Herr : ſchaft des Salons geltend : aller franzöſiſchen Literatur haftet etwas von der Urbanität der geſelligen Unter haltung an. Das hat Göthe gefühlt, er der niemals in Paris geweſen, als er zur Zeit der franzöſiſchen Romantik ſchrieb : „ Die franzoſen verleugnen ihren allgemeinen Charakter auch in ihrem Stil nicht. Sie ſind geſellige Naturen und vergeſſen als ſolche nie das Publicum , zu dem ſie reden ; ſie bemühen ſich klar zu Literariſche Strömungen . 61 ſein , um ihre Leſer zu überzeugen, und anmutig, um ihnen zu gefallen .“ So iſt es gekommen , daß franzöſiſche Literatur einerſeits ausſchließlich Pariſer Literatur heißt, denin die Provinz hat keine Geſellſchaft; ſie hat überhaupt keine andere Aufgabe, als Paris mit neuem Menſchen material und mit des Leibes Notdurft zu verſorgen ; daß ſie andrerſeits mehr und mehr zur Literatur der Proſa wird. Die Literatur der großen Poeſie iſt ſie vielleicht niemals geweſen. Sie hat kein einziges metriſches Werk zu dem beſcheidenen Dutzend von Büchern hinzugetan, welches ſeit Homer das gemein: ſame Erbgut der literariſch gebildeten Menſchheit aus: macht! Selbſt ein einſichtiger franzoſe wird nicht wagen zu behaupten, daß ſeine Literatur ein einziges Werk beſitze wie Homers Odyſſee, Ueſchylus' Prometheus, Sophokles' Antigone, Uriſtophanes' Vögel, Dantes Göttliche Komödie, Shakeſpeares hamlet, Othello, Macbeth, Lear, Byrons Don Juan und Kain , Göthes fauſt, Schillers Don Carlos, Heines Buch der Lieder. Dafür iſt aber die franzöſiſche Literatur unbeſtritten die erſte Projaliteratur : im Roman, im Projadrama, ja ſelbſt in der wiſſenſchaftlichen Literatur , ſoweit dieſe zur Nationalliteratur gehört. In Frankreich bemüht ſich jeder Mann der Wiſſenſchaft, der außerhalb des Kreiſes der Specialiſten etwas gelten will, zur „ ſchönen Literatur " zu zählen : Renan, Taine, Michelet, überhaupt alle Hiſtoriker von Ruf gehören in frankreich mit 62 Literariſche Strömungen . ¿ vollem Kecht zur kunſtmäßigen Literatur. Man mag gegen die Wiſſenſchaftlichkeit der franzoſen vorbringen was man will, ſie verſtehen es jedenfalls beſſer als wir , ihre Wiſſenſchaft dem großen gebildeten Publicum zugänglich zu machen . Die franzöſiſche Preſſe iſt inhaltlich die armſeligſte, die man ſich denken kann : die Welt reicht ihr nur bis zu dert feſtungsgräben von Paris , während be: kanntlich die deutſche Preſſe überall beſſer zu hauſe iſt als in der eigenen Heimat und ſich ſelbſt eine Prügelei zwiſchen zwei Pariſer Theaterdirnen telegraphiſch melden läßt . Aber in der Form ſucht die franzöſiſche Zeitung ihres Gleichen. Dieſe form iſt es , welche der franzöſiſchen Preſſe und Literatur eine Verbreitung verſchafft außer allem Verhältniß zu ihrem Gehalt. Wenn man vorzugs : weiſe in Deutſchland und in Rußland die neueſte franzö: fiſche Literatur in ſo coloſſalen Mengen einführt, ſo iſt es die inſtinctive Ueberzeugung von dem Minderwert der eigenen form , die dazu antreibt ; denn inhaltlid übertreffen unſere deutſchen Novelliſten , ja ſelbſt die ruſſiſchen das Meiſte deſſen , was gegenwärtig wieder einmal alle Welt zum Publicum der Pariſer Schrift: ſteller macht. Ob dieſe mit Gier verſchlungenen Bücher auch nur ein einziges neues Moment in die Kunſt einführen, iſt dabei gleichgültig, – die form täuſcht ſelbſt die Neugier. Auch in dieſem Augenblick ſpielt frankreich wieder die Rolle , welche es ſo oft geſpielt : die des Literariſche Strömungen . 63 Verbreiters von Ideen, deren Entſtehung nicht ihm zu verdanken iſt. Dieſe vulgariſatoriſche Tätigkeit hat im vorigen Jahrhundert ihre höchſten Triumphe gefeiert : Voltaire hat mehr neue , aber nicht ihm eigene , Ideen in Umlauf geſetzt, als ganze Nationen in vielen Jahrhunderten. Er war es , der -- nach Montesquieu's Vorgang zum Verbreiter der „ Uufklärung “, des „ freidenkertums“ wurde, die doch beide aus England ſtammten. Wer denkt aber heute bei „ freidenker “ oder » Libre penseur« an Collins, Shaftesbury , Locke und Toland ? Voltaire hat geerntet, wo dieſe geſäet hatten. Den Shakeſpeare hat Voltaire zwar nicht allein entdeckt, denn ſchon vorher war man hier und da in Deutſchland auf ihn aufmerkſam geworden ; aber ſchwerlich hätte ohne Voltaires Streitſchriften wider Shakeſpeare ſelbſt Deutſchland ſich ſo lebhaft um dieſen bekümmert. Die erſte deutſche Shakeſpeare Ueberſetzung ( die von Wieland) iſt nach Voltaires Feldzug gegen Shakeſpeare entſtanden . Uehnlich geht es mit dem „ Realismus “, der, wenn man dem Lärm der franzöſiſchen Preſſe glaubte, eine nagelneue Erfindung und zwar frankreichs wäre. Das iſt ja auch einer der echtgalliſchen Züge : die Welt bei ſich anfangen und bei ſich enden zu ſehen. Von dem Realismus des engliſchen Romans im 18. Jahrhundert ( fielding, Smollett, Sterne) hat der Durchſchnitts franzoſe natürlich nichts kennen gelernt; George Eliots Realismus iſt ihm ſelbſt dem Namen nach unbekannt; Jean Pauls ,, Siebenkäs", ein Meiſterwerk des poetiſchen 64 Literariſche Strömungen . Realismus, hält er, wenn er ihn überhaupt je nennen gehört, gewiß für ein beſondere Art Käſe, etwa eine Abart des » Petit suisse « . Turgenjew kennt man in dem kleinen literariſchen Freundeskreiſe, dem er in Paris angehörte, beſtehend aus Daudet, Zola, Goncourt, darüber hinaus hat man jetzt vielleicht ſchon ſeinen Namen vergeſſen. Aber das macht ja eben die Stärke der franzoſen aus, daß ſie ſich ganz allein in der Welt glauben , oder doch ſich ſelbſt für die Leute auf der Bühne, die übrigen Bewohner des Planeten für ihre Zuſchauer halten, und demzufolge ſo viel Lärm verüben, daß alle Welt ſchließlich aufmerkſam wird und fich wirklich zu ihrem Publicum macht. Die hundert und mehr Auflagen , deren ſich franzöſiſche Bücher berühmen, ſind zur großen Hälfte vom Buchhandel Deutſchlands, Oeſterreichs, Rußlands und Italiens beſtellt worden . In ſehr gelehrten Büchern lieſt man, daß die cel tiſche Race vor den andern Racen dahingeſchmolzen ſei, wie Schnee vor der Sonne, und beruft ſich dabei auf die Celten Englands, die angeblich ganz ausgeſtorben ſeien , und auf die Geringfügigkeit der Reſte celtiſcher Sprache in der Bretagne frankreichs. Und während man ſich in ſo kindlicher Weiſe durch die ſprachliche Germaniſirung Englands und die ſprachliche Romaniſirung frank: reichs täuſchen läßt, beherrſchen jene ausgerotteten Celten Literariſche Strömungen . 65 Englands , nach einer ſtärkenden Miſchung mit angel ſächſiſchem und ſkandinaviſchem (normanniſchen Blut, alle Meere und Erdteile, und verſorgen die ,, Romanen" frankreichs, d. h . abermals die Celten, alle, Cultur völker mit ihren Romanen , und das iſt der Humor bei der Sache. Die nachfolgenden Porträts ſollen im Einzelnen erweiſen, was ich auf dieſen einleitenden Blättern nur in andeutenden Umriſſen habe zeigen können. Sie ſollen eine Art von Naturgeſchichte des franzöſiſchen Literaturgeiſtes liefern, inſofern jede der hervorragendſten Eigentümlichkeiten dieſes Geiſtes an einem » represen tative man « der Race geſchildert wird. Ich habe dabei einige Männer erſten Ranges nicht berückſichtigen können, weil ſie mir nicht in dem Maße wie andere als Vertreter ihrer Race erſcheinen oder doch nicht ſo ſehr wie Undere gewiſſe Eigenſchaften in ihrer höchſten Ent: faltung aufweiſen . Zwar wähle ich meine Gallier, wo ich fie finde, aus allen Jahrhunderten ; aber eine Geſchichte der franzöſiſchen Literatur will ich hierin nicht geben . “) Ich glaube jedoch , daß die Männer, deren Porträts ich zu zeichnen verſuche, die äußerſten Grenzen darſtellen , bis zu denen der galliſche Geiſt in ſeiner

) Eine ſolche iſt von mir im Jahre 1882 veröffentlicht worden .

Engel, Pſychologie. 5 66 Literariſche Strömungen . Kundgebung bisher vorgedrungen, und daß ſie ſomit den Rahmen für das bilden, was man bei breiterer Ausführung eine Piychologie der franzöſiſchen Literatur nennen könnte, und wozu dieſer Band als ein erſter Verſuch gelten mag. IV. François Rabelais. ( 1483— 1553.) abelais ſteht an der Schwelle der neufranzöfiſchen Literatur, und mit keinem allſeitigeren Re: präſentanten des galliſchen Geiſtes kann dieſe Gallerie beginnen. Er iſt der Gaulois ; keiner vor ihm und keiner nach ihm , der ſo wie er faſt alle beſten Eigen: ſchaften ſeiner Race und viele ihrer weniger guten in ſich vereinigt. Ich weiß nicht, ob irgend ein anderes Volk ſolch einen Kraftmenſchen der Literatur aufzuweiſen hat, der zugleich wie er als literariſcher Ausdruck der Voltsſeele zu gelten hat. Shakeſpeare, Dante, Göthe ſind noch etwas anderes , ſind mehr als bloß Engländer, Italiener, Deutſche; Rabelais iſt nichts als ein Gaulois. Daß die franzoſen ein luſtiges und ein kluges Volk ſind, oder doch waren , wird man zugeben müſſen ; nun wohl : Rabelais iſt der luſtigſte und klügſte 5 * 68 François Rabelais. Schriftſteller, den Gallien hervorgebracht. Dabei kein Tropfen fremdnationalen Blutes in ſeinen kraftſtrotzen den udern, nicht die Spur jenes geiſtigen Römertums, welches im 17. Jahrhundert in frankreich viele der beſten Geiſter unterjochte. Ueberhaupt : ein Jahrhundert größerer Individualität als das 16. , das Jahrhundert Rabelais' , hat frankreich nie wieder erlebt ; im 16. Jahr hundert war der Abſolutismus der Ludwige noch nicht erfunden, war Paris noch nicht ſo unbeſtritten gleich bedeutend mit frankreich wie nachmals und wie heute. Eine ſo zügelloſe Phantaſie, eine ſo bis zur Toll: heit geſteigerte Individualität hat frankreich nicht wieder hervorgebracht. » Fais ce que tu vouldras « ! „ Thu was du willſt , “ lautet die Inſchrift jener idealen Abtei Thelema, von welcher Rabelais träumt, » Fais ce que tu vouldras « lautet ſein eigener Lebenswahlſpruch . In nichts den Anderen ähnlich , immer nach der kecken Laune des Uugenblicks handelnd , in ewigem Kampf gegen Herkommen, Zucht und Uutorität ; dabei aber immer, als ein echter Gallier, weltfröhlich und auf ſein gutes Glück bauend, ſo gelingt es Rabelais, den Mönchen , Prälaten , ja dem Papſte ſelber ein Schnipp chen zu ſchlagen, ſeine furchtbaren Satiren gegen die Pfäfferei unter dem Schutz des Allerchriſtlichſten Königs von Frankreich zu veröffentlichen, vom Papſte in Rom zweimal, dreimal gnädige Ablaßbreven zu erhalten und als hochehrwürdiger Pfarrer von Mendon im frie: den der Seele und des Leibes vom Leben zu ſcheiden , françois Rabelais. 69 um das große » Peut- être « , zu ſuchen, von welchem er in ſeiner Sterbeſtunde geſcherzt. Der Vergleich mit Luther drängt ſich unwillkürlich auf. Es iſt ſehr lehrreich zu ſehen , wie dieſe beiden größten Vertreter ihrer Nationen im 16. Jahrhundert unter denſelben Einflüſſen ſich ſo grundverſchieden betätigt haben . Beide ſind, um die äußere Aehnlichkeit voll zu machen, in dem gleichen Jahr geboren : anno 1483 , beide hatten unter der Rohheit mönchiſcher Geſell ſchaft zu leiden , beide gehen in jungen Jahren nach Rom, um ihre kirchliche Stellung vor dem Papſte 311 rechtfertigen ; beide kehren mit tiefer Verachtung gegen das Papſttum von Rom zurück. Aber dann hört die Uehnlichkeit auf : hier entfaltet ſich die deutſche Hingabe Luthers an eine große, weltumwälzende Idee, hier er : folgt die Bibelüberſetzung , die Anheftung der Theſen wider Rom, das „ Hier ſtehe ich , ich kann nicht anders ! " dort ſchreibt Rabelais „ das höchſt erſtaunliche Leben des großen Gargantua, des Vaters Pantagruels, “ und „ das Leben Pantagruels, Königs der Diirſtler, ſo wie er geweſen, und ſeine ſchrecklichen Vollbringungen und Heldentaten “. Während Luther mit ſeiner Bibelver deutſchung die Herrſchaft des Papſtes in Deutſchland erſchüttert, werden von „ Gargantua “ und „ Panta gruel“ „ in zwei Monaten mehr Eremplare verkauft, als Bibeln in neun Jahren abgeſetzt werden " . Bei Luther der grimmigſte Ernſt, ein Zorn, der keinen Sherz in wichtigen fragen duldet, – bei Rabelais 70 François Rabelais. eine wahre Scheu vor einem ernſten Geſicht. Macht er zufällig eines und ſieht ſich dabei im Spiegel , ſo ſchüttelt er ſich vor Lachen. Hat er einmal irgend eine frage des Glaubens auf ihren wahren Gehalt zu unterſuchen begonnen, flugs unterbricht er ſich durch eine hanswurſtiade, um uns ſeinen Ernſt vergeſſen zu machen . Auch ihn hat der neue Geiſterhauch der Renaiſ ſance mächtig angeweht: im Mannesalter lernt er Griechiſch und bringt es darin ſo weit, daß er bei der Herausgabe griechiſcher Claſſiker in Lyon als Corrector helfen kann. Dann ſtudirt er, angewidert durch den Hokuspokus, den man im Mittelalter Medizin genannt, als Vierzigjähriger die Arzneimiſſenſchaft nach ſeiner eigenen Methode und wird Docent an der Unirerſität in Montpellier. Aber das waren für ihn doch nur die Uusgangspunkte, nicht die Ziele ſeines Lebens : was Luther mit ungleich höherem Sinn, auf einer viel größeren Bühne mit heiligem Ernſt unternahm und zum Teil durchführte, das wollte Rabelais mit der Waffe des Spottes innerhalb der gebildeten Kreiſe ſeines Vaterlands durchſetzen : ſie abwendig machen von der Herrſchaft Roms. Ob ihm dieſes Ziel je ſo klar geweſen , wie Luthern das ſeine, bezweifle ich ; aber ſeine Wirkung hat er erzielt : von Rabelais an beginnt in der franzöſiſchen Literatur jener kirchenfeindliche , aus fri volität und derber Verſpottung gemiſchte Zug, welcher in Voltaire ſeinen typiſchen Vertreter fand und noch François Rabelais. 21 heute einen großen Teil der franzöſiſchen Nation denken und ſich äußern läßt wie Rabelais und Voltaire. Dieſelbe Verſpottung der Bibel wie bei Voltaire, nur grobkörniger oder – noch verſteckter. Jm 16. Jahr: hundert wurde man um geringere Vergehen verbrannt, als um Stellen wie z . B. folgende 1) : „ Da wir feine Eile haben, ſo möchte es wohl nicht unnüt ſein , euch an den erſten Quell und Urſprung zu erinnern , aus dem der gute Pantagruel hervorgegangen iſt. Denn ich jehe, alle Chroniken : ſchreiber haben das ſo gemacht auch die Verjaſſer der Heiligen Schrift, Ihre Eminenzen die Herren St. Lucas und Matthäus ſelbſt.“ Alſo ſeine Chronik des Pantagruel verglichen mit der Bibel ! Weiterhin ahmt er in der Stammtafel Pantagruels ganz die Art der Stammtafeln Jeſu Chriſti bei Matthäus und Lucas nach . Oder er ſtellt Betrachtungen an über die Lebensrettung Hurtaly's , eines der Ahnen Pantagruels, zur Zeit der Sündflut: „ Ich berufe mich auf die Uutorität der Maſſoreten ( brave Bur: ſchen und funſtfertige hebräiſche Dudelſackpfeifer ! ) , die gewiß das wahr: haftig bezeugen , daß beſagter Hurtaly allerdings nicht in der Urdhe war ( denn ſeiner Größe wegen ging er nicht hinein ), daß er aber rittlings darauf geſeſſen, ein Bein hier, ein Bein da, wie die kleinen Kinder auf ihren Schaukelpferden . Und ſo wurde nach Gottes Rath die Urche gerettet, denn er gab ihr mit den Beinen den Schwung und lenkte ſie mit dem Fuß, wie mit einem Steuerruder. " Was Rabelais noch von ſeinen eigenen Kloſter jahren her gegen das Mönchtum auf dem Herzen hat, davon quillt ihm bei jeder Gelegenheit der Mund über . 1 ) Jch citire nach der neueſten und beſten Rabelais-Verdeutſchung, der von Gelbde (Ceipzig 1880 , 2 Bände) . 72 françois Rabelais . Keine Beſchimpfung, ſie ſei ſo unflätig wie nur möglich , die er dem Kloſterweſen ſpart. Davon läßt ſich auf dieſen Blättern ſo gut wie nichts citiren , wie denn überhaupt das Rabelais - Citiren eine ſehr bedenkliche Sache iſt bei unſerm zimperlich tuenden Publicum. Statt jener Schimpfreden gebe ich daher lieber eine Stelle, die den Kloſterbruder nach Rabelais ' luſtigem Herzen ſchildert, den Mönch Johann, eine echtrabelaiſiſche figur mit einem ſich überkugelnden Humor : „ He, Page, eingeſchenkt ! " ruft der ewig durſtige Pater Johann an der Königstafel Gargantua's „ Sapriſii ! wie gut doch der liebe Gott iſt, daß er uns volle Becher gibt ! Ich ſchwör's bei Gott, hätt' der Herr Chriſius zu meiner Zeit gelebt, die Juden hätten ihn am Qelberg nicht gefangen nehmen ſollen , dafür bin ich gut. Und hol mich der Teufel, wenn ich nicht den Mosje Upoſteln die Haren zer: hauen hätte, die ſo feig davonliefen und ihren Herrn und Meiſter in der Noth ſtecken ließen , nachdem ſie doch noch eben ſo ſchön mit ihm zu Ubend gegeſſen hatten. Dies Jahr wird's wohl ſo gut wie gar keine Gänſe geben . He Du, lieber freund, lanye mir mal das Schweinefleiſch her . Zum Teufel, der Moſt iſt auch ausgelaufen . Ich will des Todes ſein , wenn ich nicht vor Durſt ſterbe. Jch , für meinen Teil , ſtudire nie . In unſerer Abtei ſtudiren wir alle nicht, wir fürchten die weltliche Eitelkeit . Unſer Abtſelig pflegte immer zu ſagen , es gäbe nichts Ubſcheulicheres als einen gelehrten Mönch. _ " Die Art, wie Rabelais mit den Biſchöfen , Cardi: nälen und dem Papſt ( den „ Episkopogeien, Cardingeien und dem Papagei“ ) umſpringt, iſt von einer Scham loſigkeit und Unerſchrockenheit, daß man ſich billig fragt : wie kam er nur unverbrannt davon ? Oder verließ ſich die Kirche darauf, daß dieſe Satire nicht über die Kreiſe der Gebildeten hinausdrang, daß ſie nicht, gleich Luthers Streitſchriften, in Hütten wie in Paläſten, bei françois Rabelais. 73 Ungelehrten wie bei Gelehrten gläubige, begeiſterte Leſer fand ? So viel ſteht feſt : witzigere, boshaftere und zugleich cyniſchere Verhöhnungen des Papſttums als in den Capiteln 49 bis 54 des 3. Buches und in den Capiteln 3 bis 8 des 4. Bliches von „ Pantagruel " hat feine Literatur ſelbſt eines proteſtantiſchen Volkes aufzuweiſen . Uber auch darin iſt Rabelais ein echter Gallier , gleich Voltaire ſeinem Schüler, daß er nicht die Con fequenz ſeiner eigenen Ueberzeugung zieht. Er bleibt Katholik, ja er bleibt Prieſter, denn ſonſt verlöre ja die Lauge ſeines Spottes die Hälfte ihrer Schärfe. Uus der verhaften, verachteten, verhöhnten Kirche aus: fcheiden ? - erſt recht nicht: ſind ihm die „ Papomanen " zuwider, ſo ſind ihm die „ Papofeigen “ noch lange nicht zulieb . Da bleibt er äußerlich , wo er war, aber mit Wort und Schrift ſteht er über den Dingen, die ihm heilig ſein ſollten . Man muß Rabelais Vieles nachſehen, ſo auch ſeine frivole Gehäſſigkeit gegen Einrichtungen und Anſchau ungen, welche der Mehrzahl ſeines Volkes noc Kern des ſittlichen Lebens galten . Dieſe Tragik laſtet auf allen großen Männern der Renaiſſance, daß ſie dazu beſtimmt waren , eine abgeſtorbene Zeit zu Grabe zu tragen und eine neue zu verkünden . Bedeutet ja doch Rabelais ' tolle Geſchichte von König Grandgouſier, ſeinem Sohne Gargantua und ſeinem Enkel Pantagruel, wenn überhaupt irgend etwas, dann eine Verſinnbild: für den 74 François Rabelais. lichung des Abſtreifens mittelalterlicher Ungeſchlachtheit vermittelſt der ciaſſiſchen Bildung und des Vordringens zu edler Menſchlichkeit. Darum kämpft Rabelais gegen die finſterniß, den Uberglauben auf allen Gebieten menſchlichen Wiſſens, unter dem er ſelbſt oft genug gelitten : gegen die Kaſuiſtik der Theologie, die Wort: klauberei der Rechtswiſſenſchaft, die Pedanterie der Jugenderziehung, die weiße Magie der Medicin. Jn mancher Beziehung erinnert er an Cervantes, der ja auch in ſeinem Don Quijote eine auf Nimmerwieder fehr geſchiedene Culturepoche begräbt. Aber Rabelais hat mehr als Cervantes dazıı beigetragen, dieſes Bes gräbniß herbeizuführen : als Cervantes den finnreichen Ritter der Mancha verſpottete, gab es längſt ſchon kein wahres Rittertum mehr; dagegen waren des Rabelais Kämpfe gegen die Gebrechen ſeiner Zeit keine Kämpfe. gegen Windmühlen oder harmloſe Hammelherden. Cer: vantes Satire iſt kunſtvoller , anmutiger als die des Rabelais ; aber dieſer führt ſeine Streiche nach allen Seiten und er ſchwingt keine elegante Pritſche und ſchlägt feine zierlichen fleurettequarten, ſondern er ſchlägt mit Keulen und Morgenſternen um ſich, und wohin er trifft, da fließt Blut. Trotz ſolcher figuren wie Gargantua, Bruder Johann, beſonders aber Panurg, iſt Rabelais kein wirk. licher Menſchenſchöpfer geweſen , ſo wenig wie ſein eint ziges literariſches Werk, eben „ Gargantua und Panta: gruel " , eine wirkliche Kunſtſchöpfung iſt. Dazu fehlte françois Rabelais. 75 ihm vor Allem das künſtleriſche Maß. Er gerät fo gleich aus Rand und Band; das animaliſche Leben iſt ſo überſchäumend in ihm , daß ihm die Augen wie blutig unterlaufen und trübe ſehen . hat er eine luſtige Situation erdacht, -- gleich ſtreckt er ſie und zerrt ſie,, beäugelt ſie von allen Seiten , ſpickt ſie mit hunderten von Beiworten , eines toller als das andere, und ermüdet. Man kann von Rabelais nicht viel hinter einander leſen ; er iſt wie junger Wein , ihm unter: liegt der Stärkſte. Uber gleich jungem Wein iſt er ein Sorgenbrecher wie Wenige, eine wahre Herzſtärkung in Trübſal, und ein vortreffliches Gegengift gegen die Literatur der Lüſternheit, des Kitzels ; ſo etwas wie ein Schlammbad. Denn das iſt mit keiner Berufung auf die geſunde Sinnlichkeit" , die ,,natürliche Derbheit " der Ultvorderen abzuſchwächen : man watet bei der Lec türe Rabelais' durch endloſe Kothlachen und muß um des wirklich Spaßhaften , ja Humorvollen willen ganze Kübel mißduftenden Spülichts mit in den Kauf nehmen . Wenn es dafür überhaupt eine Entſchuldigung gibt, jo liegt ſie darin : Rabelais war ein Gallier und er ſchrieb für reife Männer, nicht für frauen und Kinder, und wurde auch nur von reifen Männern geleſen . Dazu kommt, daß er zwar roh über alle Maßen , knotig und zotig iſt wie kein Anderer, aber nicht im mindeſten lüſtern und ſchlüpfrig. Geſchlechtliche Vorkommniſſe ſind ihm , dem Arzte, ganz natürliche Dinge, die er ſtets mit dem kurzen , rohen Wort bezeichnet, gerade ſo 76 françois Rabelais. wie alle übrigen menſchlichen Dinge. Daß in dieſem Punkte die franzöſiſche Sprache überhaupt ſchamloſer iſt als die germaniſchen Sprachen, wurde ſchon ausgeführt. Ich nannte die figur des Panurg diejenige, welche noch am eheſten lebensfähig ſei . Panurg iſt mit offent: barer Luſt von Rabelais geſchildert worden ; ſein erſtes Auftreten erfolgt mit unwiderſtehlicher Verve, und auch manche andere hanswurſtereien dieſes fecken Phantaſiegeſchöpfes, ſo vor allen die Geſchichte mit den erſäuften Hämmeln, kommen dem Beſten gleich, was der Volkswitz aller Orten an ſolchen Geſtalten wie Till Eulenſpiegel oder Sancho Panfa geleiſtet. Die derbſten Uebertreibungen abgerechnet, iſt Panurg der Typus des Gaulois nach Rabelais' Herzen : immer luſtig, frech, ſkrupellos , ein Zungenheld in allen euro : päiſchen Sprachen, boshaft und dabei doch anhänglich , mit allen Hunden im buchſtäblichſten Sinne gehetzt, und gleich der Katze bei jedem Fall auf die Beine kommend. Panurg iſt das, was der Deutſche grob einen „ Schlingel “, der franzoſe mit halbem Neide ein » mauvais sujet« nennt. Seine ſchlimmſten Streiche erzählt Rabelais mit einem unerſchütterlichen Behagen, etwa im Tone eines Vaters , der auf ſeine Range von Buben im tiefſten Herzen ſtolz iſt. Danach klingt es gar nicht ſo unwahrſcheinlich, was man ſich von Panurgſtreichen François Rabelais . 77 Meiſters Rabelais ſelber erzählt ; ſie mögen zum Teil nach ähnlichen Geſchichten ſeines Buches ihm zul geſchrieben worden ſein, der Sachverhalt kann aber auch umgekehrt liegen . So ſoll Rabelais fich einſt in einer Kapelle auf das Poſtament geſtellt haben , auf dem zuvor die Statue eines Heiligen geſtanden, und dort habe er die in Andacht zu den füßen dieſes fonderbaren Heiligen knieenden Beter plötzlich durch groteske Narrenspoſſen entſetzt. Ein andermal habe er, an Geldmangel gleich Panurg leidend, ſich freie Reiſe nach Paris dadurch verſchafft, daß er den Urgwohn auf ſich gelenkt, er wolle die königliche familie vergiften . Jedenfalls hat Panurg in mehr als einem Zuge eine ſtarke familienähnlichkeit mit ſeinem literariſchen Er zeuger. Hier die beiden Hauptſtellen zur Charakteriſtik dieſes Lieblingsgalgenſtricks Meiſter Rabelais' , die Hammelepiſode und die Predigt Panurgs über Schuldner und Gläubiger. Panurg hat von einem ſpitzbübiſchen, frechen Viehhändler auf dem Schiff einen Hammel um ſchweres Geld erſtanden : „ Plötzlich wirft Panurg, ohne ein Wort zu ſagen, ſeinen wider : ſtrebenden und blöfenden Hammel ins Meer. Sogleich fangen die anderen Schafe an zu ſchreien und zu blöken und eines nach dem andern ſich hinterdrein ins Meer zu werfen. Ulle drängen, wer zuerſt von ihnen dem Kameraden nachſpringen ſoll. Sie aufzuhalten, war ganz unmöglich . Der Kaufmann, der zu ſeinem nicht geringen Entſetzen jeine Hämmel ſo vor ſeinen Uugen zu Grunde gehen und erſaufen ſah, tat alles Erdenkliche, um ſie zurückzuhalten ; aber vergebens nach dem andern ſprang ins Meer und erſoff .“ einer 78 François Rabelais . Am Ende wird der Viehhändler fammt ſeinen Knechten von den Hämmeln mit ins Meer hinabgeriſſen, und -_11 „ während dies vor ſich ging , ſtand Panurg mit einer Ruder: ſtange in der Hand neben der Schiffsküche, doch nicht, um den Schaf knechten damit beizuſpringen , jondern um zu verhindern, daß ſie etwa wieder am Schiff emporfletterten und ſo dem Tode entgingen . Wobei er ihnen nach allen Regeln der Rhetorik vordemonſtrirte, wie nichtig und erbärmlich dieſe Welt und wie herrlich und glückſelig da: gegen das Leben im Jenſeits ſei . Als ihm Bruder Johann, der Mönch, einwendet, er hätte den Spaß ja billiger haben und ſein Geld für den erſten Hammel behalten können, erwidert Panurg : „ Was kümmre ich mich um das lauſige Geld ! Mir iſt der Spaß, bei Gott, mehr wert als fünfzig tauſend franken . " - Luſtiger als dieſer grauſame Spaß iſt das Capitel : „ Was Panurg zum Lobe der Schuldner und Gläubiger jagte " : ! ,, Uber wann denkſt du denn aus deinen Schulden herauszu : kommen ? “ fragte Johann. „ Un den griechiſchen Kalenden , " erwiderte Panurg, „ wenn alle Welt zufrieden ſein wird und jeder ſich ſelbſt beerbt . Gott bewahre mich davor, daß ich je herausfomme ; kein Menſch würde mir dann mehr einen Heller leihen. Nichts Beſſeres, als Schulden haben ! Da bittet man unabläſſig den lieben Gott für dich, daß er dir ein geſundes, glüdlidzes, langes Leben ſchenke, und weil man fürchtet, ſein Geld bei dir zu verlieren , jo redet man vor den Leuten nur das Beſte von dir , damit ſich immer Neue finden, die dir borgen, neue Quellen fließen und alte Löcher mit friſchem Lehm zugeſchmiert werden können , den Undere hergeben ſollen ." „ Wahrhaftig, wenn ich's recht bedenke, jo tut Ihr mir ein ſchweres Unrecht an , daß Ihr mir meine Schulden und meine Gläu biger ſo unter die Naſe reibt , denn eben darauf bilde ich mir nicht wenig ein . Jch meine, es ſei etwas Herrliches , Verehrungswürdiges und Erſtaunliches, daß idy, entgegen der Lehre aller Philojophen , die françois Rabelais. 79 behaupten, aus nichts fönne nichts werden , ohne Grundſubſtanz etwas gemacht und geſchaffen habe . Was geſchaffen ? Eine Menge ſchöner und guter Gläubiger, denn das behaupte ich bis zum Scheiterhaufen ( ercluſive ! ) , Gläubiger ſind ſchöne und gute Geſchöpfe. Wer nicht leiht , iſt ein häßliches und böjes Geſchöpf, eine Uusgeburt der Hölle ! " Es bleibt noch eine Seite in Rabelais , die ihn für die Sprach geſchichte ſeines Vaterlandes zu einem der wichtigſten Schriftſteller macht : Rabelais iſt in einer Weiſe ſprachſchöpferiſch für frankreich geweſen, wie nur jemals Luther für Deutſchland. Sein franzöſiſch iſt an Markigkeit und farbenſattheit nie wieder er: reicht worden. Zu ſeinen Werken greift in frankreich jeder Schriftſteller, der ſein Sprachgefühl aus der Phraſen dreſcherei unſeres Zeitungsjahrhunderts durch ein Stahl . bad in echtgalliſcher Beredſamkeit alten Schlages retten will. Rabelais hat alles Beſte aus der Proſa des Mittelalters bewahrt, hat ihr aber durch ſeine claſſiſche Bildung das allgemein menſchliche und moderne Gepräge aufgedrückt , welches ſie bis zu einem gewiſſen Grade noch heute aufweiſt. Der franzöſiſche Schriftſteller, ja mancher Journaliſt weiß ſich keinen beſſeren Rat, wenn er ſich an das Gefühl und das Verſtändnis der breiten Maſſen wendet, als „ rabelaiſiſch“ zu ſchreiben. Molière und Lafontaine, Balzac und ſelbſt Muſſet haben nach : weislich aus Rabelais ſprachliche Anregungen geſchöpft. Mit dieſer Schreibweiſe iſt oft genug Mißbrauch getrieben worden, aber immer trat die beabſichtigte Wirkung ein ; ein Beiſpiel ſchlimmſter Urt war der » Père Duchesne « zur Schreckenszeit . 80 françois Rabelais. So begrüßt er uns am Eingang zur Literatur Neu. frankreichs, dieſer weingerötete Mönch, Arzt, Lehrer , Pfarrer und unerſchöpfliche Witzbold, - ..frankreichs großer Spaßmacher,“ wie Lord Baco von Verulam ihn genannt, „ ein Weiſer und ein Narr zugleich , “ wie ſein Landsmann Béranger ihn bezeichnete. Mitten in der Renaiſſance Strömung aufgewachſen, bietet er das beſte Bild jenes ringenden Zeitalters , gleich einem Janus: fopf rückwärts ſchauend in die für immer abgetane Periode ungeſchlachter Derbheit nach Urt ſeiner Helden Grangouſier und Gargantua, -- und wiederum vor . wärts blickend in die Zeit, welche frankreichs elegante Proſa und frankreichs claſſiſches Drama vorbereitete. Rabelais' Bedeutung für die Weltliteratur wird angedeutet durch die Riachahmungen Fiſcharts und durch die ſpaniſchen , Schelmenromane“, die unzweifelhaft auf ihn zurückzuführen ſind. In Frankreich iſt er noch heute ein vielgeleſener Liebling des höhergebildeten Publicums, und ſeit Guſtave Doré dem ,, Gargantua" und „ Pantagruel " ſeinen Zeichenſtift geliehen, ſind Rabelais' Rieſen und Narren in weiten Kreiſen zu wohlbekannten figuren geworden . So oft die galliſche Race in frankreich ſich auf ihren innerſten Geiſt beſinnen wird, iſt Rabelais das literariſche Schiboleth, an dem ſich die geiſtigen führer erkennen und ſammeln. ระยอง V. Michel de Montaigne. ( 1533--- 1592. ) ies iſt ein Buch guten Glaubens, lieber Leſer. Wäre es ge : ſchrieben worden, um Weltgunſt damit zu erwerben , ſo hätte ich mich mit geborgten Schönheiten geziert . Ich will aber, daß man mich in meiner einfachen, natürlichen und alltäglichen Urt ſehe, ohne Kunſtgriffe und Aufputz ; denn ich ſelbſt bin der, den ich hier ſchildere. Meine Gebrechen wird man beim Leſen auf friſcher Tat betreffen, dazu die Lüden und die naturwüchſige form meines Weſens, ſo weit die ſchuldige Ehrerbietung vor dem Publicum mir dies erlaubt. So bin ich alſo, Leſer, ſelber der Stoff meines Buches. Es iſt nicht in der Ordnung, daß du deine Muße mit einem ſo frivolen und eiteln Gegenſtand verbringſt; darum Lebwohl . Uuf Schloß Montaigne, den 12. Juni 1580." So lautet die Vorrede des Werkes, welches für die franzöſiſche Proſa- Literatur typiſch geworden , der » Essais « von Michel de Montaigne. Montaigne iſt der größte Cauſeur frankreichs. Er hat in freier Schöpferkraft form und Stil, ja ſelbſt den Namen ſeiner einzigen ſchriftſtelleriſchen Hinter: laſſenſchaft erfunden ; Essai in der Bedeutung eines Engel, Piychologie . 6 82 Michel de Montaigne. 1 Aufſatzes über ein abgegrenztes Wiſſensgebiet iſt zuerſt von Montaigne, ſpäter von Lord Bacon angewendet worden . Vor Montaigne verſtand die franzöſiſche Sprache nicht, zu plaudern , - alſo gerade das, was heute ihren weſentlichſten Reiz ausmacht. Die Moralphiloſophen, die Theologen , die Staatsrechtslehrer, die Pamphle tiſten alle ſchrieben ſie jenen pedantiſchen , phraſen : geſchwellten Stil, den ſie durch die Nachahmung Cicero's ſich zu eigen gemacht und der dem wahren Charakter des franzöſiſchen aufs Neußerſte widerſpricht. Montaigne hat zuerſt die beſondere fähigkeit ſeines Idioms zur ſchlagenden Kürze richtig benutzt : ein flüchtiger Blic auf die äußere Erſcheinung ſeiner Eſſais zeigt , daß ſein Satzbau von einer geradezu queckſilbrigen, hin- und her ſpringenden Lebhaftigkeit und Gedrungenheit iſt. Ein Plauderer, ein Schriftſteller mehr fürs Zu hören , als fürs Leſen , das iſt Montaigne, – und ſeine Eſſais ſind kaum ein Buch, ſondern eher ein Vortrag viva voce . Selbſt beim Leſen iſt es uns, als hören wir des Autors Stimme und als ſehen wir ſeine Augen zutunlich auf uns gerichtet. Montaignes Stil iſt in allem der Stil der franzö fiſchen Unterhaltung gebildeter Kreiſe. Er will nicht beweiſen, nicht die Meinung eines Undern zankend bekämpfen und widerlegen , wie das die Art deutſcher Unterhaltung iſt, ſondern er will eben nur unterhalten . Darum iſt's ihm auch ziemlich gleichgültig, worüber er Michel de Montaigne. 83 plaudert : kann man doch an allem ſeinen Witz, ſeine Beleſenheit, ſeinen gefunden Menſchenverſtand zur Geltung bringen . Die Kunſt, über ein Nichts anmutig zu plaudern und zu ſchreiben , dieſe echtfranzöſiſche Kunſt beſitzt Montaigne in ſeltenem Grade. Natürlich artet dieſe Kunſt auch wohl zuweilen in Geſchwätzig, keit aus, aber dann iſt es eine graziöſe, formſchöne Geſchwätzigkeit, und bei dem geſelligeren Weſen der franzofen im Vergleich mit deutſcher Art dürfen wir an dieſe Plauderliteratur nicht unpaſſende Maßſtäbe legen . Man merkt überall, daß Montaigne ohne Dis : poſition, ohne Plan noch Ziel ſchreibt. Wie etwa bei einem richtigen Liebesbrief, gehört die Liebe des Leſers dazu , um ſich an dieſem zweckloſen Geplander zu er: freuen . Ob er über die Unſterblichkeit der Seele , über die furcht vor dem Tode, oder über den Gebrauch der Kutſchen und Sänften ſchreibt, iſt Montaigne für ſeinen ſchriftſtelleriſchen Zweck gleich . Capitelüber: ſchriften geniren ihn nicht im Mindeſten : ſo handelt der Eſſay „ Von den Kutſchen“ von allem nur nicht von Kutſchen, am meiſten von den Tugenden, welche einen Monarchen zieren. Und mit der prächtigen Offen herzigkeit, welche Montaigne auszeichnet , ſagt er ſelbſt von ſeiner Schreibart: „ Ich ſchweife ab, aber mehr aus Leichtſinn als aus Rückſichts: loſigkeit. Meine Gedanken folgen einander, aber manchmal ſehr von weitem . Die Ueberſchriften meiner Capitel geben nicht immer den Inhalt an ; oft enthalten ſie nur eine entfernte Andeutung des: 6* 84 Michel de Montaigne. ſelben . Ich liebe die poetiſche Gangart, mit Sätzen und Sprüngen ; es iſt das eine, wie Plato ſagt, leichtbeſchwingte, flüchtige, dämoniſche Kunſt. O Gott ! welche Schönheiten liegen dod , in dieſen luſtigen Seitenſprüngen, in dieſer Abwechſelung, und um jo mehr, je mehr die Caune und der Zufall ſie regiren Den unaufmerkſamen Leſer trifft die Schuld, wenn er meinen Faden verliert, nicht mich . Mein Stil und mein Geiſt ſind zwei gleichgeſinnte Vagabunden. Wer ſich nicht ein bischen Narrheit gefallen laſſen will, dem wird ſtatt deſſen ein groß Stüc Dummheit beſchert. “ Und mit einer wahrhaft bezaubernden Drolligkeit fügt er hinzu : „ Da ich die Uufmerkſamkeit des Leſers nicht durch das Gewichtige des Inhalts feſſeln kann, ſo habe ich ſchon ein gut Stück bei ihnı gewonnen, wenn ich ihn durch meine Kreuz- und Querſprünge in : tereſſiren kann . Ihr werdet mir einwenden : ſehr gut und ſchön, aber hinterher wird er bereuen , ſich von dir auf die Weiſe amüſiren gelaſſen zu haben. Immerzu , aber amüſirt hat er ſich nun doch einmal mit mir !" Das iſt dieſelbe Stelle, an der er ſich gegen das Streben verwahrt, etwa durch erkünſtelte Dunkelheit den Schein der Tiefe zu erwecken . Klarheit gehe ihm allem vor, und er tadelt den Ariſtoteles, der ſich ſeiner Schwerverſtändlichkeit ſelbſt einmal rühme. - So äußert ſich der franzöfiſche hang zur Klarheit ſchon im 16. Jahrhundert mit voller Zielbewuſtheit. Montaigne hat ſeine Bildung aus ähnlichen Quellen geſogen , wie Rabelais , mit Ausnahme der Theologie und der praktiſchen Medicin . Sein Lehrmeiſter in der franzöſiſchen Sprache war der Volksmund ; ſein gelehrtes Wiſſen hatte er aus den griechiſchen und römiſchen Claſſikern , mit denen er von früheſter Jugend auf vertraut geweſen. Jeder dritte Satz enthält darum Michel de Montaigne. 85 entweder ein antikes Citat oder ein Beiſpiel aus dem Altertum. Uber dieſe Gelehrſamkeit iſt bei Montaigne viel mehr zu Fleiſch und Blut geworden als bei Rabelais. Letzterer citirt die Alten entweder zum Spott oder aus einem in der Renaiſſance :Zeit ganz allgemein ver: breiteten und ſelbſt von dieſem freieſten Geiſte geteilten Dünfel auf das altſprachliche Wiffen . In Montaigne's ,, Efſais" hat der Geiſt, nicht die Form der Renaiſſance weitere fortſchritte gemacht. Die Citate aus allen möglichen Claſſikern und die Befräftigung ſeiner Beob achtungen durch die Beiſpiele aus dem Leben der alten Völker ſind nur das fremde Gewand für einen durch : aus eigenen Jnhalt. Er citirt die Römer, aber er denkt wie ein Gallier, vor allem ſchreibt er wie ein Gallier, und nichts iſt beſſer geeignet, uns die kraft: volle Widerſtandsfähigkeit des franzöſiſchen Weſens und Stils gegen das Römertum zu erweiſen , als gerade das Beiſpiel des claffiſchſten der Claſſifer: Montaigne's. Sein Vater ließ den Knaben nur lateiniſch ſprechen , ſo daß er mit 6 Jahren geläufig Ciceronianiſche Phraſen herſagte , aber noch nicht franzöſiſch verſtand. Das hat nicht verhindert, daß Montaigne in ſeinen Ejjais ein claffiſches Buch der franzöſiſchen Sprache geliefert, und zwar eines, welches ſo gut wie gar keine Spuren fremd ſprachlichen Einfluſſes aufweiſt. Rabelais iſt der plebejiſche Gaulois, Montaigne der ariſtokratiſche Günſtling der galliſchen Muſe. Welch ein träftiges, faftvolles, graziös altfränkiſches fran. 86 Michel de Montaigne. , 2 zöſiſch ! Welche unſtudirte Naivetät ! Welche heitere Männlichkeit bei all dem findlichen Geplauder ! Wer die franzöſiſche Sprache nicht bewundern oder gar beneiden , ſondern ſie liebgewinnen will, der leſe Mon : taigne's Eſſais ! Zugleich wird ihm dann klar werden, nach welcher Richtung das Jahrhundert Ludwigs XIV. auf die franzöſiſche Sprache ſeinen Einfluß geübt hat. Montaigne wie Rabelais gehören der glücklichen Zeit ihrer Sprache an , da noch kein akademiſcher Schulmeiſter wie Boileau fich anmaßte, eine Nation 311 lehren , wie man ſich ausdrücken müſſe, um literariſch hoffähig zu ſein . Das war jene Zeit, in welcher noch nicht die ſpaniſchen Stiefeln des „ erhabenen Stils “ und die halseiſen der tyranniſchen Proſodie erfunden worden, - jene Zeit , da man noch den Muth hatte, ſeinen eigenen Stil 31 ſchreiben , ſtatt eines patentirten Hofſtils. Mont taigne hat mit einer bei ihm ſeltenen Energie ſich über dieſen Punkt geäußert ; für ihn iſt das Recht der ſchriftſtelleriſchen Perſönlichkeit, das Recht, ſich ſelbſt zu leben und zu geben mit allen Tugenden und fehlern , das unveräußerlichſte, und deſſen Ausübung der Prüf: ſtein aller Særiftſtellerei. Hier ſtehe dieſe weniger be : kannte, ſchöne Stelle ( Buch III . , Capitel 5 ) : „ Uus dieſem Grunde (nämlich um ſich ſelbſt jo unverfälicht wie möglich zu geben ) konimt es mir auch ſehr zu ſtatten , daß ich bei mir zu hauſe , auf dem Lande in der Wildniß ſchreibe, wo Niemand mir helfen noch mich verbeſſern fann ; wo ich für gewöhnlich mit Leuten verkehre, die ihr lateiniſches Pater noster faum , franzöſiſch noch ſchlechter verſtehen ( nämlich mit provençaliſch ſprechenden Gascognern ). Jd hätte es anderswo beſſer gejdhrieben , aber das Werf wäre dann Michel de Montaigne. 87 weniger ganz mein geweſen : und ſein Endzwed und ſein einziger Wert iſt der, ganz und gar mein zu ſein !" Und auf die Einwürfe, daß er Provinzialismen ſeiner Heimat, der Gascogne, einſtreue , daß er kein Blatt vor den Mund nehme, erwidert er einfach, aber ſchlagend: „Spreche ich denn nicht ſo ? Drücke ich mich nicht durchweg lebendig aus ? Ja ? Nun, das genügt mir, ich habe erreicht, was ich erſtrebt habe ; jedermann erkennt mich in meinem Buch, und mein Buch in mir. “ Man könnte Montaigne, bei der Art, wie er immer nur ſich zum Gegenſtande ſeiner Unterſuchungen macht, ſehr wohl mit ſeinen eigenen Worten ſchildern . Seine Eſſais ſind ein Spiegel, der nur ein Bild zurückzuwerfen vermag : das des Verfaſſers. Nach ſich beurteilt er alle Menſchen und Dinge, ohne ſie zu verurteilen, wenn ſie mit ſeinen Anſchauungen nicht ſtimmen. In den meiſten fällen hat er über ſich das treffendſte Urteil gefällt, ſo wenn er von ſeinem Stil jagt, er ſei „ eine einfache und naive Sprache, dieſelbe auf dem Papier wie auf den Lippen ; eine ſaftreiche und nervige Sprache, furz und ge drungen, mehr heftig ja wild als zart und gepflegt, eher ſchwierig als langweilig, frei von Ziererei, regellos, „ décousu “ und kühn.“ Das iſt ſie : décousu , aus allen Näthen , ganz nach der Art ſehr lebhafter Menſchen, die beim Ausſprechen eines Gedankens durch eine verwegene Ideenverbindung auf etwas ganz Entlegenes kommen und nun ſprungweiſe auf dieſes neue Geſprächsthema eingehen, ohne auch nur den Verſuch einer Ueberleitung zu machen . Eine Art literariſchen Spaziergangs ohne feſtes Ziel, aber Feine Geſchäftsreiſe. -- So ſchreibt hundert Jahre nach 88 Michel de Montaigne. Montaigne's Eſſais die größte Briefplaudrerin : Madame de Sévigné, – jo läßt nach abermals hundert Jahren Diderot ſeinen „ Neffen Rameau's “ ſprechen. Montaigne iſt der Uhnherr dieſer Meiſter des franzöſiſchen Plauder: tons, bei dem es vom Hundertſten ins Tauſendſte geht, („ mit verhängtem Zügel“ wie Madame de Sévigné von ſich ſagte) , bei dem man ſich aber beſſer amüſirt und darum auch mehr lernt, als bei den nach allen Regeln der Pedanterie kunſtgerecht aufgebauten Abhandlungen ſolcher Schriftſteller, die nur das Katheder, aber nicht den Plauderſeſſel eines Salons kennen. Das Plaudern läßt nun freilich große Tiefe oder Energie der Ueberzeugung nicht zu, und ſo iſt Mon taigne auch inhaltlich das, was ſein Stil ausdrückt : er behandelt die ſchwierigſten Probleme im Plauderton und mit keiner größeren Grindlichkeit, als das Unter: haltungsbedürfniß erfordert. Temperament und philo: ſophiſche Ueberzeugung ergänzen einander bei Mon: taigne : er iſt eine heitere Natur, keiner großen Leiden daft fähig ; zu ſehr Weltmann, um nicht frühzeitig erkannt zu haben , daß man mit dem Hervorkehren einer einſeitigen Weltanſchauung fich ſchadet und andere ver , letzt. Von der Unmöglichkeit durchdrungen, über irgend eine frage die abſolute Wahrheit zu ergründen, wirft er leicht ironiſch die Lippen auf zu ſeinem berühmten Wort : „Was weiß ich ? " was gar nicht ſo weit verſchieden iſt von Rabelais' letztem Wort : „Ich gehe ein großes Vielleicht zu ſuchen .“ Man kann nichts ſicher 1 Michel de Montaigne. 89 wiſſen , denn Ulles auf Erden iſt relativ, nichts iſt ab: ſolut; bei Gott allein iſt die abſolute Gewißheit, im Menſchenwerk und Menſchenwiſſen iſt ſie nicht . Man hat Montaigne aus dieſem Skepticismus einen Vorwurf gemacht ; Pascal hat ſogar das harte Wort über ihn geſprochen : „ Die Unwiffenheit und die Sorg loſigkeit ſind zwei angenehme Kopfkiſſen für einen ent: ſprechend beſchaffenen Kopf." Aber Montaigne und Pascal vertreten eben zwei grundſätzlich verſchiedene Weltanſchauungen, die ſich noch oftmals im Laufe der Geſchichte frankreichs befehden, ja ſich während der großen Revolution wechſelſeitig zum Schaffot ver : dammen werden. Pascal glaubt nicht allein an eine abſolute Wahrheit, ſondern auch an deren Zugänglich: keit für den menſchlichen Verſtand oder doch für den menſchlichen Glauben, und dieſe Ueberzeugung macht ihn unduldſam, ſchroff, macht ihn - um ſprachlich und geſchichtlich vorzugreifen zum Jakobiner ", denn das Weſen des Jakobinismus iſt der Despotismus der Uutorität. Montaigne iſt der duldſame, nachſichtige, geſellige Geiſt, der da weiß, daß alles Zuſammenleben der Menſchen unmöglich iſt ohne Zugeſtändniſſe und Geltenlaſſen Anderer. Er will keine Autorität prüfungs: los über ſich dulden, aber er will auch keine über Un dere ausüben. Es gibt wenige franzoſen , die ſo ſehr wie er von dem Werte der perſönlichen freiheit über zeugt waren. freiſein von Menſchen und Dingen , nur ſich und ſeinen geläuterten Neigungen leben , das 90 Michel de Montaigne. heißt Menſchenwürde, das iſt Menſchenglück. Hören wir dieſen letzten freien Menſchen, denn nach ihm kommt das Jahrhundert der geiſtigen Knechtung, kommt das Zeitalter Ludwigs XIV. „ Ein Fürſt gibt mir viel, wenn er mir nichts nimmt, und tut mir genug Gutes, wenn er mir nichts Schlechtes tut ; weiter verlange ich von ihm nichts . Wie inſtändig flehe ich zur heiligen Barmher: zigkeit Gottes, daß ich niemals einem Menſchen einen ganz beſon : deren Dank ſchulden möge ! Es iſt ein kläglich Geſchick und Un: gefähr, abzuhangen von einem Undern . Ich habe nichts ſo zu eigen, wie mich ! Solche, die ich ſo leichten Herzens ſich aller Welt hingeben ſehe, würden es bleiben laſſen, wenn ſie wie ich die Süßig: feit reiner Freiheit ſchmecten . Wie hart iſt die Knebelung für einen Menſchen, der die Freiheit ſeiner Ellenbogen nach allen Seiten hin wahren will ! " Ein Mann, der fo leidenſchaftlich auf ſeine eigene Unabhängigkeit hielt , mußte duldjam fein gegen Anders: denkende. Darum ſoll er als Richter in Bordeaux man hatte ihn ohne ſein Bewerben gewählt feine beſonders glückliche Rolle geſpielt haben ; für die Zeit der Kämpfe zwiſchen Katholiken und Hugenotten war er nicht der rechte Richter; dazu war er viel zu un. parteiiſch , ſo ſehr, daß er meiſt von dem Rechte beider ſtreitenden Parteien überzeugt war ! Jn dem berühmten Capitel 12 ( Buch II ) ſpricht er ſich über die Veränder : lichkeit menſchlicher Geſetze unverhohlen aus. Er wünſcht wohl, es möchte anders ſein ; aber wie aus dem Laby: rinth der je nach Klima und Zeiten grundverſchie denen Sitten und Satzungen ſich herausfinden ? Wer Montaigne bloß für einen ſkeptiſchen Spötter gehalten , der wäge die ſchönen Worte des erwähnten Capitels : Michel de Montaigne. 91 „ Was ſagt uns alſo in ſolcher Notlage die Philoſophie ? ,,fol: get den Geſetzen eures Candes !" Das will ſagen , dem ſchwanken : den Meer der Meinungen eines Volkes oder eines Fürſten, die mir die Gerechtigkeit mit ebenſo viel Farben und unter ebenſo viel Geſichtern darſtellen werden, wie es Wandelungen der Leidenſchaft in ihnen gibt, - nein , ein ſo bewegliches Rechtsgefühl habe ich nicht . Wo bleibt da die Tugend, wenn das, was geſtern in Geltung war, heute nichts mehr gilt, und wenn das Paſſiren eines Stromes ein Verbrechen da : raus macht ? Was iſt das für eine Wahrheit, die als ſolche nur dies: ſeits eines Berges, jenſeits aber als Lüge angeſehen wird ? !" So ſpricht kein Spötter, ſondern ein aufrichtiger Mann, der einen troſtloſen Zuſtand malt, ihn aber beklagt. Was bleibt unter ſolchen Verhältniſſen und bei ſolcher Erkenntniß von der relativen Wahrheit menſch . licher Dinge dem denkenden, unabhängigen Geiſte ? Das eigene Jch, der offenbekannte Subjectivismus und, wenn man will, Egoismus. In der Philoſophie hat Descartes nach Montaigne's Beiſpiel das ſubjective Denken des Menſchen zum Ausgangspunkt ſeiner Welt auffaſſung gemacht, in der Moral iſt de la Roche foucault denſelben Spuren gefolgt. Der Egoismus nun , wie Montaigne ihn mit liebens: würdiger Offenheit ſich ſelbſt nachjagt, iſt - der Egoismus der meiſten guten Menſchen. Man geſteht dergleichen nicht gern ein , kaum ſich ſelber, aber es iſt darum nicht minder wahr. Montaigne hat verzichtet auf die Erforſchung der abſoluten Wahrheit außer ſich jelbſt. „ Was weiß ich ?" Nur Gott weiß alles. Aber er, Montaigne, iſt ihm zur hand ; den kann er unter: ſuchen, ergründen, erkennen. Und ſo geht er ans Werk, 92 Michel de Montaigne. 11 ,, hungrig nach Selbſtfenntniß , " wie er ſo ſchön ſagt, und ſchreibt ſeine drei Bücher der Eſſais, die unter dem Vorwande ron allem möglichen Wiſſenswerten zu reden doch einzig und allein von dem Verfaſſer ſelber handeln . Er hat ja auch dem Leſer in der Vorrede reinen Wein eingeſchenkt: „ Ich ſelbſt bin der Stoff meines Buches.“ Dieſes Vorhaben, ſich ſelbſt zu ſchildern, hat er mit einer Uufrichtigkeit des Willens ausgeführt, die in der Literatur nahezu einzig daſteht. Mit Jean -Jacques Rouſſeau's innerlich verlogenen „ Bekenntniſſen “ ver glichen, ſteigen Montaigne's Effais zu einer Höhe meních . licher Wahrheit, die vor ihneit allenfalls Auguſtinus, nach ihnen kein Sterblicher mehr erreicht hat, jedenfalls kein franzoſe mehr. Der am häufigſten wiederkehrende, von Montaigne geradezu gehätſchelte Zug ſeines Weſens iſt neben ſeinem Hang nach edler menſchlicher Geſelligkeit — ſein Egois mus, d. h . ſeine Abneigung gegen irgend welche Bot: mäßigkeit. Er lehnt es nicht ab, Underen oder dem Staatsweſen zu dienen , aber die freiheit ſeiner Seele darf darunter nicht leiden. Jn ihm war nichts von dem, was die Engländer einen » public-spirited man « nennen , nichts von Gemeinſinn. Wie ſollte auch in einem abſolutiſtiſch regirten Lande dergleichen gedeihen ? Kann man die Selbſtanſchwärzung weiter treiben , als Montaigne es getan in dem Bekenntniß ( Buch III , Capitel 10) : Michel de Montaigne. 93 „ Wenn man mich zuweilen zur Leitung fremder Ungelegenheiten veranlaßt hat, ſo habe ich verſprochen, ſie in die Hand, nicht ins Herz und in die Nieren zu nehmen ; mich damit zu befaſſen , nicht mich mit ihnen zu vermengen ; mich um ſie zu kümmern , ja , -- mich für ſie zu erhitzen , feineswegs. Ich gebe Ucht auf ſie, aber ich brüte nicht über ihnen . Ich habe genug mit der Drangſal zu ſchaffen , die ich im eigenen Leibe und Leben verſpüre, ohne mir auch noch fremde Drang: ſale aufzupaden . Die Menſchen vernieten ſich ; ihre Fähigkeiten gehören nicht ihnen, ſondern denen , in deren Dienſt ſie treten . Dieje Art der meiſten Men ichen behagt mir nicht. Man muß die freiheit ſeiner Seele hegen und pflegen, und ſie nur in äußerſten Nothfall aufs Spiel ſetzen , und ſolche Notfälle ſind recht ſehr ſelten , wenn wirs genau betrachten .“ Um ſo liebenswerter aber wird uns dieſer ſcheinbar eingefleiſchte Egoiſt durch ſein freundſchaftsverhältniſ mit dem jungverſtorbenen , ſehr talentvollen Schriftſteller Etienne de la Boëtie, dem Verfaſſer einer wegen ihres freimuts erſtaunlichen Schrift: „ Von der freiwilligen Knechtſchaft.“ E. de la Boëtie iſt als ein Vorläufer Rouſſeau's zu bezeichnen ; das 16. Jahrhundert hat nirgends, auch in England nicht , eine begeiſtertere Ver. herrlichung der perſönlichen und politiſchen freiheit hervorgebracht. Mit dieſem einſam daſtehenden Manne hatte Montaigne ein freundſchaftsbindniß geſchloſſen ſo einzig , ſo ideal, daß man dem bequemen Eklektiker und Skeptiker von Herzen zugetan wird. Der Liebe unzugänglich , hat er ſich als ein held der freundſchaft erwieſen. Die Stelle ſeiner Eſſais, in der er nach E. de la Boëtie's Tode jenes Verhältniß geſchildert, iſt die poetiſchſte, die ergreifendſte feines Buches. Göthes Nachruf an Schiller iſt eine größere Kunſtleiſtung, er iſt aber nicht inniger und jedenfalls nicht annähernd fo 94 Michel de Montaigne . naiv wie dieſe Todtenklage Montaigne's. Sein Bild kann durch keinen herzgewinnenderen Zug vollendet werden ( Buch I , Capitel 27 ) : „ Was wir gemeiniglich freunde und freundſchaften nennen , das ſind nur Bekanntſchaften und Beziehungen, geknüpft durch irgend welche Gelegenheit oder ein Bequemlichkeitsbedürfniß, nur eine Unter: haltung der Seelen . In der Freundſchaft, von der ich ſpreche, miſchten ſich die Seelen ſo innig, daß die Stelle nicht mehr ſichtbar iſt, wo ſie ſich ſo mit einander verbunden haben . Dringt man in mich, warum ich ihn liebte ? - ſo fühle ich , da rauf läßt ſich nichts andres antworten als : „ Weil Er es war, und weil Jch es war ! " Jenſeits aller Erklärungen gab es eine unerklärliche Schickjalsmacht, die dieſe Vereinigung zu Wege gebracht. Wir ſuchten uns, bevor wir uns geſehen, und Berichte über einander brachten eine größere Reigung bei uns hervor, als es ſonſt in der Natur ſolcher Berichte liegt . Es muß wohl eine geheime Abſicht des Himmels dabei obgewaltet haben . Wir umfingen einander mit unſern Namen ( ! ), und bei unſerer erſten Begegnung, die zufällig auf einem großen feſt und inmitten einer zahlreichen Geſellſchaft in der Stadt ſich ereignete, fanden wir uns ſo von einander eingenommen, ſo bekannt, ſo innig verbunden , daß uns ſeitdem nichts ſo nahe ging wie Einer dem Undern. Da unſere Freundichaft ſo wenig Dauer vor ſich hatte und ſo ſpät begonnen worden ( denn wir waren zu der Zeit Beide reife Männer, und er um einige Jahre älter als ich ), ſo hatte ſie keine Zeit mehr zu verlieren und durfte ſich nicht richten nach dem Muſter der flachen und gewöhnlichen freundſchaften, die zu ihrer Befeſtigung erſt aller mög: lichen Präliminarien erheiſchen . Unſere Freundſchaft war auf nichts andres aus als auf ſich ſelber . Ein gewiſſer feinſter Extract unſerer Seelenmiſchung nahm meinen Willen gefangen und trieb ihn an, ſich ganz in ſeinem Willen zu verlieren, und ſeinem Willen ging es dem meinen gegenüber nicht anders . Ich ſage : verlieren , denn in Wirk: lichkeit gab es für Keinen von uns mehr ein Mein oder Dein der Seelen .“ 20 VI. Nicolas Boileau. ( 1636—1711 . ) B oileau hat nicht ein einziges Werk hinterlaſſen , welches den Anſpruch erheben kann, zur Poeſie, zur großen Literatur zu zählen, — dennoch iſt er für den Geift des 19. Jahrhunderts der iypiſche Schriftſteller. Neben ihm lebten große Dichter, darunter die drei oder vier, welche das claſſiſche Zeitalter der franzöſiſchen Literatur ausmachen : Corneille, Racine, Molière, Lafontaine ; aber den Mittelpunkt bildete Boileau, ſoweit neben Ludwig XIV. ein zweiter Mittelpunkt überhaupt möglich war. Bei Rabelais und Montaigne erfreuten wir uns an der Ungebundenheit der urſprünglichen individuellen Kraft, an der unverfälſchten galliſchen Verve ihrer jedem Regelzwange trotzenden Perſönlichkeit . Boileau vertritt eine Seite des franzöſiſchen Geiſtes, die in der 96 Nicolas Boileau. und zwar Literatur wie in der Politik zu den verſchiedenſten Zeiten machtvoll ſich zur Geltung gebracht: die Tyrannei der Uutorität, die Regel, die Herrſchaft eines mittel mäßigen Einzelnen über die ganze Nation. Von der Stellung , welche Boileau als eine Art von unfehlbarem Literaturpapſt einnahm , können wir uns heute kaum einen Begriff machen. Die blinde Unterwerfung einer ganzen großen Partei unter den Willen eines Mannes, wie frankreich ſie während der Vera Gambetta's erlebt, iſt nur ein entferntes Ubbild der unerbittlichen Univerſalgewalt, welche Boileau über die ganze Republik der Literatur im 17. Jahrhundert geübt, geübt ohne ein einziges Ehrfurcht gebietendes eigenes Werk aufzuweiſen ; init nichts anderm als mit einem Haufen unbewieſener dogmatiſcher Regeln. Boileau war ein Staat im Staate Ludwigs XIV. Der König, von ſeiner eigenen literariſchen Unzuläng lichkeit in Geſchmacsfragen überzeugt, ließ den von ganz Paris als das äſthetiſche Orakel angeſehenen Boileau als ſolches walten . Auch er , der rückſichtloſeſte Uutokrat, den die moderne Welt geſehen, beugte ſich der Geſchmackſtrömung, die von Boileau geleitet wurde. Des Königs Uchtung hatte ſich der zum Hofmann geborne Nicolas Boileau gleich bei der erſten Vorſtellung erobert . Von dem Monarchen aufgefordert, ihm ſeine ſchönſten Verſe herzuſagent, declamirte er ohne zu ſchwanken : Nicolas Boileau . 97 L'univers sous ton règne a- t - il des malheureux ? Est- il quelque vertu dans les glaces de l'Ourse, Ni dans ces lieux brûlés où le jour prend sa source, Dont la triste indigence ose encore approcher Et qu'en foule tes dons d'abord n'aillent chercher ? (Epiſtel an den König .) Tiefgerührt durch dieſe Cobhudelei bewilligte ihm der König auf der Stelle eine Penſion von 2000 franken. Zeitlebens hat Boileau ſich der Gunſt Ludwigs XIV. erfreut und ſie auch verdient. Boileau war ganz der Mann nach des Königs Herzen : ein feind aller Eigenart , der geſchickteſte Schmeichler, aber dabei ein aufrichtiger Bewunderer ſeines Herrn. Man darf ſich Boileau nicht als einen überzeugungsloſen, kriecheriſchen Streber vorſtellen, der wider beſſeres Wiſſen in die Hymnentrompete ſtößt. Nein, Boileau glaubte wirklich , das Zeitalter Ludwigs XIV. wäre eine Periode gleicher dichteriſcher Blüte wie das Perikleiſche oder Uuguſteiſche, und in einer folchen Zeit am Hofe des perückenumflatterten modernen Uuguſtus den Horaz zu ſpielen , konnte einen Beſſeren als Boileau reizen . Horaz und das elegante Römertum das waren Boileau's Vorbilder. Mit Gewalt kämpfte er ſein trotz alledem galliſches Naturell nieder, um den richtigen Hofkammerton zu treffen , -- und man muß ſagen : ſoweit es überhaupt einem Sterblichen möglich iſt, aus ſeiner nationalen Haut herauszukommen, ſoweit iſt es Boileau gelungen, ſich zu entgalliſirent . Seine Engel, Piychologie. 7 98 Nicolas Boileau. Satiren und Epiſteln erinnern wirklich von weitem , aber ganz von weiten an Horaz, nicht nur in den abſichtlich nachgeahmten Stellen der „Dichtkunſt“ . freilid , jener dem ganzen franzöfiſchen Schriftert: tum des 17. Jahrhunderts anhaftenden Convention der Sprache iſt auch Boileau nicht entgangen . Das unterſcheidet ihn und ſeine freunde von den Schrift ſtellern des 16. Jahrhunderts. Rabelais ſowohl wie Montaigne, um nur die größten zu nennen , haben ſich ihren Stil ſelbſt geſchaffen und ſich trotz ihrer claſſiſchen Beleſenheit von keinem Griechen noch Römer weſentlich beeinfluſſen laſſen ; – Boilean, und mit ihm Corneille und Racine, ja ſelbſt Molière und Lafontaine, ſchreiben mehr oder minder alle dasſelbe franzöſiſch, ein fran zöſiſch voll ſtereotyper Redensarten , voll ſtehender Metaphern, eine Sprache, in der „ die Liebe “ zehnmal mes feux oder mes voeux oder mes flammes, und nur einmal l'amour genannt wird , in der man für „ Ehe" niemals mariage, fonderit regelmäßig hymen fagt, und in der man halb im Schlaf halbe Verſe erraten kann , itachdem man den vorhergehenden Vers mit ſeinem Reim geleſen. Das kommt zum Teil daher : im 16. Jahr hundert gab es in Frankreich noch eine Provinzliteratur , Rabelais und Montaigne waren keine Pariſer, ihnen ſchrieb kein Hof und kein Boileau vor, welche Wörter ,, edel" , welche „ niedrig " wären ; ſie konnten ſchöpfen und haben geſchöpft - der Eine aus dem Volksidiom der Touraine, der Andere aus der farbigen Sprache Süd Nicolas Boileau . 99 frankreichs . Seit dem 17. Jahrhundert, ſeit Malherbe , am beſtimmteſten feit Boilean iſt die franzöſiſche Literatur eine Pariſer Literatur, und zwar für ein ganzes Jahrhundert zunächſt eine Hofliteratur. Wer nicht nach dem Geſchmack des Hofes ſchreibt, wird unmöglich, wird hinweggeſtoßen von dem Gnaden : born, der ſich in der Form von Penſionen oder literariſchen Hofämtern über die Schriftſteller ergießt. Boileau und Racine ſind Hofhiſtoriographen geweſen, – Lafontaine, deſſen Erzählungen dem frommgewordenen Liebhaber der Maintenon ein Greuel waren, hat nicht Amt noch . Penſion erhalten und iſt nur mit Müh und Noth in die Akademie gedrungen. Boileau war eine Art von literariſchem Miniſter ohne Portefeuille. Der König verließ ſich blindlings auf deſſen poetiſchen Geſchmack, auch dann, wenn er dem eigenen nicht entſprach . Das beweiſt die vielleicht nicht wahre, aber ſehr hübſch erfundene Anekdote : auf die frage des Königs, wen Boileau für den bedeutendſten dichteriſchen Zeitgenoſſen halte, habe er geantwortet: Molière, worauf der König : Ich hätte das nicht geglaubt, aber Sie müſſen das beſſer verſtehen als ich . Gemißbraucht hat Boileau ſeine unumſchränkte Vertrauensſtellung beim Könige niemals. Wie gering man auch über ſeine eigenen dichteriſchen Leiſtungen ein beſſerer Richter über das wahr: haft Bedeutende der Literatur ſeiner Zeit hat damals nicht gelebt . Dieſer ſichere Geſchmack und die Mann : urteilen mag, 7* 100 Nicolas Boileau . haftigkeit des Eintretenş für ſeine kritiſche Ueberzeu gung ſind Boileau's bleibende Ehrentitel bei der Nach welt. Sein Umgang war der beſte des damaligen frank: reichs : Racine, Molière und Lafontaine waren ſeine Herzensfreunde, – der Herzog de la Rochefoucault, Ma: dame de Lafayette ( die Verfaſſerin des ſchönſten Romans des 17. Jahrhunderts: ,, Die Prinzeſſin von Cleve“) und Madame de Sévigné ſein ſteter Umgang. Gleich Mon taigne liebelos durchs Leben wandelnd, hat auch Boileau aus der freundſchaft die edelſten freuden ſeines Lebens geſchöpft. Wo es gilt , da tritt er für ſeine freunde ein , namentlich da, wo in der Freundestat zugleich der ehrliche Kritiker ſeine Genugtuung findet. Molière's Tartuffe wird von der Geiſtlichkeit an der Uuf führung gehindert ? Flugs ſchreibt Boileau in ſeiner „ Rede an den König" gegen die „ Bigotten" die ener giſchen Verſe : En vain d'un lâche orgueil leur esprit revêtu Se couvre du manteau d'une austère vertu ; Leur coeur qui se connaît, et qui fuit la lumière , S'il se moque de Dieu, craint Tartuſſe et Molière. Und als nach dem Tode Molières der Haß der Kleriſei dem größten Sohne Frankreichs „ ein wenig Erde “ als letzte Ruheſtätte verweigerte, dichtete Boileau (in ſeinem Brief an Racine, 1677) jene ſchöne Todten klage , die einzigen zum Herzen gehenden Verſe, die er überhaupt je geſchrieben : Nicolas Boileau . 101 Avant qu'un peu de terre , obtenu par prière , Pour jamais sous la tombe eût enfermé Molière, Mille de ses beaux traits , aujourd'hui si vantés , Furent des sots esprits à nos yeux rebutés. Daß er die von der Hofgeſellſchaft verworfene Phädra Racine’s trotz dem Hofe öffentlich dem erbärm : lichen gleichnamigen Stück Pradou's vorzog , – daß er zu Gunſten des verarınten alten Corneille auf ſeine Penſion verzichten zu wollen erklärte und ſo den König moraliſch zwang, ſich des Reſtors der franzöſiſchen Tragödie anzunehmen, - das ſind Züge, die ebenſo ſehr für Boileau's gutes Herz wie für ſeinen guten Geſchmack zeugen . Auch hat er da , wo er nicht durch irgend eine Regel des Ariſtoteles oder ſonſt eine Uutorität, und nicht durch einen Machtſpruch des Königs beengt war, das gute Recht der wahren Schönheit gegen über der Hofmode wacker verteidigt. Ergötzlich in dieſer Beziehung iſt die Stelle ſeiner offenen Briefe an Perrault (den Verfaſſer der berühmten Feenmärchen "), worin er die Worte der Bibel : „ Und Gott ſprach : es werde Licht! und es ward Licht" als wahrhaft erhaben bezeichnete. Alſo es gab im 17. Jahrhundert Schrift ſteller, welche jene in ihrer Einfachheit grandioſen Worte für nicht erhaben hielten ! Sein äſthetiſches Glaubensbekenntniß hat Boileau in der Horaz nachgeahmten „ Dichtkunſt “ ( 1674) aus : geſprochen. Außer einigen banalen Hedensarten in der Einleitung, wonach ein rechter Dichter unter glücklichem Stern geboren ſein müſſe, dreht ſich dieſe ganze Schul 102 Nicolas Boileau. meiſterei in vier Geſängen um die Regeln, deren Befol gung einem Verſemacher den Lorbeer des Dichters fichern . Regeln, – das iſt das Geheimniß. Dazu muß natürlich die Gnade eines Großen in klingender Münze ſich geſellen ; „ Gar leicht kann ein Auguſt uns auch Virgile ſchaffen “ ſchreibt Boileau in der vollen Ueberzeugung, mitten im Zeitalter der Uuguſtuſſe und Virgile zu leben. Nun, ſeitdem hat man in der Kenntniß vom Weſen des Dich : ters einige fortſchritte gemacht und nimmt z . B. die tiefe Herzeisempfindung gepaart mit plaſtiſcher Phan: taſie als unerläßliche Vorausſetzungen aller Versſchrei berei an . Von dergleichen hat Boileau keine Ahnung. ,, Die Vernunft“ und der geſunde Menſchenverſtand " ſind ihm die Hauptſache in der Poeſie : Aimez donc la raison · que toujours vos écrits Empruntent d'elle seule et leur lustre et leur prix . Und mit einem giftigen Seitenblick auf die üppige Phantaſtik Urioſto’s rühmt er den geſunden Menſchen : verſtand als das Endziel aller Poeſie Evitons ces excès : laissons à l'Italie De tous ces faux brillants l'éclatante folie . Tout doit tendre au bon sens . Als Boileau dies ſchrieb, waren noch keine vollen hundert Jahre ſeit dem Erſcheinen der Eſſais von Mon : taigne verfloſſen und ſchlief der Verfaſſer des Panta: gruel erſt ſeit 120 Jahren dem „ großen Vielleicht“ entgegen.

Nicolas Boileau . 103 Boileau ſchreibt franzöſiſch, nicht weil es ein Volk gibt, welches franzöſiſch ſpricht, ſondern weil ein König und fein hof in Paris und Verſailles franzöſiſch leſen . Nichts iſt ihm ein größerer Greuel als die Anlehnung an die Volksſprache, dieſe ſtärfſte Stütze der Schöpfer der franzöſiſchen Proſa im 16. Jahrhundert. Es gibt für ihn nur das Lerikon der Sprache von Verſailles , außerhalb desſelben das Chaos und die Verdammniß . Boileau hat keine Ahnung davon , daß jede National Literatur ein Abbild des Geiſtes des ganzen Volkes ſein müſſe. Jhm find Sophokles und Euripides nur die Hofdichter des Perikles ; die römiſche Literatur iſt ihm ſelbſtverſtändlich nur die des Auguſtus. Begriffe wie „ Volk “, „ Volksliteratur “ ſind ihm ſo fremd wie die der Elektricität oder der Dampfkraft. für ihn datirt die ganze franzöſiſche Literatur erſt ſeit dem Jahre 1600, in welchem Malherbe’s, des erſten wohlbeſtallten Hofpoeten, Gedichte erſchienen und der regelloſen , der ſchrecklichen Zeit des „ Mittelalters " ein Ende machten . Mit welcher Inbrunſt ſtößt er den Seufzer der Befrie : digung aus, da wo er in der „ Dichtkunſt“ nach einer von Unwiſſenheit ſtrotzenden Ueberſicht über die alt : franzöfiſche Literatur ruft : Enfin Malherbe vint , et , le premier en France , Fit sentir dans les vers une juste cadence, D'un mot mis en sa place enseigna le pouvoir, Et réduisit la muse aux règles du devoir. Die Muſe unter dem Joch der „ Regeln der Pflicht !" ein Bild von grotesker Komik, aber für Boileau 107 Nicolas Boileau . dia und ſeine Zeitgenoſſen das natürlichſte Ding von der Welt. Boileau's ,, Dichtkunſt" hat ſeitdem in jedem fran . zöſiſchen Lyceum die Rolle eines äſthetiſchen Leitfadens geſpielt, und da wundert man ſich , daß die Rückkehr zur Natur, die Befreiung von dem Regelzwang mehr als anderthalb Jahrhunderte, bis zu den Romantikern, hat auf ſich warten laſſen, ja daß noch heute die Spuren dieſer geiſtigen Verkrüppelung in dichteriſchen fragen nicht ganz ausgetilgt ſind . Noch heute iſt Boileau eine Autorität wenigſtens für den Schulunterricht, denn in den franzöſiſchen Lyceen reicht der Unterricht in der eigenen Literatur nur bis ins 18. Jahrhundert, ganz ſo wie in deutſchen Gymnaſien. Ludwig XIV . liebte die Poeſie nur, in ſo weit ſie zur Hofpoeſie ſich eignete : alſo die pathetiſche , feierliche Tragödie , die Komödie nur mit ihren gräciſirenden Helden Alceſt, Oront, Clytandre, Damon u . f. w.; ſo dann die Ode, die Epiſtel, die Hymne. Darum ſtand ihm Boileau ſo nah, denn dieſer ſchrieb nicht nur ſelbſt keine andern Verſe , als die mit der Hofpoeſie verträg : lich waren , ſondern bekämpfte auch alles, was in dem geheiligten Bezirk des Hofes ſich an volkstümlicher Poeſie hervorwagen mochte. Das geſchah nicht aus Liebedienerei gegen den Hof, — nein , aus eigener, inner ſter Neigung. Er hat es ſelbſt Molière nicht verziehen , den er doch aufrichtig liebte , daß er 31 folchen Typen Nicolas Boileau . 105 wie Sganarelle, Scapin oder ſelbſt George Dandin gegriffen. Man höre den unzufriedenen Schulmeiſter : Molière, illustrant ses écrits, Peut - être de son art eût remporté le prix, Si , moins ami du peuple, en ses doctes peintures Il n'eût point fait souvent grimacer ses figures, Quitté, pour le bouffon , l'agréable et le fin , Dans ce sac ridicule où Scapin s'enveloppe , Je ne reconnais plus l'auteur du Misanthrope. Alles foll feierlich, majeſtätiſch klingen , wo ein Monarch wie Ludwig Xiv. weilt . Daher das ganze heer poetiſcher Etikette Regeln , welche Boileau als literariſcher Hausmarſchall des Königs aufſtellt und deren Verletzung die allerhöchſte Ungnade zum Mindeſten den Zorn Boileau's nach ſich zieht. Un einem ſo wohlgeregelten Literaturhof muß Jeder ſeine beſtimmte Stelle kennen ; die Ordnung, die „ Regeln der Pflicht“, der „Menſchenverſtand“, die „ Vernunft“ herrſchen mit erkältender Strenge. Dazu die völlige Täuſchung über das Weſen der antiken Dichtung und zugleich die Einbildung, den Griechen und Römern in Denkweiſe und Ausdruck ähnlich zu ſein . Es iſt nicht zufällig, daß im 19. Jahr hundert jener Mißbrauch der griechiſchen Mythologie begann, der ſich bis zum Ende des 18. mit in : geſchwächter Kraft fortpflanzte : Boileau und ſeine Verehrer glaubten alles Ernſtes, daß auch die Griechen und Römer jene mythologiſchen Zierate nicht als Uus druck eines echten religiöſen Gefühls angeſehen, ſondern lediglich dichteriſche Hilfsmittelchen in ihnen geſucht 106 Nicolas Boileau . hätten . Eine Poeſie, welche jedes Ding beim rechten Namen nennt, iſt Boileau unfaßbar. Jm III . Buch feiner „ Dichtkunft" ſchreibt er den Gebrauch jener bis zum Ueberdruß bekannten mythologiſchen Floskeln auss drücklich vor : Minerve est la prudence, et Vénus la beauté. Ce n'est plus la vapeur qui produit la tonnerre, C'est Jupiter armé pour effrayer la terre ; Un orage terrible aux yeux des matelots, C'est Neptune en courroux qui gourmande les flots . Echo n'est plus un son qui dans l'air retentisse , C'est une nymphe en pleurs qui se plaint de Narcisse . Und mit ernſtem Geſicht fügt Boileau hinzu : Sans tous ces ornements le vers tombe en langueur, La poésie est morte ou rampe sans vigueur, Le poëte n'est plus qn'un orateur timide , Qu’un froid historien d'une fable insipide . Seit jenen Tagen hieß für die literariſchen Hämmel dieſes kritiſchen Panurg das Meer ſtets » Neptune « , die Weisheit » Minerve « , der Donner »Jupiter« , und ſo das ganze Regiſter der griechiſchert und römiſchen Götter geſellſchaft hindurch . Die hübſche Unekdote über Béran: ger, der zuerſt mit Sieſen mythologiſchen Schablonen gebrochen, iſt bekannt, kann aber zum zweiten Mal geleſen werden. Von einem Akademiker gefragt : „ Wie würden Sie das Meer in der Sprache der Poeſie aus: drücken ? " ſoll Béranger geantwortet haben : „ Das Meer !" „ Und Neptun, Thetis und Amphitrite ? " „ Die gehen mich gar nichts an . “ Unnatur, Regelzwang, Routine, - das ſind ſeit Boileau's Tagen die Klippen der franzöſiſchen Dichtung. Nicolas Boileau . 107 Man wird bei der Lectüre der von ſeinem Geiſt be: ſeelten Poeſie des 17. und 18. Jahrhunderts nicht allein in Frankreich das Gefühl nicht los, als röche man an eingeſtaubten, vertrockneten oder ganz und gar künſtlichen Blumen . Dieſe Dichtung hat nicht einmal den drolligen Reiz, den die Rococo- Zeit ſonſt für uns hat : ſie iſt ſteif, ohne maleriſch zu ſein , trägt eine pudrige Perücke, aber keinen zierlichen hochſtelzigen Damenſchuh, keinen bauſchigen Reifrock, nicht einmal ein Schönheitspfläſterchen an einladenden Stellen . Was Boileau von der Poeſie ſagt, wäre vortrefflich , auf die Proſa angewandt. Seine eigenen ſogenannten Dich tungen ſind als eine Art höherer Proſa ganz meiſter haft in der form , und man begreift nicht, warum er das Wenige, was er zu ſagen hatte, nicht in Proſa geſagt hat. Gegen einen nichtsnutzigen Reimer ſchleudert er zwar den Vorwurf : „ Warum ſchreibt er nicht Proſa ? " aber auf ihn ſelbſt paßt vortrefflich , was der Satiriker égnier ( 1573—1613 ) von Boileau's Vorläufer und Geiſtesgenoſſen Malherbe gejagt : Nul aiguillon divin n'élève leur courage , – Froids à l'imaginer : car s'ils font quelque chose, C'est proser de la rime et rimer de la prose . Uebrigens haben auch bald nach Boileau einſichtige franzoſen ſeine Schwäche ganz richtig erkannt; von Marmontel rührt das Wahrwort her : 108 Ylicolas Boileau . ! Peintre correct , bon plaisant , fin moqueur, Même léger dans sa gaîté pénible ; Mais je ne vois jamais Boileau sensible Jamais un vers n'est parti de son coeur !

Boileau hat erſtaunlich wenig Neues zu ſagen ; er iſt klar, aber leer. Die Kunſt der franzöſiſchen Literatur, mit einem winzigen Inhalt ein Buch zu machen , hat er verſtanden wie ein Meiſter. Nicht einmal ſeine Regeln waren beſonders nen ; aber er wußte ſich bei ihrer formulirung ſo geſchickt in die Wolke des Geſetzgebers 311 hüllen, daß ſie erſt durch ihn ihre höhere Weihe zu erhalten ſchienen . Er iſt es geweſen, welcher den Hemmſchuh der geſammten franzöſiſchen Tragödie des 17. und 18. Jahrhunderts : die berüchtigte forderung der drei dramatiſchen Einheiten - zwar nicht erfunden, aber in eine leicht zu merkende faſſung gebracht hat, und erſt ſeit Boileau in der „ Dichtkunſt“ den Unſinn beſtätigt hatte : Qu'en un lieu , qu'en un jour, un seul fait accompli Tienne jusqu'à la fin le théâtre rempli galt er als geheiligtes Geſetz. Uehnlich ging es mit Boileau's Verbot der Behandlung religiöſer Conflicte. Wenn wenigſtens dieſe Geſetzmacherei vom grünen Tiſch der Literatur mit Geiſt vorgetragen würde ! Uber Boileau entbehrt, merkwürdig genug, ſo gut wie ganz des franzöſiſchen Esprit. Seine Sprechweiſe iſt trivial Nicolas Boileau. 109 bis zur platten Dummheit. Von der Ehe weiß er die Neuigkeit : Hymen hat ſeine Freuden ſo gut wie ſeine Leiden, und aus der „ Dichtkunſt “ ließe ſich ohne Mühe eine ganze Sammlung von Vorſchriften und Redensarten ausziehen , die ſelbſt zu Boileau's Zeiten dem unbefan genen Leſer wie das ausgedroſchenſte Stroh vorge : kommen ſein müſſen. Und ein ſolcher Schriftſteller hat Satiren ge ſchrieben ! In Nachahmung der Satiren des Horaz, ver ſteht ſich ; nur daß Grazie, Witz und jene Geiſtesfreiheit, wie ſie Horaz eigen und unter Uuguſtus möglich waren, Boilean fehlten oder ſich mit Ludwigs XIV. Macht willen nicht vertrugen . Die Kritik, und nun gar die des Satirikers , duldete der König nicht. Auch Molière's ſchärfſte dramatiſche Satiren ſtammen aus der Anfangs zeit der Vera Ludwigs XIV. , und ſein Tartuffe konnte nur mit Mühe die fönigliche Genehmigung zur Auf: führung erhalten . Was Boileau an Grazie und weltmänniſcher Be gabung, ja was er allenfalls an Esprit beſaß , das hat er auf dem Weihrauchaltar höfiſcher Schmeichelei ge opfert. Er kannte alle Höhen und Tiefen dieſer wohl gelittenen Kunſt und verſtand ſelbſt dem verwöhnten Uutokraten neue Genüſſe der Wolluſt der Schmeichelei zu verſchaffen . Und damit die Süßigkeit nicht auf die Länge fade würde, fügte Boileau das Salz der ſcheini baren Offenherzigkeit zu der breiten Bettelſuppe ſeiner 110 Nicolas Boileau . Epiſteln , Anreden und Oden an den König. Die Schmeichelei macht ihn ordentlich witzig: ſo wenn er dem Könige, der ihm jammervolle eigene Verſe vor geleſen und ſein Urteil hören wollte, mit dem unter : tänigſten Geſichtsausdruck antwortet : „ Sire, Ihnen iſt nichts unmöglich . Eure Majeſtät haben ſchlechte Verſe machen wollen, und es iſt Ihnen gelungen .“ Ge wöhnlich findet Boileau alles an Ludwig XIV. göttlich , einzig, und nichts iſt ihm geläufiger, als ſich gegen den Vorwurf der Schmeichelei zu verwahren , nachdem er juſt eben eine der qualmigſten Weihrauchwolken ver: breitet hat. Hier eine jener literariſchen Mumien : Jeune et vaillant héros, dont la haute sagesse N'est point le fruit tardif d'une lente vieillesse , Et qui seul , sans ministre , à l'exemple des dieux, Soutiens tout par toi-même, et vois tout par tes yeux Mais je sais peu louer, Das »Je sais peu louer « iſt unbezahlbar. Ebenſo erbaulich iſt der Anfang der 8. Epiſtel: Hör auf zu ſingen, König, ſonſt hör ich auf zu ſchreiben. Dieſe Epiſtel iſt überhaupt ein wahres Meiſterwerk Fäuflicher Literatur , – ſie iſt das Geſchickteſte, was dieſer einſt ſo mächtige Schriftſteller verfertigt, ein Denkmal ſeiner eigenen Sinnesart und zugleich ein Kleinod der Culturgeſchichte. Der Raum geſtattet nur einige erleſene Verſe daraus mitzuteilen : Ton courage , affamé de péril et de gloire , Court d'exploits e : exploits, de victoire en victoire . Souvent ce qu'un seul jouir te voit exécuter Nous laisse pour un an d'actions à compter . Nicolas Boileau . 11།

Ma muse , occupée à cet unique emploi, Ne regarde , n'entend , ne connaît plus que toi ! Tu le sais bien pourtant, cette ardeur empressée N'est point en moi l'effet d'une âme intéressée . Avant que tes bienfaits courussent me chercher, Mon zèle impatient ne se pouvait cacher : Je n'admirais que toi . Le plaisir de le dire Vient m'apprendre à louer au sein de la satire . Um dem Porträt eines ſolchen Hofpoeten den letzten Zug zu geben , ſchließe ich mit den tugendſam ent rüſteten Verſen , in denen Boileau die Schriftſteller ver dammt, welche von dem ehrlichen buchhändleriſchen Ertrage ihrer Bücher leben. Er hatte das freilich nicht nötig ! Travailler pour la gloire , et qu’un sordide gain Ne soit jamais l'objet d'un illustre écrivain . Je sais qu'un noble esprit peut, sans honte et sans crime , Tirer de son travail un tribut légitime ; Mais je ne puis souffrir ces auteurs renommés, Qui , dégoûtés de gloire et d'argent affamés, Mettent leur Apollon ( ! ) aux gages d'un libraire , Et font d'un art divin un métier mercenaire. Das ſchrieb derſelbe Boileau, der damals eine Jahrespenſion von mehreren tauſend franken vom Könige als Bezahlung für ſeine Hymnen und Oden bezog . Es hat eines vollen Jahrhunderts bedurft, um die franzöſiſchen Schriftſteller auch pecuniär vom Hofe unabhängig hinzuſtellen und damit der Literatur die perſönliche Wiirde wiederzugeben, welche ſie allemal unter dem Mäcenatentum und der Königsgunſt einbüßt. ! waWanna VII. Der Herzog de la Rochefoucault. ( 1613— 1680. ) B oileaus „ Dichtkunſt“ und ſeine ſonſtigen äſthe: tiſchen Weisheitsſprüche nennen das Gebiet nicht, auf dem dieſer erlauchte Duc ſeinem Titel Ehre gemacht : ein führer zu ſein . Der Herzog de la Rochefoucault hat ſein Genre für frankreich erfunden und iſt bis heute deſſen berühmteſter Vertreter geblieben : des eſpritvollen Para: dorons, des ſprachlichen Atticismus . Worin beſteht jenes geheimniſvolle Erkennungs zeichen des literariſchen Frankreichs , welches ſeit nun mehr zwei Jahrhunderten in der ganzen gebildeten Welt als franzöſiſcher Eſprit" bezeichnet wird ? Unſerm „ Geiſt “ entſpricht es ſo wenig genau, wie überhaupt zwei Wörter zweier Sprachen einander nie genau ent : ſprechen . Es läßt ſich beſſer fühlen als erklären, Der Herzog de la Rochefoucault. 113 oder erklären doch nur durch Beiſpiele. Ein Schrift. ſteller, der Sätze niedergeſchrieben wie : „ Es gibt gute Ehen, aber feine entzückenden . “ „ Die Heuchelei iſt eine Huldigung des Caſters an die Tugend." „ Wir haben Ulle Kraft genug, die Leiden der Andern zu er : tragen “ hat Eſprit. Darf ich zu den vielen Definitionen dieſer beſonderen Eigenſchaft franzöſiſcher Schreibweiſe eine neue zu fügen wagen, ſo möchte ich Eſprit erklären als die Gabe, das Geheimniß aller Welt in einer durch Kürze und ſcharfe Gegenſätzlichkeit des Ausdrucks be ſtechenden form fo auszuſprechen , daß alle Welt den Uusſpruch wegen der neuen form auch für neu im In halt hinnimmt und in dem Autor den Entdecker ſieht. Uuf den Herzog de la Rochefoucault wenigſtens und ſein einziges Werk : » Maximes et réflexions morales « ( 1665) trifft dieſe Erklärung zu. Der Reiz ſeiner Uus: ſprüche, 528 an der Zahl, beruht nicht in der Neuheit ihres ethiſchen Gehalts, ſondern in dem funkelnden Eſprit der ſprachlichen und gedanklichen form . Die treffende Kürze des pfeilgeſpitzten Wortes ſie iſt's , die uns blendet, entwaffnet, hinreißt. Das hatte vor de la Rochefoucault Keiner fertig gebracht; vor ihm war das franzöſiſche eine weitſchweifige, behäbige , ja geſchwätzige Sprache geweſen . Man kann von Mon taigne's Stil alles Schöne rühmen, aber Schärfe iſt keine jeiner Zierden . Montaigne dachte in Sprüngen und verzeichnete jeden Querſprung, auch wenn er ihn vom Ziele abführte. Erſt de la Rochefoucault lehrte fich Engel, Piychologie . 8 114 Der Herzog de la Rochefoucault. und die franzöſiſchen Schriftſteller, nicht die ganze Ge: dankentätigkeit mit all ihren Zwiſchenſtadien und ihrem Beiwerk von Uebergängen in der literariſchen Form zu wiederholen, ſondern nur die Reſultate des Denkens, dieſe aber ſo wuchtig wie möglich , auszuſprechen . Die deutſche Kritik iſt nur zu leicht geneigt, dieſe den franzoſen ganz beſonders eigentümliche Art der Schriftſtellerei für gleichbedeutend mit Oberflächlichkeit zu halten . Aber auch ſie iſt nur eine Folge des weſent: lich geſelligen Charakters der franzöſiſchen Literatur, der lebhafter gefühlten Wechſelbeziehung zwiſchen Autor und Publicum . Der deutſche Schriftſteller läßt den Leſer ſehr gemütlich und familiär in ſeine Gedankenwerkſtätte ein , zeigt ihm alle Spähne und Splitter , die bei der Arbeit umhergeflogen ſind, erklärt ihm alles ſo ein dringlich , daß der Leſer , ohnehin etwas denkträge, nun überhaupt nichts mehr zu denken findet, ſondern alles aufs Beſte verſteht, gerade ſo gut wie der Autor , und ſo den Reſpect vor dem Buch und dem Bücherſchreiber verliert. Ganz anders der franzoſe, und beſonders ganz anders dieſer hierin franzöſiſcheſte aller franzoſen : der Herzog de la Rochefoucault. Sein Herzogtum ſpiegelt ſich ſelbſt in ſeinem Stil wieder. Da iſt nirgends eine ſpießbürgerliche Wichtigtuerei , feine aufdringliche Eitelkeit, die dem Leſer zuruft: nicht wahr, dies iſt ſehr geiſtreich ? Dieſer Grandjeigneur läßt Niemand zu ſich ein bei der Arbeit, er verrät keines Der Herzog de la Rochefoucault. 115 de feiner Ateliergeheimniſſe, belegt feinen feiner über: raſchenden Ausſprüche durch den Hinweis auf ſeine Erfahrungen, deren Reichtum bei ſeinem bewegten Leben in den höchſten politiſchen und geſellſchaftlichen Kreiſen ſich ja ganz von ſelbſt verſteht, und bemüht ſich, jedem ſeiner Sätze die unumſtößliche Form der Uutorität zu geben , welche einen Widerſpruch gar nicht an ſich herankommen läßt. Er polemiſirt nicht, er ſagt nur ſeine wohlüberlegte Meinung, iſt aber gar nicht neugierig, die Meinung eines Undern zu hören . Man hört immer einen Ton hindurch wie : „ Ich, der Herzog de la Rochefoucault, habe meine lange Lebenserfahrung in dieſer Satz gepreßt , wer wagt mir zu wider ſprechen ?!" Und das iſt ja das Geheimniß wahrer ſeeliſcher Aufrichtigkeit, daß ſie nicht allein den Schleier hebt von der Seele deſſen , der ſie an ſich ſelbſt übt, ſondern uns, die wir ihre Blöße ſehen , zugleich unſer eigenes Innere enthüllt und um uns alle das Band einer ſeeliſchen Vertrautheit ſchlingt . Der Herzog de la Rochefoucault gehört der Zeit und dem Weſen nach mehr zu der Schule des 16ten Jahr: hunderts, als zu der des 17ten . Montaigne war ſeine Lieblingslectüre, und ihm ähnelt er am meiſten in der peſſimiſtiſchen Lebensauffaſſung, der Zweifelſucht, der egoiſtiſchen Welterklärung. Nur iſt bei dem Herzog alles viel ertremer, viel härter geworden. Der Peſſimismus, bei Montaigne nur an einzelnen Stellen ſichtbar, und auch da in verſöhnliche formen gekleidet , gibt ſich bei 8 * 116 Der Herzog de la Rochefoucault. Rochefoucault mit einer an Menſchenhaß und Cynismus ſtreifenden Herbigkeit. Die franzöſiſche Literatur des Mittelalters und der Renaiſſance iſt überwiegend opti miſtiſch gefärbt ; darum erſchrickt man förmlich , wenn man plötzlich bei einem Schriftſteller des 17. Jahrhun derts auf folche Sätze ſtößt, wie die von Rochefoucault : „ Es gibt gewiſſe Tränen , die oft uns ſelbſt täuſchen, nachdem ſie die Undern getäuicht haben . " „Wenige ehrbare frauen , die dieſes Handwerks nicht müde wären . “ „ Oft würden wir unſerer ſchönſten Handlungen uns ſchämen , ſähe die Welt alle Beweggründe derſelben . “ „ Unſere Reue iſt weniger ein Bedauern der Sünde, die wir be: gangen haben, als eine furcht vor dem Uebel, das für uns daraus erfolgen kann .“ war vom Rochefoucault hat in die franzöſiſche Literatur die peſſimiſtiſche Auffaſſung von der Menſchennatur eingeführt, – die Blindheit gegen die unleugbar edlen Regungen des Menſchenherzens, das gefliſſentliche Uufftöbern der Nachtſeiten im Gefühlsleben. Bei Rochefoucault perſönlich dieſe Anſicht Menſchen die folge der bittern Enttäuſchungen, wie ſie bei einem im Vordergrunde politiſcher Fehden ſtehen den Manne von ſtarker Empfindlichkeit unvermeidlich ſind . Die „ Marimes “ ſind das Werk eines Enttäuſchten, deſſen Geiſt durch das frondiren - auch das eine ſpecifiſch franzöſiſche Geſinnungseigenſchaft – geſchärft und gereizt worden war. Man vergeſſe nicht, daß der Herzog von der Königin (Unna von Oeſterreich ), deren treneſter Unhänger er zur Zeit der fronde geweſen. Der Herzog de la Rochefoucault. 117 nach dem Tode Richelieu's craſſen Undank geerntet hatte und daß er auch unter Ludwig XIV . in halber Ungnade lebte. So iſt über fein Buch gewiß mehr Galle ausgegoſſen , als dem Herzog ſonſt eigen geweſen . Die ,,Marimes" find Erfahrungsſätze eines viel . erprobten Mannes der höchſten Welt, aber einſeitig zugeſpitzt durch ſeine allerperſönlichſten Erlebniſſe. Ein Gutes hat dieſes Grollen und Schmollen für den Ver: faſſer gehabt : er wurde dadurch dem nivellirenden Ein: fluß des literariſchen Hofgeſchmacks entrückt und konnte fich feinen ſchönen , unbefangenen Stil bewahren, der ſo ſehr von dem Boileau's abweicht und weit mehr an die kernige Sprache des Uusgangs des 16. Jahrhun derts erinnert. Die Convention, die Schablone, dem Herzog konnten ſie nichts anhaben. Er iſt der Vertreter des Paradorons, und das Paradoron duldet ſelbſt: verſtändlich keine Schablone. Untrennbar vom Weſen des Paradorons iſt aller: dings die Einſeitigkeit. Der Paradore ſieht vielleicht auch die andern Seiten , aber er achtet ſie gering gegen : über der Hauptſache, und nur auf dieſe kommt es ihm Wer alle Uusnahmen beachten wollte, die zumal im moraliſchen Leben ſich ereignen , käme nie zur Auf: ſtellung einer durchgreifenden Regel. Der Eſprit neigt zum Paradoron , weil auch er ſich nicht mit den Neben: rückſichten aufhält; er überläßt es den Leuten ohne Eſprit, ſich die ſcharfe Speiſe eines paradoren Uus: ſpruchs zu verdünnen durch allerlei abſchwächende an. 118 Der Herzog de la Rochefoucault. Zuſätzchen und ſie in dieſer Geſtalt ſich mundgerecht zu machen . Der Herzog hat übrigens ſelbſt ſchon einige Rück: ſichten auf das Publicum genommen . Zunächſt auf ſein Publicum , welches aus vornehmen, ſeinem Herzen zärtlich nahe ſtehenden Damen beſtand. Seine „Maximes“ entſtanden im Salon der Madame de Sablé und find in der form ihrem Salonurſprung durchaus getreu ; ſie haben nachmals durch des Herzogs innigen Umgang mit der reizenden, feinſinnigen Madame de Lafayette kleine Umformungen erlitten . In der erſten Ausgabe macht er kaum irgend welche Zugeſtändniſſe an Uus: nahmen, in den ſpäteren Bearbeitungen ſchleicht ſich hier ein abſchwächendes „ oft “, dort ein milderndes ,,wenig " oder „beinah" ein, und nach dieſen unſchuld vollen Zuſätzen kann ſich ſelbſt ein Optimiſt von nicht allzu ſtrenger Obſerranz mit den meiſten Ausſprüchen einverſtanden erklären . Es iſt lehrreich im Einzelnen zu beachten, wie Rochefoucault von Ausgabe zu Uusgabe den Aus druck kürzer, ſchlagender geſtaltet. 25 Jahre lang hat er mit Vaterliebe an dieſem einzigen Kinde ſeines Geiſtes Erziehung getrieben . Welch ein winziges Büch . lein , dieſe 528 Sätze, aber welche ſtiliſtiſche Urbeit ! Wenn je ein Schriftſteller durch ſein Beiſpiel bewieſen , daß die Proſa die ſchwerſte Kunſt iſt, dann Roche: foucault. An Tiefe erreicht er ſchwerlich Pascal, an Schärfe der Beobachtung übertrifft er La Bruyere nicht , Der Herzog de la Rochefoucault. 119 aber beide läßt er weit hinter ſich durch den Dia : mantglanz des Stils . Wie ungezwungen ſich das Re: ſultat dieſer unaufhörlichen Urbeit eines halbenMenſchen lebens lieſt, - und wie doch alles zugleich jene Eigen: ſchaft des beſten Stils aufweiſt: ſo und nicht anders konnte dieſer Gedanke am treffendſten und kürzeſten ausgedrückt werden. Des Herzogs leitender Stil-Grundſatz war : nicht zwei Worte anzuwenden, wo eines genügt. Hatte er in der erſten Ausgabe noch geſchrieben : „ Die Jugend iſt eine fortgejetzte Trunkenheit, ſie iſt das fieber der Geſundheit, ſie iſt die Torheit der Vernunft “ , ſo wird daraus in der Ausgabe letzter Hand : ,,Die Jugend iſt eine fortgeſetzte Trunkenheit, ſie iſt das fieber der Vernunft.“ Oder es hatte urſprünglich geheißen : ,, Die Strenge der Frauen iſt ein Schmuck und eine Schminke, die ſie zu ihrer Schönheit fügen . Sie iſt ein feines, zartes Reizmittel und eine verkappte Wolluſt . “ In der letzten Uusgabe iſt der ganze zweite Satz als überflüſſig weggelaſſen. Um auch ein Beiſpiel für die Milderung des J 1 halts in der letzten Ausgabe zu geben, führe ich den Satz an : „ Im Unglück unſerer beſten Freunde finden wir oft etwas, was uns nicht mißfällt.“ Jn der erſten Ausgabe hatte ſtatt des ,, oft " geſtanden „ immer .“ 120 Der Herzog de la Rochefoucault. Rochefoucault war ſich ſeines Eſprit wohlbewußt und hat dieſe Eigenſchaft mit Künſtlerfleiß gepflegt. Jn dem anmutigen Selbſtporträt, welches er von ſich liefert , ſagt er : „ Id: habe Esprit, und ich mache fein Hehl daraus, da lange zimperlich tun ? Das viele Ubwehren ſolcher Anerkennung heißt ein wenig Eitelkeit unter dem Schein der Beſcheidenheit verſtecken . Ich habe alſo Ejprit, immerzu , aber einen Ejprit, den die Schwer: mut verzerrt hat. “ denn wozu Das Urteil der Madame de Maintenon über den Herzog lautete ziemlich ähnlich : „ Er hatte viel Geiſt und wenig Wiſſen ." - Der Wiſſensmangel hat ſeine Originalität nur um ſo freier ſich entfalten laſſen. Die Grundidee ſeines Buches hat Rochefoucault gleich in der erſten Marime ausgeſprochen : „ Was wir für Tugenden anſehen, iſt oft ( ! ) nur eine Vereini gung verſchiedener Handlungen und verſchiedener Intereſſen , wie ſie der Jufall oder unſere Ubſicht zu veranſtalten weiß. Nicht immer iſt es die Ehre und die Keuſchheit, um deretwillen die Männer ehrenhaft und die Frauen feuſch ſind . " Alſo alle Handlungen und Beweggründe der Men: fchen, auch die guten , auch die ſcheinbar edelſten , gehen aus der Selbſtſucht hervor. Eigenliebe heißt der Hebel der menſchlichen Geſellſchaft und der innerſte Kern des Einzelnen. Das ganze Buch iſt nur eine Variation dieſes einfachen Themas. Das Thema ſelbſt war nicht neu : der engliſche Moralphiloſoph Hobbes hatte ganz dieſelbe Lehre 25 Jahre früher aufgeſtellt und in dicka leibigen lateiniſchen Büchern entwickelt . Möglich, daß Rochefoucault durch Hobbes angeregt worden iſt ; wahr Der Herzog de la Rochefoucault. 121 dot ſcheinlicher, daß er bei näherem Zuſehen ganz von ſelbſt auf dieſen Satz kam . Der Einzelne mag gegen deſſen Wahrheit in all den von Rochefoucault angeführten fällen für ſich mit Recht Einſprache erheben (obwohl er ſie für den Charakter ſeines lieben Nebenmenſchen meiſt zugeben wird), – im großen Ganzen hat der Verfaſſer der „Marimes “ Recht, dreimal Recht. Er ſagt in dieſer Beziehung, wie zur Rechtfertigung ſeiner Ver: allgemeinerungsſucht: „ Es iſt leichter, den Menſchen im Allgemeinen als einen Men: ſchen im Beſondern zu kennen ." Die „Marimes " ſind Salonliteratur, und im Salon gilt ja überall der menſchenfreundliche Grundſatz : „ Alle Unweſenden bilden eine Uusnahme.“ Mit dieſer Eint: ſchränkung kann jeder die „Marimes " unterſchreiben . Ich laſſe zunächſt eine Uuswahl der berühmteſten und der ſchönſten Uusſprüche über die Eigenliebe ſelbſt folgen „Welche Entdeckungen man auch ſchon im Reiche der Eigenliebe gemacht hat, es bleiben noch ſehr viele unbekannte Landſtriche. " „ Die uneigennützigſte freundichaft iſt nur ein Handel, bei dem unſere Eigenliebe ſich vorgenommen immer noch etwas zu gewinnen . " „ Die Greiſe geben gern gute Lehren , um ſich darüber zu tröſten , daß ſie nicht mehr im Stande ſind, ſchlechte Beiſpiele zu geben . “ „ Oft tut man Gutes, um ſtraflos Schlechtes tun zu dürfen.“ „Man lobt gewöhnlich nur, um gelobt zu werden . " „ Die Tugenden verlieren ſich im Intereſſe, wie ſich die Flüſſe im Meer verlieren . “ „Man mag uns noch ſo viel Gutes von uns ſagen , etwas Neues ſagt man uns damit nicht.“ „ Wir verzeihen oft denen , die uns langweilen ; aber wir fönnen denen nicht verzeihen, die wir langweilen . “ 122 Der Herzog de la Rochefoucault. „Warum ſich Liebende nie langweilen , wenn ſie beiſammen ſind ? Weil Jeder immer nur von ſich dabei ſpricht .“ „ Wir eingeſtehen kleine Fehler nur, um glauben zu machen, daß wir keine großen beſitzen .“ „ Wir halten nur die Leute für einſichtsvoll, die unſerer Mei nung ſind.“ „ Wir haben nicht den Mut, im Allgemeinen zu ſagen , daß wir ohne Fehler und unſere Feinde ohne gute Eigenſchaften ; aber im ein : zelnen ſind wir nicht allzu weit davon entfernt, es zu glauben ! „Niemand, der ſich in jeder ſeiner Eigenſchaften niedriger ſchätt als den Mann, den er auf Erden am höchſten ſtellt . “ „ Es gibt Leute, die ſo voll von ſich ſelber ſind, daß ſie auch im verliebten Zuſtande die Möglichkeit finden, ſich mit ihrer Leidenſchaft zu beſchäftigen , nicht aber mit der Perſon, welche ſie lieben . “ „ Der Eigennutz ſpricht alle Sprachen und ſpielt alle Rollen, ſelbſt die der Uneigennützigkeit .“ Manche dieſer Ausſprüche erſchrecken Einert förms lich durch ihre Wahrhaftigkeit; ſie zwingen uns Dinge einzugeſtehen, die wir bis dahin Keinem , am wenigſten uns ſelber eingeſtanden haben. Und wenn uns einige der „Marimes " heute als längſtbekannte Erfahrungs. ſätze erſcheinen , fo rergeſje man nicht, daß hinter uns zwei Jahrhunderte liegen , in denen Rochefoucault geleſen und citirt wurde, bis er zum allgemeinen Erb beſitz der Menſchheit gehörte . Viele Wendungen unſres täglichen Geſellſchaftslebens ſind auf jenen großen Esprit- Macher zurückzuführen, der leider heute ſehr wenig geleſen wird, am wenigſten in Deutſchland. Und doch können ſeine Marimes uns noch mehr als bloß Lebensweisheit lehren ! Ich wüßte 3. B. keine beſſere Uebung im präciſen Ausdruck als die Marimes von Rochefoucault in möglichſt dem Original gleichkom mender Kürze zu überſetzen . Noch beſitzen wir keine Der Herzog de la Rochefoucault. 123 Muſterverdeutſchung dieſes Buches für geiſtige fein ſchmecker, auch ich fühle weder den Beruf noch den Mut, eine ſolche zu verſuchen ; die nachſtehenden wie die früheren Proben ſind in dem Gefühl verdeutſcht worden, nur den Sinn, nicht die form wiedergeben zu können : Man iſt nie jo glücklicy, noch ſo unglücklich , wie man ſich's ein : bildet. “ „ Die Wahrheit ſtiftet nicht ſo viel Gutes in der Welt, wie ihr Schein Böjes ſtiftet . “ „ Beurteilt man die Liebe nach der Mehrzahl ihrer Wirkungen, ſo ſieht ſie dem Haſſe ähnlicher als der Freundichaft. “ „ Es gibt keine Verſtellung, die lange die Liebe verbergen kann, wo ſie beſteht, noch ſie erheucheln kann , wo ſie nicht mehr beſteht. " „Der Geiſt iſt immer der Gimpel, der auf den Leim des Herzens geht.“ „ Jeder beklagt ſich über ſein mangelhaftes Gedächtniß, aber Keiner über ſeinen mangelhaften Verſtand . “ „Man wird am eheſten betrogen, wenn man ſich für ſchlauer hält als die Andern . " „ Oft iſt man ebenſo verſchieden von ſich ſelbſt wie von den andern .“ „ Es gibt Ceute, deren ganzes Verdienſt darin beſteht, Dummheiten auf nützliche Urt zu ſagen und zu machen ; ſie würden alles verderben , wollten ſie ihr Benehmen ändern . “ „ Jwei Perſonen, die ſid , nicht mehr lieben , ſchämen ſich immer, ſich einſt geliebt zu haben . " „ Die Menſchen würden nicht lange in Geſellſchaft leben, wenn nicht die Einen von den Undern angeführt würden . “ „ Nur große Menjden haben das Recht, große Fehler zu beſitzen . “ „ Wenn uns die Caſter verlaſſen , ſo jdmeicheln wir uns des Glaubens, daß wir ſie verlaſſen .“ „ Die echte Beredjamkeit beſteht darin, alles Nötige zu ſagen , und nur das nötige zu ſagen. “ „ Die Ubweſenheit mindert die mittelmäßigen Leidenſchaften und ſteigert die großen , wie der Wind die Kerzen auslöſcht und das Feuer anfacht.“ ,, Es iſt unmöglich, zum zweiten Mal das zu lieben , was man wirklich einmal zu lieben aufgehört hat." 124 Der Herzog de la Rochefoucault. „Man langweilt ſid , faſt immer mit den Perſonen, mit denen ſich zu langweilen unerlaubt iſt . “ „ Ein Dumimfopf hat nicht Zeugs genug , um gut zu ſein . “ „ Nichts hindert Einen ſo ſehr, natürlich zu ſein, als der Wille, es zu ſcheinen . “ „ In der Freundſchaft wie in der Liebe iſt man oft glücklicher durch die Dinge, welche man nicht weiß, als durch die andern . “ „ Von allen heftigen Leidenſchaften iſt die Liebe die, welche den frauen am wenigſten ſchlecht ſteht." SAS SSSSSS SSSSSS VIII. Jean de Lafontaine. ( 1621–1695 ) ine bekannte neuere Richtung der Literatur: geſchichte erklärt mit mathematiſcher Sicherheit jeden Schriftſteller und ſeine Werke aus der ,,Strömung “ der ihn umgebenden Cultur, aus dem ſogenannten „Milieu ". Der Autor mag noch ſo einſam daſtehen , ſich noch ſo ſehr von allen ſeinen Zeitgenoſſen unterſcheiden , ganz nur er ſelbſt ſein , es hilft ihm nichts : dieſe Literarhiſtoriker wiſſen dennoch zu erklären, nicht nur wie der Schriftſteller war, ſondern ſogar wie er not: wendigerweiſe ſo und nicht anders werden mußte. Es iſt nämlich nichts leichter, als die actenmäßig beglaubigte Vergangenheit zu profezeien ; die Leute , welche ſich beſonders gut auf dieſe Augurenkunſt verſtehen , nennt man Geſchichtsphiloſophen. 126 Jean de Lafontaine. Manchmal widerfährt es ihnen, daß der urſächliche Zuſamınenhang zwiſchen dem Autor und der Zeitſtrö: mung ſich durchaus nicht finden laſſen will. Natürlich nicht durch die Schuld dieſer Literaturforſcher, denn beſtehen muß dieſer Zuſammenhang irgendwo. Daß ein Schriftſteller ſeine Werke in erſter Reihe ſich ſelbſt ver: dankt, ſeiner angebornen, von einer unabſehbaren Reihe leiblicher Ahnen geerbten Individualität, iſt das Letzte, was dieſe Richtung der Kritik zugibt. für ſie exiſtirt nur die Maſſe ; das Individuum iſt nichts. — Ullenfalls erkennen ſie an , daß jeder Schriftſteller von hervor: ragender Bedeutung eine beſondere Eigenſchaft, die fogenannte qualité maîtresse , beſitzt, welche ihn von der Maſſe fich abheben läßt, aber nun wird auch gleich danach rubrizirt, ſchematiſirt, claſſificirt; jeder Uutor erhält ſein fach und darauf einen Zettel geklebt wie einen Steckbrief. Bis zu einem gewiſſen Grade hat dieſe Anſchau: ungsweiſe Recht: wie jeder andere Menſch hat auch jeder Schriftſteller eine Seite, die ganz beſonders hoch entwickelt iſt, und von dieſem Geſichtspunkt ging auch der Verfaſſer dieſes Buches aus, als er diejenigen fran zöſiſchen Schriftſteller zu ſchildern unternahm , welche mehr als Andere ganz beſtimmte Eigenſchaften der fran : zöſiſchen Volksſeele literariſch betätigt haben. Aber die Macht der Individualität ſpottet aller ſolcher a priori gemachten Theorien . Es gibt Individuen, für die keine Schubfächerei ausreicht. Ihr Bild ſteht klar vor unſerer Jean de Cafontaine. 127 Seele, wir unterſcheiden es unter hunderten, aber es iſt ſchwer zu ſagen, an welchem einzelnen Zuge wir es ſogleich erkennen . Es geht damit wie mit manchen gemalten Bildern , die bei jedesmaligem Anſchauen einen andern Ausdruck zeigen und doch für uns eine beſtimmte Einheit bilden . Was repräſentirt Jean de Lafontaine ? Er hat 12 Bücher fabeln " geſchrieben , und als fabeldichter vornehmlich iſt er all denen bekannt, welche Literatur: geſchichte aus Schulleitfäden lernent . Uber ehe er feine fabeln ſchrieb, hatte er 5 Bücher ,, Erzählungen und Rovellen “ in Verſen veröffentlicht ( 1665 ) , die von dem harmloſen fabuliſten nichts ahnen laſſen. Was iſt alſo Lafontaine als Vertreter des Literaturgeiſtes ſeiner Nation ? Iſt er der graziöſe, naive und fein ſinnige Moraliſt, der ſich in Hunderten von Fabeln mit ihrem unvermeidlichen lehrhaften Anhängſel als ein wahrer Schatz geſundmenſchenverſtändlicher Weisheit darbietet, der allen Kinderleſebüchern aller Länder will kommnes Material liefert, den ſelbſt der reife Mann nicht ohne Genuß lieſt, wäre es auch nur um der un : gemein anmutigen Sprache willen ? Oder iſt Cafon taine nicht vielmehr der Verfaſſer jener durch und durc ) ſittenloſen, manchmal wahrhaft teufliſch - ſinnlich aus: geklügelten Geſchichtchen, die alles was das ausſchwei fende Mittelalter an ſerniellen Anekdoten erfunden und in halbroher form firirt hatte, von Neuem aufwärmten und durch die beſtechende dichteriſche Gewandung zu 128 Jean de Lafontaine. einem wahren Leitfaden eleganter Lüſternheit machten ? Wie vertragen ſich dieſe beiden Hauptwerke Lafontaine's : die „ fabeln “ und die „ Erzählungen “ nieben einander, und wie war es überhaupt möglich, daß ein und der: ſelbe Geiſt beide hervorbringen konnte ? Lafontaine iſt die Blüte galliſcher Sorgloſigkeit. Ein großes Kind von unerſchöpflicher Gutmütigkeit, der ſprichwörtlich gewordene ,, Bonhomme" Cafontaine. freilich mit allen Gebrechen der übertriebenen Guts mütigkeit, ja geradezu mit deren Eaſtern . Ein Mangel an perſönlicher Würde, wie er gerade in dem würde: vollen 17. Jahrhundert doppelt auffallen muß; ein völliger Stumpfſinn gegen das, was die Welt Pflicht, Ehrgefühl, moraliſchen Halt nennt. Dabei eine Viel ſeitigkeit des Talents, wie ſie gleichfalls im 17. Jahr: hundert nicht wieder vorkommt, wo jedem ſeine beſtimmte Rolle im literariſchen Leben zugeſchrieben war. Ueber Lafontaine's findliche Sorgloſigkeit werden die unglaublichſten Geſchichten erzählt. Von ſeiner Frau getrennt lebend, kehrt er einſt auf ſein Landgut zurück in der beſtimmten Abſicht, ſich dort mit ihr auszu: föhnen, ſteigt unterwegs bei einem Freunde ab und reitet dann unverrichteter Dinge nach Paris zurück : er hat vollkommen vergeſſen , warum er Paris je verlaſſen ! Nach einem Geſpräch mit einem jungen Mann , an deſſen geiſtvollem Weſen er ſeine freude hat, fragt er einen Bekannten : wer iſt dieſer Jüngling ? Das iſt Ihr Herr Sohn ! Lafontaine war nicht im Min Jean de Lafontaine. 129 deſten darüber beſchämt oder nur erſtaunt. Zur Bei wohnung an einer wichtigen Proceſverhandlung in eigener Sache aufgebrochen , geht es ihm genau wie mit dem beabſichtigten Sühnebeſuch bei ſeiner Frau. Der König erteilt ihm eine huldreiche Audienz in Ver failles, um ſich von ihm ein Widmungseremplar der fabeln überreichen zu laſjen ; £ afontaine erſcheint freude: ſtrahlend , aber das Buch hat er mitzubringen ver : geſſen ! Er kennt keine Rückſichten der Weltklugheit. Sein Beſchützer fouquet iſt in die ſchwärzeſte Ungnade beim Könige Ludwig XIV. gefallen , – natürlich zieht ſich ſofort alles, was zum Hofe gehört, auch alles , was früher an der Tafel dieſes Literaturmäcens geſeſſen, von dein Unglücklichen wie von einem Peſtkranken zurück. Lafontaine, der Bonhomme, richtet an fouquet eines feiner ſchönſten Gedichte »Les nymphes de Vaux « ) , nimmt Partei für den geſtürzten Günſtling und wagt es darin , den König um Gnade zu bitten . Ueberhaupt fragte er bei der Wahl ſeines Umgangs nichts danach , in welchem Verhältniß ſeine freunde zum Hofe ſtanden . Er verkehrte in Adelshäuſern , die dem Könige verhaßt waren , natürlich ohne ſich etwas dabei zu denken. So kommt es denn, daß von allen großen Schriftſtellern jener Zeit keiner mit ſolcher Un: gunſt des Königs zu kämpfen hatte , wie Lafontaine; mit Mühe nur gelangte er auf einen Seſſel der Akademie. Der König zog ihm lange Boileau für die Stelle vor. Engel, Piychologie. 9 130 Jean de Lafontaine. Lafontaine iſt im Jahrhundert der Regeln der einzige „ Unregelmäßige". Was ſollte ein nur auf das äußerlich Majeſtätiſche, Sublime bedachter Monarch wie Ludwig XIV. mit einem Schriftſteller anfangen , der eine Sammlung ſchlüpfriger, mehr als kurzgeſchürzter Liebesſchwänke und 12 Bücher fabeln geſchrieben ? Je frömmer der König in ſeinen alten Tagen an der Seite der Maintenon wurde, deſto ärgerlicher waren ihm die » Contes« ; und von den fabeln ahnte er nur, daß ſie ein ganz nützliches Erziehungsbuch für den kleinen Dauphin ſein mochten . Ein Bohémien war Lafontaine, der einzige ſeines höchyſt ſoliden Jahrhunderts. Nie an das Morgen , kaum ernſthaft an die Pflichten des Hente denkend, iſt er wie ein Träumer durchs Leben gewandert, mit 73. Jahren nicht weiſer als mit 20. Seine ſelbſtverfaßte Grab : ſchrift lautet in richtiger Selbſtſchätzung : Jean s'en alla comme il était venu , Mangeant son fonds avec son revenu , Croyant le bien chose peu nécessaire . Quant à son temps, bien le sut dépenser : Deux parts en fit, dont il soulait ( pflegte ) passer L’une à dormir, et l'autre à ne rien faire . Bis auf das ,, 27ichtstun " buchſtäblich richtig, --- und ſelbſt zur Abfaſſung ſeiner Contes und ſeiner Fables bedurfte es ganz beſtimmter Aufträge von ſchönen Damen und mächtigen Fürſten , um ihn zur Arbeit zu bewegen. Lafontaine hat nicht gelebt, ſondern er hat ſich leben laſſen . Sich ſelbſt anheimgegeben, war er der Jean de Lafontaine. 131 hilfloſeſte Menſch unter der Sonne; er mußte ſich ſtiitzen , ſich anſchmiegen können, und es gab mitleidige Seelen genug, zumal weibliche, die ihm des Lebens Laſt tragen halfen, d . h. ſie ganz auf die eignen Schultern nahmen. Uus der Hand der einen Beſchützerin wanderte er in die einer andern ; nach dem Tode ſeiner mehr als mütterlichen und ſchweſterlichen freundin Madame de La Sablière wurde er ron Madame d'Hervart wie ein hinterlaſſenes Erbſtück übernommen . Jene Madame de La Sablière ſchrieb denn auch über ihn, als ſie fromm geworden und ihr ganzes Hausweſen aufgelöſt hatte : „Ich habe all meine eute entlaſſen ; ich habe nichts behalten als meine Katze, meinen Hund und Lafon: taine." Von einem ſolchen Manne kann man ſelbſtver ſtändlich keine ſchriftſtelleriſche Würde verlangen. Mit derſelben harmloſigkeit des Herzens, mit der er ſeine fabeln erſonnen und ausgeführt, hat er auch die längſt bekannten Stoffe der altfranzöſiſchen Fabliaux, des Boccaccio, des Urioſt, der „ Hundert neuen Rovellen" und des Rabelais in zierliche Verſe gebracht, ohne ſich etwas ſonderlich Schlimmes dabei zu denken . Was uns heute als raffinirte Lüſternheit erſcheint, iſt aus der Molluskenſeele Lafontaine's heraus wirklidy keine un : verzeihliche Todſünde. Auf die Geſchichten ſelbſt mit ihrem durchweg eindeutigen Inhalt, mit ihrem oft mehr ſchmutzigen als luſtigen Detail kommt es ihm im Grunde nicht ſo ſehr an , wie auf die Art des Vortrages. Den 9 * 132 Jean de Lafontaine. ihm gemachten Vorwürfen wegen der Schlüpfrigkeit der » Contes« hält er gutgläubig entgegen : Weder die Wahrheit noch die Wahrſcheinlichkeit bewirfen die Schönheit und Grazie dieſer Dinge ; es iſt einzig und allein die Urt, ſie zu erzählen .“ Und an einer Stelle der „ Erzählungen “ hat er dasſelbe mit dem Verſe geſagt : „ Erzählet, aber gut, das iſt das Ziel und Ende. “ Was will man alſo gravitätiſch und moraliſirend dagegen einwenden, wenn der Autor und die Kritik auf ſo grundverſchiedenen Unſchauungen fußen ? wenn der Uutor ſagt: mir kommt's nicht an auf das Was, fon dern nur auf das Wie - ? Und Lafontaine hat wirklich keine böſen Abſichten mit ſeinem gefährlichen Buch gehabt . War es ihm ja doch von einer ſeiner erlauchteſten Beſchützerinnen , der Herzogin von Bouillon (Mazarins Nichte) abgeſchmeichelt worden ! Die vor: nehme Welt fand die Geſchichten zwar ſehr luſtig, aber keine der erlauchten Damen ſchämte ſich, ſie geleſen zu haben . Wie ſollte es da dem großen Kinde Lafon: taine in den Sinn kommen , daß er ein abſcheuliches Buch geſchrieben , ihm der auf dem Sterbebett dem Geiſtlichen auf deſſen Ermahnungen wegen der Contes ohne jede Bosheit erwiderte : „ Sind ſie denn wirklich ſo ſchlecht?!" und der um ſeine Sünde zu fühnen , hundert Eremplare der ,, Erzählungen “ zum Beſten der Urmen 311 verkaufen anordnete! Jean de Lafontaine. 133 Gegenüber einem ſo nairen freiſein ron jedem Unterſcheidungsvermögen zwiſchen Gut und Böſe, zwi. ſchen Moral und Unmoral, wie bei dieſem fabelmora liſten, ſchweigt die Kritik und tröſtet ſich mit dem Wort der haushälterin Lafontaine's kurz vor deſſen Tode : „ Gott wird nie den Mut haben , ihn zu rer dammen . “ Es war ein unglücklicher Zufall, daß des Dichters ſchönes Talent in ſolche Pfütze geraten , wie in die der „ Erzählungen “. Er hätte ſonſt ſein Lebe: lang nichts als moraliſirende fabeln geſchrieben, wie er ja auch in aller Herzenseinfalt die Pſalmen Davids überſetzt und eine Paraphraſe des » Dies Irae « in der Akademie vorgetragen hat, immer derſelbe Bon homme Lafontaine, von dem Geſchichten wie ,, Das Bild" , „ Die Mönche von Catalonien “, „ Der Ohrenmacher “ und die andern herrühren . frivolität, dein Name iſt Lafontaine! Aber eine gutmütige, in ihrer Unabſichtlichkeit faſt liebenswürdige, kindlich heitere frivolität. Wir Deutſchen denken bei dieſem franzöſiſchen Wort meiſt nur an die fri volität Voltaire's . Lafontaine kann uns lehren, daß dieſer echtfranzöſiſche Charakterzug ſehr verſchiedener Abſtufungen fähig iſt. Die franzöſiſche Literatur weiſt fogar weitaus mehr Beiſpiele der gutmütigen , lachen: den , der Lafontaine'ſchen frivolität auf, als der ſchadenfroheit , boshaft grinſenden, der Voltaire'ichen . frivol wie Lafontaine iſt bis zum gewiſſen Grade Molière in ſeinen derben Poſſen, iſt Diderot 13+ Jean de Lafontaine. zuweilen, find Greſſet, Le Sage, Prévoſt d'Eriles , Paul de Kock, Désangiers, Béranger, vor allent Béranger! Ueber frivolität aber richten franzoſen anders, und anders die Deutſchen. Was uns z . B. bei Heine peinlich iſt, macht ihn in Frankreich faſt zu einem na tionalen Schriftſteller. Hier haben wir eine der vielen Schranken, die ſich dem wechſelſeitigen vollen Ver ſtändniß der beiden Nationert ſtets entgegenſtellen werden und die uns warnen können , daß es in der Literaturgeſchichte wie in aller Geſchichte fremder Völker der wahren Wiſſenſchaft dienlicher iſt, That ſachen 311 conſtatiren als ſie zu richten. Im übrigen Matthäus Capitel 7 Vers 1 ! Und was verzeiht man nicht alles dem Genie ! Denn ein ſolches iſt Lafontaine geweſen , wenn Genie heißt , der Kunſt neue Bahnen zu erſchließen . Dieſe leichte, tändelnde und doch ſprachlich vollendete Art des dichteriſchen Uusdrucks hatte vor Lafontaine kein fran zoſe mit ſolcher Meiſterſchaft geübt. Clément Marot, Kabelais' Zeitgenoſſe , läßt ſie ahnen. Dabei iſt Lafontaine, der fabuliſt , ſo ziemlich der einzige große Schriftſteller des 17. Jahrhunderts, welchen einige Phantaſie eigen, wie er der Einzige iſt, der ſich in der Poeſie von den beengenden feſſeln des Alerandriners frei gemacht hat . Seine fabeln wie feine Erzählungen ſind in den ihnen angemeſſenen freien Nie ren gedichtet ; längere Verſe wechſeln bunt mit Jean de Lafontaine. 135 kurzen ab, die Reimverſchlingung iſt ungezwungen und doch ſehr wirkjam . Die Sprache erinnert weit mehr an Rabelais als an Boileau. Lafontaine war durch und durch un modern im 17. Jahrhundert; feine Lieblingsſchriftſteller waren , außer Boccaccio („ verrannt in Boccaccio “ nennt er fich ), Machiavelli ( der Dichter der „Mandragora " ), Urioſt und Plato , ferner die großen Erzähler und leichten Reimer des franzöſiſchen 16. Jahrhunderts : Rabelais, die Königin Marguerite de Navarra, Clément Marot und Montaigne. Dieſer oberflächliche, von Blume zu Blume flatternde ,, Schmetterling des Parnas " (ſeine eigenen Worte) war in der Literatur ſeiner Nation beleſener, gelehrter als der mit dem ganzen Hochmut der Unwiſſenheit aus: geſtattete Boileau, für den die franzöſiſche Literatur eigentlich erſt mit dem Silbenſtecher und Reimſchul meiſter Malherbe begann. Mehr als eine von Lafon: taine's Contes zeugt von einem ſehr eingehenden Studium der älteren franzöſiſchen Sprache. Er hat ſeinen Stil und Ton ganz für ſich , einen kräftigeren , volkstümlicheren als ſämmtliche andere Claſſiker, Molière nicht ausgenommen, obwohl dieſer ſeinem Freunde Lafontaine hierin ftoch am nächſten kommt. So iſt Lafontaine eigentlich in keinem Jahrhunt: dert ganz und gar zu Hauſe. Literariſch und ſprachlich iſt er ein Nachzügler des 16. Jahrhunderts , ein Schüler und zwar 136 Jean de Lafontaine. Rabelais' und Montaigne's ; in ſeinem perſönlichen Leben gehört er zum 18. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Régence und Ludwigs XV. Er hat ſich auch niemals in ſeine Zeit und ihre forderungen fügen können , – ..Jean ging von dannen, wie er gekommen ". IX, Corneille. ( 1606—1684 .) an kann der deutſchen Kritik im allgemeinen nicht vorwerfen , daß ſie der franzöſiſchen Li teratur gegenüber ungerecht oder verſtändnißlos iſt. Seit Leſſings Tagen hat frankreich nirgends ſo viel liebe: volles Eingehen auf ſeine Literatur gefunden , wie in Deutſchland, man könnte fagen : ein zu liebevolles . Ueber einen Schriftſteller jedoch haben ſich die Kritiker von hüben niemals mit denen von drüben verſtändigen können : über Pierre Corneille. Bekannt iſt Leſſings heftiges Wort in der Hamburger Drama: turgie ( letztes Stück) : „Ich wage es, hier eine Neußerung zu tun , mag man ſie doity nehmen , wofür man will ! Man nenne mir das Stück des großen Corneille, welches ich nicht beſſer machen wollte. Was gilt die Wette ? - Doch nein ; ich wollte nicht gern, daß man dieſe Neußerung für Prahlerei nehmen könnte. Man merke alſo wohl, was icy hinzuſetze : 138 Corneille . Ich werde es zuverläſſig beſſer machen, und doch lange kein Corneille ſein , und doch lange noch kein Meiſterſtück gemacht haben . Jch werde es zuverläſſig beſſer machen, und mir doch wenig darauf einbilden dürfen .“ Ich füge noch einige andere Stellen (aus dem 80. und 81. Stück) hinzu , welche Leſſings Grund gedanken klarer hervortreten laſſen : ,, Ich denke, daß nicht allein wir Deutſche, ſondern daß auch die , welche ſido feit hundert Jahren ein Theater zu haben rühmen, ja das beſle Theater von ganz Europa zu haben prahlen, daß auch die Franzoſen noch fein Theater haben . Kein tragiſches gewiß nicht ! Denn auch die Eindrücke, welche die franzöſiſche Tragödie macht, ſind ſo flach, ſo kalt ! " Und weiterhin : „ Was will ich denn ? Ich will bloß ſagen, was die franzoſen gar wohl haben könnten , daß ſie das noch nicht haben : die wahre Tragödie. Und warum noch nicht haben ? Ich meine, ſie haben es noch nicht, weil ſie es ſchon lange gehabt zu haben glauben . Und in dieſem Glauben werden ſie nun freilich durch etwas beſtärkt, das ſie vorzüglich vor allen Völkern haben ; aber es iſt keine Gabe der Natur : durch ihre Eitelkeit . “ Mehr als 100 Jahre ſind verfloſſen, ſeitdem Leſſing dieſes Wort niedergeſchrieben, und noch immer haben die franzoſen nicht die wahre Tragödie. Nur eine Wandlung iſt inzwiſchen eingetreten : die Einſichts: volleren unter ihnen beginnen , dieſen Mangel ihrer Literatur zuzugeben . Und Corneille ? Gerade ihr habe ich gewählt, um zu zeigen, was der franzöſiſchen Literaturſeele ver: ſchloſſen zu ſein ſcheint, ſo oft ſie auch Anſtrengungen gemacht hat, es ſich zu erſchließen . Corneille . 139 Corneille iſt für den franzöſichen Literaturpatriotis : mus ungefähr dasſelbe, was Klopſtock für den deutſchen. Beide haben unſterbliche Verdienſte um die Kräftigung und feſtigung der vaterländiſchen Sprache; Beide haben die Poeſie ihres Landes Corneille allerdings auf beſchränkterem Gebiet aus der halbbarbariſchen Ver nachläſſigung emporgehoben ; Beide gelten in ihrer heimat für Claſſifer. Nur mit dieſem Unterſchiede : über Klopſtocks literariſchen Wert geben wir Deutſchen uns heute, umbeſchadet ſeiner Wertſchätzung als ſprach: lichen Neuſchöpfers, feiner Täuſchung hin , auch auf unſern Schulen lieſt man ihn kaum noch. Wir hegen die verehrungsvollſte Pietät gegen ihn, aber er gehört zum todten Capital unſeres Geiſteslebens. Jil frank: reich dagegen redet man ſich bis auf den heutigen Tag officiell ein , in Corneille einen großen Dichter, einen großen Tragiker zu beſitzen . Jil den franzöſiſchen Schulen gehört ſein Studium zu den Pflichtgegenſtänden , in den Leitfäden iſt er der » grand Corneille « ; nennt man in frankreich Shakeſpeare, ſo lautet die Antwort: Corneille. Das iſt aber nur officiell ſo ; das große Publicum lieſt ihn nicht nehr, am Théâtre Français ſpielt man nur in langen gwiſchenräumen, anſtands: halber, eines ſeiner Stücke ; mit dem Leben der Nation hängt er nicht mehr zuſammen . Ohne ernſten Widerſpruch iſt Corneille's Dichters ruhm in frankreich zu keiner Zeit geblieben . Die Uus: ſtellungen der Akademie an ſeinem „ Cid “ ſind wertlos, 140 Corneille. . weil auf Befehl des neidiſcherzürntent Richelieu verfaßt . Aber man höre einmal, was Leſſings franzöſiſcher Geiſtes: bruder, was Diderot über die Tragödien Corneille's und über die ſeiner Nachtreter geurteilt hat ! Es ſteht in dem reizenden Schriftchen : „ Paradora über den Schau ſpieler" „ Was gehen uns Cinna, Cleopatra, Merope, Ugrippina an ? Sind dieſe Theaterfiguren auch nur wirkliche hiſtoriſche Perſonen ? Nein, es ſind eingebildete Schemen der Poeſie. Das iſt icon zu viel geſagt, - es ſind Geſpenſtererſcheinungen der beſonderen Urt dieſes oder jenes Dichters. Nur auf der Bühne ſind dieſe ungeheuerlichen Geſchöpfe möglich ; ſie würden eine ſaubere Rolle in der Geſchichte ſpielen , ſie würden in jeder menſchlichen Geſellſchaft vor Cachen platen machen. Man würde ſich ins Ohr flüſtern : „ Raſt er ? Woher fommt der Don Quijote ? Wo treibt man ſolchen Mummenſchanz ? Uuf welchem Pla neten ſpricht man ſo ?" Jedenfalls nicht auf dem Planeten Erde ! Nein, -Corneille iſt kein Tragiker , ſo wenig wie irgend ein anderer franzöſiſcher Dramendichter. Wo iſt die franzöſiſche Tragödie , die einer Shakeſpeareſcheit auch nur von weitem gegenübergeſtellt werden darf ? Will man ſich davon überzeugen , daß der ſogenannte größte franzöſiſche Tragiker keiner iſt, ſo leſe man nach irgend einer Tragödie Shakeſpeares den „ Cid “ von Cor: neille : man wird unfehlbar, wenn man ganz unbe: fangen iſt, ein Gefühl haben , als käme man aus einer feldſchlacht auf den Erercierplatz einer Kaſerne. Corneille kann uns zeigen , wie richtig Leſſing herausgefühlt, warum die franzoſen keine Tragödie haben. Es war nicht die grundfalſche, rein äußerliche Auffaſſung der Regeln des Ariſtoteles, die ihn behindert Corneille . 141 haben , es war die Auffaſſung der franzoſen von der Aufgabe der Schaubühne überhaupt. Was die Stärke des franzöſiſchen Theaters in der Komödie, im Sittenſchauſpiel, in der Poſſe ausmacht, das verſchuldet zugleich ihre Schwäche im Trauerſpiel: die Bühne iſt in Frankreich eine Unterhaltungsanſtalt, eine der beſten, die es gibt , immerhin, aber doch nur eine Unter: haltungsanſtalt. Man geht in frankreich ins Theater nach der Hauptmahlzeit des Tages, um ſich von den Mühen des Tages 311 erholen , juſt ſo wie man in Geſellſchaft, in den Club, auf die Boulevards geht. Eine Tragödie von ſo unverſöhnlicher Grauſamkeit wie „ Othello " findet kein Publicum in Paris ; der jüngſt: gemachte Verſuch einer Aufführung dieſes Stückes erlebte einen „ Achtungserfolg. " Othello -- einen Uchtungs: erfolg ! als handelte es ſich um das Werk des erſten beſten Neulings. Man laſje ſich nicht täuſchen durch jolche blutige Tragödien wie Victor Hugo's Hernani, Ruy Blas , Lucrezia Borgia : keiner der Helden dieſer Stücke ſtirbt an ſich ſelbſt, wie es die „ wahre Tragödie " verlangt; ſie ſterben alle an einem unerbittlichen fünften Uct oder an einer zufälligen Dummheit. Nichts hin : derte ſie ſonſt, vergnügt weiter zu leben . Corneille iſt Zeitlebens nicht aus dem engſten Kreiſe der dramatiſden Schablone herausgekommen : dem bekannten oberflächlichen „ Conflict der Pflichten“ . Seine Dramen ähneln mehr den Streitſchriften zweier klägeriſcher Parteien als dem Schauſpiel der tragiſchen 142 Corneille. Vollendung eines oder zweier Menſchen . fünf Acte hindurch zankt ſich das iſt das Wort, Chimene imm ,, Cid “ mit ſich und dem Geliebten herum , ohne daß irgend eine Entfaltung und ein Abſchluß der Charak tere, geſchweige denn ein weihevoller Ubſchluß des tragi ſchen Conflictes erfolgt. Immer und immer nur das Balanciren auf dem Dratſeil geteilter Pflichten, am Schluß eine ſchwungvolle Pirouette, und das Publicum geht befriedigt nach Hauſe. Nirgends ein Schrei aus den Tiefen des Herzens , wiewohl doch die Reime » coeur« und » douleur« oder » coeur« und » l'honneur « fich bis zum Ueberdruß wiederholen . Die Perſonen haben alle nur einen Mund, kein Herz, und dicſer Mund fließt über von Declamationen. Die Declamation , das iſt Corneille’s Erfindung, und zwar die Declamation ohne Gefühl. Mehr als 100 Jahre müſſen vergehen , che zu der Declamation ſich das warme Empfinden geſellt : bei Rouſſeau . Ganze Seiten der Dramen Corneille's klingen wie unfreiwillige Parodien. Dem Dichter hat das Ideal einer Erhaben heit vorgeſchwebt, zu der er nie gelangt iſt : er iſt auf der Zwiſchenſtufe ſtehen geblieben , die Bombaſt heißt. Die wenigſten franzoſen fühlen dies , - nicht bloß , weil ihre Sprache eher als die deutſche ein gewiſſes Maß des Bombaſtes erträgt , ſondern weil die Schulerziehung das Gefühl für das falſche Pathos Corneille's abgeſtumpft hat. Es iſt kein Zufall , daß Napoleon I. fo begeiſtert von Corneille war und auf St. Helena gerufen hat : Corneille . 173 ,, Lebte er noch , ich machte ihn zum fürſten !" Der Bulletinſtil und die Sprache der Urmeebefehle Napo: leons ſind ganz im Tone Corneille's gehalten . „ Be: denket, daß vierzig Jahrhunderte von der Spitze dieſer Pyramiden auf Euch herabſehen " findet ſein Seitenſtick in Corneille’s Vers von dem Blute des Vaters Chime nens, welches in den Staub des Kampfplatzes fließend der Tochter ihre Pflicht vorſchreibt. Wir werden in Victor Hugo den jüngſten Erben dieſer literariſchen Krankheit erkennen : der Wortberauſchung. für die franzoſen mag Corneille bleiben, wofür man ihn früher gehalten : der große Tragiker ; im Chor der Weltliteratur verhallt ſeine Stimme, trotz ihres Getöſes für das äußere Ohr, denn er hinterläßt nichts, was nachſchwingt. Un den Nachſchwingungen aber erkennt man die wahren Dichter. X. Molière. ( 1622—1673 . ) ie franzöſiſchen Schriftſteller haben das größte Pu blicum, franzöſiſche Claſſifer lieſt inan ſelbſt auf ſolchen gelehrten Schulen , in denen die engliſche Sprache noch kein Lehrgegenſtand iſt. franzöſiſche Bücher liegen in allen Schaufenſtern des Buchhandels, die Namen ihrer Verfaſſer hört man im Tagesgeſpräch der gebildeten Kreiſe aller Länder. Die franzöſiſche Literatur genießt den Vor 311g , deſſen ſich auch die Nation rühmen kann : zu allen Zeiten die Uufmerkſamkeit, die Teilnahme, oft die Bes wunderung auf ſich gezogen zu haben. Aber ich frage : welcher franzöſiſche Schriftſteller wird nicht nur geleſen, ſondern geliebt, mit jener uneigennützigen, ſich ganz hingebenden und nichts verlangenden Liebe , die vielleicht nur durch das befriedigte Kunſtgefühl erzeugt wird ? Wer liebt Rabelais, Niontaigne, Corneille, Racine, Molière. 145 Lafontaine, Voltaire, Rouſſeau , Muſſet, Victor Hugo, – ja ſelbſt die fympathiſchſte Erſcheinung der Neueren : Alphonſe Daudet –? Man bewundert ſie wegen ihrer Kraft, ihres Geiſtes, ihrer Kunſt, man lieſt ſie gern , man ſtählt an ihnen den formenſinn, übt ſich in der Klarheit, freut ſich ihres Witzes, aber lieben ? Nein ! Geliebt wird nur Einer unter allen franzöſiſchen Dichtern , d . h. geliebt auch von Nichtfranzoſen, -- das iſt niolière. Wer ihn aufmerkſam geleſen, wer ſein Leben durchforſcht, wer gar den Uufführungen Molière ſcher Stücke im Théâtre français zu Paris (den höchſten Triumphen der modernen Schauſpielkunſt) bei gewohnt, der muß ihn lieben dieſen einzigen franzöſiſchen Dichter, der alles in ſich ſchließt, was galliſcher Charakter und Geiſt Edles, Sympathiſches, Allgemeinmenſchliches beſitzen , gemiſcht mit nur ſo viel des weniger Guten, wie zur nationalen Echtheit gehört. Molière iſt der einzige franzöſiſche Dramatiker des 17. Jahrhunderts, von dem man noch heute ſelbſt in Paris faſt alles ſpielt, jedenfalls der einzige, der außerhalb frankreichs überhaupt geſpielt wird. Lebendig geblieben iſt ſein Werk allein von aller Dichterei jenes glanzvollen Zeitalters . Es gibt in Deutſchland, in England, in Rußland und natürlich in frankreich ſo leidenſchaftliche Molieriſten, wie es nur je Shakeſpearo manen gegeben . Man erklärt ihn , edirt ihn , illuſtrirt ihn immer wieder aufs Neue; mehrere Zeitſchriften in frankreich und Deutſchland ſind ausſchließlich dem Engel, Piychologie. 10 146 Molière. Studium Molière's gewidmet, – während ſich der Staub der Vergeſſenheit auf alle ſeine literariſchen Zeitgenoſſen (mit Ausnahme von de la Rochefoucault und Lafon: taine) dichter und dichter herabſenkt. Von Zeit zu Zeit eine Aufführung des Cid Corneille's und der Phèdre Racine's am Théâtre français , - fonſt tiefes Schweigen . Eine ſo allgemeine Liebe, wie Molière ſie unbe: ftritten genießt , kann ſich nicht täuſchen , wie denn die Liebe ſich überhaupt ſeltener tänſcht als die Achtung, Unſerm Herzen ſteht Molière deshalb ſo nahe, weil er allein von den Dramatikern frankreichs, er ganz allein, aus dem vollen Herzen heraus geſchrieben und weil er der Dichter der Wahrhaftigkeit iſt. Die Leſerwelt weiß zwiſchen unwahren und wahren Dichtern mit ſchnellem Inſtinct zu unterſcheiden , und dieſer Inſtinct der Wahrheitsliebe läßt uns Molière's Werke als die grüne Inſel des ganzen 17. Jahr hunderts erſcheinen . Was Boileau , was Corneille und Racine, ja ſelbſt was Lafontaine gedichtet, mag ſehr elegant, ſehr pathetiſch, ſehr rührend oder ſehr frivol feint, eine Perſönlichkeit, ein warm fühlendes, hochſchlagendes Herz ſpüren wir nicht als innerſten Grund ihres Könnens. Abgeſehen von der . form und einigen ſonſtigen Ueußerlichkeiten , welche die Nationalität und das Zeitalter verraten , iſt all ihr Dichten wie das von zeit- und weſenloſen Schemen , etwa wie von den Muſen ſelbſt, aber nicht wie von Männern mit ſtarker Perſönlichkeit. Dichtung und Molière. 147 das Leben ſtehen ohne Vermittelung bei ihnen neben ein ander ; anſcheinend ſetzen ſie ſich täglich einige Stunden an den Schreibtiſch, verfertigen eine beſtimmte Anzahl von Alexandrinern und haben dann mit der Poeſie einſtweilen abgeſchloſſen ; der hofdienſt ruft ſie, ihr Umt als Hofhiſtoriographen oder ſonſt eine Verrichtung , die mit der Literatur nichts zu ſchaffen hat. Molière hat gedichtet, was er empfunden , iſt das Geheimniß ſeiner Wirkung ; und er hat ein großes , leuchtendes Ziel vor Augen gehabt : die Wahr: haftigkeit, dies das Geheimniß ſeiner Dauer. Wie unverwüſtlich muß dieſer galliſche Zug nach der Wahrheit des ſchlichten Verſtandes, nach der Verſtandesnaivetät fein , wenn er einen ſo alles überragenden Vertreter ge funden hat gerade mitten in jenem literariſch verlogenſten aller Jahrhunderte franzöſiſcher Literatur ! Convention, Regelweſen, feige Rückſichtelei, Knechtſinn nach oben , maßloſer Hochmut nach unten , die politiſche, die religiöſe, die geſellſchaftliche und vor allem die literariſche Lüge ringsum , bei hofe, beim Udel, ja ſelbſt in dem engſten freundeskreiſe Molière's, und inmitten der Lüge der eine Mann der Wahrheit, und dieſer ein Komödiendichter, ja ein Komödiant! Der Literaturgeſchichte gehört die Schilderung des franzöſiſchen Theaters vor Molière an. Die Komödie im Beſondern war eine Intriguenkomödie geweſen nach italieniſchem Vorbild, mit ihrer Häufung von Ueberraſchungseffecten, Verwechſelungen, Erkennungen, 10* 148 Molière. -- alſo ausſchließlich der Beluſtigung, dem Zeittodtſchlag geweiht . Molière war es, der für die Komödie das voll: brachte, was für die Tragödie Corneille und Racine nicht gelungen war : ſie zu einer nationalen Kunſt und zu einem Zuchtmittel der Wahrheit zu machen . Molière, nicht Corneille, iſt der echtfranzöſiſche Dramatiker des 17. Jahrhunderts. Was lehrt uns Corneille von dem Volksgeiſt jener Zeit ? Nichts. Seine Dramen athmen nur den Geiſt des hofes, ja ſtreng genommen nur die Maske dieſes Geiſtes, denn wann war man weiter entfernt von dem Corneille’ſchen Ideal der Römer tugend als unter Ludwig XIV . ? Wer wiſſen will, wie das franzöſiſche Volk, ſoweit es damals eins gab, oder doch wie das Pariſer Bürgertum des 17. Jahr: hunderts dachte, der muß ſich an Molière halten : in ihm lebt die Seele des galliſchen 19. Jahrhunderts. Die bekannte Anekdote, nach welcher Molière über die Wirkung gewiſſer komiſcher Stellen ſeine Köchin um ihre Meinung befragt habe, iſt bezeichnend. Alle großen Komödien Molière's ſind entſprungen ſeiner Leidenſchaft für die Wahrheit ; alle bekämpfen die Lüge, die Lüge in jeder Verkleidung, in jedem Stande, in jedem Alter. Gleich ſein erſtes in Paris aufgeführtes Stück : ,, Die lächerlichen Precieuſen “ ( 1659) iſt eine Heldentat im Dienſt der Wahrheit. Welche Geißelhiebe gegen das verlogene , geſpreizte Getue der literariſchen Blauſtrümpfe, dieſe Einleitung zu der aka Molière. 149 demiſchen Verlogenheit des 19. Jahrhunderts ! Wie ſich ſein galliſcher Menſchenverſtand empört gegen dieſes füßliche Cokettiren mit literariſchem Flitterkram , gegen dieſes Abwenden vom Schlichtnatürlichen und Volks : tümlichen ! Seinen Gorgibus, den Vater der beiden Precieuſen, läßt er mit der ganzen Derbheit eines Galliers über den „ hohen Stil " ſagen : „ Welchen ver teufelten Jargon muß ich hier hören ? " und in der : felben Scene eifert Molière ſogar gegen einen ſinnloſen Mißbrauch, dem er doch ſelber leider zu oft ſich hat fügen müſſen : gegen die Wahl ſolcher alfanzigen Namen wie Clitandre, Aminte, Oronte ſtatt der echtfran : zöſiſchen, menſchlichen Namen. Molière war damals der einzige franzoſe , der dieſe Unfitte und Lächerlichkeit als ſolche fühlte ; Rückſichten auf den Brotgeber ſeiner Truppe: den Hof, zwangen ihn, die Mode mitzumachen ; aber ſo oft er konnte, entwiſchte er dem Zwange, rettete ſich in den derben Schwank und nannte darin alle Männlein und fräulein mit ihren gutfranzöſiſchen und gutchriſtlichen Namen. Er allein hat es ja auch ge wagt, den Volksdialect auf die Bühne zu bringen ( im ,,Don Juan ", im „ Urzt wider Willen “ u . a. ) ; ein un: erhörtes Unterfangen für einen Hoftheaterdirector unter Ludwig XIV. Uuch fonſt iſt Molière der einzige Schriftſteller, der an ſeinem Jahrhundert ernſte literariſche Kritik geübt, er der Komödiant gegenüber dem patentirten Aeſthetiker Boileau, - unter dem Mantel der Komödie, aber darum 150 Molière. nicht minder treffend. In dem allerliebſten Schwank „ Die Kritik der Frauenſchule“ hat er ſeinem Unwillen gegen den Popanz Ariſtoteles und deſſen falſch vers ſtandene Regeln beredten Ausdruck gegeben : Dorante : Jhr ſeid ſpaßhafte Leute mit euren Regeln, durch die ihr nur die Dummköpfe in Verlegenheit bringt und uns Tag für Tag ärgert ! Hört man euch reden, ſo ſind dieſe Kunſtregeln die tiefſten Myſterien von der Welt. Über derſelbe geſunde Menſchenverſtand, der einſt dieſe Regeln erſonnen, übt ſie alle Tage ohne die Hilfe des horaz und des Ariſtoteles . Ich möchte mal wiſſen , ob nicht die oberſte aller Regeln darin beſteht: zu gefallen. Machen wir uns drum luſtig über dieſe Quengelei, mit der ſie den Geſchmack des Publicums unterjochen wollen. Gehen wir ernſthaft dem Kern der Dinge auf den Leib, die uns am nächſten liegen, und ſuchen wir nicht nach Regeln, die uns hindern, die Zuhörer zu ergötzen . Uranie : Was mich betrifft, ſo ſehe ich bei einer Komödie nur darauf, ob mich die Sache intereſſirt; und habe ich mich gut dabei amüſirt, ſo will ich nicht erſt fragen, ob ich im Grunde Unrecht gehabt und ob die Regeln des Uriſtoteles mir verbieten zu lachen . Dorante : Gewiß. Es iſt gerade ſo, als wollte Jemand, der eine ausgezeichnete Sauce erfunden, erſt nachſehen, ob auch die Regeln des franzöſiſchen Kochkünſtlers " ſie für gut erklären . Galt dieſer Uusfall dem in Regeln eingeſchnürten Drama, ſo führte Molière auch gegen die Convention und Unnatur der zeitgenöſſiſchen Eyrit ſeine Streiche. Gibt es im ganzen Bereich der franzöſiſchen Kritik etwas Reizenderes und zugleich Wahreres als die be: rühmte Stelle im „ Miſanthrop “, wo Alceſte mit der verlogenen Madrigalreimerei ins Gericht geht ( Act I , Scene 2 ) ? Der Schöngeiſt Oronte gibt da eine kleine Dichtung zum Beſten, die nicht ſchlechter iſt, als die Durchſchnittslyrik des 17. Jahrhunderts. Molière hat ſich wohl gehütet, in dieſem Beiſpiel eine Karikatur zu liefern ; ach nein , das Meiſte von Benzerade, von Jean Molière. 151 Baptiſte Rouſſeau, von Chaulieu, von La fare – und wie ſie ſonſt heißen die ſogenannten Lyriker jener Zeit iſt in dieſem Stil geſchrieben – : L'espoir, il est vrai , nous soulage , Et nous berce un temps notre ennui ; Mais, Philis, le triste avantage , Lorsque rien ne marche après lui ! Oronte, der Dichter dieſes blühenden Blödſinns, iſt natürlich entzückt über ſeine Leiſtung, die Undern des : gleichen . Ulceſt-Molière hält mit ſeinem Urteil zurück, wozu einen freund an der verwundbarſten Stelle kränken ? Da man aber in ihn dringt, bricht ſein lange verhaltener dichteriſcher Ingrimm gegen die ganze Lüge dieſer Poetaſterei aus : Ganz offen , das paßt für — gewiſſe Orte. Sie wandeln da auf ſchlechter Muſter Spur, Dem Uusdrud fehlt's an Wahrheit und Natur. Dieſer ſtelzbein'ge Stil, den man jetzt ſo rühmt, Jſt unwahr im Ton und verlogen - verblümt. Ein Wortegetändel, Verſtellung nur, Denn ſo ſpricht niemals die echte Natur. Mir iſt der Geſchmad des Jahrhunderts zuwider, Unſre Väter, zwar derb, hatten beſſere Lieder . Mir ſteht viel höher, als was man jetzt preiſt, Ein uraltes Volkslied , das alſo heißt : Hätte König Heinrich mir ' ) Ganz Paris gegeben, Und entſagen ſollt' ich Dir Mein geliebtes Ceben, Spräch' ich : Rein , Herr König, nein , Eu'r Paris ſtedt wieder ein ; Lieber iſt mein Liebchen mir, Tauſend Male lieber ! 1 ) Wahrſcheinlich von Molière ſelbſt gedichtet, wenigſtens als Volkslied des 19. Jahrhunderts bisher nirgends aufgefunden ! 152 Molière. Ja wohl, mein Herr Cacher, trotz allem Getue Mir dünkt das viel ſchöner als blumige Phraſen, Als das falſche Geflunker poetiſcher Baſen . (Sehr frei nach Caun und Baudiſſin .) Ein Meiſterſtück einer Lection im poetiſchen Ge ſchmack, aber wie Alceſt mit dieſer ſeiner Anſicht im „Miſanthrop “ allein ſteht, ſo Molière im 17. Jahr : hundert mit ſeinem haß gegen die Unnatur. Brauche ich im Einzelnen den Spuren dieſes Wahrheitsdichters nachzugehen ? Soll ich zeigen , wie er nach den ,, Lächerlichen Precieuſen " in den ,, Gelehrten frauen " eine ähnliche Bildungslüge lächerlich machte ? - wie er in dem „ Adligen Bürgersmann “ der Lüge des Parvenütums zu Leibe ging ? - wie er dieſes Thema in „ George Dandin “ von einer andern Seite erfaßte und variirte ? wie er endlich im „ Tartuffe“ die Heuchelei ſelbſt in ihrer abſchreckendſten Geſtalt bloß ſtellte ? Das alles kennt ja jeder Leſer von der Cectüre oder vom Theater her. Auch Molière's hartnäckiger luſtiger Krieg gegen die damalige Charlatanerie der Heilkunde iſt nichts anderes als eine Bekämpfung der wiſſenſchaftlich aufgeputzten Lüge mit ihrem Wort: ſchwall und ihrem formelweſen. Das Tragiſche in Molière's dichteriſcher Tätigkeit war, daß er nie die volle Wahrheit ſagen durfte. Das umgibt ſeine größten Komödien mit einem Hauch tiefer Melancholie und erinnert weit mehr an das ernſte Drama als an das Luſtſpiel. Sein perſönliches Schick: Molière. 153 aus. jal, die unglückliche Liebe zu ſeiner unwürdigen Gattin , aber mehr vielleicht noch die Ueberzeugung von der Unmöglichkeit der freien Entfaltung ſeines Genies unter einem Theatergebieter wie Ludwig XIV. , haben aus dem ſcheinbar luſtigſten franzoſen den im Grunde des Herzens trübſinnigſten Melancholicus gemacht. In der Rue Richelieu zu Paris, unweit der Stätte ſeines Wirkens und ſeines Sterbens, ſteht ſeine Statue , wohl die ſchönſte, welche Paris beſitzt : welche Schwer mut mit Güte gepaart in dieſem unvergeßlichen Antlitz ! Und wer Ohren hat zu hören , der vernimmt auch aus Molière’s Hauptdramen den tragiſchen Ton leicht her: Er wäre der Dichter geweſen berufen die nationale Tragödie zu begründen ; aber ſeiner Auffaſſung vom Weſen des ernſten nationalen Drama's konnte er nicht folgen, der Convention der claſſiſchen Tragödie wollte er ſich nicht unterwerfen, ſo blieb ihm allein die Komödie. Im 17. Jahrhundert hatten nur Könige das Recht, auf der Bühne zu leiden und zu ſterben, vornehmlich die Könige des Altertums. Das Bürgertum war dramatiſch nicht anders courfähig als in der Komödie. Uuch im Drama hatte der dritte Stand ſich erſt ſeine Menſchenrechte zu erobern. Molière ſtöhnte unter dieſer Verſtümmelung der Aufgabe des Theaters. Er wollte wahr ſein , wollte die tiefſten Conflicte des Menſchen herzens behandeln, --- wie Shakeſpeare es getan , wie Calderon und Lope es taten, aber Ariſtoteles und 154 Molière. Boileau, und nun erſt der König, duldeten das nicht. In der „Kritik der frauenſchule“ hat Molière über dieſe Ohnmacht der damaligen Tragödie ſich unzwei deutig geäußert : ſie war für ihn alles mögliche, nur nicht natürlich und wahr ! Da ſagt Dorante Molière , ſehr vorſichtig denn der König liebte ja die maje ſtätiſche Tragödie , – aber doch ſehr verſtändlich (Scene 2 ) : „Ich finde, daß es ſehr viel leichter iſt, ſich in großen Gefühlen zu ergehen, mit ſchönen Verſen dem Schidſal Troß zu bieten, die Himmelsmächte anzuflagen und den Göttern Beleidigungen zu ſagen , als die Lächerlichkeiten der Menſchen gehörig aufzudecken . Bei euren Schilderungen von Helden fönnt ihr tun, was ihr wollt; das ſind Phantaſiegemälde, in denen man keine Uehnlichkeit ſucht. Sobald ihr aber die Menſchen ſchildert, müßt ihr nach der Natur zeichnen . Von dieſen Gemälden verlangt man Uehnlichkeit, und ihr habt nichts erreicht, wenn ihr nicht die Menſchen eurer Zeit darin erkennen macht. Mit einem Wort : in den ernſthaften Stüden ( den Tragödien) braucht ihr, um nicht Tadel zu erleben, nur Dinge zu ſagen , die correct und gut geſchrieben ſind , aber das genügt nicht für die andern (die Komödien ," So konnte es nicht ausbleiben, daß Molière’s beſte Stücke etwas Unabgeſchloſſenes haben. Er ſagt ſein letztes Wort nicht, denn wollte er es ſagen, ſo wäre es mit der Komödie vorbei ; es gäbe feine luſtige Hochzeit im letzten Act , feine Beſtrafung Tartuffe's , Alceſte im Miſanthrop würde ſich eine Kugel durch den Kopf ſchießen , Harpagon ſich aufhängen, George Dandin fich ertränken, und Arnolph in der Frauenſchule erſt Agnes und dann ſich erſtechen . Das alles war aber bei Strafe der dramatiſchen Majeſtätsbeleidigung dem bürgerlichen Theater ſtreng unterſagt, und ſo endigen denn Molière's Stücke mit jener unmotivirten, plötzlichen Molière. 155 freude, meiſt mit Hilfe eines gefälligen Deus ex machina, und entlaſſen uns unter dem Eindruck : in Molière's Seele lebte ein ganz andrer letzter Act. Un ſolchen künſtleriſchen Qualen hat der wahrhaftigſte Dichter des 17. Jahrhunderts 311 leiden gehabt ! Molière war Komödiendichter und Komödiant mit voller Seele. Der Schauſpieler ſtand damals im Banne der Kirche ), fein Leib fand feinen Platz in geweihter Erde, und ſelbſt am Hofe Ludwigs XIV. ſpielte er doch nur die Rolle eines etwas vonehmeren Spaßmachers als die früheren Hofnarren. – Das alles wußte Molière und knirſchte dagegen ; aber nichts vermochte ihn zur Unwahrheit gegen ſeinen frei gewählten Beruf zu bes wegen. Boileau drang in ihn, wenigſtens das eigene Komödieſpielen aufzugeben , „ meine Ehre erlaubt mir das nicht,“ war Molière's Untwort. So iſt er denn als ein Märtyrer ſeines Berufes geſtorben , mitten in der Vorſtellung des „ Kranken in der Einbildung “ , das Wort »Juro l « auf den Lippen . Alle andern „ Claſſiker “ des 17. Jahrhunderts ſind 6ojährig und darüber ge ſtorben , die Meiſten am Marasmus senilis ; Molière allein iſt wenig über 50 Jahre alt geworden, und der Tod rief ihn ab auf der Stätte ſeines beſten Schaffens. Der Vergleich mit Shakeſpeare, dem Dichter und Schaus i ) Wie unglaublich conſervativ die Franzoſen auch in ſolchen Dingen ſind, beweiſt die Tatſache, daß erſt vor wenigen Jahren die Schauſpieler Coquelin und Got des Kreuzes der Ehrenlegion würdig befunden wurden, die erſten und einzigen ihres Standes . 156 Molière. ſpieler ſeines Theaters , liegt nahe, und man muß ſagen : in dieſem Punkte, in der Berufstreue, in dem Einſtehen für die Wahrheit des eigenen Strebens , iſt Molière der größere. Er hat ſich nicht, gleich Shakeſpeare, mit ſeinem ſtattlichen Vermögen bei Zeiten von der Bühne zurückgezogen , und iſt nicht unter die Philiſter gegangen , ſolchergeſtalt ſein ganzes Künſtlerleben Lügen ſtrafend. Wie Molière über ſeiner Zeit ſtand, habe ich nach : zuweiſen verſucht. Im Großen wie im Kleinen deutet er auf eine höhere, eine freiere Entwickelung des fran : zöſiſchen Drama's voraus. Wird er ſchon dadurch als der freieſte Geiſt des 19. Jahrhunderts erfunden, daß er es unternahm , Kritik an ihm zu üben und, ganz nach Shakeſpeare's ſchönem Wort, „dem Leib und Leben ſeines Jahrhunderts ſeinen eigenen Abdruck vorzu halten , " – ſo wird er geradezu ein Prophet für das 18. Jahrhundert durch ſeine Angriffe gegen die bevor: rechteten Stände. Jn Molière laſſen ſich ganz deutliche Anſätze zu Beaumarchais nachweiſen : dasſelbe Uuf: bäumen gegen die Unmaßlichkeit und Dummheit des Adels , wie figaro es in dem nach ihm benannten Stück äußert, findet ſich ſchon in verſchiedenen Stücken Molière's . Die furchtbare Verhöhnung des „Marquis " ( bei Beaumarchais iſt's ein „ Graf“) in der „ Kritik der frauenſchule“, im „ Impromptu ron Verſailles “, und die ſittliche Entrüſtung, welche dem „ Don Juan “ zu Grunde liegt , ſind das erſte Grollen des fernen Don ners der franzöſiſchen Revolution , der freilich noch Molière. 157 hundert Jahre auf ſich warten läßt. Iſt es nicht un erhört und faſt unglaublich , daß Molière ( in ſeinem eigenen Namen ) von der Bühne herunter dem König und dem verſammelten Hof ins Ungeſicht zu ſagen wagt : „ Ja wohl, immer wieder einen Marquis ! Wen zum Teufel ſoll man denn ſonſt als luſtige Theaterperſon nehmen ? Der Marquis iſt heutzutage dieſe luſtige Perſon der Komödie ; und wie man in allen Komödien der Alten ſtets einen ſpaßigen Bedienten ſieht, der die Zu hörer zum Lachen bringt, ſo bedarf es in allen unſern heutigen Stücken eines lächerlichen Marquis, über den das Publicum ſich beluſtige .“ Iſt die Situation nicht merkwürdig jener anderen ähnlicy, wo in ,, figaros Hochzeit" im Beiſein des hofes der Barbier dem Grafen Ulmaviva die höhniſchen Worte nachruft (Act V, Scene 3) : „ Nein , Herr Graf, Sie ſollen mein Mädchen nicht haben, Sie ſollen ſie nicht haben . Weil Sie ein großer Herr ſind , halten Sie ſich für ein großes Genie ? Udel, Reidytum , Rang, Stellen , all das macht Sie ſo übermütig ?! Was haben Sie getan, um ſo viel zu verdienen ? Sie haben ſich die Mühe gegeben, geboren zu werden, weiter nichts ; im Uebrigen ein recht gewöhnlicher Menſch !" Ueber ſeiner Zeit, aber mitten in ſeinem Volk, das iſt die Größe in Molière's Stellung . Man kann es nicht ausdenken, was dieſer Genius erreicht haben würde, hätte nicht der Zwang ſeiner abhängigen Lage auch ihm das Joch der Convention auf den Nacken gepreßt . Un ihm hat Ludwig XIV. , ſein Beſchützer, am meiſten geſündigt und vernichtet, ohne es zu wollen . Des Dichters Ruhm iſt's, auch gegen den König das Recht des Dichters ſo mannhaft wie damals möglich verteidigt zu haben. Seine Sprache Ludwig XIV. gegens 158 Molière. über iſt durchaus würdig, – faſt, möchte man ſagen, wie von Monarch zu Monarch, und es ſcheint, als ob der König fich von ihm mehr habe bieten laſſen , als ſonſt von einem feiner Hofpenſionäre. Molière ging in ſeinem erſten „ Placet“ bezüglich der Aufführung des Tartuffe bis zur gelinden Drohung : „ Ich erwarte achtungsvoll ( ! ) den Beſchluß, den Eure Majeſtät über dieſe Frage auszuſprechen geruhen wird . Uber das iſt ſehr ſicher, Sire , daß ich nicht mehr daran denken darf, Komödien 311 ſchreiben , wenn die Tartüffes die Oberhand gewinnen . " Ob ſich viele jetzt lebende Monarden conſtitu : tionellſten Gepräges eine ſolche Sprache ſelbſt von einem Genie wie Molière gefallen laſſen würden ?! Wer für die Wahrheit ficht, hat wenig freunde: Moliere, der liebenswürdigſte Menſch, hatte faſt nur feinde, die über ſeiner Leiche triumphirten : die Geiſt lichkeit hat ihm den Tartuffe ( der doch kein Geiſtlicher war) niemals verziehen , und die Precieuſen, die Verzte , die Marquis, die dummſtolzen Emporkömmlinge und all die vielen von ihm dramatiſch Viviſecirten werden ſchwerlich erbarmungsvoller geweſen ſein . Was waren dagegen die kleinen literariſchen fehden der andern Dichter des 19. Jahrhunderts ! Molière war ein Pariſer Kind, wie nachmals Beaumarchais und Béranger. Seine angeborne gaîté und gauloiserie, der wir ſolche Tollheiten wie den „ Herrn von Pourceaugnac “ und den „ Umphitryon “ ver: danken, hat er in ſeinen Schauſpieler -Wanderjahren Molière. 159 von 1645 – 1658 veredelt. Dieſe Lern- und Wander: zeit, von der wir ſo gut wie nichts wiſſen, war in jeder Beziehung Molière's Glück: ihr iſt es zuzuſchreiben , daß er in den Jahren ſeiner blühendſten Entwickelung dem Einfluß des Hofes entrückt geblieben iſt. Bei keinem Dichter des 19. Jahrhunderts fühlt man ſich ſo unter echtgalliſchen, nicht höfiſch romaniſirten fran: 30ſen , wie bei Molière. Er und Racine neben ein ander betrachtet, kommen Einem vor wie Vertreter zweier verſchiedener Völker. Dichtern wie Racine iſt es gleichgültig, ob ein franzöſiſches oder ſonſt ein Publi : cum ihren Stücken beiwohnt, wenn das Publicum nur ein Hofpublicum iſt. Molière ſchreibt nur für fran: 30fen. Und wunderbar : dieſer nationalſte Dichter frankreichs im 17. Jahrhundert iſt heute ſein inter : nationalſter geworden, während das Herrſchgebiet Racine's kein größeres iſt, als die Mauern des Théâtre français umſchließen. XI. Montesquieu. ( 1689–1755 .) in Blick in Montesquieu's beide hauptwerke : „ Perſiſche Briefe“ und „ Geiſt der Geſetze“ zeigt uns, daß wir uns im 18. Jahrhundert befinden . Wie mit einem Schwamm ausgewiſcht ſind Geiſt und Sprache des 17. Jahrhunderts: Montesquieu iſt der Schriftſteller der freiheit, er denkt wie ein freigeborner und ſchreibt wie ein Herr, während unter Ludwig XIV. Gedanken und Worte die Livrée des Dieners tragen. Montesquieu leitet das 18. Jahrhundert ein, das Zeitalter der Kritik. Jn politiſcher Beziehung iſt er nicht allein der Wegweiſer des 18. , ſondern der Grundſteinleger des 19. Jahrhunderts. Montesquieu, genau 100 Jahre vor der franzöſiſchen Revolution ge . boren und in dem Jahre geſtorben , als Rouſſeau's erſte politiſche Abhandlung erſchien , — Montesquieu iſt Montesquieu . 161 der Stammvater des modernen Liberalismus, ſein Lehrmeiſter und ſein Geſetzgeber. Aus England hat er den größten Teil ſeines Wiſſens vom Staat mit gebracht, aber er hat dieſem Wiſſen die form gegeben, welche für franzöſiſches und europäiſches Publicum mundgerecht war. Ganz neu war kaum eine der Montesquieu'ſchen Lehren , mit Ausnahme ſeiner Theorie rom Zuſammenhang der politiſchen Entwicke: lung mit den klimatiſchen und ſonſtigen natürlichen Bedingungen eines Volkes . Aber es iſt ja auch nicht ſo ſehr die Nenheit der Ideen, welche wir an den franzoſen bewundern, wie ihre fähigkeit , fremdes ſchnell zu erfaſſen , es den Bedürfniſſen der Durch ſchnittsmenſchheit entſprechend umzugeſtalten und es dann in einer leicht verſtändlichen , anziehenden form vorzutragen. Als einer dieſer verdienſtvollen Vul gariſatoren iſt Montesquieu in erſter Reihe anzu feben . Im 17. Jahrhundert war an eine kritiſche Be trachtung politiſcher Dinge in Frankreich nicht zu denken geweſen. Der Despotismus des » L'état c'est moi ! « machte aus jeder ſelbſtändigen Unſicht über Regierung, Staat und Volk ein Verbrechen gegen die Majeſtät des Königs. Wörter wie „ Vaterland“, „ Menſchheit“, „Menſchenrechte“ verſchwinden nahezu ans der fran zöſiſchen Sprache, weil ſie aus der Denkweiſe verſchwin : den . Eine einzige, durch ihre Vereinſamung doppelt die Regel beſtätigende Ausnahme gibt es in der ganzen Engel, gie . 162 Montesquieu. Literatur des 19. Jahrhunderts, von einem Gefühl für die Lage der Bevölkerung: es iſt die kurze, ſchöne Stelle bei La Bruyère, wo dieſer von der Landbevölkerung frankreichs ſpricht als von „ gewiſſen wilden Tieren , Männchen und Weibchen, auf dem Felde verſtreut, ſchwarz vor Schmutz und doch zugleich fahl, von der Sonne verbrannt, an die Scholle geheftet, die ſie mit unbeſieglicher hart: näckigkeit um- und umkehren . Sie haben etwas wie eine articulirte Stimme, und wenn ſie ſich auf den Füßen aufrichten , zeigen ſie ein menſchliches Geſicht. “ Das politiſche Leben der franzöſiſchen Nation hatte ein Jahrhundert lang ſtillgeſtanden ; Montesquieu er : weckte es aus dem bleiernen Schlaf. Da hörte man zum erſten Mal wieder die Worte, welche noch bei Mon taigne fortwährend ſich finden, ſeitdem aber verſchollen waren : patrie, citoyen (dies eine ſpecielle Erfindung des Montesquieu'ſchen Sprachgebrauchs ), liberté publi que, liberté personelle ; ja ſelbſt von einer opinion publique iſt auf einmal nach der langen öffentlichen Verſtummung nachdrücklich die Rede. Die Nation beſinnt ſich wieder auf ſich ſelbſt, fie erkennt, daß nicht der König allein der Staat iſt, ſondern daß dazii auch die 15 Millionen „ Untertanen “ gehören , die in dieſer Zugehörigkeit „ Bürger “ heißen . Sie erkennt, daß dieſe 15 Millionen ein angebornes Recht haben, wie Men : fchen zu leben und nicht wie die „ wilden Tiere “, von denen La Bruyère mit düſterer Glut geſchrieben. „ Die Menſchheit hatte ihre Rechtstitel verloren , Montesquieu hat ſie aufgefunden und ſie ihr zurückgegeben ,“ mit Montesquieu. 163 dieſem neidloſen, herrlichen Wort hat Voltaire ſeines großen Zeitgenoſſen Tätigkeit ein für allemal richtig abgeſchätzt. Das 17. Jahrhundert kannte keine politiſche Gegen: wart, es beſaß keine zeitgenöſſiſche Geſchichte. Das geiſtige Intereſſe erſchöpfte ſich in Streitereien um den größeren Wert eines Sonetts von Benſerade oder von Voiture , oder wenn's hoch kam : um den Vorzug der Modernen vor den Untiken . Auch in dieſer Beziehung hat La Bruyère, der ſchweigjame Beobachter ſeines Jahr: hunderts, das treffendſte Wort gefunden : „ Die großen Themata ſind verboten . “ Montesquieu greift die „ großen Themata “ auf, und was für Themata ! Die Rechtsbegründung der herrſchenden Regierungs formen, die Kritik der Königsgewalt, des Adels, der Geiſtlichkeit, der Rechtspflege, der Verwaltung, - kurz : des ganzen Staatslebens, und ſeine Kritik, ſo behutſam fie ſpricht, iſt vernichtend in den Augen jedes aufmert: ſamen Leſers . Montesquieu's Kritik iſt nicht die eines Revolutio : närs. Sein echtfranzöſiſcher Sinn für Ordnung läßt das nicht 311. Obenan ſteht ihm die Geſetz: mäßigkeit, im Gegenjatz zur Föniglichen Willkür, der Rechtsſtaat, ſtatt des Staates des „ Tel est notre plaisir« Darum hält er ſich zunächſt an das Beſtehende und prüft deſſen Berechtigung oder Ver: beſſerungsfähigkeit. Montesquieu iſt kein Utopiſt, ſon: dern ein Realpolitiker im unverderbten Sinne des 11 * 164 Montesquieu. Wortes : er conſtruirt ſich keine paradieſiſchen Ur: zuſtände der Menſchheit, wie das Rouſſeau bald nach Montesquieu tun wird, ſondern er nimmt die Natur des Menſchen und der Geſellſchaft als gegebene, wenn auch nicht als abſolut ewige factoren. Darum der Nachdruck, den er in ſeinem „Geiſt der Geſetze“ auf das Klima legt , der erſte Verſuch einer natur: wiſſenſchaftlichen Begründung der Staatengeſchichte und inſoweit Montesquieu's geiſtiges Eigentum . Rouſſeau kennt nur einen phantaſtiſchen Normalmenſchen , Montesquieu unterſcheidet Racen und Völker und an : erkennt entſprechende Unterſchiede der Verfaſſung und Geſetzgebung. Rouſſeau hat ſich zwar auf Montes . quieu als ſeinen Lehrer bezogen und inſofern mit Recht, als dieſer ihm zweifellos die erſten Anregungen zur kritiſchen Betrachtung des Staatsweſens gegeben ; aber welche tiefe Kluft ſcheidet dieſe beiden Umgeſtalter des politiſchen Lebens von einander ! Bei Montesquieu findet ſich eine Stelle in den „ Perſiſchen Briefen “ , welche wahrhaft prophetiſche Kritik an Rouſſeau's Methode der politiſchen Unterſuchung übt. Montes : quieu, der das Hiſtoriſch -Gewordene als ein Natur geſchichtlich Gewordenes, wenn auch vielfach Verderbtes, auffaßt, wendet ſich im 95. Brief) gegen die Urt, die Geſellſchaft a priori conſtruireit zu wollen : „ Jd habe niemals vom öffentlichen Recht ſprechen hören, ohne daß man damit angefangen , jorgjam nachzuforjihen , welchen Urſprung die Gejellſchaft habe. Das ſcheint mir lächerlich . Wenn die Menſchen keine Gejelljdhaft bildeten , wenn ſie ſid, trennten und vor einander Montesquieu. 165 flöhen , ſo müßte man dafür den Grund ſuchen ; aber ſie kommen ja gleid auf einander angewieſen zur Welt : ein Sohn wird im Hauſe des Vaters geboren und da bleibt er ; das iſt die Geſellſchaft und der Urgrund aller Geſellſchaft. “ Eine ſo einfache und natürliche Erklärungsweiſe der Geſellſchaft war Rouſſeau, der ſeine Söhne ins findelhaus ſchickte, allerdings verſchloſſen . Montesquieu iſt der große politiſche Reformer frankreichs . Er iſt ſo wenig ein Revolutionär, daß man ſagen kann, die Durchführung der von ihm vor geſchlagenen Reformen zur rechten Zeit würde die Revolution unmöglich gemacht haben. Er will weder den Adel abſchaffen , noch ſelbſt die Erblichkeit gewiſſer Richterſtellen ; auch gegen die Monarchie hat er nichts einzuwenden . Aber ſein Ideal einer Monarchie iſt die engliſche mit ihrer wohlgeordneten Teilung der Ge: walten, der erecutiven und der geſetzgebenden , mit ihrer ſtrengen Sonderung der Verwaltung und der Gerichts: barkeit, lauter Dinge, die in Frankreich mit kunter bunter Willkiir in einander liefen . freiheit in der Geſetzlich keit, das höchſte Jdeal eines Staatsmanns und jedes Staatsbürgers , - Montesquieu hat es in frankreich zuerſt verkündet und ſeine Erreichbarkeit nachgewieſen. Es iſt das dieſelbe Lehre, welche die Bibel ( Epiſtel Jacobi I 25) in die Worte gekleidet hat : „ Das vollkommene Geſetz iſt das Geſetz der freiheit.“ Montaigne hatte dieſe freiheit zunächſt nur für ſich gefordert , - Montesquien geht über den freiheits: egoismus des Einzelnen hinaus, er ſchafft den Begriff 166 Montesquieu. der politiſchen freiheit, welchen er verwirklidit ſieht in der engliſchen Verfaſſung : „ Es gibt eine Nation auf Erden , welche als directes Ziel ihrer Verfaſſung die öffentliche freiheit hat. Wir wollen unterſuchen, auf welche Principien ſie dieſe freiheit gründet. Wenn ſie gut ſind, ſo wird die freiheit ſich in ihnen wie in einem Spiegel zeigen . “ Bei ſeinen Unterſuchungen geht Montesquieu merk: würdig nüchtern zu Werke ; alle ſchönen Phraſen ver meidend, erforſcht er den Kern der Dinge. Er zuerſt hat vom Vaterlande als von einer politiſchen Heimat geſprochen , aber er verwahrt ſich gegen die falſche Sentimentalität, die ſich gewöhnlich da an das Wort knüpft, wo der Inhalt ein dürftiger iſt: „ Das Vater: land ſind nur die Bürger ; ein wirkliches Weſen daraus machen , heißt viele falſche folgerungen ver : anlaſſen ." Man wird zugeben, daß folche Neuße.. rungen nur von einem durchaus ernſthaften Politiker herrühren können, der ſeine Landsleute in ſtrenge Gedankenzucht nimmt. Dieſer Ernſt des Inhalts ſchließt aber bei Montes: quien nicht aus, daß die form fo galliſch heiter wie nur möglich ſei. Jch komme damit zu der Charakteriſtik Montesquieu's als Vertreters des literariſchen Geiſtes ſeiner Nation. Was er als Staatsmann geweſen , gehört der ganzen Welt, nicht bloß frank: reich an . Er iſt der theoretiſche Begründer des con : ſtitutionellen Syſtems anf dem feſtland, der Be fämpfer des Despotismus, der Sclaverei , der Tortur, Montesquieu . 167 der Jnquiſition , des grauſamen Strafcoder, der päpſt: lichen Uebergriffe geweſen ; aber das alles hat heute zum Glück nur noch ein hiſtoriſches Intereſſe , denn was Montesquieu vor 150 Jahren gelehrt, iſt längſt zur felbſtverſtändlichen Vorausſetzung europäiſcher Staatss mannſchaft geworden . Sein Verdienſt bleibt darum zwar das gleiche, aber die Wirkung ſeiner Schriften für die Gegenwart iſt abgeſchwächt , weil der Wider: ſtand feindlicher Ideen nachgelaſſen , ja faſt ganz auf: gehört hat. Montesquieu's „ Perſiſche Briefe“ und „ Geiſt der Geſetze“ können nur in Rußland und in der Türkei für die Regierenden gefährlich werden ; in den politiſch freien Ländern ſind ſie zu hiſtoriſchen Actenſtücken der freiheitsentwickelung gewordent . Was lebendig geblieben für die Literatur frankreichs, das iſt Montesquieu's Stil . Darin iſt er ganz ſeines Landes Sohn und nur ſeines Volkes Lehrer geweſen. Montesquieu hat alle Waffen der Proſa in ſeinem Kampfe geführt: den ſtrengen Ernſt unerbittlicher Logik für die ernſtgeſtimmte Leſerwelt, die bis zur bedenklichſten Schlüpfrigkeit ſich verirrende erotiſche Gauloiſerie als Unreiz für ſolche Leſer, die ſonſt von der Beſchäftigung mit den „ großen Thematen “ nichts hätten wiſſen wollen, alſo für die überwiegende Zahl ſeiner Zeitgenoſſen unter der Regentſchaft und Ludwig XV. , – und endlich ſeine Lieblingswaffe, deren meiſterhaften Gebrauch er zuerſt ſeine Franzoſen gelehrt : die Jronie. 168 Montesquieu . dad Die Jronie Montesquien’s iſt von einer haarſcharfen feinheit, etwa vergleichbar mit jenem Wundermeer des Schmiedes Wieland, welches ſanft daher treibende Wollenflocken durchſchnitt. Die Waffe der Jronie iſt ihm aufgedrungen worden ; ſie war die einzige, welche ihm ſelbſt Hieb- und Stichſicherheit vor der brutaleit Verfolgung ſeitens Eudwigs XV. verſchaffte. Ludwig XIV. hatte die Macht beſeſſen , alle Literatur ſeiner Zeit um ſeinen Tron zu ſammeln : da brauchte er ſie nicht zu verfolgen , ſondern konnte ſie ſich dienſtbar machen. Ludwig XV. hatte keine anderen Beziehungen zur Literatur, als daß er ihre Vertreter durch die Lettres de cachet in die Baſtille ſchickte. Montesquieu iſt der Baſtille entgangen, und das dankte er ſeinem aus Jronie gewobenen Panzer. Eine Jronie, der alle Töne 3.1 Gebote ſtehen , vom ſanften Spott, der kaum verletzt, bis zur blutigſten Satire , die ihren Mann tötet wie ein ſchnellwirkendes Gift. Manche ſeiner „ Perſiſchen Briefe " und vereinzelte Capitel im „ Geiſt der Geſetze“ erinnern an die Spötte: reien Rabelais' ; aber das Meiſte iſt Montesquieu's beſondere Art. Auch Voltaire iſt ironiſch , aber welcher Unterſchied zwiſchen Schüler und Meiſter ! Voltaire läßt ſich vom Hange zur Jronie faſt immer dazu hinreißen, daß ihm die ironiſche form die Haupt: ſache , der ernſte Zweck die Nebenſache wird. Montes : quieu bleibt feierlich ernſt, ja geradezu pathetiſch mitten in der gellendſten Jronie ; ſeine Niundwinkel zucken in Montesquieu. 169 grimmigem Lachen, es fliegen ironiſche Schauer über ſein Geſicht, aber ſeine Augen blicken ernſt und unver : wandt aufs Ziel, und ſeine Stirn faltet ſich nicht vor freude, ſondern vor Zorn. Das kann Voltaire nicht. Nur Einer hat das nach Montesquieu wieder vermocht, fein franzoſe , aber cin Halbfranzoſe : Gibbon, » the lord of irony « wie ihn Byron nennt. Um häufigſten ſchwingt Montesquien dieſe ſeine Leibwaffe in den „Perſiſchen Briefen “ ; da weiſt faſt jeder zweite Brief Spuren davon auf, und es iſt erſtaun: lich genug, daß man trotzdem bei der Lecture keine Ermüdung ſpürt. Als ein Meiſterſtück dieſer Jronie muß der 37. Brief bezeichnet werden ; er enthält die Schilderung des greiſen Ludwigs XIV.: „ Der König von Frankreich iſt alt . Man ſagt , er beſitze in febr hohem Grade die Gabe, ſich Gehorjam zu verſchaffen : er regiert mit derſelben Meiſterſchaft ſeine Familie, ſeinen Hof, ſeinen Staat . Man hat oft äußern hören, daß ihm von allen Regierungsformen der Welt die der Türfen am beſten gefallen würde : ſo hoch ſtellt er die orientaliſche Staatskunſt. Ich habe ſeinen Charakter ſtudirt und darin Widerſprüche ge: funden, die ich unmöglich mit einander vereinigen kann : ſo z . B. hat er einen Miniſter, der nur achtzehn Jahre, und eine Maitreſſe, die achtzig Jahre alt iſt. Er belohnt gern, die ihm dienen ; aber er bezahlt ebenſo freigebig die Bemühungen oder vielmehr das Nichtstun ſeiner Höflinge, wie die mühevollen feldzüge ſeiner Generäle. Oft zieht er einen Meniden, der ihn auskleidet oder ihm die Serviette bei der Tafel reicht, einen Undern vor, der ihn Städte erobert oder Schlachten gewinnt. Auch hat man ihn einem Manne, der zwei Mieilen weit vorm Feinde ge flohen war, eine kleine Penſion , und einem Andern , der vier Meilen geflohen war, cinen ſchönen Fouverneurpoſten geben ſehen .“ Dies iſt bittere Jronie, aber immerhin noch in luſtiger form . 170 Montesquieu . Schlimmer klingen ſchon folche Stellen wie die vom Papſt: „ Ein Magier, der glauben macht, daß das Brot, welches man ißt , kein Brot ; der Wein, den man trinkt, fein Wein iſt, und tauſend andere Dinge gleichen Kalibers. " Uber zur wahrhaften Höhe ihres Vermögens er: hebt ſich die Jronie Montesquieu's doch erſt in dem „ Geiſt der Geſetze“ . Hierin wirkt ſie ſchon deshalb um ſo machtvoller, weil ſie ſeltener erſcheint und weil an dem Ernſt der Abſicht kein Zweifel beſteht. So allen voran die Stelle im 5. Capitel des XV. Buches, betitelt „ Von der Regerſclaverei“ : „ Hätte ich das Recht zu verteidigen , mit welchem wir die Neger zu Sclaven gemacht haben, ſo würde ich folgendes ſagen : Da die Völker Europas die Ureinwohner Amerikas ausgerottet haben, mußten ſie die Ufrikaner in die Sclaverei ſchleppen, um mit deren Arbeit das Land urbar zu machen . Der Zucker würde zu teuer ſein , wenn man nicht das Zuckerrohr durch Sclaven bearbeiten ließe . Die Menſchen, um die ſich's hierbei handelt, ſind ſchwarz vom Kopf bis zur Zehe, und ihre Naſe iſt ſo plattgedrückt, daß man ſie unmöglich beklagen kann. Man kann den Gedanfen nicht faſſen, daß Gott, ein ſo weiſes Wejen , eine Seele, und gar eine gute Seele, in einen ganz ſchwarzen Ceib gehaucht hat . Es iſt unmöglich anzunehmen, daß ſolche Geſchöpfe Menſchen jeien , weil, wenn man ſie als Menſchen anjähe, man anfangen müßte zu glauben , daß wir ſelber keine Chriſten ſind . Kleine Geiſter übertreiben allzu ſehr die Ungerechtigkeit, die man gegen die Neger begeht; denn wäre ſie wirklich ſo groß, wie ſie be: haupten , wäre es dann nicht einem der europäiſchen Fürſten einge: fallen , die doch ſo viele unnütze Verträge ſchließen, -- auch einmal einen allgemeinen Vertrag im Intereſſe menſchlicher Barmherzigkeit zu ſchließen ?!" Man bedenke wohl, daß Montesquieu einer der Erſten war, welche die Negerſclaverei als einen Schand. Montesquieu. 171 fleck der Menſchheit bezeichnet haben . Daß er ſich 311 ihrer Bekämpfung der Waffe der Jronie bediente, ent ſprach ſeiner Natur: er liebte es nicht , ernſthaft über ſolche Fragen zu ſtreiten , die nach ſeiner Unſicht for: derungen des geſunden Menſchenverſtandes und Mens ſchengefühls waren und bei deren Behandlung man dem Gegner viel zu viel Ehre antäte, wollte man ſeine Gegengründe anders als ſcherzhaft nehmen . So war Montesquieu auch einer der Erſten , welche in frankreich für Gewiſſensfreiheit in Religionsſachen eintraten ; früher ſelbſt als Voltaire, der in dieſer Be ziehung, wie ſo oft, von ihm die Bahnen ſeines Wir: kens ſich hat vorzeichnen laſſen . In den „ perſiſchen Briefen “ behandelt Montesquieu die frage der Ge: wiſſensfreiheit und der religiöſen Duldung noch halb launig ; im „ Geiſt der Geſetze“ ſtimmt der Ton beſſer zu der Größe des Gegenſtandes. Man leſe namentlich ( im Capitel 13 des XXV. Buches) ſeine „ Ganz gehor : ſamſten Vorſtellungen an die Inquiſitoren Spaniens und Portugals “ aus Anlaß der Verbrennung einer achtzehnjährigen Jüdin in Liſſabon wegen Ketzerei ! Das iſt die Sprache, das der Geiſt jenes unſterb: lichen 18. Jahrhunderts, von deſſen Idealismus und Schwungkraft uns mehr not täte, als wir wahr haben wollen . Montesquieu hat den Ton des Jahrhunderts an geſtimmt, jene Miſchung aus ernſtem Jnhalt bei ſcher: zender, ja frivoler form , jene ſtürmiſche Hingabe an 172 Montesquieu. nene Ziele , jenes gläubige Vertrauen in die gute Natur der Menſchen . Das 18. Jahrhundert, zumal in ſeiner erſten Hälfte, war ein leidenſchaftlich optimiſtiſches ; man hoffte alles von der Macht deſſen, was man da : mals „ Philoſophie" nannte ; man dachte mehr an Refor: men , als an Revolutionen, mehr an Beſſerung der Lage des Volkes als an Beſtrafung ſeiner Peiniger. Und die Seele dieſes Teils des Jahrhunderts heißt in frankreich Montesquieu. Seine Jronie tut ſeinem Optimismus keinen Abbruch ; ſie iſt nur die literariſche form , der galliſche Maskenmantel, unter dem ſich ein großer Bürger frankreichs und der Welt vor ſeinen eigenen Zeitgenoſſen verbergen mußte. XII . Voltaire. ( 1694-1778 . ) öthe hat einmal den Ausſpruch getan , Voltaire fei die Zuſammenfaſſung aller guten und ſchlechten Eigenſchaften des franzoſentums, ſomit „ der höchſte unter den franzoſen denkbare, der Nation gemäßeſte Schriftſteller“ geweſen . Das kann noch heute gelten , wenn wir unter „ Franzoſen “ nicht ganz genau dasſelbe verſtehen wie unter „ Gaulois“ . Der franzoſe iſt eine neuere Entwickelungsphaſe des galliſchen Celtentums, als der Gaulois. Dieſer ſchreibt nur für ſeine Nation, oder doch zunächſt für ſie, ſein Blick reicht nicht über die Grenzen der Heimat hinaus: Rabelais, Montaigne, Lafontaine und Molière, ſämmtlich Gaulois, hatten kein andres Publicum vor Uugen als das ihrer Landsleute . franzöſiſche Schriftſteller in Göthes Sinne gibt es erſt nach Ludwig XIV. und durch ihn, erſt ſeitdem 174 Voltaire . dieſer Monarch frankreich zum Hauptacteur auf dem euro päiſchen Theater und Europa zum Zuſchauer und Nach ahmer frankreichs gemacht hatte. Nach Ludwigs XIV . Tode, alſo ſeit dem Anfang des 18. Jahrhunderts, ſchreiben die franzöſiſchen Schriftſteller für ein Publi cum ſo groß wie die gebildete Welt Europas, und dieſer unendlich erweiterte Wirkungskreis gibt der fran : zöſiſchen Literatur einen ganz neuen Charakter. Das ausſchließlich Nationale, das Galliſche, tritt zurück vor dem Internationalen, dem franzöſiſchen . Deshalb auch vom 18. Jahrhundert ab die ſtarke Entlehnung fremder Bildungselemente. Montesquien hatte damit begonnen : feine Staatsrechtslehre wurzelte in engliſchen Ein richtungen ; aber bei der Ausarbeitung und Anwendung des fremden hatte er ausſchließlich oder vornehmlich Frankreichs Zukunft im Sinne. Erſt in Voltaire erſtand der europäiſche Schrift: ſteller franzöſiſcher Nation und Sprache. Wie viel Segen und wie viel Unſegen eine Nation der Menſchheit zufiigen kann, das hat Keiner beſſer bewieſeit als der franzoſe Voltaire. In dieſer Beziehung iſt er einzig. Rabelais mag die Race- Eigenſchaften der Nation ſtärker ausgeprägt beſeſſen haben , Voltaire iſt der Vertreter Frankreichs bei ſeiner europäiſden Miſſion Was wäre Voltaire ohne dieſe außernationale Be. deutung ? Was wäre er als ein nationalfranzöſiſcher Schriftſteller neben den vielen anderen auch nur ſeines Voltaire . 175 Jahrhunderts ? Etwa ein großer Dichter ? Einen ſolchen hat das 18. Jahrhundert überhaupt nicht erzeugt, und auch Voltaire, trotz mancher ſchönen Epiſtel und Ode, trotz einiger ſchwunghafter Tragödienſtellen, trotz oder wegen der „ Henriade “ und der „ Pucelle “ , war kein großer Dichter, wenn überhaupt ein Dichter. Auch in der Proſa, ſeinem eigentlichen Gebiet, hat er kein ab gerundetes Kunſtwerk hinterlaſſen, an dem man ihn erkennen und benennen könnte : eine ſehr lesbare Ge: ſchichte Carls XII. von Schweden, einige moraliſirende Erzählungen, bei denen die Tendenz alles , die fabel und die Perſonen nichts ſind, eine Unzahl philoſophiſcher, moraliſcher, religiöjer, ſtaatswiſſenſchaftlicher Abhand lungen, Pamphlets, Sendſchreiben u . ſ. w . u . ſ. w. , faſt alles ſehr angenehm beim Leſen, aber doch keines ſo hervorragend durch Tiefe oder Neuheit der Auffaſſung, daß es im Stande wäre, Voltaire's Namen vor dem Vergeſſenwerden zu ſchitzen . Was alſo hat dieſer außerordentliche Mann ge leiſtet, daß ſeine Perſönlichkeit ein ganzes Jahrhundert beſchattet und ihm den Namen des „ voltairiſchen “ in der Geſchichte des Menſchheitsgeiſtes verſchafft hat ? Ich muß vorerſt mit der Verneinung fortfahren , um Voltaire's perſönliche wie typiſche Bedeutung ins rechte Licht zu ſetzen . Carlyle , viel ſtrenger , aber auch viel enger als Göthe, behauptete, in Voltaire's fämmtlichen Werken nicht einen großen Gedanken gefunden zu haben . Das iſt natürlich eine echtearlyle che 176 Voltaire . Uebertreibung, aber ſie hat den ſogenannten berech: tigten Kern. Carlyle hätte das Richtige getroffen , hätte er geſagt : nicht einen großen eigenen Ge: danken ! Man kann einwenden : war es etwa kein großer Gedanke, im 18. Jahrhundert aufzutreten gegen die Tortur, gegen das heimliche Verfahren im Straf: proceß, gegen die Inquiſition, gegen jeden religiöſen fanatismus ? War es kein großer Gedanke, die Scla verei , die Leibeigenſchaft, die frohndienſte des Bauern ſtandes zu bekämpfen ? Oder hatte das 18. Jahrhun dert einen größeren Gedanken hervorgebracht als den der religiöſen Duldung, welcher ſich doc? in Voltaire's hundertbändigen Schriften nahezu auf jeder Seite auss geſprochen findet ? – Der Leſer wird aber ſchon ſelbſt die Bemerkung gemacht haben, daß alle dieſe großen und menſdienfreundlichen Gedanken in dieſem Buche nicht zum erſten Mal erwähnt werden . Montesquieu heißt der Schriftſteller, der zuerſt in Frankreich Menſch : lichkeit und Duldung gepredigt hat, und Montesquieu verdankte nachweislich den Kern und den Unſtoß zu ſeinen Lehren den engliſchen Staats- und Reli gionsphiloſophen. Voltaire war kein Pfadfinder , aber ein Wegweiſer, kein Entdecker, aber ein Vulgariſator, und zwar der raſtloſeſte und erfolgreichſte, der vielleicht jemals gelebt, jedenfalls die machtvollſte Verkörperung des franzöſiſchen Sinnes für Vulgariſation. Seine Origi nalität iſt inhaltlich gleich null, - in der form iſt Voltaire. 177 was ſie augenfällig. Unfähig zum Wiſſen der Menſchheit etwas Neues hinzuzutun, hat er ein langes Leben faſt ausſchließlich dazu benutzt, fremden fruchtbaren Ideen die Geſtalt zu geben, welche ſeinem Jahrhundert ent: ſprach, und ſie dadurch aus dem Dunkel und der Be ſchränkung nationaler Grenzen herauszuziehen und auszuſtreuen über die ganze leſende Welt. Voltaire war nur reproductiv, nicht ſelbſtſchöpferiſch ; ein Journaliſt, kein Dichter. Aber das 18. Jahrhun dert bedurfte eines ſolchen Mannes, weil es etwas großgezogen, zum Teil mit Voltaires Hilfe, die früheren Jahrhunderte nicht beſeſſen hatten : das große Publicum . Das 17. Jahrhundert kannte nur einen hof, das 18. lernte ein Volk kennen . Da war es vorbei mit der ausſchließlichen Herrſchaft der Poeſie, zumal mit der hofpoefie; Verſe , die Verſailles begeiſtert hatten , ließen Paris kalt. Wer auf die Menge wirken will, muß Proſa ſchreiben ; die Proſa iſt die Sprache der Demokratie. Das fühlte Voltaire mit ſeinem feinen Gehör für das Wehen des Zeitgeiſtes : ſo oft er ſich an das große Publicum ſeines Landes oder Europas wendet und es aufrufen will für ein beleidigtes Menſchheits - Jntereſſe, ſchreibt er Proſa, die natürliche Sprache des Ugitators. Nur an die höchſten Cirkel, die geiſtige Uusleſe der Völker, wendet er ſich in Verſen , immer darauf be dacht, das geeignetſte Mittel zur Ausbreitung ſeiner, d . h. der von ihm aufgenommenen Ideen aufzubieten . Engel, Piychologie . 12 178 Voltaire . Ein ſolcher Mann, deſſen Leben ſich verzehrt in raſt loſer Verallgemeinerung fremder Gedanken , darf ſeiner Zeit nicht zu weit vorauseilen. Will er ſeinen Zweck erfüllen , ſo muß er mitten in ſeiner Zeit wurzeln ; er muß zwar ſeinen Zeitgenoſſen Jdeale vorhalten, muß aber zugleich durch ſeine Perſönlichkeit dieſen Idealen jeden myſtiſchen Schimmer benehmen ; er muß ſogar, um überzeugend zu wirken, die fehler , ja die Eaſter ſeiner Zeit bis zu einem gewiſſen Grade teilen . Und noch ein andres muß hinzukommen : wenn er auf die Maſſe wirken will, muß er ſelber ins Maſſenhafte, ins Breite gehen : Werke wie Montesquieu's „ Geiſt der Geſetze“ oder ſelbſt Rouſſeau's „ Geſellſchaftsvertrag “ wirken doch immer nur auf die oberſten Zehntauſend , auf die Führer, nicht auf das Heer. Der geiſtige Stratege, der mit Maſſen wirkt, muß in jedem Augenblick bereit ſein einzugreifen ; er darf keine Quartbände ſchreiben , ſondern fliegende Hefte und Blätter, er muß zum Vielſchreiber werden . Voltaire's fabelhafte Urbeitskraft iſt bekannt. Seine Werke umfaſſen 100 Bände, davon die Hälfte in den letzten 25 Jahren ſeines 84jährigen Lebens entſtanden . In ihrer Urt ſind ſie etwas ähnliches wie die „ Ency klopädie “ Diderots und ſeiner Mitarbeiter : eine Popu: lariſirung des geſammten damaligen menſchlichen Wiſſens. Von ſeiner Tätigkeit in jenen letzten 25 Jahren kann man ſich kaum einen rechten Begriff machen ; ſein Arbeitszimmer im Schloſje 311 ferney am Genferſee Voltaire . 179 glich dem des Chefs eines Generalſtabs, der Eſtafetten und Ordonnanzen ausſendet und empfängt, überallhin und von überallher, und ohne deſſen Genehmigung kein Kanonenſchuß abgefeuert werden darf. Welche erſtaunliche Leiſtung, ganz frankreich ein Menſchenalter hindurch geiſtig zu regieren – von einem idylliſch gelegenen Landſitz außerhalb von Paris , ja außerhalb frankreichs ! Welch ein Gegenſatz zu dem alles erdrückenden Einfluß von Verſailles im 17. Jahr: hundert ! ferney hat Verſailles überwunden. Die Rollen ſind überhaupt gänzlich vertauſcht. Was hat der franzöſiſche hof in Voltaire's Leben zu bedeuten ? Dreimal hatten ihn die » lettres de cachet « in jungen Jahren in die Baſtille befördert ; König Ludwig XV. hatte die Abneigung gegen Voltaire ſo weit getrieben, daß er die Widmung der „ Henriade" ablehnte und ſeine Uufnahme in die Akademie Jahrzehnte lang hinausſchob. Da griindet Voltaire ſelbſt ein ſouveränes Königstum von Geiſtesgnaden ; er hält einen Hof, glänzender als der Ludwigs XV. , und empfängt dort nicht nur Seines: gleichen, die Schriftſteller Europas, mit fürſtlicher Huld, ſondern er hat die Genugtung, daß gekrönte Häupter nach ſeinem Arbeitszimmer pilgern , ja daß der heilige römiſche Kaiſer deutſcher Nation, Joſeph II . , ihn aufs ſucht, ganz zu ſchweigen von dem vertrauten Brief: wechſel, den er mit Monarchen und Monarchinnen aller Länder unterhält. Von friedrich dem Großen nicht allzu königlich behandelt, krönt Voltaire ſich ſelbſt zum 12* 180 Voltaire. literariſchen König: ,,Nachdem ich bei Königen gewohnt habe, bin ich König bei mir geworden !" und Europa erkennt ſein Königtum an. fortan gibt es in frankreich drei gleich berechtigte, aber mit einander um die Obmacht vingende Gewalten : Monarchie, Kirche, Literatur. Die letzte der drei wird bald die erſte werden ; es fehlen nur noch wenige Jahre, bis man die Königs gräber in der Kirche von St. Denis zerſtören und die Leiche Voltaire's im Pantheon (der Kirche St. Gene: viève) beiſetzen wird. Und auch das gehört dazu, daß König Ludwig XV. frankreich nichts als eine coloſſale Schuldenlaſt, Voltaire ſeinen Erben baare 4 Millionen franken hinterläßt. „ Ich tat zu meiner Zeit mehr als Luther und Calvin ,“ rühmte Voltaire einſt von ſich. Nicht ganz ſo mit Ueberhebung, wie man glauben möchte. Ich habe hier nicht zu unterſuchen, wer Beſſeres geleiſtet: Voltaire oder Luther ; aber ob die Wirkung Luthers der maſie nach ſo weſentlich der Voltaire's überlegen iſt, unterliegt dem Zweifel. freilich, nach Luther nennt ſich eine Kirche, deren Anhänger ſich zählen laffen und von Zeit zu Zeit auch wirklich gezählt werden ; Voltaire's Gemeinde, vielleicht der Zahl nach geringer, iſt an Einfluß nur zu vergleichen mit der Weltherr ſchaft der päpſtlichen Kirche. hatte Montesquieu den Grund gelegt zur politiſchen Bildung des 18. und des 19. Jahrhunderts, ſo iſt Voltaire anzuſehen als der Religionsſtifter aller Derer , welche ſich zu keiner Religion Voltaire . 181 bekennen , auch ſolcher, welche dies „ aus Religion “ unter: laſſen , wie z . B. Schiller. Un dieſer Tatſache iſt nicht zu rütteln , auch nicht unter Hinweis auf die abſtoßenden Seiten der Voltaire’ſchen Polemik ; am wenigſten mit dem Einwande, daß Voltaire's Religionsauffaſſung nicht ſein Eigentum, ſondern auf engliſchem Boden gewachſen ſei . Die häßliche Art der Beweisführung Voltaire's iſt längſt vergeſſen , denn man lieſt ihn nur noch wenig, zumal in Deutſchland ; und die zahl. loſen Gebildeten , welche im 18. Jahrhundert ſich ihre religiöſen Anſichten aus Voltaire holten , hatten kaum eine Zeile geleſen von Voltaire's engliſchen Lehrern : Bolingbroke, Shaftesbury, Toland und vor allen Locke. Voltaire hatte es ſich ſelbſt zuzuſchreiben, daß alles Unheil mißbräuchlicher Anwendung ſeiner Lehren auf ihn zurückfiel, und daß es allgemein bei ſeinen Gegnern hieß : „ C'est la faute de Voltaire « , auch da , wo er unſchuldig war wie ein Lamm . Es erging ihm ähnlich wie ſeinem Freunde, dem königlichen Philoſophen von Sansſouci, auf den man ſo ziemlich das ganze Unek: dotenmaterial des 18. Jahrhunderts häufte. Wer ſich ſo zum geiſtigen Mittelpunkt Europas zu machen ver ſteht, wie Voltaire , muß auch das mit in den Kauf itehmen . Erwägt man die unerhörte Machtfülle Voltaire's in ſeinem Jahrhundert, die an Dauer wie an Wirkung die Stellung jedes andern nur geiſtig tätig geweſenen einzelnen Menſchen überragt, ſo muß man ſagen : alles 182 Voltaire . in allem hat er mehr Gutes gewollt und geſtiftet als Böjes. „ Ich tat ein wenig Gutes ; das iſt mein beſtes Wert" heißt es in einem ſeiner Selbſtbekenntniſſe, und wenn das höchſte, was der Einzelne leiſten kann, darin beſteht, die Welt bei ſeinem Tode um etwas beſſer und weiſer zu hinterlaſſen, ſo hat jener Vers für Voltaire den Wert voller Wahrheit. Schon das muß ihm als Ver: dienſt angerechnet werden, daß er Wiſſensgebiete populär machte, welche bis dahin nur von fachleuten gepflegt worden waren , und zwar meiſt von einſeitigen Pedanten. Er hat die moderne Geſchichtſchreibung begründet und hat aus der Hofhiſtoriographie eine Wiſſenſchaft für alle Gebildeten gemacht. Er hat ſelbſt die eracten Wiſſenſchaften, ſo namentlich die Phyſik, dem Laienverſtande erſchloſſen, hat Newtons Ent: deckungen der nichtwiſſenſchaftlichen Welt vermittelt, hat Locke's Erkenntnißtheorie ' durch ſeine populäre Darſtellung zum Ausgangspunkt der Philoſophie des 18. Jahrhunderts gemacht, und das alles ohne Hoffnung auf Gewinn oder Ehre, und trotz den Vers dammnißurteilen der Sorbonne und des Parlaments von Paris, welche ſelbſt dieſe ſeine ganz harmloſen Schriften der Verbrennung durch Henkershand über: antworteten. Einmal aus England zurückgekehrt, ſteht das Ziel ſeines Lebens ihm klar vor Nugen : ein Streiter zu ſein im Kampfe für menſchliche freiheit . Welches auch die Voltaire. 183 Waffen geweſen ſein mögen , zu denen er im Ungeſtüm des Aufeinanderprallens gegriffen , - fein Kampf war ein ſelbſtloſer, im höchſten Sinne human er . Ein junger franzoſe aus der Zeit der Regentſchaft , der Verfaſſer einiger boshafter Epigramme, der leichtlebige Geſellſchafter des Herzogs von Richelieu, ſo kommt Voltaire nach England ( 1726) ; ein reifer, zielbewußter Mann, erfüllt von einem großen Ideal, ſo verläßt er das Land ſeines heilſamen Erils drei Jahre ſpäter. Voltaire und ein großes Ideal ? Dieſe Frage hört Jeder, der über Voltaire ſchreibt, aus ſeinem Leſer kreiſe. Es iſt nämlich der ſyſtematiſchen Fälschung der Literaturgeſchichte im Bunde mit der Unkenntniß der Werke Voltaire's gelungen, ſeit hundert Jahren aus dieſem größten Ideenkämpfer des 18. Jahrhunderts ein wahres Monſtrum von Herzloſigkeit, Gemeinheit, Materialismus und Schwungloſigkeit der Seele zu machen. Spricht man deshalb von Idealen Voltaire's, ſo begegnet man ſelbſt bei höchſtgebildeten deutſchen Leſern einem Achſelzucken des Zweifels , - es ſei denn, daß ſie David Strauß ausgezeichnete Biographie Voltaire's geleſen haben. Das darf nicht abhalten , immer wieder zu betonen , daß Voltaire in allen großen fragen durchaus Idealiſt war, wie ſehr ihn auch bei der Durchkämpfung im einzelnen die „ Gemeinheit gebän: digt“. Wie wäre es einem ſchwungloſen Materialiſten möglich geweſen , ſein ganzes Jahrhundert ſo unwider: ſtehlich zu feſſeln und zu ſeinen Anſichten zu zwingen ? 184 Voltaire . Wer nicht ſelbſt begeiſtert iſt, vermag Undre nicht zu begeiſtern . Voltaire hatte ein Ideal und dieſes hat er zum Jdeal des 18. Jahrhunderts gemacht; es iſt das höchſte, welches der Geiſt überhaupt erſinnen und erſtreben kann : menſchliche freiheit ! Montesquieu hatte die poli : tiſche freiheit in den Vordergrund geſtellt, Voltaire verteidigte vor allem die Gewiſſensfreiheit » Ecrasez l'infâme ! « Welch ein unſchuldiges, ja welch ein edles Wort. und wie mißverſtanden oder lügneriſch verzerrt vom böswilligen Unverſtand! „ Ver tilget das Infame !“ , d. h. das Infame der Geiſtes: knechtung, des Aberglaubens, des fanatismus ! Welcher geiſtig freie Menſch möchte ſich weigern, eine ſolche Deviſe zu der ſeinigen zu machen ? Wer Voltaires Schriften geleſen und trotzdem behauptet: » Ecrasez l'infâme« ſei eine gottesläſterliche Uufforderung zur Vertilgung des Gottesglaubens, der lügt ſchamlos. Ganz abgeſehen davon, daß » l'infâme « in allen ent ſcheidenden Stellen weiblich iſt und ſich nur auf » superstition « oder verwandte Begriffe bezieht, iſt es geradezu lächerlich, aus Voltaire einen Gottesleug. ier zu machen. Im 18. Jahrhundert, im Zeitalter der Encyklopädie und des Holbach'ichen ,,Syſtems der Natur “, war er, neben Rouſſeau , der eifrigſte Ver: teidiger des Glaubens an einen perſönliden Gott ! Keine Seite in Voltaires Weltanſchauung, die ſo über allem Zweifel feſtſteht. Der glühendſte feind alles Voltaire. 185 religiöjen fanatismus, konnte er doch nahezu fanatiſch ſich geberden in ſeinem Kampfeifer für das Daſein eines perſönlichen Gottes. In dem Punkte, aber nur in dem , gehörte Voltaire nicht zu ſeinem Jahrhundert, dem atheiſtiſchen, materialiſtiſchen . Man leſe ſeine hartnäckigen , geiſtreichen Verwahrungen gegen Diderots Gottloſigkeit, leſe feine Abweiſungen friedrichs des Großen , eines vollendeten Atheiſten , und dann wage man noch , Voltaire zum Gottesläugner zu machen ! In all ſeinen 100 Bänden läßt ſich auch nicht eine einzige Zeile fin den , welche atheiſtiſch wäre ; wohl aber könnte ich mit Leichtigkeit einen Band von der Stärke des vorliegen : den mit energiſchen Ausſprüchen Voltaire's für das Daſein eines allgütigen Gottes füllen . Es liegt wirklich etwas unendlich Komiſches darin, daß man dieſen faſt einzigen großen Champion Gottes im 18. Jahrhundert gegen den Vorwurf des Atheismus verteidigen muß ! Helfen wird auch mein beſcheidener Verſuch ſeiner Rechtfertigung nichts, denn ein alter Irrtum ſitzt feſter als eine neue Wahrheit. Ich begnüge mich deshalb in mutloſer Reſignation mit der Unfüh rung der beiden Tatſachen , daß Voltaire als Inſchrift einer mit ſeiner Unterſtützung erbauten Kirche die Worte wählte : » Deo erexit Voltaire « , und daß von ihm das bekannte Dictum herrührt: „ Wenn Gott nicht eri ſtirte, müßte man ihn erfinden .“ Wenn damals die E11 cyklopädiſtent und Materialiſten nicht allein das Wort geführt haben, wenn das 18. Jahrhundert nicht ganz 186 Voltaire . in ſeichten Rationalismus und gottesloſen, idealloſen Sinnenrauſch verſunken iſt, Voltaire, und neben ihm Rouſſeau , ſind es geweſen, welche ſich der zerſtören : den flut entgegenſtemmten. Wie iſt es nun aber zu erklären , daß an Voltaire's Namen ſich der Schimpf des atheiſtiſchen Spöttertums geheftet hat ? Daß er den frommen und den Unfrommen für den literariſchen Antichriſt gilt ? Ganz geſcheidte Schriftſteller, ſo 3. B. Joſef de Maiſtre, ſprechen von ihm nie anders als von einem Abgeſandten Satans und bekreuzigen ſich bei ſeinem Namen. Es liegt dieſem Gruſel eine ſehr gewöhnliche Verwechſelung zu Grunde : Voltaire war der erbittertſte feind , den die chriſtliche Kirche, den überhaupt irgendeine kirchliche, prieſter liche, offenbarte " Religion jemals gegen ſich gehabt. Was Wunder, daß die Bekenner aller dieſer offenbarten Religionen , für welche Kirchenfeindſchaft gleichbedeutend iſt mit Atheismus, in Voltaire das Haupt der Atheiſten erblicken ? Die verfolgungsſüchtigen Kirchen hat er gehabt bis zum » Ecrasez l'infâme ! « bis zu der Verblen dung, die ihn ſagen ließ : „Man rühmt immer das Wunder, daß 12 Menſchen hingereicht haben, die Kirche zu begründen , nun wohl, ich will das Wunder tun , daß Einer hinreichen ſoll, ſie zu zerſtören . " Gehaßt hat er die chriſtliche Kirche ( nicht das Chriſtens tum ), weil ſie nach ſeiner Meinung ſtets fanatiſch geweſen . Die ganze Kirchengeſchichte iſt für ihn nur eine Voltaire . 187 fortgeſetzte Kette blutiger Greuel. Er macht einmal eine annähernde Rechnung auf , wie viele Menſchen die Chriſten um des Chriſtentums willen gemordet haben , und kommt auf die Zahl von 9,468,800 Opfern. Das erfüllt ihn mit Wut ; mit einer ſolchen Verfolgungs: anſtalt keine Gnade; da ſind alle Waffen recht: Enthu ſiasmus, Jorn, Spott, Jronie , Läſterung, ja die bos : hafte Lüge. Jahrhunderte lang hat dieſe Kirche die andersgläubigen Ketzer verfolgt , -- fun wohl, jetzt iſt ein Ketzer gegen ſie aufgeſtanden, der das unendliche Unrecht fühnen will. Hier iſt die dunkle Stelle in Vol. taire's ſchriftſtelleriſcher Tätigkeit. Seine Kampfesweiſe hat etwas Teufliſches . Er iſt der Jeſuit der Kirchenfeindlichkeit: alle Mittel ſind ihm heilig für ſeinen vermeintlich guten Zweck. Uus der Schule der Jeſuiten hervorgegangen , iſt er Zeitlebens ihrer Methode treu geblieben, wie er denn auch immer ein gewiſſes perſönliches Wohlwollen ihrem Orden be: wahrt hat : in ferney bei Voltaire fand einer der aus Frankreich vertriebenen Ordensbrüder gaſtliche Aufnahme. Uber das Abſtoßende der form ſeiner Polemik darf uns nicht gegen ihren inneren Gehalt einnehmen ; mit dem war es ihm ernſt , in ſeiner Urt ſo ernſt wie Luther, viel ernſter als Rabelais . So oft der Jahres: tag der Bartholomäusmetzelei wiederkehrt, ſchließt Vol taire ſich ein , krank vor Grimm und Rachſucht. Und damit ſein Zorn nicht verrauche, bringt ihm jedes Jahr 188 Voltaire. die Kunde neuer blutiger frevel begangen im Namen Chriſti. Dies iſt die Seite in Voltaire's Wirken, die ans Heroiſche grenzt: die Juſtizmorde in den Proceſſen Calas , Sirven, de la Barre und d'Etallonde hoben ihn auf die Höhe ſeines Lebens ; ſie machten ihn zu einem öffentlichen Anwalt der beleidigten Menſchlichkeit. Hier hatte er die vermeintlichen Beweiſe für die Richtigkeit ſeiner Kirchengeſchichtlichen Auffaſſung : denn alle jene Juſtizmordtaten waren verübt worden aus kirchlichem fanatismus. Die Urt, wie Voltaire Jahre hindurch ſich der Sache jener unſchuldig Verurteilten, der Ver: brannten , Geräderten , Verſtümmelten oder ihrer un glücklichen Hinterbliebenen annahm , wiegt in gerechter Wage gewogen alles Gift auf, welches ſeine leichtfer: tigeren Schriften jo reichlich enthalten , und rechtfertigt Diderots bewunderndes Wort aus Unlaß der Verteidi gung der familie Calas : „ Gäbe es einen Erlöſer, er würde Voltaire von der Verdammniß erretten .“ Da findet er auch die tiefen Herztöne, welche ſonſt ſeiner Schreibart fehlen ; da bricht er bei der Nachricht von dem Proceß gegen die unſchuldige familie Sirven in den Jornesruf aus : „ Welche Scheußlichkeiten, gerechter Himmel! Man entreißt eine Tochter ihrem Vater und ihrer Mutter, mian peitſcht ſie blutig , damit ſie katholiſch werde, ſie wirft ſid in einen Brunnen und ertränkt ſich . Und nun verurteilt man Vater, Mutter und Schweſtern zum Marter: tode ! Man ſchämt ſich , man errötet, ein Menſch zu ſein , wenn man ſieht , wie hier die Leute in die komiſche Oper gehen , dort der fana: tismus die Henker bewaffnet . Ich bin am äußerſten Ende frankreichs, aber immer noch zu nahe ſolden Gräßlichkeiten !" Voltaire . 189 Uehnliches ſchreibt er aus Anlaß der Verurteilung zweier Knaben, welche ſich unehrbietig gegen ein Crucis fir benommen haben ſollten : „ Ich begreife nidit, wie denkende Weſen in einem Lande von Uffen bleiben mögen, die ſo oft zu Tigern werden . Was mich betrifft, ſo ſchäme ich mich, auch nur an der Grenze zu wohnen . Nein, jetzt iſt keine Zeit mehr zu ſcherzen ; Wißworte paſſen nicht zu Schlächte: reien . Wie ? in Ubbeville verurteilten Buſiris ' im Richtergewand Knaben von 16 Jahren, und ihr Spruch wird beſtätigt, und die Nation läßt es ſich gefallen ! Kaum ſpricht man einen Uugenblid davon, und geht dann in die komiſche Oper . Es iſt wohl eine Schande, daß ich in meinem Alter noch ſo lebhaft empfinde . Ich beweine die jungen Leute, denen man die Zunge ausreißt, während Sie, mein freund ( d'Alembert ), ſich der Ihrigen bedienen, um höchſt anmutige Dinge zu ſagen . “ ( Ueberſetzung von Strauß . ) Auch Montesquieu hatte über ſolche Grauſamkeiteii Klage geführt , aber theoretiſch, in einem dicken Buch, im ,, Geiſt der Geſetze ", oder verdeckt durch erotiſche Blumen wie in den „ Poetiſchen Briefen “. Unders Voltaire : vor ganz Europa klagte er die frommen Henker an, ſprach, ſchrieb, agitirte, dichtete, petitionirte für die mitbetroffenen Ungehörigen der Schlachtopfer und ruhte nicht eher , als bis deren Ehre durch feier lichen Richterſpruch wiederhergeſtellt worden war. Wann hatte man je zuvor Uehnliches geſehen : einen Schrift: ſteller, der ſich zum Sprecher des öffentlichen Gewiſſens von Europa machte ? Das iſt die große , ja die erhabene Seite der Vulgariſationsgabe Voltaire's . Man muß zugeſtehen : ein Mann von ſolcher Reiz barkeit wie Voltaire und von ſolcher Feindſeligkeit gegen allen Kirchenglauben und Kirchenfanatismus mußte 190 Voltaire . 1 wahrlich einen unausrottbaren Hang zum reinen Gottes: glauben haben , wenn ihn die Beobachtung und Ver: folgung ſolcher Greueltaten einer chriſtlichen Kirche nicht zum Atheiſten , ja nicht einmal zu einem feinde des Chriſtentums machen konnten . Denn auch das iſt er nicht geweſen ; er hat ſtets ſcharf von einander ge ſchieden Kirche und Chriſtentum ; die Kirche iſt ihm verhaßt, infâme, das Chriſtentum etwas Unbetungs würdiges, wenn man es nur rein herausſchälen fönnte aus dem Wuſt kirchlicher Dogmen und kirchlicher Herrſch: ſucht. Wohl hat ihn ſein Haß gegen die chriſtliche Kirche manchmal verleitet , mit wenig Ehrerbietung von ihrem Begründer zu ſprechen ; aber das tat er nur im Zorn über die falſchen Bekenner ſeines Namens. Vol. taire's wahre Meinung über Chriſtus als Menſch und als Lehrer einer Religion reiner Menſchenliebe iſt ſo unzweideutig an den verſchiedenſten Stellen ausge: ſprochen , daß für gründliche Kenner ſeiner Schriften kein Zweifel möglich iſt. Ich verweije namentlich auf den Artikel ,,Religion " ſeines Philofophiſchen Wörter: buchs “ , der ebenſo gut von Rouſſeau, ja ſogar von Herder herrühren könnte, wenn man abſieht von der leiſen Jronie, die Voltaire nun einmal nicht loswerden kann, aber Jronie gerichtet gegen das wirklich Nichtige, nicht gegen das Erhabene. Voltaire's philoſophiſche und religiöſe Grundidee iſt dieſe . Die Welt wird von einem großen Geiſt regiert, deſſen Weſen und Willen uns ewig verborgen bleiben ; Voltaire. 191 keine Offenbarung bringt ihn uns näher. Zwiſchen Gott und den Menſchen guten Willens, zwiſchen dem menſchlichen Geiſt und der Wahrheit befindet ſich das Reich des Irrtums, des fanatismus, des Infament", aufgerichtet durch herrſchlüchtige Prieſter und geſtützt durch tauſendjährigen Wahn. Dieſes Reich zu zerſtören , die Wolke der finſterniß zwiſchen Menſch und Gott, zwiſchen Irrtum und Wahrheit zu beſeitigen , aufzu : klären, das iſt die Aufgabe der Philoſophie und ſpeciell die ſeinige, Voltaire's . Alſo niederreißen , mit allen Werkzeugen des menſchlichen Verſtandes, vor allen mit dem des beißenden Spottes , das ganze Gebäude des Kirchenglaubens dem Erdboden gleich machen , das iſt ſein Beruf. Uns Uufbauen iſt nicht eher zu denken, als bis alle Spuren des alten Gemäuers mitſammt den darin niſtenden Nachtvögeln beſeitigt ſind . Leider wird bei dieſer Arbeit des Niederreißens der eigentliche Zweck überoft aus den Augen verloren. Den Zerſtörer überfällt die wütige Luſt am Zerſtören, der Spott wird ihm zum Selbſtzweck. Das unterſcheidet ihn von Montesquieu. Die Satire ward für Voltaire aus einem künſtleriſchen Mittel zum Lebenselement. Indeſſen dieſer ſdylimmſte fehler Voltaire's ent: ſpringt aus ſeiner ganzen ſchriftſtelleriſchen Miſſion : er war kein Autor von Büchern, er ſchrieb nicht für ſich oder einen auserleſenen Kreis von Gleichgeſinnten , auch dachte er nicht an die Zukunft ſeines litera riſchen Tuns. Dem Augenblick galt feine Arbeit , 192 Voltaire . ſogleich mußte ſie wirken und auf eine möglichſt große, bunt zuſammengeſetzte Leſermenge, denn morgen gab es neue fragen, die ihn aufs Neue zur Untwort zwangen . Un ſeinem richtigen Platz wäre Voltaire geweſen an der Spitze eines großen täglichen Journals ; da ein folches damals noch nicht erfunden war, ſchrieb er ſein Journal in der Form von Büchern in kleinem Octav, meiſt in wenig Bogeni , für den Bedarf des Tages be rechnet. Er mußte den Widerhall ſeiner Stimme ſofort hören, er war nichts ohne ein aufhorchendes und Beifall klatſchendes Publicum . Darum widerſteht ihm alles Metaphyſiſche. Was ſoll ein Journaliſt damit anfangen ? Läßt ſich das Un endliche in enge, endliche formen preſjen ? Er leugnet das Metaphyſiſche nicht , er iſt kein roher Materialiſt wie La Mettrie, wie Holbach, aber er hat keine ſchriftſtelleriſche Beziehung dazu. Es läßt fich nicht populariſiren, nicht vulgariſiren ; es läßt ſich zwar in ein Syſtem bringen, aber Voltaire haßt das Syſtem , denn es führt zum Dogma, zur Bekehrungsſucht, zur Kirche. Voltaire's Abneigung gegen alles Ueberirdiſche hat ihm ſein verrufenſtes Werk eingegeben : » La Pucelle « . Es entſtand aus dem inſtinctiven Widerwillen gegen die myſtiſche, ihm völlig unfaßbare Erſcheinung der Jungfrau von Orléans. Nicht einmal der Umſtand, daß auch ſie dem kirchlichen fanatismus ſchließlich zum Opfer gefallen , hat ſie in ſeinen Augen vor dem fluch Voltaire . 193 der Lächerlichkeit retten können , den Voltaire gegen alles angeblich Uebermenſchliche ſchleuderte. Wie er , ſo ſein Stil : das ſchroffe Gegenſtück alles Declamatoriſchen, Lehrhaften , Prieſterlichen. Er hat Rouſſeau , der ihm doch in der religiöſen Denkart ſo nahe ſtand, vielleicht von allen Menſchen am meiſten gehaßt. Warum das ? Weil Rouſſeau ihm als ein Proſelytenmacher erſchien, als ein bekehrungseifriger Miſſionär; weil er Rouſſeau's Stil nicht ausſtehen konnte mit deſſen declamatoriſchem Pomp, mit der fal bungsvollen , nach der Kanzel duftenden Schönrednerei. Voltaire ſchreibt einen Uugenblicksſtil, energiſch, bewegt, witzig ; er hält uns feſt, ohne uns zu rühren, er beſchäftigt uns, aber er hinterläßt nichts in uns, ganz nach der Urt des Zeitungsſtils, auch des beſten. Auch fühlt man überall , daß Voltaire das, was er ſagt, nicht ſelbſt erdacht hat ; ſonſt könnte er nicht ſo leuchtend klar ſchreiben , ſonſt müßte er häufiger mit dem mühjam fich losringenden Gedanken einen ſprachlichen Kampf beſtehen . Aber alles fließt glatt und eben dahin , als überſetzte ein gewandter Ueberſetzer ein leichtes fremd: ſprachiges Buch in ſeine eigene, von ihm meiſterhaft beherrſchte Sprache. Er gibt keine Räthſel auf, ſagt immer das letzte Wort über den Gegenſtand, wir brauchen nicht viel ſelbſt hinzu zu denken : lauter Unzeichen man : gelnder Originalität und Tiefe . Wer ſo ſchafft wie Voltaire, begibt ſich von ſelbſt des ewigen Wertes. Schon heute gehört er 311 den Engel, Piychologie. 13 194 Voltaire. Los Schriftſtellern, deren Namen alle Welt kennt, deren Werke nur wenige leſen . Er war ein Kind ſeines Jahrhunderts und zugleich deſſen größte geiſtige Macht ; aber ſeine unmittelbar anregende Wirkung reicht nicht über ſeine Zeit hinaus, und bleibend ſind doch am Ende nur die Schriftſteller, welche nicht ganz von ihrer Zeit ausgefüllt wurden. Voltaire gehört der Geſchichte an, mehr der Cultur: als der Literaturgeſchichte ; für unſere Gegenwart iſt er nicht der Mann, denn er hat nur für ſeine Gegenwart geſchrieben . XIII . Jean Jacques Rouſſeau. ( 1712–1778. ) einer Geſammterſcheinung nach gehört Rouſſeau nicht in eine Gallerie der typiſchen Vertreter des franzöſiſchen Geiſtes. Von Geburt kein franzoſe, ſondern der „ Bürger Genfs “, iſt Rouſſeau auch ſonſt faſt in allem die Uusnahme ſeines Jahrhunderts. Er läſtert die Vernunft als Richtſchnur der Ueberzeugungen und Handlungen , ſetzt ſich dadurch in Widerſpruch ſowohl mit den materialiſtiſchen Verfaſſern der Encyklopädie wie mit dem deiſtiſchen Voltaire, und beruft ſich auf das Gefühl als auf die einzige Quelle der Wahrheit. Das iſt unfranzöſiſch, wenn es auch den franzoſen am Uusgang des 18. und Beginn des 19. Jahr: hunderts ihre Richtung gegeben hat. Dieſe ſentimentale, Rouſſeau'ſche Periode frankreichs war aber nur ein Zwiſchenſpiel: ſie dauerte nur etwa bis zum Tode der 13* 196 Jean Jacques Rouſſeau . frau von Staël; Chateaubriand, ihr Haupt vertreter, hat ſie lange überlebt. Rouſſeau iſt ungeſellig, nicht nur in ſeinen perſönlichen Lebensformen . Er, der Verfaſſer des » Contrat social « iſt der erbittertſte Widerſacher jener ſo hervorragend franzöſiſchen Eigenſchaft geweſen : der Geſelligkeit. Rouſſeau hatte keine freunde, nur einige freundinnen. Die ganze Vergeſellſchaftung der Menſch heit galt ihm ja ſchon als eine Verderbtheit der Species. „ Alles Unglück kommt daher, daß der Menſch nicht allein zu ſein verſteht , “ iſt einer ſeiner bekannteſten Ausſprüche. Er hat einſam gelebt, in faſt menſchen feindlicher Zurückgezogenheit, und iſt einſam geſtorben . Man vergleiche damit das lärmende, geſellige Leben folcher Männer wie Voltaire , Diderot , Beaumarchais, und denke namentlich an Voltaire's Tod auf dem Faradebett, ein Ende würdig ſeines Lebens. Da5 Rouſſeau's Auffaſſung vom Entwickelungs gange des Menſchen zum Staatsbürger im ſchroffen Gegenſatz zu der geſelligen Staatsphiloſophie Montes: quieu's und Voltaire's ſteht, kann im Rahmen dieſes Abſchnitts nur angedeutet werden . Rouſſeau geht wider: willig an die Petrachtung des politiſchen Weſens Menſch geheißen ; er möchte am liebſten jeden Menſchen auf ſich ſelbſt ſtellen , ihn von ſeinen Mitinenſchen abſon: dern, um ihn vor der Anſteckungsgefahr der Geſellſchaft zu behüten . Ihn intereſſirt nur der Menſch, nicht die Menſchen , denn wo zwei Menſchen bei einander ſind , Jean Jacques Rouſſeau. 197 ſtellt ſich der Trieb zum fortſchritt, ſtellt ſich die Civi : liſation ein, und die Civiliſation iſt für Rouſſeau der fluch der Menſchheit! Ein ſolcher Schriftſteller iſt natürlich kein franzoſe ; das könnte man behaupten , auch ohne Rouſſeau's Geburtsſtadt zu kennen. Uuf keinen fall iſt er ein typiſch er franzoſe in dem Sinne, wie Voltaire . Nur durch die Sprache gehört er zur franzö fiſchen Literatur, durch ſie aber auch untrennbar. Nicht wie Montaigne, nicht wie Voltaire : bei dieſen decken ſich innere Denkart und ſprachlicher Ausdruck voll kommen . Ihre Seele iſt franzöſiſch nicht minder als ihre Zunge. Unders Rouſſeau : die Seele ſeiner Sprache iſt alles andere, nur nicht franzöſiſch : etwa ſchottiſch puritanerhaft wie die Sprache Carlyle's, oder ſchwei zeriſch verſchloſſen wie bei Calvin. Er iſt der einzige große Schriftſteller franzöſiſcher Junge, welcher nicht für ein ſichtbares Publicum , für die Leſer feiner Zeit ſchreibt, welcher nicht unterhalten, ſondern für ferne Zeiten und Menſchen ſchreibend beweiſen will. So ſchreiben bis zu ihm feine franzoſen, – ſo ſchreiben Deutſche. Uber Rouſſeau hat dennoch mit dieſer ſeiner Schreib: art in frankreich Schule gemacht, und darum gebührt ihm eine Stelle in dieſem Buch : auf Rouſſeau's litera riſchen Namen getauft ſind Madame de Staël und Chateaubriand, ſind George Sand und Lame11 nais, die Vertreter der gefühlvollen Rhetorik. 198 Jean Jacques Rouſſeau. Rouſſeau's Denkart iſt durchaus nicht ſehr empfindjam ; ſie iſt paradox, eigenſinnig wie eben nur bei einſamen Seelen, ſprunghaft wie bei — unlogiſchen Köpfen. Uuch ſeinem mündlichen Vortrag, feiner Unterhaltung wird das Gegenteil von rhetoriſchem Schwunge nachgeſagt. Uber mit der Feder auf dem Papier wird er zum um widerſtehlichen Rhetor und Declamator. Er hat in die franzöſiſche Sprache die Beredjamkeit des großen Pathos oder, wenn man will, der großen Phraſe eingeführt, und dieſe Bereicherung iſt ihr ſeitdem verblieben . Eine Anlage dazu war vielleicht ſchon vorhanden , ſonſt hätte Corneille ſeine Triumphe nicht feiern können ; in deſſen das war im Alexandriner, in der Proſa gab es von der Urt nichts als die aufgedunſene Kanzel rhetorik Boſſuets oder die majeſtätiſche Geſpreiztheit Bufforis. Innere Wärme im Verein mit ſchwung: voller Sprache findet ſich erſt bei Jean - Jacques. Es iſt eitel Neid , wenn der übertroffene Buffon verächtlich ſchreibt (Buffon ſchrieb nie anders als mit geſtickten Manſchetten an den Händen !) - : , Rouſſeau fennt nur Interjectionen, er iſt ein unerzogener Menſch .“ Rouſſeau kannte mehr als Interjectionen, - er kannte die Gevalt einer Sprache, hinter welcher ein glühendes Herz klopft. Montesquieu und Voltaire haben nur in verein zelten fällen das große Pathos der Sprache gefunden. Beide ſcherzen über die ernſthafteſten Dinge; ſie meinen es nicht ſcherzhaft, aber ſie ſcherzen dennoch. Rouſſeau ſcherzt niemals, kein Lächeln , geſchweige ein Lachen Jean Jacques Rouſſeau . 199 kommt über ſeine Züge. Er iſt kein amüſanter Spötter, kein geiſtreicher Raiſonneur, er hat nie einen Wortwitz gemacht, - und doch packte er die franzoſen . In demſelben Jahr, da er mit ſeiner erſten Abhandlung „ Ueber die Urſachen der Ungleichheit unter den Menſchen “ auftrat, war Montesquieu geſtorben ; mit ihm war die feine Jronie fürs Erſte begraben . Voltaire hatte nach gerade das Bedürfniß nach lachender und ſpottender Belehrung befriedigt. Da trat Rouſſeau auf mit neuen Ideen und vor allem mit einer neuen Sprache, und ehe das Jahr abgelaufen , wußte man , daß hier eine neue große ſchriftſtelleriſche Potenz, die der Bered . ſamkeit, ins Leben getreten war. Nicht mehr jene Salon -Beredſamkeit, die ſich an kleine auserleſene Kreiſe richtet, die überzeugt, weil ſie gefällt, ſondern die Beredſamkeit der Volkstribunen auf offenem Markte oder auf der Tribüne einer Nationalverſammlung. Rouſſeau heißt der Lehrer dieſer neuen Kunſt der fran zöſiſchen Sprache; Mirabeau, Danton und Robespierre heißen ihre Schüler. Was die franzöſiſche Revolution an redneriſchem Pomp, an lauter Phraſenhaftigkeit aufweiſt - und deſſen iſt nicht wenig auf Rouſſeau iſt es zurückzuführen. Dieſe rhetoriſche Natur der Sprache Rouſſeau's zeigt ſich in jeder ſeiner Schriften , im „ Geſellſchaftsvertrag“ , im „ Emil " wie in der „ Neuen Heloiſe“. Der Staats mann, der Erzieher, der Liebende alle berauſchen ſie ſich in dieſer Declamation . Wie ſollten ſie nicht ? 200 Jean Jacques Rouſſeau. ter treten . hat ſich doch Rouſſeau ſelbſt an ihr berauſcht! Er ge: bietet über ein Ungeſtüm der Sprache, welches die augen fälligſte Torheit, die beleidigendſte Unlogif überſchreit. für den erfahrenen Leſer nur auf kurze Zeit, für den jugendlichen oder gleichangelegten rettungslos auf immer. Welche fülle von Torheit z . B. in dem beriihmten Eingang zu den „ Bekenntniſſen " ; – welche ans Lächerliche grenzende, größenwahnſinnige Ueber hebung, und doch welche hinreißende Sprache: „ Mag die Trompete des Jüngſten Gerichts erſchallen, wann ſie will, ich werde mit dieſem Buch in Händen vor den höchſten Rich : Caut werde ich ſagen : hier ſteht, was ich getan habe, was ich geſagt habe, was ich geweſen bin . Ich habe mich darin ſo gezeigt , wie ich war : verächtlid ? und gemein, wann ich's geweſen bin ; gut, edelherzig , erhaben , wann ich's geweſen bin . Ich habe mein Innerſtes entſchleiert, ſo wie du ſelbſt es geſehen haſt, ewiges Weſen . Verſammıle um mich die unzählige Schaar von Meinesgleichen : ſie mögen meine Bekenntniſſe hören, über meine Schmach ſeufzen, über meine Elendigkeit erröten . Mag dann Jeder auch ſein Herz am Fuße deines Trones enthüllen, mit der gleichen Uufrichtigkeit, und dann ſoll ein Einziger zu dir ſagen : Jch war beſſer als jener Menſch !" Wer ſo ſchreibt, ohne ein Gefühl für die Lächer: lichkeit, die ohne böſen Willen darin gefunden werden kann, iſt ein Verzückter, ein Schwärmer, der ſich für das Werkzeug einer Miſſion anſieht. Uus ſolchem Stoff waren die Religionsſtifter, die Apoſtel und Märtyrer aller Zeiten. Man rechne mir es nicht als geiſt: reichelnde Laune, noch weniger als Mangel an Ehr: erbietung vor heiliggehaltenen Dingen an , wenn ich Rouſſeau's geiſtige und ſtiliſtiſche Erſcheinung vergleiche mit den Begründern der chriſtlichen Religion. Rouſſeau ( chreibt nicht für ein philoſophiſches Syſtem , wie die Jean Jacques Rouſſeau. 201 Andern, er verkündet das Evangelium einer neuen Religion. Voltaire mag mit Vernunft gründen kämpfen, das iſt gut genug für » Monsieur de Voltaire « , wie Rouſſeau ſeinen großen Nebenbuhler regelmäßig nennt ; er, der „ Bürger Genfs “, der „ freund des Men: ſchengeſchlechts“ will von der Vernunft nichts wiſſen, für ihn entſcheidet das eigene Gewiſſen, der eigene Glaube, die inſtinctive Ueberzeugung , -- lauter Poten: zen der Religion, nicht der Philofophie. Darum eifert auch Rouſſeau gegen die im 18. Jahrhundert allmächtigen „ Philoſophen “ und verbittet ſich entſchieden dieſen Ehrentitel. Wie ſtehen z . B. Voltaire und Rouſſeau zum Gottesglauben ? Voltaire glaubt an Gott, weil ſeine Vernunft ihn die Notwendigkeit einer urſchöpferiſchen Macht gelehrt hat ; man erinnert ſich des Verſes : „ Wenn Gott nicht exiſtirte, man müßte ihn erfin den . " Rouſſeau erſcheint dieſes „ Wenn " ſchon gottess läſterlich ; er bedarf keines Vernunftbeweiſes für Gottes Daſein, er fühlt Gott unmittelbar; er ſchaut ihn, wie Moſes, wie Chriſtus, wie Muhamed, von Un geſicht zu Ungeſicht. Will man hören, wie Rouſſeau von Gott und der Unſterblichkeit ſpricht ? Da iſt kein „ Wenn “, keine Möglichkeit der Richteriſtenz - : „ Alle Haarſpaltereien der Metaphyſik jollen mich auch nicht einen Augenblick an der Unſterblichkeit der Seele und an einer woltätigen Vorſehung zweifeln machen. Ich fühle ſie, ich glaube ſie, ich will jie, ich hoffe ſie ; ich werde ſie bis zu meinem letzten Atemzuge verteidigen .“ 202 Jean Jacques Rouſſeau . Rouſſeau hatte alle Eigenſchaften zum Religions . ſtifter. Wäre nicht das Tageslicht des 18. Jahrhun: derts ſchon zu hell für religiöſe Zeuſchöpfungen geweſen, ſo wäre Rouſſeau gelungen , was Undern vor ihm gelang. Er hat die niedrige Geburt, die Armut, das Unglück des Lebens für ſich , während die Herren von Montes: quieu und von Voltaire in ihren Paläſten leben oder doch ſterben. Er iſt durchdrungen von der ihm anvertrauten Miſſion ; er nennt ſich , ganz nach Upoſtelart, „ Vertei diger der Sache Gottes“ , und verkündet, daß auch er in die Welt nicht den frieden , ſondern das Schwert bringe -- : „ Wenn jemand nach öffentlicher Anerken: nung dieſer Dogmen (! ) ſich beträgt, als glaube er ſie nicht, ſo ſoll er mit dem Tode beſtraft werden !“ Er erbittet ſich Zeichen von Gott und Gott gibt ſie ihm (vgl. „ Bekenntniſſe“ Buch 6 ) . Die welt: lichen Mächte verfolgen ihn ; er hat nicht, wo fein Haupt hinlegt, man hetzt ihn von Land 311 Land wie ein Wild. Aber das kann ihn in ſeinem Glauben nicht erſchüttern. Voltaire verleugnete jedes ſeiner Bücher, welches von den Behörden verfolgt wurde, Rouſſeau hat nie eine anonyme Schrift geſchrieben . Welch ein Schwärmer, welch ein Narr ! ſagen die Männer, jagt Voltaire ; welch ein Heiliger ! ſagen die frauen und die Jünglinge, dieſe erſten Bekenner jeder neuen Religion. Und damit nichts fehle an der Uehnlichkeit mit Apoſteln und Ihresgleichen - : wie Paulus feinen Weg er Jean Jacques Rouſſeau. 203 nach Damaskus und das große Licht auf demſelben , ſo hat Jean - Jacques Rouſſeau ſeinen Weg nach Vin: cennes ( zu dem dort gefangengehaltenen Diderot) und ſeine Viſion gehabt, - jene wunderbare Stunde, da er unter den Bäumen der Ullee beim Nachdenken über die Preisaufgabe der Dijoner Akademie die Aufgabe ſeines ganzen ferneren Lebens deutlich vor ſich ſah : den „ Geſellſchaftsvertrag“ , den „ Emil “ , die „ Briefe vom Berge “ und weiß der Himmel was ſonſt noch „Wenn je etwas einer plötzlichen Eingebung ähnlich gewejen, ſo war es die Bewegung, die ich bei der Lectüre ( der Preisaufgabe) verſpürte. Uuf einmal fühle ich meinen Geiſt wie von tauſend Lichtern geblendet ; eine Fülle lebendiger Gedanken drängen ſich mir mit einer Kraft und zugleich mit einem wirren Durcheinander auf, daß mich ein unausſprechlicher Tumult erfaßt ; ich fühle mein Gehirn von einem Schwindel gleich dem der Trunkenheit ergriffen . Ein hefriges Herz klopfen erdrückt mich und hebt zugleich meine Bruſt. Da ich nicht mehr atnien fann beim Gehen, laß ich mich unter einen der Bäume der Ullee fallen und dort bringe ich eine halbe Stunde in einer ſolchen inneren Bewegung zu, daß ich beim Erheben das Bruſtſtück meines Rockes ganz von Tränen benetzt ſehe, die vergoſſen zu haben ich mir doch nicht bewußt bin . “ Rouſſeau war nicht allein der Upoſtel, er war auch der Märtyrer des neuen Glaubens. Ohne Marty rium keine Religionsbegeiſterung, Voltaire und die Encyklopädiſten waren wahrhaftig keine Märtyrer, wenn man nicht die gelegentlichen paar Tage Baſtille als Martyrium rechnen will. Dagegen Rouſſeau ! Im Dorfe Motiers Travers, mitten in ſeiner Schweizer Heimat drohen die von der Geiſtlichkeit aufgehetzten Bauern , ihn zu ſteinigen . Die ganze Welt iſt gegen ihn verſchworen, auch Voltaire und deſſen freunde. 204 Jean Jacques Rouſſeau . Welch ein Martyrium die letzten 10 Jahre ſeines Lebens, die ihn bis in die Schreckniſſe des Verfolgungs: wahnſinns brachten und aller Wahrſcheinlichkeit nach ihn ſelbſt die Hand gegen ſein Leben aufheben ließen ! Und noch eines kennzeichnet dieſen Apoſtel ſeiner eigenen Lehre : die Unduldſamkeit, eine durchaus apoſtoliſche Eigenſchaft. Wer allein der Stimme des Glaubens folgt, kann den Gründen des Glaubens ſeines Mitbürgers keinen Wert beimeſſen : Gründe haben keine Beweiskraft, wo die innere Stimme ſpricht. Rouſſeau allein von allen franzöſiſchen „ Philoſophen “ des 18. Jahr: hunderts war intolerant. Er, der ſo oft Unlaß gehabt, ſich über die Unduldſamkeit der Undern zu beklagen , hatte daraus keine Duldung gelernt. Nur für ſich , für ſeine Neuerungen nahm er Duldung in Anſpruch, - Duldung ? nein , er forderte geradezu Statuen für ſich ! Trotzdem ſpricht er ſich in ſeinem Sendſchreiben an den Erzbiſchof von Beaumont gegen die Einführung neuer Glaubenslehren in ſeinem Zukunftsſtaat aus und proclamirt die Notwendigkeit einer Staatsreligion . Jede Uenderung derſelben folle „ ſtrafbar“ fein . Strafbar, wo möglich mit dem Tode ! Man ſieht, Rouſſeau unterſcheidet ſich trotz aller Declamationen ſehr wenig von den Anſchauungen , welche dem Jnquiſitionsrer: fahren zu Grunde lagen . Er war zum Dictator geſchaffen, wenigſtens in der Theorie. Ein Durchdrungenſein von der eignen Perſönlichkeit, wie ſie größer ſelbſt bei Napoleon fich Jean Jacques Rouſſeau . 205 nicht findet ; ein Schwelgen im Hochmutswahnſinn , ohne den allerdings keine neue Religion ſich begründen oder ausbreiten läßt. Jn den „ Bekenntniſſen “ wimmelt es von folchen Selbſtverherrlichungen wie der , daß er ,, fich ſtets für den beſten der Menſchen gehalten “. In einem Brief ( allerdings an eine Dame) ſagt er wörtlich : „ Sie haben mir Uchtung wegen meiner Schriften gezollt; Sie würden mir noch mehr zollen wegen meines Lebens, wenn es Ihnen bekannt wäre, und noch mehr wegen meines Herzens, wenn es vor Ihren Augen offen läge : es gab nie ein zärtlicheres, ein beſſeres , ein gerechteres . “ Wie ſollte er auch nicht ſich für den Beſten und Gerechteſten halten, er, der jedes Vergehen ſeines Herzens mit einer ſentimentalen, aus Vergnügen und wollüiſtiger Reue gemiſchten Selbſtbegütigung ſo lange bedeckte, bis es ihm wie ein neues Verdienſt erſchien ! Dies iſt die wahre Quelle ſeiner Einſamkeit : der Hochmut des Dictators. „ Da ich fühle, daß ich unter meinen Zeitgenoſſen keine Stellung einnehmen könnte, die mein Herz befriedigte, ſo habe ich es nach und nach von der Gejellſchaft der Menſchen losgelöſt und mir eine Stellung in meiner Einbildung geſchaffen .“ „ Einbildung" ja die hat er beſeſſen, ich meine das deutſche Wort in ſeiner doppelſinnigen Bedeutung. Uuch Phantaſie, die den Schriftſtellern des 18. Jahr hunderts (mit Ausnahme Diderots ) ſonſt gänzlich fehlt. Aber gnade Gott dem Menſchen, der ſo irdiſche, ſo ganz unphantaſtiſche Dinge wie Politik, Geſetzgebung, Nas tionalökonomie lediglich mit den Hilfsmitteln der Phan. taſie regeln will, und das hat Rouſſeau verſucht. 206 Jean Jacques Rouſſeau . Hartnäckig die Augen ſdíließend gegen die Wirklichkeit, gegen die nur allzu deutlich ſichtbare Natur des Men : ſchen , hat er ſich in ein nie dageweſenes, utopiſtiſches Menſchenparadies zurückgeflüchtet und nach dieſem Traumgebilde die reale Welt umzugeſtalten unter: nomien. Es iſt unzählige Male nachgewieſen worden , wie ſehr Rouſſeau's Theorie von dem unſchuldsvollen , glückſeligen Urmenſchen, dem » homme sauvage « , auf völliger Verkennung des wirklichen Ganges der Menſch heitentwickelung beruht. für Rouſſean war die Civiliſation etwas Wider: natiirliches ; wie Voltaire alle Religionen durch Pfaffen trug oder fürſtenherrſchſucht entſtanden zu erklären verſucht hatte, ſo glaubte Rouſſeau mit unbegreiflicher Verblendung allen fortſchritt, alle geſellſchaftliche Cultur für Bosheit Einzelner, für eine laſterhafte Uusſchrei tung des Egoismus erklären zu müſſen . Und doch iſt er entſchuldbar in dieſem ſchwächſten und unheilvollſten Punkt ſeiner Lehre : die Unnatur des 17. und 18. Jahr: hunderts mit ihrer auf die Spitze getriebenen Verkün ſtelung von Menſchen und Dingen auf allen Gebieten nicht zum wenigſten auf dem der Literatur - mußte endlich einmal einen Rückſchlag erfahren. Da darf es nicht Wunder nehmen, daß ein in allem ſo extremer Geiſt wie Rouſſeau das äußerſte Extrem der Ueber cultur : das Jdeal des Urwaldmenſchentums aufgriff. So wurde zwar die im 18. Jahrhundert in allen Ton: arten geprieſene „ Natur “ bei Rouſſeau zur völligen Jean Jacques Rouſſeau . 207 Unnatur, aber dieſe Unnatur der Rohheit wurde ein Gegengewicht gegen die Unnatur der Ueberfeinerung. Entſprechend dieſer ſeiner Unſicht vom Gange der Cultur als einer folge menſchlicher Bosheit, betrachtet Rouſſeau auch den Staat ganz mechaniſch als durch einen Vertrag (den contrat social ) entſtanden . Ein ſolcher Vertrag braucht keine Rückſicht zu nehmen auf die unausrottbarſten Neigungen der Menſchennatur. Das Eigentumsgefühl, vielleicht das menſchlichſte aller Gefühle, iſt nach Rouſſeau unnatürlich ; die Er ziehung der Kinder darf nicht Sache der familie, ſondern muß Sache des Staates ſein, und wie all die unnatürlichen Forderungen lauten, welche ſeit Rouſſeau alle fanatiker der Staatsallmacht, beſonders die Social demokraten und die Staatsſocialiſten, bis zum Ueber druß aufgeſtellt haben. Das iſt die Religion , als deren Stifter Rouſſeau anzuſehen iſt: die Religion der Staats : omnipotenz. Der Cullus dieſer Religion wechſelt, ihre Dogmen bleiben unerſchütterlich. Sie iſt un abhängig von der Religionsform der Länder, in denen ſie herrſcht; ſie verträgt ſich mit dem conſtitutionellen König- und Kaiſertum und blüht unter dem Schreckens: regiment der Pöbelrepublik. Ihre Hauptſtütze heißt : Majorität ; ihr größter feind : Individuum . Hätten Rouſſeau und Voltaire noch die franzöſiſche Revolution erlebt, - Rouſſeau hätte Voltaire guillotiniren laſſen , in beſter Abſicht, um keiner Handlungen willen, ſondern 208 Jean Jacques Rouſſeau . weil Voltaire auf anderem Wege zum Glauben an Gott gelangt war, als Rouſſeau . Der gewaltige Unteil der Rouſſeau'ſchen Lehren an dem Gange der Revolution iſt bekannt. Von Robes pierre, der übrigens ſeinen ſchwärmeriſch verehrten Meiſter kurz vor deſſen Ende noch perſönlich kennen gelernt hatte , gilt , was Heine in ſeinem „ Wintermärchen " ges ſungen : „ Ich bin von praktiſcher Natur, Und immer ſchweigjam und ruhig, Doch wiſſe : was du erſonnen im Geiſt, Das führ ' ich aus, das tu ' ich . Und gehen auch Jahre drüber hin, Id raſte nicht, bis ich verwandle In Wirklichkeit, was du gedacht; Du denkſt, und ich , ich handle. Du biſt der Richter, der Büttel bin ich , Und mit dem Gehorſam des Knechtes Vollſtreck ' ich das Urteil , das du gefällt, Und ſei es ein ungerechtes. Dem Conſul trug man ein Beil voran , Zu Rom in alten Tagen . Uuch du haſt deinen Liftor, doch wird Das Beil dir nachgetragen . Ich bin dein Liktor, und ich geh ' Beſtändig mit dem blanken Richtbeile hinter dir ich bin Die Tat von deinen Gedanken ." XIV. Diderot. ( 1713--1784. ) em volkstümlichen Begriff, den die Deutſchen mit dem ,, franzojentum “ verbinden , entſpricht kein franzöſiſcher Schriftſteller ſo ſehr vie Diderot. Der franzoje iſt für uns der lebhafte, geſticulirende, allen Leidenſchaften des Augenblicks unterliegende, heiß. blütige, queckſilbrige Menſch, der uns zum Spott, mehr aber 110ch zum Neide und zur Nachahmung reizt. Diderot iſt kein richtiger Bücherſchreiber geweſen , ſondern ein literariſcher Lebemann, ein Mann der Tat oder doch des unermüdlichen Tuns, denn zlı wirk: lichen Taten war die Zeit vor der Revolution noch nicht geeignet. Die Initiative geben und ſie aufgreifen , anregen und ſich anregen laſſen , Anderen ihre Bücher jchreiben und ſich von Underen ſeine Bücher aufgeben “ Engel, Piychologie . 210 Diderot. laſſen , das iſt Diderots literariſche Phyſiognomie. Dabei keine Spur von Egoismus, im Gegenteil: er opfert das Beſte ſeines Lebens denen, welche ſich ſeine freunde nennen , ſchreibt für die fürſtencorreſpondenz des Herrn Grimm ganze Bände, hilft dem Baron von Holbach bei ſeinem ,, Syſtem der Natur“ , arbeitet das Buch des Abbé Raynal über Indien ſo gründlich um , daß es mit mehr Recht Diderots als Raynals Namen trüge, und vergißt dabei ganz, daß die Welt ein großes Werk von ihm ſelber zu erwarten hat. Diderot hat ſein Leben verzettelt und vergeudet, ganz wie ſein „Neffe Rameau's“ , der ſich um jeden ver: bummelten Tag reicher geworden erklärt. Er hat ſich in Stücken und fetzen ausgegeben, und meiſt für Andere : „ Man ſtiehlt mir mein Leben nicht, ich gebe es . Ich habe die Zeit, die ich Underen geſchenkt, niemals bedauert; ich kann nicht dasſelbe von der Zeit ſagen, die ich für mich angewendet habe.“ So iſt es nur zu erklärlich, daß er nicht dazu kam , ein großes Buch zu ſchreiben, welches bliebe. Die Werke, mit welchen ſein Name unlöslich verbunden iſt, was ſind ſie ? Ein Dialog : „ Rameau's Neffe“ , und ein Converſationslerikon, die berühmte Encyklopädie, deren Chefredacteur und Hauptmitarbeiter er geweſen. Gequält hat ihn dieſes Gefühl der Unproductivität bei all der Vielgeſchäftigkeit. Die Hoffnung, ſein Buch zu ſchreiben , hat er nie aufgegeben . Grimm hat ein Porträt Diderots graviren laſſen und möchte nun gern eine Unterſchrift dazu haben, aber ſagt Diderot : Diderot . 211 ,, Er joll es erſt friegen , wenn ich etwas geſchrieben , was mich unſterblich macht . Und wann wird das ſein ? Wann ? morgen vielleicht. Wer weiß , wozu ich fähig bin ! Ich fühle, als ob ich noch nicht die Hälfte meiner Kräfte angewandt hätte . Bis jetzt habe ich nur Poſſen getrieben .“ Nun, ganz ſo arg iſt es nicht, denn zu dieſen Poſſen gehören folche Dinge wie „ Die Nome" , „ Ra: meau's Neffe", „ Die Unterhaltung mit d'Alembert " , und die ernſteſte Angelegenheit ſeines Lebens : das Liebesverhältniß und der Briefwechſel mit Sophie Vol. land . Aber auch dieſe vier Hauptwerke, deren eines, Rame a u's Neffe, ſeinen Namen ſelbſt dann unſterb lich machen würde, wenn die Encyklopädie nicht wäre, ſie ſind von ihm mit demſelben himmliſchen Lebens: leichtſinn behandelt worden, wie alles andere. Nicht einmal bei ſeinen Lebzeiten ſind ſie gedruckt worden, dem Zufall verdanken ſie ihre Rettung ; der „Neffe Rameau's“ der Bewunderung Goethe's , der eine deutſche Ueberſetzung nach dem Manuſcript veröffent lichte, bevor die franzoſen eine Ahnung von dem Ori ginal hatten . Nach echtfranzöſiſcher Art hat es denn auch ein Menſchenalter gedauert, ehe ſie von Göthe's Ueber: ſetzung eines ihrer Meiſterwerke Kenntnis nahmen und danach einen franzöſiſchen Tert herſtellten . Was für ein Schriftſteller iſt das , deſſen ſchönſte Arbeiten nur zufällig ans Licht kommen ! Muß man da nicht ſein Selbſtbekenntniß als nur zu wahr erklären : „ Ich componire nicht, ich bin kein Schriftſteller. Jc leſe oder plaudre, ich frage oder antworte. " 14* 212 Diderot . So ſind denn auch die vier obengenannten Haupt ſchriften Diderots ſämmtlich entweder als Dialog oder als Briefwechſel abgefaßt, kein bloßer Zufall das, fondern ein Symptom für ſeine ganze ſchriftſtelleriſche Art. Diderot iſt kein Uutor im herkömmlichen Sinne. Er ſchafft nicht wie ein Künſtler, der einen Gedanken faßt, ihn künſtleriſch dreht und knetet und bearbeitet , bis er die Plaſtik der wahren Kunſt zeigt, und ihn dann mit der Sorgfalt des Künſtlerſtolzes in die äußere form gießt , welche in der Literatur das Buch heißt. Nein , dazu reicht Diderots Geduld nicht hin ; was nicht im Augenblick der Conception auch ſchon ausgeführt wird , das iſt für ihn verloren . Er iſt in ewiger Weißgliih hitze, die wohl die Maſſen im fluß hält, ſie aber nicht zur künſtleriſchen Geſtaltung kommen läßt. Diderots Ungeſtüm erſtreckt ſich auf alles , was er angreift. Er iſt Atheiſt, aber nun gleich Atheiſt init Leidenſchaft, der ſich deshalb nicht nur mit den Deiſten Voltaire und Rouſſeau herumzankt, ſondern ſelbſt an den Durchſchnittsatheiſten Holbach und Grimm kein dauerndes Gefallen findet. Der letztere bittet ihn, ein paar Briefe über die Pariſer Kunſtausſtellung 311 ſchreiben : gleich gerät Diderot in Hitze und ſchreibt einen dicken Band „ Salons“ in 14 Tageit . Bei ihm bedarf es ſtets nur eines überſpringenden funkens, um die hochgradig geladenie elektrijdie Batterie zur Ent: ladung zu bringen . Eine geiſtige Ueberfülle, die ſich jelbſt erſtickt und den Menſchen verzehrt . Diderot . 2 13 Man muß die Schilderungen leſen , welche Diderots Zeitgenoſſen voit ſeinem perſönlichen Verkehr hinterlaſſen haben. Es iſt zum Schwindligwerden ; die Meiſtert ſeiner vorübergehenden Bekannten ſind denn auch ſchwindlig dabei geworden. Ein praſſelndes Rafetenfeuer in allen Farben , Schlag auf Schlag, wie aus einem Vulcan , und das ſtundenlang hinter einander, ohne Zeichen der Er: müdung. Dabei iſts ihm gleich , wer dieſe Eruption über ſich ergehen laſſen muß. Die Kaiſerin Katharina hat ihn nach St. Petersburg berufen und erfreut ſich ſeines Geiſtes. Aber hören wir einmal, was ſie ſich von dieſem „ Geiſt“ gefallen laſſen muß: „ Ihr Diderot ( in einem Brief an Frau Geoffrin ) iſt ein ſehr außergewöhnlicher Menich ; ich fomme aus feiner meiner Unterhaltungen mit ihm ohne blau und ſchwarz geſchlagene Schenkel! Ich bin genötigt gewejen , einen Tiſch zwiſchen ihn und mich zu ſtellen , um mid ? und meine Glieder vor ſeiner Geſticulation in Sicherheit zu bringen.“ Man weiß nicht , wer drolliger iſt, dieſer Philoſoph, der die Glieder der Kaiſerin blau und ſchwarz geſti culirt, oder dieſe Kaiſerin , die ſich's aus Liebe zur Wiſſenſchaft gefallen läßt . Es iſt wohl ſelbſtverſtändlich, daß ein ſolcher Sdrift: ſteller auf keine Specialität eingeſchworen ſein kann. Im Geiſte des 18. Jahrhunderts liegt überhaupt etwas Erpanſives, Encyklopädiſches ; nach der Niederhaltung des menſchlichen Geiſtes in dem ewig langen 17. Jahr: hundert trat ein Aufſchnellen ein , wie es ähnlich nur in der ſdönſten Blite der Renaiſſance geſehen worden 214 Diderot. war. Diderot hat am meiſten von dieſem Univerſalſinn des 18. Jahrhunderts beſeſſen ; er war der Einzige, der ein Werk wie die Encyklopädie erdenken und ausführen konnte. Die Encyklopädie war ſein literariſcher Halt, ohne ſie iſt er die Wetterfahne, für die er ſich bei : läufig ſelber hält ; Diderot iſt in Langres geboren, und : „ Der Kopf eines Cangrers ſteht auf ſeinen Schultern wie ein Wetterhahn auf einem Kirchturm : er zeigt nie nach einer und der : ſelben Richtung. “ Er war ein Bohémien, aber ein vornehmer, der ſich ſtets geſellſchaftsfähig hält , ohne ſich der Geſell ſchaft zu verkaufen . Abgeſehen von ſeiner Reiſe nach St. Petersburg, eine Sache der aufrichtigſten Dankbar: feit, hat Diderot alle Beziehungen zu gekrönten Häuptern, deren ſo viele ihm aufgedrängt wurden, mit männlichem Stolz abgelehnt. Uuch friedrid, der Große war einer der Könige, welche von dem Bohémien Denis Diderot einen Abſagebrief erhielten . Nicht einmal zur Akademie wollte er gehören, er der eine ganze Akademie in ſeiner Perſon vereinigte. Diderot war der demokratiſchſte Schriftſtellergeiſt des 18. Jahrhunderts ; er brach zuerſt mit der Gewohn: heit franzöſiſcher Autoren, von der Gunſt der Könige oder des Udels 311 lebeni , eine Gewohnheit, welcher Voltaire mit Vergnügen, Rouſſeau mit naiver Schutz bedürftigkeit ſich hingaben . Jn Diderots Leben finden ſich keine Richelieus, Contis, keine Gräfinnen oder Diderot . 215 Marquiſinnten als Beſchützer oder fürſprecherinnen. Er iſt ganz und gar modern, in ſeiner perſönlichen Stellung wie im ſchriftſtelleriſchen Ausdruck ; keiner ent fernt ſich weiter als Diderot von der conventionellen Sprache, die das 18. Jahrhundert faſt unverändert vom 17. übernommen hatte. Auch Rouſſeau , bei aller Neuheit des Jnhalts, liegt doch vielfach noch im Banne der ſprachlichen Schablone. Diderot iſt auf einem Gebiet der Literatur geradezu revolutionär vorgegangen : auf dem des Dramas. Er iſt es geweſen , der zuerſt mit dem Vers auf der Bühne gebrochen hat : ſeine beiden Stücke „ Der natürliche Sohn “ und „ Der familienvater“ ſind in Proja geſchrieben , kein kleines Wagſtück nach einer 200jährigen Tradition des Alerandriners. Aber er iſt auch der Erſte, welcher der bürgerlichen Tragödie in frankreich das Bühnenrecht erobert hat. Was Molière geahnt, was er ſchüchtern hie und da angedeutet, das hat Diderot mit fühnem Griff ausgeführt. Daß die Uus führung an künſtleriſchem Werte nicht der Abſicht gleich kommt, benimmt dem literariſchen Revolutionär nichts von ſeinem Verdienſt. Das hat auch Leſſing aner: kannt, der offen geſtand , daß er Diderot die wichtigſte Anregung für ſeine eigenen dramatiſchen Arbeiten verdankte. Was wäre ,, Sarah Sampſon “ , was ſelbſt Emilie Galotti “ ohne Diderots Lehre und Beiſpiel ? Der Kern des ſchriftſtelleriſchen Charakters dieſes außerordentlichen Menſchen iſt die Improviſation. 216 Diderot . Langſam etwas ausreifen zu laſſen und es dann niederzuſchreiben , war ihm unmöglich . Von außen her mußte ihm der Unſtoß kommen, eine Gelegenheit mußte ihm geboten werden , gleidyviel wie nichtig , und er ſetzte ſich hin und ſchrieb mit fliegender feder einen Band, ein Werk in mehreren Bändeni, je nachdem . Ganz ſo wie den Berufs Jniproviſatoren die Gegenſtände ihrer Kunſtleiſtungen vom Publicum auf: gegeben werden, ſo hat Diderot ſich ſeine Bücher „ auf: geben “ laſſen. Grimm hat ihm die „ Salons " auf: gegeben , ein Zufall, eine Wette gibt ihm ſeinen Roman „ Die Nonne“ auf. Dieſer noch mehr berüchtigte als berühmte, ſicherlich aber der pſychologiſch tiefſte Roman des ganzen 18. Jahrhunderts iſt wirklich nur einer geiſtreichen Myſtification entſprungen, einem ge : ſelligen Scherz. Das Beſte wie das Abſcheulichſte in Diderots Werken iſt dieſem Dämon des Jmproviſirens zuzu ſchreiben : auch das Schandbuch „ Die plauderhaften Kleinode “ iſt einer Augenblickslaune entſprungen ; bei ſpäterer Ueberlegung hat Diderot, der gegen ſich ſelbſt viel ſtrenger war als Rouſſeau in ſeinen ,, Bekenntniſſen ", das gerechte Verdammungsurteil darüber gefällt , es ſei „ die Peſtaushauchung einer Kloake “ . Die Leichtigkeit der Improviſation mußte auf Abwege führen. Sie ließ Diderot Proſpecte für eine nelie Haarpommade ſchreiben, Bittſchriften anfertigen , Ueberſetzungen ſchmieren , Gelegenheitsreden verfertigen Diderot . 217 vorauss kurz alles was man ſonſt nur von den literariſchen fabrikarbeitern verlangt. Aber dem Improviſationsgeiſt Diderots haben wir auch ſolche Genieblitze zu verdanken, wie die Voraus: nahme des Darwinismus in der „ Erklärung der Natur“, wo nicht nur die Transformationslehre ſich im Keime findet , ſondern ſelbſt ſolche Dinge wie das Darwiniſche » survival of the fittest « ( Ueberleben und fortpflanzen der geeignetſten Lebeweſen ) genommen werden . Diderot drückt das ſo aus : „ Ulle fehlerhaften Combinationen der Materie ſind verſchwunden , und nur die ſind geblieben , deren Mechanismus feinen weſentlichen inneren Widerſpruch enthielt und die aus eigner Kraft beſtehen und ſich fortpflanzen konnten “ (in dem „ Brief über die Blinden “ ). Diderot beſitzt eben die Gattung der Improviſation , welche gleichbedeutend iſt mit der Intuition des Genius. Ohne Erperimentalphyſiker zu ſein , hat er die Gleich : heit des Urſprungs von Magnetismus und Elektricität behauptet. Nur etwas mehr Geduld, mehr Vertiefung, und er hätte fragen beantwortet, die zu ſeiner Zeit noch nicht einmal richtig geſtellt wurden . Die ruhige Arbeit der Mittelmäßigkeit brachte ſolche Ver: unſtaltungen hervor wie die Ueberſetzungen Shakeſpeares durch Ducis und Letourneur, Diderot, der Improvi ſator, lieſt Macbeth, lieſt Othello und Hamlet und ruft von Bewunderung ergriffen : „ Dieſer Shakeſpeare, den ich weder mit dem Apoll vom Belvedere , noch mit den Gladiator, noch mit dem Untinous vergleichen will, ſondern mit der Statue des Heiligen Chriſtoph in der Notre Dame zu 218 Diderot. dos nur Paris, einem unförmlichen, roh behauenen Coloß, zwiſchen deſſen Beinen wir alleſammt durchlaufen könnten, ohne daß unſer Haupt auch an ſeine Schenkel anſtieße. “ ( Im Original : an ſeine » parties honteuses« . ) Das Wort Herders von Shakeſpeare : hoch auf einem fels im Meer ſitzend mit dem Gewimmel der Erklärer zu ſeinen fiißen, iſt nicht zutreffender als dieſer halbs erhabene halbeyniſche Vergleich Diderots. Auch Voltaire hat viele viele Bände voll Briefen hinterlaſſen, darunter des Jutereſſanten die fiille. Aber der Improviſator Diderot iſt ihm auf dem eigentlichen Tummelfelde der Improviſation : dem Brief , überlegen an Unmittelbarkeit, ani Perſönlichkeit. Die Gegenſtände des Diderot'chen Briefwechſels mit ſeiner Sophie, ja ſelbſt mit dem Bildhauer falconiet ſind weitaus nicht ſo allgemein intereſſant wie die, welche Voltaire behandelt, z. B. in ſeiner Correſpondenz mit friedrich dem Großen ; aber Diderot ſchreibt ganz aus dem Tumult ſeiner Seele heraus und fertigt keine Brouillons an . Die „ Correſpondenz mit fräulein Volland “ iſt wie ein zuckender Körper, wie ein vom Meſſer des Chirurgen bloßgelegtes pochendes Herz. Und endlich der „ Neffe Rameau's " was iſt er anders als das Virtuoſenſtück eines Improviſators ? Welch ein Reiz in dieſem abſtoßenden Werk ! „ Der Zauber der Canaille “ , wie La Bruyère von Rabelais ſagte . Wer den „ Neffen Rameau's " nicht im Original ge leſen , weiß nicht, welcher Grazie und - welcher Sham loſigkeit die franzöſiſche Sprache fähig iſt ; ſelbſt Goethe's Diderot . 219 meiſterhafte Ueberſetzung gibt davon doch nur eine ſchwache Ahnung. Es ſind Stellen darin, die in ihrer Verworfenheit ans Erhabene grenzen. Der „Neffe Rameau's “ hat Vorgänger, aber er übertrifft ſie alle : in dem friiher erwähnten Buche des Petronius (vgl . S. 35) ſpricht man eine ähnliche Sprache, Panurg im „ Pantagruel “ hat einige Züge geliehen , Rameau iſt ihrer aller Meiſter. Er iſt ein Abbild der erſchrecklichen Fäulniß der Geſellſchaft kurz vor dem Uusbruch der großen Revolution ; auch das Schillern , das blendende Jriſiren der fäulniß fehlt nicht. Und damit es ganz ein Kunſtwerk ſei , hat Diderot um die Blöße dieſer Erzcanaille den Mantel des künſtleriſchen Mitleids geworfen, deſſen fehlen in der „ Nonne“ einen ſo peinigenden Eindruck macht. So iſt dieſer Improviſator einmal dennoch bis in das Bereich der großen Literatur vorgedrungen . Man wünſchte, es wäre ihin öfter geglückt, und mit edleren Gegenſtänden. Aber ſo , wie er geweſen , iſt er doch der einzige Schriftſteller des 18. Jahrhunderts, der einen bleibenden Beitrag zur Weltliteratur geliefert hat : geleſen, allgemein geleſen wird nur noch der „ Neffe Rameau's “ . Der Mann, von dem Narmontel ſagte : ,, er hat einige ſchöne Seiten, aber kein Buch verfaßt", hat nach allem das einzige Buch, wenn auch ein ſehr winziges, aus dem Chaos des 18. Jahrhunderts auf uis vererbt . XV . Beaumarchais. ( 1731--1799 .) er Verfaſſer des „ Barbiers von Sevilla “, der „ Hoch : zeit des figaro" und der Procefſchriften " (Mé moires) gehört zur geiſtigen familie Diderots. Dieſelbe überſprudelnde Luſt am Leben, dieſelbe Vielgeſchäftigkeit, diejelbe Jerſplitterung der Kräfte. Nur daß Beau: marchais nicht ausſchließlich der Literatur angehört, wie Diderot trotz aller Vielſeitigkeit ; im Gegenteil, er iſt nur ein Eindringling in die Literatur, ein gelegent licher Gaſt. Gleich ſeinem figaro iſt er auch ein Dichter, aber nur in verlornen Stunden. Er ſchreibt Theaterſtücke, wie er tauſend andre Dinge tut. Daß ſie einſchlagen, verſteht ſich für ihn von ſelbſt, denn bei ihm ſchlägt alles ein, es ſei denn, daß es fehlſchlägt, was auch kein Unglück iſt. Hian pfeift ſeinen fünf Beaumarchais. 221 actigen , Barbier von Sevilla “ aus, flugs ſtreicht er einen Act, arbeitet das Stück um , und es hat Glück. Beaumarchais hat alle Berufe geübt und keinem angehört. Er war der Geſchäftsmann der franzö : fiſchen Literatur, ein faiſeur, aber nicht im ſchlimmen Sinne des Wortes . Was hat er nicht verſucht! und was immer er verſuchte, mittelmäßig war er in nichts . Das Höchſte, was ein Menſch mit bloßem Ta . leit leiſten kann, hat er vollauf geleiſtet; manchmal weiß man nicht, ob man es noch mit einem Talent oder ſchon mit einem Genius zu tun hat. Uhrmacher wie ſein Vater, begnügt er ſich nicht mit der Ausübung ſeines Handwerks, ſondern ſtrebt darüber hinaus : er wird Erfinder, ihm gelingt die Herſtellung einer neuen Hemmung der Uhren , und die erſte Stufe zu ſeinem Glück iſt erſtiegen : er darf der Madame de Pompadour eine Uhr überreichen , die er ſo klein angefertigt, daß ſie in einem Siegelring Platz findet. Bald darauf wird er Muſiklehrer der vier Töchter Ludwigs XV ., kauft ſich hoftitel, kauft ſich das de vor ſeinem Namen und heißt von jetzt ab Caron de Beau marchais . Wer ihm ſein Udelsprädicat beſtreiten will, dem antwortet er mit einer Unverſchämtheit: „ Ich habe die Quittung darüber. “ Mit jungen Jahren ſchon beginnt in ihm der Pro jectengeiſt ſich zu regen . Un die Literatur denkt er einſtweilen 110ch nicht , die wird er in den Kreis ſeiner Hilfsmittel ziehen , ſobald er ihrer bedarf. Er 222 Beaumarchais . lebte in einer Zeit der Halbheit : ihm als einem Manne bürgerlicher Herkunft war trotz des erkauften de , trotz der Gunſt der Prinzeſſinnen die Laufbahn der großen Taten verſchloſſen . Er war aus dem Stoff, aus dem man Staatsmänner, finanzminiſter macht, aber der ,,Sieur " de Beaumarchais und finanzminiſter ! Noch zählte man 1760 und 1770. Was Wunder, daß dieſe fülle der Tatkraft ſich nur als Projectenmacherei äußerte ? frankreich hat ſeitdem manche ähnliche Ers ſcheinung geſehen , -- and Balzac gehört 311 dieſer Richtung. Es iſt erſtaunlich und beluſtigend zugleich, die Liſte der Projecte zu leſen , welche Beaumarchais erronnen hat oder die ihm von Underit angetragen worden ſind. Kein moderner „ Gründer “, der ihn darin überträfe. Ich nenne nur einige der großartigſten : Project einer großen Staatsprämienanleihe, – Project des Monopols des Negerſclavenhandels in den ſpaniſchen Colonien, Project der Waſſerverſorgung der Stadt Paris, Project einer Welthandelsſtraße über Sniez . In den meiſten Fällen blieb es beim Projectiren ; aber da wo Beaumarchais zur Ausführung ſchritt, überraſchte er durch die Energie und die Sachkunde, mit der er die aller verſchiedenartigſten Dinge anfaßte. Daß weſentlich er es geweſen , welcher frankreichs Unterſtützung des ame: rikaniſchen Unabhängigkeitskrieges erwirkt und praktiſch ausgeführt hat, mit Waffen, mit Geld und mit Krieg ſchiffen, ſoll ihm unvergeſſen bleiben . Es klingt wie Beaumarchais. 223 ein Märchen und iſt doch die ſchlichte Wahrheit, daß Beaumarchais eine vollſtändig ausgerüſtete Kriegs : fregatte bemannt und in den Kampf gegen die Eng: länder geſchickt hat. Er ſpricht denn auch ganz ſelbſt: bewußt von „ ſeiner Marine“ . Und als ſei es nicht genug, in aller form an einem großen Kriege zwiſchen zwei Völkern teilzunehmen, findet Beaumarchais daneben 110ch die Zeit , die erſte vollſtändige Uusgabe von Voltaires Werken zu ver: anſtalten, wozu er drei eigene Papierfabriken , eine eigene Schriftgießerei und natürlich eine eigene Druckerei ſich beſchafft. Daß er dabei mehrere hunderttauſend franken verliert, ſtört ſeine Gemütsruhe kaum ; ihm genügt es das Große gewollt zu haben ". Mit Kleinig: keiten mochte er ſich nicht abgeben , ihn reizte die Größe des Riſico und die Größe des Gewinns, nicht des Gewinnes ſelbſt wegen , denn Beaumarchais war nicht habgierig , ſondern aus freude an dem Umrühren des Geldes. Sein Umſatz, haben und Soll ſeiner Unter: nehmungen, belief ſich in den Jahren von 1776 bis 1783 auf die fabelhafte Summe von 2 ! Millionen franken . Sein Charakterbild als Menſch und Geſchäfts: mann wäre aber unvollſtändig ohne die Bemerkung, daß nach ſeinem Tode eine Summe von 900000 franken , Darlehen auf Nimmerwiederſehen an gute Freunde, in ſeinem Schuldnerbuch gefunden wurde. Es verſteht ſich von ſelbſt, daß das Leben eines Mannes wie Beaumarchais ein Leben des Kampfes 224 Beaumarchais. ſein mußte. Um ſo mehr ein Kampf, weil er bei jedem Schritt nach oben anſtieß gegen die Kaſtenvorurteile des 18. Jahrhunderts vor der Revolution. Jm Kleinen iſt Beaumarchais' Leben ein Spiegelbild des Rieſen kampfes des „ dritten Standes “ um ſeine Daſeinsberech tigung. Schritt für Schritt hat er ſich ſeine Stellung erfechten müſſen. Gleich ſeine erſte Erfindung, die auf dem harmloſen Gebiet der Uhrmacherei, wurde ihm ſtreitig gemacht, und damit fängt der Wirrwarr der Proceſie an , welche Beaumarchais nie wieder los : geworden iſt. In allen ohne Ausnahme war das gute Recht auf ſeiner Seite , in allen hat er nach endloſen Kämpfen obgeſiegt. Ein großes Stück ſeiner beſten Lebenskraft hat er an dieſe Proceſſe verloren , aber er hat ihnen auch ein großes Stück ſeiner Berühmtheit, ſeiner Volksbeliebtheit verdankt. Voltaire hat einmal, vor Göthe, das Wort vom „ Hammer und Umbos “ gebraucht : „ In frankreich muß man Umboß oder Hammer ſein. Ich war zum Umboß geboren . “ Nun, wie Voltaire aus dem Amboß zum hammer wurde, ſo auch Beaumarchais. „ Biſt du Hammer, ichlage zu ! " und er hat zugeſchlagen, daß die funken ſtoben . Proceß gegen den unehrlichen Mechaniker, der ihm ſeine Erfindung geſtohlen ; Proceß gegen den Grafen de la Blache , der eine Erbſchafts: ſchuld zu zahlen verweigert; Proceß gegen den Spanier Clavigo, der Beaumarchais ' Schweſter die Ehe ver ſprochen und ſein Wort nicht halten will ; endlich Beaumarchais. 225 Proceß gegen einen ehrloſen Richter am Parlament zu Paris und deſſen gleichgeſinnte Ehehälfte , welche die Erpreſſung von Beſtechungsgeldern der Klägeriſchen Parteien zum Geſchäft gemacht. Es iſt dies die ,, Affaire Goëzmann ", -- fo hieß der Richter, der heute nur noch durch die Berühmtheit Beaumarchais' bekannt iſt. Was dieſen Proceß jo denkwürdig macht, iſt die allgemeine Wichtigkeit, welche Beaumarchais ihm 311 geben wußte, ihn hoch hinaus hebend über eine kleine perſönliche Streitſache. Daß ein Richter die Ueberredungsbeſuche der Parteien annahm , daß die frau des Richters ſich Rollen Louisd’ors und eine goldene Uhr vom Kläger ſchenken ließ , darin lag für die damalige Rechtsübung gar nidyts Beſonderes. Beaumarchais machte durch ſeine Proceßidriften , die er drucken ließ ( die Mémoires), eine große Staats frage daraus. Wie weit ihn die Befriedigung ſeines perſönlichen Grolls dabei getrieben , wie weit der Drang nach einer politiſchen Großtat, wer mag das heute feſtſtellen ? Genug, daß die Denkſchriften Beau marchais ' vor ganz frankreich die Wunde bloßlegten, an welcher, neben ſo vielen andern , das abſolutiſtiſche Königtum krankte : die Käuflichkeit , die Unzuverläſſigkeit der Rechtspflege. Der Proceß gegen Goëzmann iſt der Höhepunkt der publiciſtiſchen Schriftſtellerei Beaumarchais'. Ihn hat er mit dem Aufgebot ſeiner ganzen galliſchen Verve Engel, Pſychologie . 15 226 Beaumarchais. und Erfindungsgabe geführt. Ehre, Leben und Vers mögen hat er daran geſetzt: „ Ruiniren wollt Ihr mich ? Iſt das Euer Plan, Ihr Herren ? Es mag ganz gut wirken gegen mich , aber Euch ſoll es dennoch nichts helfen. Denn ſchreiben werde ich, auch wenn Ihr Euch nicht mehr verteidigt, bis zum letzten Stumpf meiner Feder will ich auf meinem Recht beſtehen, und müßte ich mein Dintenfaß troden ſchreiben . Nicht Raſt noch Ruhe ſollt Ihr vor mir haben , ehe Ihr nicht fate : goriſch auf alle meine ſchweren Anklagen vor dem Gerichtshof und vor der Nation geantwortet habt ! " „ Und vor der Nation !“ Damit ſetzt er die Me: thode fort, welche Voltaire erfunden : als Bundesgenoſſen im Kampf die öffentliche Meinung aufzurufen , dieſe unſichtbare Macht, vor der bald nachher die feſten Manern der Baſtille zuſammenkrachen und der tauſend jährige Tron frankreichs ſtürzen ſollte. Die Zeichen mehrten ſich , daß nach einer faſt zweihundertjährigen Ruhe das franzöſiſche Volk auf die Bühne treten würde, dieſes Volk, von dem die Literatur des 19. Jahrhunderts gar keine Notiz genommen und das erſt die Schrift: ſteller des 18. Jahrhunderts wie neu entdeckt hatten . Noch deutlicher zeigt ſich dieſe Entdeckung in Beaumarchais' beiden figaro :Dramen. Man hat häufig den Anteil dieſer Theaterſtücke an der Herbei führung der Revolution übertrieben, als ob jemals eine große Umwälzung, und nun erſt eine wie die von 1789, durch eine Komödie verurſacht worden wäre ! Nein , der „ Barbier von Sevilla “ und ſelbſt die „ Hoch zeit figaro's" haben die franzöſiſche Revolution nicht herbeigeführt, vielleicht nicht einmal beſchleunigt ; aber Beaumarchais. 227 ſie waren Symptome, an denen die politiſchen Zeichen : deuter die Zeit erkennen konnten . Der Einzige, der ein Gefühl für die Bedeutung dieſer Stücke, namentlich der „ Hochzeit figaro's" gehabt hat , war der König ; aber wenn er auch damals ( 1787) noch frankreich regierte, das Théâtre Français gehörte nicht mehr zu ſeinem Regiment. Und wozu länger die Aufführung eines Stückes verbieten , nachdem die Königin Marie Antoinette und die Brüder des Königs es im engſten Zirkel ſelber aufgeführt, zum größten Gaudium der durchlauchtigſten Darſteller und hohen Zuſchauer ?! für die Pſychologie der franzöſiſchen Literatur ſind die figaro-Dramen mindeſtens ebenſo intereſſant wie für die politiſche Geſchichte frankreichs . Sie bezeichnen die vollſtändige Erlöſung der Bühne voin falſchen Römertum und vom Joche der ariſtoteliſchen Ueber lieferung. Diderot hatte mit dem Vers auf der Bühne gebrochen , aber an den drei Einheiten zu rütteln hatte ſelbſt er nicht gewagt. Das konnte nur ein ſolcher Literaturliebhaber wie Beaumarchais, der ſich bei ſeinen gelegentlichen Streifzügen auf das poetiſche Gebiet von vornherein alles Regelzwanges überhoben glaubte. Und merkwürdig genug : von allen Theaterſtücken des 18. Jahrhunderts ſind dieſe beiden figaro-Komödien die einzigen, die noch heute auf dem Repertoire der franzöſiſchen Bühnen ſtehen, gar nicht zu reden von der Unſterblichkeit, welche ihnen durch Roſſini's und Mozarts Muſik geſichert iſt. 15* 228 Beaumarchais . Will man die ganze Weite der ſocialen und der dichteriſchen Kluft zwiſchen dem claffiſchen Drama des 17. Jahrhunderts und dem des ſo gänzlich unclaſſiſchen Beaumarchais ermeſſen, ſo vergleiche man die ſteif, leinenen „ Vertrauten “ in den Tragödien Corneille's und Racine's mit dieſem figaro, dem „ Vertrauten “ Almaviva's . Oder um den Vergleich noch ſchlagender zu machen : welch ein Unterſchied zwiſchen dem Sga narelle Molière's (im „ Don Juan “ ) und dem figaro Beaumarchais' in der Hochzeit " ! figaro iſt zwar noch nicht die neue Zeit , aber er iſt die Verhöhnung der alten ; man fühlt ſchon die Ellenbogenſtöße des dritten Standes bei dem Streben , vorwärts zu kommen. Graf Almaviva , der noch im „ Barbier von Sevilla “ ( 1775 ) als ein Mann von Witz und Talent dargeſtellt wurde, erſcheint in „ Figaro's Hochzeit" ( 1784) als die Zielſcheibe der Liſt und des Spottes aller Mitſpielenden , und dieſe find , Cherubin ausgenommen, ſämmtlich Vertreter des „ dritten Standes " . Die Lebhaftigkeit des Dialogs dieſer beiden Stücke erinnert an Diderots Ungeſtiim . Eine fülle von guter Laune, freilich auch von ſeruellem Witz, iſt darüber aus : gegoſſen . Seit Molière's Komödien hatte die fran: zöſiſche Bühne etwas ſo durch und durch Galliſches, ſo Nationales nicht geboten, und bei Beaumarchais iſt ſelbſt der letzte Reſt von Convention der Sprache, deſſen wir in dem Capitel über Molière Erwähnung tun mußten, abgeſtreift. Leiſe Unklänge an Rabelais Beaumarchais. 229 geben vollends der Sprache Beaumarchais jenen ge funden Erdgeruch, der nun einmal nur im Volkstüm lichen zu finden iſt. Beaumarchais war ein Kind ſeiner Zeit , und doch zugleich derſelben voraus. Sie war ihm zu eng, er fand in ihr Hemmniſſe auf allen Punkten. Das hat ſeiner Erſcheinung etwas Schiefes, Verdächtiges gegeben ; man zollt ihm Be wunderung, aber man gelangt zu keiner vollen Achtung. Die eingehenden Forſchungen ſeines Biographen Loménie (in dem zweibändigen Werke „ Beaumarchais und ſeine Zeit“) haben zwar ergeben , daß er beſſer geweſen als ſein Ruf ; aber man wird den Eindruck nicht los , namentlich nach dem Studiuin der Proceßichriften " , daß er ſeiner Zeit große 3u geſtändniſſe gemacht hat. Seine Anlage wies ihn einer andern Zeit zu : unter Napoleon dem Dritten oder ſelbſt unter der dritten Republik wäre ſein Platz geweſen. Er gehört zu der Claſſe der Unruhigen, der Umwälzer ; zu den Haußmann, Leſſeps und vielleicht Bontour. DORRRRRRRR XVI. Beranger. ( 1780—1857 . ) an ſich über die Bedeutung dieſes Dichters klar zu werden, frage man ſich einmal, was die Dichter des 17. und des 18. Jahrhunderts zu ihm geſagt haben würden. Von denen des 17. Jahrhunderts können wir es nur ahnen ; aber wer Boileau kennt, wird mit ziem licher Beſtimmtheit behaupten dürfen , daß dieſer Geſetz: geber der franzöſiſchen Literatur Beranger keines Blickes gewürdigt hätte. Jn ſeiner „ Dichtkunſt “ fand ja nicht einmal Lafontaine Erwähnung, - und Beranger iſt der Lafontaine des franzöſiſchen Liedes . Uuch Voltaire hätte ihn nicht begriffen . Man ſieht das aus der Stel lung, welche die aus dem 18. Jahrhundert ins 19. hin : einlebenden Dichter akademiſchen Schlages, faſt noch Voltaires Zeitgenoſſen, zu Beranger eingenommen haben. Beranger. 231 Er galt ihnen nicht für voll, man betrachtete ihn nicht als zur ſoliden Literatur gehörig. Beranger verdankt eben die umwälzende Rolle, die er in der franzöfiſchen Liederdichtung geſpielt, dieſer ſeiner Stellung außerhalb der literariſchen Zunft. Er hat etwas geleiſtet, was vor ihm keiner auch nur verſucht hatte : er hat die vergrabenen Quellen der franzöſiſchen Chanſoit aufgeſchloſſen und hat endlich , nach einer Pauſe von einem Vierteljahrtauſend, dem Volke poetiſch die Zunge gelöſt. Ich hatte bei Voltaire von deſſen Vul: gariſationstalent geſprochen , von ſeiner heranbildung eines großen Publicums. Was will aber dieſes „große“ Publicum , beſtehend aus den gebildeten Kreiſen frank: reichs und des franzöſiſch verſtehenden Europas, bejagen gegen das Publicum von vielen Millionen, welches Berangers Lieder ſang ! Wer hatte überhaupt im 17. und 18. Jahrhundert in Frankreich für das franzöſiſche Volk geſchrieben, - Volk ganz einfach in dem Sinne verſtanden : für die Mittelclaſſen und die ganz Armen – ? Niemand ; auch Molière nicht, auch Lafontaine nicht. Das hat zum erſtenmal Beranger getan . Er hat die Conſe: quenzen der gewaltigen geſellſchaftlichen Umwälzung durch die Ereigniſſe von 1789—1815 auf dem Gebiete der Poeſie gezogen : ihre Demokratiſirung. Uus den unteren Schichten des dritten Standes hervorge: gangen, eines Schneiders Enkel, ſeinem Gewerbe nach ein Setzer, arm geboren und nie reich geworden, hat 232 Beranger. Beranger den Empfindungen Ausdruck zu geben ver ſtanden , von denen die früheren Dichter keine Ahnung gehabt : denen des arbeitenden , leidenden, Steuern zah lenden und Kriegsdienſte leiſtenden Volkes. Der Dichter für die Millionen , der Sänger ſeines Volkes, ein Gallier inmitten von Galliern das iſt Beranger geweſen , und darum zählten ihn die Akademiker nicht zur fran zöſiſchen Literatur. Er iſt auch kein literariſcher Dichter, und doch iſt er nicht das, was man einen Naturdichter nennt. Ungebildet war er nicht, obſchon er keine höhere Schule durchgemacht ; faſt möchte man ihm ſogar etwas weniger von jener Sorte Bildung wünſchen, welche ihn befähigte, mit der griechiſchen und römiſchen Mythologie das alt bekannte Spiel fortzuſetzen . Er hatte ſich ſo viel Bil dung durch Selbſtlehre angeeignet, um die dichteriſche Sprache mit künſtleriſchem Bewußtſein zu handhaben . Mit Burns aber, dem einzigen großen „ Naturdichter “ der neueren Zeit, darf man ihn nicht vergleichen, nicht einmal im Punkte der Bildung: Beranger war gegen : über Burns ein beleſener Literat, der ganz genau wußte, wie er zu der Dichtung ſeines Volkes in Vergangenheit und Gegenwart ſtand. Gemeinſam mit Burns hat Beranger nur eines : die Treffſicherheit des Volkstons. Alles, was Beranger geſungen, fand einen Wiederhall in der Seele ſeiner Nation . Er hatte für deren Stimmung ein feines Gehör ; das bewies er am beſten dadurch, daß er 1832 , Beranger. 233 nach der Julirevolution , verſtummte. Sein Werf war getan ; er war der Zeit, und die Zeit war ihm ent: wachſen . Das unberechenbare Inſtrument, welches fran : zöſiſcher Volksgeiſt heißt , hatte ſeine Tonſtimmung ge ändert, da ſchwieg Beranger. Welches waren die Gründe für ſeine unübertroffene Popularität während des Menſchenalters nach den napoleoniſchen Kriegen ? Es ſind ihrer viele ; vor allen die Sangbarkeit ſeiner Lieder . Das iſt begreiflich, denn nur das Volk ſingt, die oberen Claſſen machen Muſik, und nur für die oberen Claſſen hatten die weni gen und ſehr kläglichen Lyriker des 18. Jahrhunderts gedichtet. Ein Einziger ſteht neben Beranger als Lieder dichter, fein freund Dés angiers ( 1772—1827 ) ; ſein Ruhm iſt in dem ſeines größeren Schülers aufgegangen. Man weiß nicht recht, was das franzöſiſche Volk in der langen Spanne Zeit zwiſchen Villon und Beranger für Lieder geſungen hat : die Pariſer ſangen politiſche Spott verſe, aber die reichen doch nicht hin, das Bedürfniß eines Volkes nach Gejang zu befriedigen. Wahrſcheint lich hat es vor der franzöſiſchen Revolution wenig An laß zum heiteren Geſang gehabt. Und doch iſt das franzöſiſche Volk ein Chanſonnier-Volk ; man denke an die beiſpielloſe Wirkung eines poetiſch ſo wertloſen Liedes , wie es die Marſeillaiſe iſt. Beranger war die Stimme des Volkes ſelber , die nach der langen Stille losbrach, herzbefreiend und ſeelenſtärkend. Durch das Lied , die einzige wirkliche Volkspoeſie, wurde die fran: 234 Beranger. ded zöſiſche Nation literaturmündig, wie ſie kurz zuvor politiſch mündig geworden war. Beranger hat nie ein Hehl daraus gemacht, für wen er ſang. für die Urmen, für die Zerlumpten, für die Unglücklichen . für alle die, welche ſonſt keine Lite: ratur haben. „ Das arme Volk bedarf ja unſrer Lieder, " ſchließt eine ſeiner Chanſons, in der er zu Beiſteuern für die Hinterbliebenen eines andern Chanſonniers auf fordert. Und wer kennt nicht ſein ausgelaſſenes Lied zum Lobe und Troſte der Bettler : Les gueux, les gueux Sont les gens heureux ! Unzählig ſind die Stellen , in denen Beranger den Armeit zuruft, mit ihrem Looſe zufrieden zu ſein , -- nicht wie ein Politiker das wohl auch tut, dem die Klagen des Elends unbequem ſind , ſondern wie der Urzt, der einem Kranken andre, noch viel ſchwerer Kranke als Troſt vorhält. Und er begnügt ſich nicht mit dieſem wohlfeilen Troſt: kein andrer franzöſiſcher Dichter hat jo viel poetiſche Verklärung um die ehrliche Armut gewoben, wie Beranger. Und immer unter Berufung auf ſein eignes Schicks jal, - dieſes beſte Ueberzeugungsmittel. Jít er nicht ſelbſt aus niederem Stande, trotz des de vor ſeinen Namen ? Iſt er nicht ſelbſt » vilain , très - vilain « , und nicht im mindeſten adlig ? hat nicht an ſeiner Wiege die Urmut geſtanden ? und hat ſie etwa der fee der Dichtkunſt den Weg verſperrt ? Wer hat wie er einen Beranger. 235 Glorienſchimmer in die Dachkammer hungernder Poeten geworfen ? C'est un grenier, point ne veux qu'on l'ignore . Là fut mon lit , bien chétif et bien dur. Là fut una table ; et je retrouve encore Trois pieds d'un vers charbonnés sur le mur. Apparaissez, plaisirs de mon bel âge Que d'un coup d'aile a fustigés le Temps. Vingt fois pour vous j'ai mis ma montre en gage . Dans un grenier qu'on est bien à vingt ans ! Ja feine troſtreiche Liederſeele umfängt ſelbſt die Ullerelendeſten , die Uusgeſtoßenen der Geſellſchaft mit ihrer Liebe. Bis zu dem heimatloſen , fahrenden Volk, bis zu Zigeunern und Gauklern und Strolchen herab erſtreckt ſich ſein Dichtermitleid . Eines ſeiner friſcheſten Lieder iſt gewidmet den „ Bohémiens“ der Landſtraße. Es iſt eines ſeiner weniger bekannten und finde deshalb hier in einigen Strophen ſeinen Platz : Sorciers , bateleurs ou filous , Reste immonde D'un ancie : monde ; Sorciers, bateleurs ou filous, Gais bohémiens, d'où venez vous ? D'où nous venons ? l'on n'en sait rien , L'hirondelle D'où vient - elle ? D'où nous venons l'on n'en sait rien . Où nous irons, le sait - on bien ? Sans pays, sans prince et sans lois , Notre vie Doit faire envie ; Sans pays, sans prince et sans lois , L'homme est heureux un jour sur trois , 236 Beranger. Oui, croyez en notre gaîté, Noble ou prêtre , Valet ou maître, Oui , croyez en notre gaîté : Le bonheur, c'est la liberté ! Merkwürdig genug, daß auch von Burns ein ſolches Loblied auf das Vagabundentum eriſtirt: das kecke Lied von den „ Luſtigen Bettlern “ . Carlyle ſtellte es höher als irgendein andres Gedicht von Burns. Aber auch für die große Tragik des elenden Volkes hat Beranger den Ton gefunden, freilich ſeltener als für den alltäglichen Jammer. Das Gedicht von der „ Rothen hanne", dem Weibe des ergriffenen Wilddiebs , iſt ſolch ein Echo des Notſchreis der Armut in einer Dichterbruſt. Und nicht mit Worten allein hat Beranger ſeine Zugehörigkeit zum Volke bewieſen , ſondern mehr noch durch ſein Beiſpiel. Es gibt viele kunſtgerechte Gedidyte voll Mitleid für die Not und den froſt in den Hütten und Dachſtuben , die in ſehr behaglichen Räumen bei einem guten Kaminfeuer niedergeſchrieben wurden . Beranger hat als Dichter gerade nicht not gelitten , aber er hat niemals Reichtümer beſeſſen . Mit reinen Händen ſtand er nach dem Siege ſeiner Partei durch die Julirevolution da ; das Gedicht an ſeine Miniſter gewordenen Freunde “, worin er alle Uemter und Wür: den ablehnte, macht ihm und der Dichtkunſt Ehre. Ebenſo hat er von Napoleon III . jede Belohnung für ſeine Verherrlichung des erſten Napoleon abgelehnt; er Beranger. 237 mochte längſt bereut haben , durch ſeine Lieder die Stim : mung für den Bonapartismus begünſtigt zu haben. Berangers Lieder zerfallen im Weſentlichen in zwei Gruppen : in Geſellſchaftslieder und politiſche Satiren . Die letzteren ſind mit den Zuſtänden, aus denen ſie hervorgegangen , dem Andenken der Lebenden und be: ſonders der Jugend entſchwunden . „ Der König von Yvetot“ ſelber, die Perle ſeiner politiſchen Chanſons, erregt heute lange nicht das Wohlgefallen, welches durch den Gegenſatz zwiſchen dieſem gemütlichen König und dem Gott der Schlachten Napoleon zu ſeiner Zeit er: klärlich war. Uuch die Komik für das Lied vom Senator, einſtmals von Napoleon I. ſelber in den Tuilerien ge ſungen , reizt uns jetzt nur mäßig. Politiſche Lieder , zumal Spottlieder, überleben ſelten die Generation, die fie entſtehen fah . Den franzoſert von heute fehlt das Verſtändniſ für die politiſche Grundſtimmung, aus der heraus Beranger ſeine Lieder ſchrieb. Jene höchſt ſeltſame Verquickung von Republikanismus, Weltbruderſchaft , Völkerfrieden, von Kriegsgloire und Napoleoncultus packt den modernen Leſer nicht mehr. Aber der innerſte Kern der politiſchen Lieder Berangers iſt doch ein echtfranzöſiſcher : er iſt das frondiren. Von jeher hat die Chanſon Oppoſition gemacht; ſie lebt von einer mehr oder minder boshaften Unzufriedenheit. Während des Siegeslärms der Napoleoniſchen Kriege ſingt Be ranger das Lob des friedfertigen Königs von Yvetot 238 Veranger. nach 1815 verſpottet er die heilige Allianz, die fürſten congreſſe, das Concordat, vor allem aber die Bourbonen , und beſingt in ſchwermütigen, echtpatriotiſchen Liedern die Großtaten Napoleons, beklagt ſeinen Tod, ruft alle ſchönen Erinnerungen an ihn wach, und ſpottet und ſingt ſo lange, bis die Bourbonen mit ſeiner Hilfe weg geſungen ſind. Die Liberalen kommen ans Ruder, eine Verfaſſung mit einem conſtitutionellen König und Zu: behör regiert frankreich , aber glaubt man , daß der Chanſonnier nun fein frondiren einſtellt ? Durchaus nicht; er hat zwar bald nach der Julirevolution ſeine poetiſche Tätigkeit aufgegeben, aber unter den Liedern der Jahre 1830 bis 1832 ſind noch einige ſehr arge Spottvögel. Neben dieſer politiſchen Satire läuft eine Ader des gutmütigen Chauvinismus, der jedem franzoſen wohltut . Ein politiſcher Chanjounier wäre nicht vollſtändig ohne dieſen Zug, – nicht in Frankreich allein : Chauvinis: mus iſt eine internationale Eigenſchaft. Beranger iſt jedenfalls unſchuldig an der neueſten Phaſe des poetiſch ſein wollenden Chauvinismus in frankreich , der durch ſolche geſchmackloſe Lärmmacher wie Déroulède ver: treteii wird. Jn religiöſer Beziehung huldigt Beranger dem Voltairismus, einer ſehr bequemen Religion , die init dem lieben Gott wenig Umſtände macht und ohne Gewiſſensbiſſe zwiſchen pathetiſcher Verehrung und jovialem Scherz hin und her ſchwankt. Seine Stim : Beranger. 239 mung kennzeichnet das ſchöne Lied : „ Der Gott des braven Manns" : „Ich heb’ mein Glas empor und traue fröhlich Dem Gott des braven Manns.“ Mit einer Poeſie, die ſo gefällig der Unſchauung der weitaus größten Zahl des Publicums entgegenkam , mußte er wohl die Maſſen für ſich gewinnen. Unter der zweiten Gruppe der Lieder Berangers, denen zum Preiſe geſelliger freuden, haben ſich manche bis heute friſch erhalten. Mit Recht: die das Leben auf die leichte Uchſel nehmende galliſche Heiterkeit iſt ja im Grunde dieſelbe geblieben , und ſo oft dieſe » Gaîté « ſich im Liede Luft macht, wird Beranger ihr Lieblingsſänger bleiben . Wein, Weib und Geſang der franzöſiſchen Geſelligkeit hat keiner ſo gut wie er beſungen. Da iſt vor allem der Refrain, den er mit Meiſterſchaft beherrſcht, für das Geſellſchaftslied , namentlich den Volksgejang fomentbehrlich. Seit den Tagen Villons hatte man in der franzöſiſchen Literatur keinen Refrain mehr vernommen ; an Stelle der Melodie hatte Jahrhunderte hindurch das Recitativ, ja die Declamation geherrſcht. Sodann der Jnhalt! Vor Beranger waren die beſungenen Schönen pure Phantaſiegeſchöpfe, ſie hießen Philis, Celimene, Umaryllis u . ſ. w. , waren nirgends zu Hauſe und triigen einen bebänderten Schäferſtab ; man wußte nicyt, hatte man es mit Puppen aus 270 Beranger. Zuckerteig oder mit Menſchen aus Fleiſch und Bein zu tun . Da beſingt Beranger ganz einfach ſeine Liſette und Roſa, und alle Welt verſteht ihn , denn wer kennte nicht auch eine Liſette und Roſa ? Leider, leider iſt es bei der heiteren Liebes- und Lebensluſt nicht immer geblieben. Man ſoll mir nicht heuchleriſche Zimperlichkeit vorwerfen , wenn ich gegen Berangers Liederdichtung den Vorwurf erhebe , daß fie mehr als zu viel und mit voller Abſicht dem Hange zur Gauloiſerie nachgibt , - Gauloiſerie einfach als Ueber-: ſetzung des derben deutſchen Wortes „ Gote“ . Man braucht ſich weder die Uugen noch die Ohren zuzuhalten, wenn Beranger die Reize ſeiner leicht geſchürzten , ein wenig beſpitzten , ſehr verliebten Liſette ſchildert; auch nicht wenn er noch weiter geht. Aber es gibt Grenzen , die ſelbſt der Chanſonnier nicht zu oft ungeſtraft überſchreitet, und Beranger überſchreitet ſie über alle Gebühr. Man lacht über den Spießbürger , der ſich der übergefälligen Hausfreundſchaft des Herrn Senators rühmt, man lacht auch über das Lied zur Hochzeit der beiden Liebenden, die ſeit zwanzig Jahren ſo gut und vielleicht beſſer als verheiratet ſind , aber man lacht nicht über die Unterweiſung der Enkel durch die Großmutter im lockern Lebenswandel, über die immer und immer wiederkehrende witzelnde Gutheiſung, ja die Verherrlichung des Ehebruchs, der Ausſchweifung von Mädchen halb noch im Kindesalter, und was der ſehr widerwärtigen, ganz und gar nicht Beranger. 2 + 1 lächerlichen Gegenſtände mehr ſind . Beranger iſt oft viel ſchlimmer als Paul de Kock. Solche Lieder und ihre Jahl iſt ſehr groß — verleiden dem nachſichtigſten Leſer von einiger Herzensreinheit, ja auch nur von einigem Schicklichkeitsgefühl, auf die Länge den ganzen Beranger. In den Sammlungen ſeiner Lieder ſteht das alles bunt durcheinander: das empfindſame Abſchiedslied der Maria Stuart, die Todtenklage auf Napoleon, das Lied des gefangenen franzoſen an die Schwalben, und die un zähligen Lieder voll ſerueller Witzelei, die man ſchwer: lich ohne Ekel leſen kann. Man muß es einmal ſagen, auf die Gefahr hin, für einen „Moraliſten “ gehalten zu werden : Beranger, der Neuſchöpfer der franzöſijden Chanſon , iſt zugleich ihr Vergifter geweſen . Das Element, welches er in ſie hineingetragen, iſt nicht mehr die galliſche fröhlichkeit, es iſt die fauneita haftigkeit, eine Urt von ſpießbürgerlicher Ver wäſſerung der Regentſchafts -Periode. Mit der Ent ſchuldigung, daß er ſeine Lieder nicht „ zur Erziehung junger Mädchen " geſchrieben , kommt Beranger nicht davon. Auch in frankreich hat man das längſt ge fühlt, und die ſtarke Wandelung in ſeiner Popularität zeigt dafür, daß der galliſche Volksgeiſt denn doch nicht ausſchließlich in der geſchlechtlichen Witzelei oder Jote auf die Dauer ſeine literariſche Befriedigung findet. Beranger vollends für einen großen Dichter zu halten, vermag Niemand, der ihn mit Minſjet oder Victor Hugo vergleicht, vom deutſchen Liede gar nicht Engel, Piychologie. 16 242 Beranger. und er zu reden . Er war der Erſte, der nach der langen lied loſen Zeit des Claſſicismus in frankreich überhaupt wieder ein Lied anſtimmte, das ſoll ihm von der Literaturgeſihichte hoch angerechnet werden , war der Wortführer des liberaliſirenden Bürgertums im Liede während einer gewiſſen periode, aber auch nur während dieſer , einer Periode politiſcher Reaction, religiöſer Heuchelei und Spießbürgerherrſchaft. Zum wahren Dichter fehlte ihm vor allem die Leidenſchaft; er iſt im Liebeslied niemals über die Liebelei , über die unzweideutige Galanterie hinaus: gedrungen. Die franzöſiſche Chanſon der Zukunft wird vielleicht die form von Beranger entlehnen , denn dieſe form iſt echtnational, aber ſie wird einen andern In halt in dieſe form gießen müſſen, wenn ſie echte Volkslyrik ſein will. Salesa XVII. Alfred de Muſſet. ( 1810 – 1857. ) er int Deutſchland zweifelt, ob die franzöſiſhe Literatur echte Lyrik beſitze, der leſe Mufjet. frankreich hat der Lyrifer nicht viel , das iſt eine hiſtoriſche Wahrheit geworden. Was es mit der Lyrik Berangers auf fich hat , beweiſt die Vergeſſenheit, in die er verſunken, und dem Lyriker Victor Hugo ſteht der Rhetoriker Victor Hugo im Wege. Aber dieſen Einen wird man frankreich nicht ſtreitig machen können , und welche andere Literatur, außer der deutſchen, hat denn mehr als einen Lyriker aller erſten Ranges aufzuweiſen ? Wie viele beſitzen auch nur einen einzigen ? Nuſjet iſt frankreichs größter Eyrifer, nicht nur im franzöſiſchen Sinne. Er war freilich franzoſe vom Scheitel zur Sohle, aber er war zugleich ein großer 16* 244 Ulfred de Muſſet. Menſchheitsdichter. Es geht mit ſeinem Ruhm wie mit den höchſten Bergen : ſie wacjen mit der Entfernung von ihnen . Heute ſchon ſteht nur noch Victor Hugo's lyriſcher Dichterkranz neben dem Muſſets in lebendigem Grün, wie wird es damit nach einem Menſchenalter ausſehen ?? Muſſet hat faſt all die Töne, die wir Deutſchen aus der Lyrik heraushören wollen , und dazu noch einige andere, die ihm oder ſeiner Nation eigen ſind. Er hat vor allem das Eine, was wir in den früheren Jahrhunderten der franzöſiſchen Poeſie ſo ſchmerzlich vermişten : den Ton der wahren Leidenſchaft. Villon , der Parijer Student und Gaſſenbube des 16 . Jahrhunderts, hatte ihit zuletzt beſeffen , — zwiſchen ihm und Muſſet, oder allenfalls noch Victor Hugo, Keiner. Muſſets Lyrik iſt eine ganz und gar perſönliche, die alles aus ſich ableitet und alles auf ſich zurückführt. Seine Sprache treibt Mißbrauch mit dem „ ich ". Aber das muß die Lyrik, ſie, die im höchſten Falle nicht mehr geben kann als das perſönliche Empfinden des Dichters in der Sprache der ganzen Welt. Bei Mujjet iſt alles innerlich. Nur eine ganz kurze Zeit , mit 18 oder 19 Jahren, hat er ſich in fremde Stimmungen hineingeſungen : in den „ Erzäh. lungen aus Spanien und Italien “, ſeiner erſten Ge dichtſammlung. Welche Glut der Sprache, welche Plaſtik der Lieder in dieſen Serenadenklängen an ſpaniſche Niarquiſinnen und italieniſche Blumenmädchen ! Alfred de Muſſet . 245 Und doch hatte der knabenhafte Dichter weder Spanien noch Italien geſehen ! Uber dieſe ſüdlichen Gewänder ſind nur eine loſe umgehängte Verkleidung : darunter ſchlägt das eigene Herz des Dichters der Luſt des Lebens entgegen. Dieſe Juanas und Pepas ſind die lockenden Geſtalten ſeiner nur zu wahren Träume. Muſſet hat die lyriſche Wahrheit. Der Lyrifer muß das nicht alles bis auf die Neige ſelbſt erlebt haben, was er ſingt, aber jeden Ton , den ſeine Leier von ſich gibt, muß er einmal vorher im eigenen Herzen gehört haben, vielleicht nur wie einen Traum : ton , wie von einer fernen Glocke im Walde ; jedoch gehört muß er ihn einmal haben, ſonſt kann er ihn nicht rein wiederklingen laſſen, und ein lyriſches Ohr hört aus dem weichſten Getön den inneren Mißklang heraus. Dieſe Eigenſchaft der lyriſchen Wahrheit hat ein großer franzöſiſcher Kritiker , Taine, rühmen wollen , als er von Muſſet ſchrieb : „ Der hat wenigſtens nie gelogen !“ Keine erlogenen Freuden , keine prahlhanſigen Liebeserinnerungen, und beſonders keine erfundenen Schmerzeit: „ Gott fragt, ich muß ihm Antwort geben ; Mir blieb als einz'ges Gut vom Leben : Daß manchmal ich in ihm geweint. “ ( Uus dem Sonett » Tristesse« ). Noch energiſcher bezeichnet er die Quelle ſeiner Lieder in der wunderſchönen Stelle des „ Briefes an Lamartine " : 246 Ulfred de Muſſet. J'ai connu , jeune encore , de sévères souffiances ; J'ai vu verdir les bois et j'ai tenté d'aimer. Je sais ce que la terre engloutit d'espérances, Et pour y recueillir ce qu'il faut y semer . Mais ce que j'ai senti , ce que je veux t'écrirt , C'est ce que m'ont appris les anges de douleur ; Je le sais mieux encore et puis mieux te le dire, Car leur glaive, en entrant, l'a gravé dans mon coeur. Dieſe Ehrlichkeit der Lyrik Muffets läßt fich felbft an einem ſeiner Mängel iachweiſen : er hat keinen Naturſinn. Auch Byron iſt ein ganz und gar per: fönlicher Dichter, aber er zwingt der Natur ſeine per: fönlichkeit auf , wie er andrerſeits ſich ſelbſt ganz der Macht der Naturſchönheit anheimgibt; darum iſt er zugleich ein großer Lyriker und der größte dichteriſche Beleber der Natur. Muſſet hat von dieſer Gabe nichts ; aber es iſt leicht erklärlich, warum ? Er hat außer dem Pflaſter der Pariſer Boulevards ſo gut wie nichts von der Erde geſehen ; er hat nie eine Reiſe gemacht. Doch, ein einziges Mal nach Venedig, mit George Sand; aber damals war er verliebt, und was ſehen Verliebte von den Schönheiten der Natur ? nichts , als was fich im Zuge der Geliebten ſpiegelt. Auf der Heimreiſe von Venedig, die er allein machte, war er unglücklich, und die Unglücklichen haben die Blicke nur in ihr Inneres gekehrt . Aber weil er nichts geſehen hat, hat er auch nichts davon geſungen ; er nennt wohl ge legentlich ſolche allgemeine Dinge wie ein Kornfeld, den Ocean , den Wald, aber man ſieht dieſe Dinge nicht , und er hält ſich auch nicht lange bei ihnen auf . Alfred de Muſſet . 247 Ein fehler das , ganz gewiß, aber der fehler einer Tugend. Im Uebrigen ſteht ihm , wie geſagt, jeder Ton der echten Lyrik zu Gebote. Er hat z . B. alles , was Heine an guten Eigenſchaften beſitzt, und wenn er auch einige von Heines ſchlechten Eigenſchaften zeigt, dann doch in weniger verletzendem Maße. Ihn bewahrte vor den ärgſten Ausſchreitungen des Heineſchen Stils ſein feinerer Geſchmack, das Erbteil einer längeren forment: ſchulung ſeiner Nation. Zum wahren Lyriker gehört das gewiſſe halbdunkel der Seele und der Sprache, die Traumſtimmung. Auch ſie beſitzt Muſſet, merkwürdig genug für einen franzoſen des 19. Jahrhunderts. Was ſind ſeine vier berühmten „ Nachtgeſänge“ anderes als ergreifende Traumbilder ? Und ſolche Gedichte wie das „ Lucie“ betitelte ! Um ſchönſten offenbart ſich dieſe poetiſche Gabe Muſſets, die Seele des Leſers mit der Traumſtimmung wahrer Lyrik zu umfangen, in einigen ſeiner kleinen D men und Proverben. Er hat in dieſer Beziehung Dinge geſchrieben, die an Shakeſpeares Sommernachts traum erinnern : ſo duftig und luftig, ſo ganz hinaus: gehoben über den Bann des Jrdiſchen ſind ſie. Da iſt z . B. „ Carmoſine“, die Muſſet eine Komödie in 3 Acten nennt, die aber nichts iſt als ein reizender Dichtertraum in drei Viertelſtunden . Ein Land: mädchen, das aus ſchwärmeriſcher Liebe zum Könige 248 Alfred de Muſſet . von Spanien dem Tode nahe iſt, wird durch ihren ge liebten König und ſeine Königin vom Liebestode gerettet. Es iſt unglaublich, mit wie einfachen Mitteln, unter Ver ſchmähung ſelbſt des Versſchmuckes, Muſſet hier die wunderbarſten Wirkungen erzielt . Das iſt alles viel zu ſpinnwebezart fiir die Bühne. Nur einige feine Salonikomödien Muſſets ſind auf dem Theater möglich und haben da Glück gemacht. So ruht auch auf ſeinen Novellen ein unſagbarer Reiz ſprachlicher Keuſchheit und Grazie , der ſelbſt über ſolche Abgründe, wie die in den „ Bekenntniſſen eines Kindes des Jahrhunderts“ , eine verhüllende Wolke breitet. Er iſt ein Realiſt, wie die meiſten franzoſen, aber er hört nie auf ein Dichter zu ſein. Was ihn aber auch für ein deutſches Ohr am eheſten als einen echten Lyriker ausweiſt , iſt ſein wunder: barer lyriſcher Tonfall. Auch Victor Hugo hat ihn zu : weilen, aber nur wie durch einen glücklichen Zufall . Bei Minſjet gehört er zum Weſen der Dichtung. Ganz gleich : gültig, ob er in Ulerandrinern oder ſonſt einein wenig lyriſchen Mietrum ſchreibt : die lyriſche Stimmung durch flutet alles mit ihrem Wohllaut. Seine Verſe ſind mit weniger Sorgfalt gebaut, als ſonſt bei einem namhaften Dichter ; die franzöſiſche Silbenkritik hat ihm falſche Reime in fülle und Nachläſſigkeiten jeder Art nachgewieſen , aber er hat den Vorwürfen darüber vorgebeugt: „ Ich machte ſchlechte Verſe, ' s iſt wahr, doch Gott ſei Dank ! Als ich ſie ſo gemacht, hab' ich ſie ſo gewollt.“ Ulfred de Muſſet. 279 Der Ruhm iſt ihm geblieben : der rhythmiſch hin reißendſte Dichter der Nation zu ſein. Victor Hugo entzückt vielleicht das äußere Ohr mehr, - Muſſet füllt die innerſte Seele mit muſikaliſchem Zauber. Er hat nicht das , was die franzöſiſche Proſodie „reiche Reime“ nennt, drei- , vier : ſilbige Reime, erotiſche Reime nach der Urt Victor Hugo's, Theophile Gautiers und ferdinand freiligraths ; er macht auch nicht ſolche Seiltänzer - Kunſtſtiicke wie Victor Hugo in ſeinen „ Djinns “, wo Strophe anf Strophe um einen Versfuß anſchwillt oder abnimmt. Nein , Muſſet hat die metriſche Einfachheit , die wir von der Lyrik für untrennbar halten. Sie iſt nicht gleichbedeutend mit kunſtloſer Nachläſſigkeit, aber ſie verleugnet nicht die Reinheit der Empfindung, deren Ausdruck ſie ſein ſoll. So ſehr auch Muſſet nach dem Geiſte der franzöſiſchen Sprache und Verskunſt metriſch von der deutſchen lyriſchen Metrik abweicht, der dichteriſche Herzſchlag, den man Rhythmus nennt, iſt bei ihm dem deutſchen wunderbar ähnlich . Man leſe „ fortunio's Lied " : » Si vous croyez que je vais dire « ( auf S. 10 dieſes Buches) . Oder man leſe ſelbſt ſolche Alexandriner, wie die des Liedes „ an Ninon “ in der Novelle „ Emmeline " : J'aime, et je sais répondre avec indifférence ; J'aime , et rien ne le dit ; j'aime, et seul je le sais ; Et mon secret m'est cher, et chère ma souffrance ; Et j'ai fait le serment d’aimer sans espérance , Mais non pas sans bonheur ; je vous vois , c'est assez. Non je n'étais pas né pour ce bonheur suprême, De mourir dans vos bras et de vivre à vos pieds , Tout me le prouve, hélas ! jusqu'à ma douleur même ... 250 Ulfred de Muſſet. Si je vous le disais, pourtant , que je vous aime, Qui sait , brune aux yeux bleus, ce que vous en diriez. Wenn man ſolche und ähnliche Verſe lieſt, ſo fragt man ſich : iſt denn das dieſelbe Sprache, in welcher Malherbe, Boileau, Jean- Baptiſte Rouſſean , ja Beran ger gedichtet haben ? Es ſind dieſelben Wörter, nicht ein einziges neugebildetes, ſie ſtehen alle ſchon im erſten Wörterbuch der Akademie von 1694, und doch, wie fremdſprachlich ſie klingen , verglichen mit der Sprache des 17. und des 18. Jahrhunderts! Hier haben wir einen greifbaren Beweis dafür, daß die Sprache eine organiſche Schöpfung iſt, die in der äußeren form unwandelbar bleiben und doch ihren geiſtigen und gemütlichen Gehalt vollſtändig ändern kann . Muſſet hat Leidenſchaft, nicht die wortreiche Victor Hugo's, ſondern die gehaltene Byrons. Er iſt bei aller Leidenſchaftlichkeit der wenigſt rhetoriſche unter den Komantikern. Er braucht keine Rhetorik, denn er will ja nichts beweiſen ; er hat keine Tendenz. Er reitet keine utopiſtiſch -ſocialiſtiſchen Steckenpferde wie Victor Hugo, er macht keine langatmigen Oden auf die Vorzüge der Republik vor dem Königtum ; und ſelbſt da , wo er ſich über das chicanöſe Preßgeſetz einmal poetiſch ausläßt, hält er keine allgemeine Rede über die geiſtige freiheit , ſondern verlangt nur für den Dichter das Recht, zu ſchreiben , was er wolle : „ Die Menſchen und die Dinge beim Namen zu benennen . “ Ulfred de Muſſet . 251 Wie ſollte er auch rhetoriſch ſein , mit jener Ub ſichtlichkeit, welche bei Victor Hugo unverkennbar iſt ? Er predigte keiner Schule, um ihn ſammelte ſich nicht, wie um Hugo, den » cher maître « , die Weihrauchfäſſer ſchwingende Gläubigenſchaar. Er hat nie auf einer Tribüne geſtanden , iſt weder Abgeordneter noch Senator geweſen ; er wollte auch nichts anderes ſein als ein Dichter : einen Poſten bei der Geſandtſchaft in Madrid hatte er ausgeſchlagen . Allerdings, in der Akademie hat auch er geſeſſen , das gehört nun einmal zum guten Ton ; aber er war einer der ſeltenſten Gäſte in der Geſellſchaft dieſer patentirten Unſterblichkeiten. Von ihm rührt der bekannte Vers her : „ Nackt wie der Rede: ſchwall des Akademikers . “ Muſſet hat die Beredtſamkeit des Herzens, nicht die der Lippen . Er ſagt ſelten mehr, meiſt weniger als er empfindet. Mit wahrer Entrüſtung ſchleudert er gegen die Wortemacher in der Poeſie ſeine Verachtung (in dem Gedicht Nach einer Lectüre " ) : „ Non, je ne connais pas de métier plus honteux, Plus sot , plus dégradant pour la pensée humaine, Que de se mettre ainsi la cervelle à la gêne , Pour écrire trois mots quand il n'en faut que deux, Traiter son pauvre coeur comme un chien qu'on enchaine, Et fausser jusqu'aux pleurs que l'on a dans les yeux . « Muſſet ſelbſt hat in einem ſeiner ſchönſten Gedichte dem obenerwähnten „Nach einer Lectüre “ , das Ge: heimniß aller Poeſie zumal der lyriſchen , mit beredten Worten verkündet; ſie enthalten alles, was man zur 252 Alfred de Muſſet. Definition der Lyrik ſagen kannt, und ſind ſelbſt ſchwung: vollſte Lyrik, wohl das Schwungvollſte, was wir über : haupt von Muſſet beſitzen : Celui qui ne sait pas, quand la brise étouffée Soupire au fond des bois son tendre et long chagrin , Sortir seul au hazard, chantant quelque refrain , Plus fou qu'Ophélia de romarin coiffée , Plus étourdi qu’un page amoureux d'une fée, Sur son chapeau cassé jouant du tambourin ; Celui qui ne voit pas , dans l'aurore empourprée, Flotter, les bras ouverts, une ombre idolâtrée ; Celui qui ne sent pas, quand tout est endormi, Quelque chose qui l'aime errer autour de lui ; Celui qui n'entend pas une voix éplorée Murmurer dans la source et l'appeler ami; Celui qui ne sait pas, durant les nuits brûlantes Qui font pâlir d'amour l'étoile de Vénus, Se lever en sursaut , sans raison , les pieds nus Marcher, prier, pleurer des larmes ruisselantes, Et devant l'infini joindre des mains tremblantes, Le coeur plein de pitié pour des maux inconnus : Que celui -là rature et barbouille à son aise , Il peut , tant qu'il voudra, rimer à tour de bras , Ravauder l'oripeau qu'on appelle antithèse, Et s'en aller ainsi jusqu'au Père Lachaise, Traînant à ses talons tous les sots d'ici - bas ; Grand homme si l'on veut, mais poëte, non pas ! « Nimmt man aber zu diejer Wahrheit der Leidenſchaft ſelbſt noch den intenſiven Schönheits finn, der Muſſet leitete und ihn zu dem Ausruf trieb : » Rien n'est vrai que le beau , rien n'est vrai sans beauté« , ſo hat man immer noch nicht den ganzen Muſſet. Er iſt ein großer Lyriker, aber er iſt auch ein franzoſe, und zwar ein franzoſe aus der beſten Alfred de Muſſet. 253 Geſellſchaft des 19. Jahrhunderts. Er hat Eſprit und verleugnet ihn ſelbſt in der innigſten Lyrik nicht. Der empfindſame Lyriker darf weinen wie ein törichter Knabe, aber er muß ſich , iſt er ein Gallier, die Tränen trocknen wie ein geiſtvoller Mann. Wie bei Heine ſchließen viele ſeiner innigſten Lieder mit einer Pointe ; aber niemals wird er dabei ſo abſichtlich verletzend, ſo brutal geſchmacklos wie Heine. Muſſets Eſprit erinnert an die überlegene ſcherzende Unmut griechiſcher Dichter ; er wagt ſid , vor bis an die Grenze der Wohlanſtän digkeit , aber er ſteht über den Dingen und trägt im Notfalle Handſchuhe. Er hat etwas Beſſeres als bloß Witz: er hat humor; galliſchen Humor frei : lich, lebhaft , aufgeregt, nicht tränenmüde wie der eng liſche. Humor hat Muſſets einziger Nebenbuhler in frankreich gar nicht : Victor Hugo hat weder Eſprit noch Humor, ſondern Sarkasmus und Pathos. Muſſet nimmt die leichten Dinge leicht, das vermag hugo nicht. „ Namon na “ von Muſſet bezeichnet das Gebiet, welches ihm allein in Frankreich eigen iſt, an deſſen Pflege man ihn unter Tauſenden erkennt: das der poe : tiſchen Plauderei. Er hat es nicht zuerſt entdeckt; Byrons „ Don Juan " hat ihm den Weg dahin gezeigt . Muſſet iſt darum nicht zum Nachahmer geworden, wenigſtens nicht an Byron : » Byron , me direz - vous, m'a servi de modèle . Vous ne savez donc pas qu'il imitait Pulci ? Lisez les Italiens , vous verrez , s'il les vole , Rien n'appartient à rien , tout appartient à tous « . 254 Ulfred de Muſſet. ,, Namounta " iſt ein Juwel, auch nach Byrons ,, Don Juan " und gleich :vertig mit Byrons ,, Beppo ". Beſſer als irgendeine Winſlet'ſche Dichtung zeigt ſie alle Seiten ſeines Weſens : die Leidenſchaft (in der Ub: ſchweifung über Mozarts und Molières Don Juan ), den Ejprit in jeder Strophe, den Wohllaut des Rhyth mus in jedem Verſe. Dabei hat der Dichter das weiſe Maß gehalten , welches dieſe den Leſer leicht ermüdende Dichtungsart erfordert. Byron iſt durch die Leichtigkeit ſeiner Verſi fication , aber auch durch den Mangel an jeder Rückſicht auf das Publicum in ſeinem ,, Don Juan " ins Maßloſe verfallen , und wälrend „ Namouna“ ein ſchönciſelirtes, fertiges Kunſtwerk geworden , iſt der „ Don Juan“ mit all ſeinen großen Schönheiten und ſeinen großen Längen ein coloſſaler, nie vollendeter Verſuch geblieben. Uuch an dieſem künſtleriſchen Maßhalten Muſſets erkennt man den franzöſiſchen Schriftſteller. Seine Stellung zu den Romantikern iſt nach dem , was ich über ſeine Unabhängigkeit, über ſein Nicht: ſchulemachen geſagt habe, leicht zu erraten . Er hat von ihnen nichts als einige Ueußerlich . keiten des Metrums und des Uusdrucks angenommen , und auch die nur in ſeiner erſten Gedichtſammlung ( 1829) . Da findet ſich z . B. das „ Stanzen “ betitelte Gedicht, in dem bunte Kloſterfenſter glühen und fromme mittel alterliche Kirchenglocken läuten, in einem offenbar Victor Ulfred de Muſſet. 255 des Hugo nachgeahmten Metrum . Uber ſchon in derſelben Sammlung ſteht jene tolle „ Ballade an den Mond“ , die durch Inhalt wie Metrum eine geradezu geniale Verſpottung des zur Manie gewordenen Romantismus enthält. Muſſet ſteht zu den franzöſiſchen Romantikern faſt genau ſo , wie Heine zu den deutſchen : ſie ſind beide keine Ueberläufer des Heeres , denn ſie hatten nie dieſem Heere und nun gar einem Heerführer den fahneneid geſchworen. Sie benutzten vom Romantismus, was ſich dichteriſch verwerten ließ , und blieben im übrigen für ſich. Muſſet hat an der theatraliſchen Entſcheidungs : ſchlacht um Hugo's Hernani ( 1830) feinen Anteil ge nommen . Mit 19 Jahren iſt er als Dichter aufgetreten, mit 47 Jahren geſtorben ( 1857 ) , jünger als irgendeiner der großen franzöſiſchen Schriftſteller, von allen in dieſem Buch behandelten der jüngſte. Die Poeſie tödtet ihre Prieſter in Frankreich ſonſt nicht ſo früh, wie in andern Ländern ! In den letzten ſieben Jahren hatte er nichts Bedeutendes mehr geſchrieben . Er hatte durch ſeine erſten Lieder die gebildete Juigend an ſich gefeſſelt ; ſie fühlte, daß aus ihnen das Herz eines jungen Dichters ihr entgegenſchlug. Und das iſt er während ſeiner ganzen Dichterlaufbahn geblieben : er hat etwas Jünglingshaftes bis ins Mannesalter hinein behalten ; ein reifes Mannesalter hat er nie erreicht. 256 Alfred de Muſſet . Mes premiers vers sont d'un enfant. Les seconds d'un adolescent , Les derniers à peine d'un homme« ſchrieb er in der Widmung an den Leſer im Jahre 1840. Er iſt nicht alt geweſen, nicht im Leben, nicht in der Poeſie, er wird nie veralten . SPEECE XVIII. Victor Hugo. ( Geboren 1802.) er vielſeitigſte und zugleich der einſeitigſte große Dichter ſeines Jahrhunderts. Blickt man auf die ungeheure Mannigfaltigkeit ſeiner Werke (in +5 großen Bänden ſoeben vollſtändig erſchienen ), ſo verliert man leicht die Einheit ſeines Weſens aus den Nugen ; und doch iſt Victor Hugo fiir Jeden , der auch nur die wichtigſten ſeiner Schriften kennt, in Allem derſelbe . Nan hört ſtets den nämlichen Ton aus aller Verſchie: denheit der Wörter : den lauten, heftigen Ton der Xhetorik. Victor Hugo iſt ein Redner in der Lyrik, er iſt ein Redner im Drama, ein Redner im Roman, in der Geſchichtsſchreibung, in allem was er je geſchrieben . Auch ſeine Verskunſt iſt rhetoriſch), – ſeine Aleran driner gewinnen erſt ihren richtigen Pomp, wenn man Engel, Piychologie. 12 258 Victor Hugo. LA fie laut lieſt. Ein Dichter wie er mußte zum Poli tiker , oder doch mindeſtens zum Parlamentsredner werden ; er verwechſelt ſeinen Schreibtiſch regelmäßig mit einer Rednertribüne. Uuch da , wo jeder nicht: rhetoriſche Dichter nur ein Schluchzen vernehmen läßt, die Naturlaute des Schmerzes, findet Victor Hugo die Haltung und den Tonfall des Redners . Darum muß man auch ſeine höchſten Leiſtungen auf dieſem Gebiet ſuchen, und ſo mißlich es iſt, aus einem Lebenswerk von ſolchem Umfang eine einzelne Stelle als Probe des Beſten auszuleſen , ſei es mir dennoch geſtattet, aus den „ Vier Winden des Geiſtes“ (vor vier Jahren er: ſchienen , aber viel früher geſchrieben) die Schilderung Ludwigs XV. herzuſetzen als ein Probeſtück für des Dichters beſte und einige ſeiner ſchlechteſten Seiten : Und nun den vierten König wie ſoll ich ihn ſchildern ? 1 ) Gekommen , um alles zu verderben und zu ſchänden , So war er nicht der König des Bluts, ſondern des Abſchaums. Der Undre ( Ludwig XIV . ) war die Sonne, dieſer fam und ward die Nacht. Er war der unreine Peſthauch, er war das Erlöſchen Des letzten Utems und des letzten Sonnenſtrahls. Er heißt Roßbach, - heißt Terray . Dahin alles Reine, Große, alles Heilige, Schöne, Wahre . Verderbtheit, Unzucht, Schamloſigkeit, Willkür, Ein teufliſcher Trieb , das Gegenteil zu verüben Von allem , was Ehre gebietet . Ein Satyr auf der Lauer. Schmutz und ridits, das war dieſer Menſch . Und doch war unter ihm eine Morgenröte erglüht, Ein neuer Tag brach an, es wehte ein neuer Hauch ; frankreich war eine Sdimiede, darin man hämnern hörte Den Hammer des Fortſchritts und den Umboß der Welt. 1 ) Die Ueberſetzung macht nicht den Anſpruch, metriſch zu ſein . Victor Hugo. 259 Alles ſtrebt zum Idealen, er taucht ſich in den Schlanım ; frankreich eilt dem Licht, er dem Schatten entgegen ; Genüber dem Reiche des Lichts baut er das Reich der Nacht, Im Angeſicht von Paris baut dieſer König Sodom ! Man ſuchte einen Namen für dieſen Menſchen : Seht : ſchleichende Gier, vergiftende Liebesbrunſt, Ulle Gemeinheiten und alle Ehrloſigkeiten , Uufatmen bei der Kunde vom Tod des eignen Sohns, Schachernd mit der Teurung und auf Gewinn bedacht Beim bleichen Hungerelend des eignen Volks. Calas läßt er rädern , Labarre lebendig brennen , Hart aus Stumpfheit und Weichlichkeit, ein Barbar, Um nur nicht die Mühe des Gutſeins zu haben Liliengeſchmücter Düngerhaufen , Vitellius Bourbon ! Im „ Hirſchpart " träumt er von Inquiſition , Sein Ziel iſt das Böje, der Koth iſt ſein Weg, Ein Menſch des Dunfels, ſich badend in Menſchenblut. Recht, Tugend Chimären, einen fußtritt dem Quark ! Bededt mit Infamie, von den Müttern verflucht. Kalt ſein Blick, Schmutz ſein Schritt, Stolz die Stirn , das Herz von Stein : Wie könnte ſein Namen anders als „ der Vielgeliebte“ ſein ?! Die vorſtehenden Zeilen ſind nur der dritte Teil des Originals, welches von Wiederholungen und Selbſt: überbietungen wimmelt. Man ſollte nun denken, mit dem Trumpf des Beinamens wäre das Stück zu Ende. Aber das iſt nicht Hugo'iche Urt : bei ihm übertrumpft ein Knalleffect immer den andern. -- Die Brandmarkung jenes allerdings ſcheuflichſten Monarchen Frankreichs ichließt fo : Des Todes Hauch traf endlich dieſes verruchte Haupt, Er gab der Nacht zurück, was man ſeine Seele nannte. Und als man ihn nun brachte beim dumpfen Klang der Glocken , Nach Saint- Denis, zu ruhn mit dem dunklen Haufen der Undern, Der Feige bei dem Starfen, der Schmutzige neben dem Rohen , Da jah man , während die Prieſter die Weihrauchfäſſer idywangen, Ein Riejeln und ein Sidern unter dem Königsjarge, 17* 260 Victor Hugo. Ein unnennbarer Regen , der um die Räder ſpritte, Vom Wagen niedertriefend den Straßenſchmutz befleckte. Und das war jener Herrſcher, jener ſtolze Königsiproß, Der Tropfen jo um Tropfen aus ſeinem Sarge floß ! Uuch damit ſchließt dieſes Nachtſtück noch nicht, aber der Leſer erläßt mir wohl die weitere Wieder gabe. Victor Hugo iſt nichts, wo er nicht Redner iſt. Alle guten und alle ſchlechten Seiten ſeiner Schriftſteller: art rühren von diejer Anlage her. Man beachte die hiſtoriſche Steigerung : Montaigne iſt der geſchwätzige Plauderer, Corneille der Declamator, Rouſſeau der Mann der Herzensberedſamkeit, - Victor Hugo der Redner ſchlechtweg. Will er den Tod ſeines Kindes beklagen , er hält eine Rede ; handelt es ſich um die Schilde: rung der Seelenleiden eines zum Tode Verurteilten, eine Rede ; um die Beſtrafung eines Staatsſtreichs, Reden ; in Verſen , in Proſa, aber Reden . Alle ſeine dramatiſchen Heldert und heldinnen reden nicht, ſondern ſie halten Reden. Es halten Reden die planeten, die firſterne , die Sonne, die Berge, die flüſſe , der Tod und das Leben , die „ vier Winde des Geiſtes“ , – alles Denkbare und vieles Undenkbare. Und zwar Tendenzreden ! Voll irgendeiner dun keln Weisheit, die nach Beendigung der Rede noch immer halbdunkel bleibt, voll prophetiſcher, orakelhafter Sprüche, die nur allzu oft ein Rätſel ſind für Weiſe wie für Toren , und vor allem wohlgeſpickt mit Unti theſen. Erkennt man Victor Hugo nicht in den erſten Victor Hugo. 261 beſten vier Zeilen an ſeiner Orakelweisheit, ſo erkennt man ihn ſicher an ſeiner Untitheſenſicht. Die Antitheſe iſt die form ſeines Denkens; er denkt nach zwei Seiten , pendelartig. Er glaubt, nichts geſagt zu haben, wenn er nicht das Geſagte durch deſſen Gegenſatz bekräftigt. Man prüfe darauf hin noch einmal die obige Probe ! Daß eine ſolche Art des Denkens und des Dichtens das gerade Gegenteil der Lyrik iſt, brauche ich kaum erſt zu beweiſen . Die Lyrik verlangt die Vertiefung auf einen Punkt, die Einſeitigkeit des Gefühls und der Unſchauung. Die Untitheſe eignet ſich dagegen vor: trefflich für die Rhetorik, da wirkt ſie als ein geiſt reicher Schmuck; aber die Lyrik ſoll nicht geiſtreich ſein, wenigſtens nicht in erſter Linie. Der Untitheſe hat Victor Hugo die größten Opfer gebracht. Er iſt conſequent in ihr , er überträgt ſie bis in ſein intimſtes Leben . In den Flitterwodyen feiner mit 20 Jahren geſchloſſenen Liebesehe ſchreibt er ſein qualvollſtes Buch : „ Der letzte Tag eines zum Tode Verurteilten “ ; und der Reiz, der er als Dichter um ſeine Großvaterſchaft gewoben, rührt auch her von der Luſt an der Untitheſe. Man verkauft in Paris eine Photographie des greijen Victor Hugo, der ſeine Enkel kinderchen Jeanne und George auf den Knieen hält , und deſſen ſchneeweißes haupt zwiſchen den lachenden Kinder: geſichtern allerdings die merkwürdigſte Antitheſe darſtellt. Ganze Gedichte Hugos ſind auf den Effect eines padenden Gegenſatzes zugeſpitzt . Aus dem Stoff fiir 262 Victor Hugo. den ein kurzes Epigramm wird unter ſeinen Händen eine feitenlange Rhapſodie. Ju den ſchon erwähnten „ Vier Winden des Geiſtes“ findet ſich ein „ Lied “ , deſſen erſte vier Strophen Bilder tiefſten friedens, reinſten Glückes entrollen . „ Ich liebe,“ ſagt der Dichter, „ einen Zug palmentragender Nonnen mit langen Schleiern, ich liebe den Ringeltanz lachender, roſiger Kinder, dent Liebestraum einer Jungfrau, die weint, ohne zu wiſſen warum , meine Enkelinnen Jeanne und Marguerite, wie ſie mit flügelchen an den Füßen über die Uuen fliegen .“ Und dann plötzlich : Doch der Traum , der mir ganz meine Seele umfangen , Draus mein Herz ſich erfüllt mit der ſüßeſten Cuſt, Iſt das Bild eines röchelnden Völkertyrannen Mit dem Schwert in der Bruſt! Das nenne ich doch eine Untitheſe ! Aber nein, wiederum iſt der Dichter nicht ganz befriedigt : ſchon das folgende Gedicht erfindet einen neuen Gegenſatz : Mit dem Schwert, aber nicht mit dem Dolche des Mörders Die Sucht der Untitheſe erklärt das Meiſte deſſen , was Victor Hugo's Auffaſſung und Stil vor allen Andern auszeichnet. Seine Uebertreibung z . B. entſpringt aus nichts anderm . Um die Untitheſe wirkſamer zu machen, muß er die beiden Gegenſätze möglichſt von einander entfernen , muß er nach beiden Seiten über treiben : Paris und Sodom ; der ſtolze König und die zerfließende Leichenfäule ; der Lilienmantel und der Düngerhaufen ; die engelhaften Kinder und der ver: Victor Hugo. 263 röchelnde Tyrann. Daher die Maßloſigkeit ſeiner Darſtellung , – ſchon in Neußerlichkeiten. Der Roman » Les Misérables « ſchwillt auf zehn Bände an : das Drama „ Cromwell" iſt ein Band von 600 Seiten . Die Phantaſie des Dichters iſt bewunderniswert, aber ſie raſet durchs Weltall wie ein tollgewordener Komet, und weder der Leſer noch der Dichter ſelbſt vermögen ihren Rieſenſprüngen zu folgen. Nur das Gigantiſche dünkt ihm poetiſch, nur das Uußerordentliche. Die Menſchen reizen ihn nur, wenn ſie diesſeits oder jenſeits der Menſchheitgrenzen ſtehen : nur die großen Ver: brecher, die Tyrannen und Ketzerrichter, oder die Aller : weltsdirnen und Giftmiſcherinnen , die Zwerge wie Triboulet, die Ungeheuer wie Quaſimodo und der , lachende Mann " . Schön iſt häßlich, häßlich ſchön, das iſt Victor Hugo's Zauberſpruch . Er liebt das Häßliche aus Untitheſenſucht, weil alle Welt es haßt, woher ja auch deſſen Namen . Eines ſeiner Jugend gedichte fängt an : Ich liebe die Spinne und liebe die Diſtel Weil alles ſie haßt. Je häßlicher, je abſtoßender, je verbrecheriſcher, je verächtlicher eine figur, deſto beſſer: er macht aus dem Verbrecher Jean Valjean ein Muſter menſchlicher Opferfähigkeit , aus Lucrezia Borgia die heldin der Mutterliebe, aus Marion Delorme einen Engel ſeeliſcher Keuſchheit , aus Torquemada einen Märtyrer echter Mienſchenliebe ! 264 Victor Hugo. Die Luſt am Grauſigen bei Victor Hugo iſt gewiß weniger ein Ausfluß ſeines Gemütes als ein künſt: leriſcher Handgriff, entnommen der Rüſtkammer ſeiner Allerwelts - Antitheſe. Der Leſer ſchaudert vor dem Grauſigen zdırück , Grund genug für den Dichter, es ihm nicht zu erſparen . Der ganze Roman „ Die Meer: arbeiter “ iſt vielleicht nur geſchrieben worden, um die Schilderung des Kampfes eines Tauchers mit dem Ungeheuer von Octopus ( la pieuvre) anzubringen. Gewiß beſitzt Victor Hugo eine ungemeine Ge ſchicklichkeit in der Steigerung der Effecte. Niemand verſteht es ſo gut wie er , ſich ſelbſt zu überſchreien. Aber gerade bei ſeinem Bemühen, durch die wichtigen Maffen zu wirken , verfällt er oft genug in die baarſte Plattheit, ja in die Pedanterie. Will er irgend einen Satz durch ein Beiſpiel aus der Geſchichte belegen , ſo begnüigt er ſich nicht mit zwei oder drei fällen , ſondern er ſetzt alle Jahrhunderte in Contribution . Die älteſten aſſyriſchen, hebräiſchen und egyptiſchen Könige, die unbekannteſten griechiſchen und römiſchen Namen, die dunkelſten Ehrenmänner des Mittelalters und der Neuzeit treten für ihn in Reih und Glied. Es finden ſich bei Victor Hugo ganze Seiten voll hiſtoriſcher und geographiſcher Namen , von derſelben Langweile, aber von geringerer Naivetät als der „ Katalog der Schiffe" in der Ilias. Welche Pedanterie ! welcher Ungeſchmack ! Selbſt in einem allerliebſten Gedichtchen , einem Kinder reigen für Jeanne und George (in der Sammlung Victor Hugo. 265 11Die Kunſt des Großvaterſeins “ ), muß er die griechiſchen Namen der drei Steuerleute des Odyſſeus anbringen : Jaſon, Palinurus und Typhlos, - worüber ſich Jeanne und George gewiß höchlich ergötzt haben . Natürlich paſſiren ihm bei ſolchen Aufzählungen nach hiſtoriſchen Leitfäden auch ſolche kleine Menſchlichkeiten wie die , daß er Gutenberg zum franzoſen macht; aber das ſchadet ihm in frankreich nichts . Der Troſt ſolchen Lächer: lichkeiten gegenüber liegt in dem Spruche Rochefoucaults : „ Nur großen Männern iſt es geſtattet, große Fehler zu haben .“ Victor Hugo's Sprache iſt oft zum Gegenſtande der Verſpottung gemacht worden ; es gibt höchſt gelui gene Parodien namentlich auf ſeinen Proclamationsſtil, der eigentlich ſelbſt ſchon wie eine Parodie klingt. Als während des letzten deutſch -franzöſiſchen Krieges der Abgeordnete Ludwig Bamberger ſich den Scherz machte , eine Epiſtel an Europa als von Victor Hugo herrührend ausziigeben , glaubte alle Welt an die Echt heit . Nun fängt zwar die wahre Beriihmtheit erſt mit dem Parodirtwerden an , aber es iſt immer ein böſes Zeichen für den Stil eines Schriftſtellers, wenn man ihn bis zur Täuſchung nachahmen kann ; denn das Große, das wahrhaft Originelle kann kein Zweiter Einem nachmachen ; die Parodie heftet ſich doch nur an das Triviale. 266 Victor Hugo . La Auch hierfür liegt der Schlüſſel in der Rhetorik des Hugo'ſchen Stils . Er ſchreibt die Sprache eines hohenprieſters; Büchertitel , Capitelüberſchriften , Inhalt alles atmet den Dichter, der in pontificalibus das Hochamt der Poeſie zu verrichten glaubt. Beileibe nicht einfach und natürlich direiben , - es muß alles myſtiſch, pythiſch, druidenhaft klingen , wie aus den Verzückungs dünſten des delphiſchen Dreifußes. Da findet Victor Hugo in ſeinem Manuſcriptenſchrank mehrere politiſche, ſatiriſche Gedichte, eine längere Dichtung über die letzten vier Könige frankreichs bis zu Ludwig XVI . , zwei miflungene dramatiſche Skizzen , einige lyriſche Strophen. Er packt das alles zuſammen, wogegen ſich ja nichts einwenden läßt —, und benennt die beiden Bände ganz im Sprachgebrauch der Offenbarung Johannis: „ Die vier Winde des Geiſtes." Warum vier Winde ? Nun, weil Lyriſches , Epiſches, Dramatiſches und – Satiriſches darin ſteht. Als Probe für die Sprache wähle ich die Wahl iſt leicht zu treffen – irgend eine Vorrede ; in dieſen offenbart ſich ſein Hang nach der myſtiſchen Phraſe am ſchönſten. Um 26. februar 1880 ſchrieb er eine Ein leitung zu der Uusgabe ſeiner Werke letzter Hand ; ſie ſteht vor dem Bande der „ Oden und Balladen“ und lautet im Uuszuge: „ Jeder Menſch, der dreibt, ( dzreibt ein Buch . Dieſes Buch iſt Er. Ob er es weiß oder nicht, ob er es wolle oder nicht, es iſt ſo . Wir leſen die Belagerung Trojas, wir ſehen Achill , Hektor, Uliſſes, die Ujar, Ugamenninon ; wir fühlen in dieſem ganzen Werke eine Majeſtät; Victor Hugo. 267 es iſt die des Verfaſſers. Hat_Zoilus es geſchrieben ? Sehen wir zu , was er hinterlaſſen hat. Er iſt ein Grammatifer, Erklärer, Gloſſator geweſen ; jede Zeile atmet : Zoilus . Während ihr die Jlias vor euch aufgeſchlagen habt, hört ihr die Stimme der Jahrhunderte jagen : Homer. – So erſcheinen uns Vejchylus, Uriſtophanes, Herodot, Pindar, Theofrit, Plautus, Virgil, Horaz, Juvenal, Tacitus, Dante“, u . 1. w. , u . ſ . w . Die Stelle iſt nicht nur charakteriſtiſch wegen ihrer pedantiſchen Aufzählung von allerhand Namen, ſondern vor allem wegen der prieſterlichen feierlichkeit, mit der was geſagt wird ? Die Trivialität, daß Homer anders geſchrieben hat, als Zoilus ; mit einem Wort : daß jedes Jndividuum ein Jndividuum iſt. Aber Victor Hugo hat eine anbetende Schaar von jungen Opferprieſtern um ſich, die dergleichen als die höchſte Weisheit bewundern und ſo die Wortberauſchung des Meiſters ewig neu nähren . Man glaube auch nicht, daß erſt die Majeſtät des hohen Alters dem Dichter dieſen unmöglichen Stil verliehen ; ſo hat er mit 50 Jahren, ſo hat er mit 25 Jahren geſchrieben. Und ſo wird er ſchreiben , bis dem nimmermüden Greiſe der Tod ſanft die feder aus der Hand nehmen wird. Victor Hugo hat gar nichts Jugendliches ; er hat es auch nie gehabt. Er iſt nie jung geweſen und iſt nie alt geworden. » Enfant sublime « , ein erhabenes Wunderkind hat ihn Chateaubriand genannt, und ein Wunderkind iſt er geblieben . Einmal hat er wohl eine Wandlung durchgemacht: als er die myſtiſche Schwär merei für ein Gottesgnadentum der Königsherrſchaft vertauſchte mit dem Gottesgnadentum der Volksherr 268 Victor Hugo. daft; im übrigen, in feinen Bildern , feiner Sprache, ſeiner Metrik iſt er heute nach 60 Jahren noch ganz derſelbe wie in den erſten Gedichten . Er hat nie das Geringſte von dem ſchönen Leichtſinn beſeſſen, der Muſets erſte Dichtungen ſo anziehend und fortreißend macht. Er war ja im angehenden Mannesalter ſchon das Haupt einer ſiegreichen Dichterſchule, ein Patriarch mit 28 Jahren. Es iſt kein rechtes Werden, kein Weiterwachſen bei ihm ſichtbar. Er ſelber hat and keine wahre Schaffensluſt, – wie könnte er ſonſt ganze Haufen von Manuſcripten länger als ein Menſchenalter im Schrank modern laſſen , wie er es mit der „ Ge: ſchichte eines Verbrechers“ , mit „ Torquemada “, mit den berühmten „ Vier Winden des Geiſtes“ und mehreren anderen Dichtungen getan ? Victor Hugo will nicht wie ein gewöhnlicher Dichter, und wäre es nach dem Zuſchnitt der größten, angeſehen werden. Er hält ſich von der Vorſehung auf die Erde geſandt zur Erfüllung einer beſonderen Miſſion . Welcher denn eigentlich ? das ſagt er nicht ; aber ſeine Jünger tun, als wüßten ſie es . Seine Dichtungen ſind neben ihrer poetiſchen Bedeutung noch irgend etwas Anderes, Höheres ; ein neueſtes Teſtament, in dem jeder Vers wörtlich und zugleich ſinnbildlich zu verſtehen ſei . Seine Helden ſind nicht Menſchen, wie Victor Hugo. 269 ſie fonſt in Dichtungen vorkommen , ſondern Symbole. Der Dichter ſangt ſeinen Geſtalten ſelbſt das Lebens: blut aus den Adern, bis ſie als blaſſe Schemien von Begriffen umherirren. Jean Valjean iſt nicht Jean Valjean , ſondern die Macht des Gewiſſens; Ruy Blas iſt der emporſtrebende dritte Stand, und was der Phantaſtereien mehr find . Wenn zwei Menſchenfinder ſich bei Victor Hugo küſſen, ſo iſt das kein Kuß zweier Lippenpaare, ſondern es berühren ſich zwei Principien oder zwei Welten mit den Lippen . In „ Notre Dame de Paris " hat er ein Wunderwerk der Belebung des Todten , der mittelalterlichen Kathedrale fertig gebracht; aber das Lebende lebendig zu geſtalten , vermag er nicht ; das tödtet er durch ſeine ewigen dogmatiſchen, metaphyſiſchen Spielereien . Echte Herztöne find bei dem Rhetoriker Victor Hugo erſchrecklich ſelten. Es iſt bemerfeitswert, daß nur ganz vereinzelte ſeiner Gedichte einen Componiſten begeiſtert haben . Um eheſten laſſen ſich noch aus den » Contemplations« einige von Rhetorik und Untitheſen ganz freie Stücke anführen ; es ſind die auf den jähen Tod ſeiner Tochter Leopoldine, welche bei einer Kahn fahrt ſammt ihrem Gatten ertrank. Ich mache den Verſuch einer Probe in rhythmiſcher, nicht metriſcher Ueberſetzung : Oh, ich war wie ein Toller im erſten Moment, Weh mir ! und ich weinte drei Tage bitterlich . Ich wollte mir die Stirn auf dem Pflaſter zerſchellen ; Dann wieder enipörte mein Herz fich, ergrimmt, 270 Victor Hugo. Jch bohrte den Blick in das Schredensereigniß, Und ich glaubte es nicht, und mein Herz, es ſchrie : Nein ! Kann Gott ſolch unſagbares Unglück geſtatten, Daß im Herzen die Qual der Verzweiflung erwacht ? Mir ſchien , als ſei das alles nichts als ein wüſter Traum, Als konnte ſie mich nicht, mich ſo nicht verlaſſen, Uls hört ' ich ſie lachen im Zimmer daneben, Und als müßte ſie treten zur Türe herein . O Gott, wie oft rief ich : Still, horcht, ſie hat geſprochen : Da ! das iſt das Geräuſch ihrer Hände am Schloß. Wartet, ſie kommt gewiß. Laßt mich, daß ich ſie höre, Denn ſie iſt irgendwo in dieſes Hauſes Bann. Sie hatte die Art, ſeit frühſten Kinderjahren , Jeden Morgen auf ein Weilchen in mein Zimmer zu hüpfen. Ich harrte ihres Schritts, wie man harrt auf die Sonne . Herein kam das Kind : Guten Morgen, Papachen, Nahm die Federn, beguckte Bücher und ſetzte ſich nieder Uuf mein Bett, durchframte meine Papiere und lachte . Huſch , auf einmal war ſie weg wie ein flüchtiger Vogel. Dann mit leichteren Kopf ergriff ich mein Tagwerk, Oft ſtieß ich beim Blättern der ernſten Manuſcripte Auf irgend einen Schnörkel, den ihr Fingerchen gezeicynet, Manch weißes Blatt war von ihrer Hand zerknittert, Uch, und gerade auf dieſen gelang mir der beſte Vers . Im Kreiſe ſeiner Enkel hat der Dichter dieſe Gabe der ſchlichten Naturwahrheit noch einmal wiedergefuns den. Unter den Gedichten der „ Kunſt des Großvater: ſeins “ ſind manche von entzückender Herzenseinfalt. Ueber die Keuſchheit ſeiner Muſe iſt überhaupt nur eine Stimme; nie hat Victor Hugo eine ſchlüpfrige Strophe geſchrieben , nie das weiße Prieſtergewand, welches er beim Dichten anlegt, durch irdiſche flecken beſudelt. Mit vollem Recht ſchrieb der sojährige Greis am Schluß der Einleitung zu der Geſammtausgabe : „ Bei allem Hader der Parteien, trotz Leidenſchaften , Victor Hugo. 271 Zorn und Haß, wird kein Leſer, er ſei wer es ſei, wenn er ſelbſt achtungswürdig iſt. dies Buch aus den Händen legen, ohne den Verfaſſer zu achten ." .- Dieſe Uchtung wird ihm auch von Solchen gezollt, die ihn aus politiſchen oder ſelbſt aus literariſchen Gründen befeh. den. Vergleicht man ihn, der doch gleichzeitig mit dem Jungen Deutſchland groß geworden , mit den unfrucht baren Weltſchmerzlern unſerer vormärzlichen Tage, ſo muß man ſagen , Victor Hugo hat einſt ïi ber ſeiner Zeit geſtanden. Statt des Weltfchmerzes hat er das große Weltmitleid, das ihn zum dichteriſchen Anwalt alles irdiſchen Unrechts wie er es verſteht macht. Seit nunmehr 60 Jahren bekämpft er die Todesſtrafe, oft mit rührender Naivetät ; aber wer möchte einem ſolchen Kampfe die Achtung verjagen ? Und wer ſich in Deutſchland durch die verletzenden Uus: brüche feines Nationalgefühls nach 1871 abgeſtoßen fühlt, der leſe die Schlußworte ſeines Briefes an die frauen von Guerneſey, worin er während des Krieges zur Spende von Charpie aufforderte : „ Wenn Sie ernſtlich wollen , können wir in kurzer Zeit ein beträchtliches Quantum Charpie zuſammen : bringen . Wir werden hier zwei gleiche Teile daraus machen und den einen an die franzoſen, den andern an die Preußen ſchicken . “ Er hat ſein Wort wäh. rend des ganzen Krieges gehalten . 2 . XIX. Alerander Dumas Sohn . ( Geboren 1824. ) r iſt weder der tiefſte unter den drei großen mo: dernen Dramatikern frankreichs, -- denn das iſt Augier ; noch der ſpannendſte, das iſt Sardou. Jch wähle aber ihn, den berühmt gewordenen Sohn eines berühmten Vaters , als typiſchen Vertreter des neueren Dramas, weil er am conſequenteſten die Aufgabe der Bühne durchgeführt hat, wie ſie das jetzige Publicum in frankreich verſtanden wiſſen will. Augier hat noch zu viel von der ernſten Charakterkomödie Molières , Sardou erinnert bedenklich an die Poſſe; Dumas iſt der Dramatiker nach dem Herzen jener franzoſen, die in einem Drama vor allem einen „ Handel" ſehen, der : ſelben franzoſen , zumal der franzöſinnen , welche ſich bei einer irgendwie intereſſanten Gerichtsverhandlung um die Eintrittskarten zu den Zuſchauertribünen reißen. Alerander Dumas Sohn . 273 Dumas Sohn iſt der Advokat auf dem Thea: ter, der Plaideur, bald Vertheidiger, bald Staats: anwalt. Das wäre nichts Uebles, wenn er Perſonen verträte, wenn er Menſchen im ernſten Rechtshandel um das Mein und Dein der Perſönlichkeit vorführte. Aber er will mehr, und das iſt ſeine dichteriſche Schwäche. Er will, ähnlich wie Victor Hugo, nicht mit Individuen zu thun haben , ſondern mit Principien ; darum die Blaßheit und Verſchwommenheit faſt aller ſeiner Perſonen. Sie ſind Repräſentanzmenſchen, aber keine Einzelweſen ; ſie vertreten gewiſſe Geſellſchafts: kreiſe , gewiſſe Tuigenden und Laſter, gewiſſe krankhafte Entwickelungsſeiten der neueren Geſellſchaft, aber ſie vertreten nicht ſich ſelber. Das Symboliſiren, dieſe Hugo’iche Krankheit, hat auch Dumas ergriffen . Daher die Schattenhaftigkeit ſeiner Menſchen ; man vergißt nichts ſo leicht wie ein Dumas'ſches Stück, denn vom Drama haften mehr die Menſchen als ihre Reden im Gedächtniſ. Menſchen aber kennt er nicht, ſondern Begriffe: Octave in » Monsieur Alphonse « iſt nicht ein beſtimmter junger Mann mit beſtimmten Eigen ſchaften, ſondern er iſt der Vertreter des „ Alphons: tums“ ; Marguerite Gauthier in der „ Kameliendame“ iſt die typiſche Modellfigur eines ganzen ,, Standes" ; und ſo könnte ich ſämmtliche Stücke, bis zur „ fremden “, durchgehen - : die Hauptperſonen ſind nirgends Einzel menſchen , ſondern Argumente einer Klage- oder Ver : teidigungsſchrift . Engel, Piychologie . 18 274 Ulerander Dumas Sohn. Dumas hat ſelbſt in vielen Vorreden ſeine Auf faſſung von der Rolle aiisgeſprochen , die das Theater in unſerer Zeit zu ſpielen habe. Da ihm nämlich die Stücke ſelbſt nicht hinreichen, ſeine Anſichten alle zu entwickeln , ſo muß er zu Vorreden ſeine Zuflucht nehmen ; einige dieſer Vorreden ſind länger als ein vieractiges Stück . Gar nichts will Dumas wiſſen von der „ Kunſt um der Kunſt willen “ . Das Theater folle keine bloßen Kunſtwerke, auch nicht bloße Unter: haltung bieten ; dazu ſei unſer Jahrhundert zu abgehetzt, zu haſtig, um ſo viel Zeit allabendlich nur der Kunſt oder dem Vergnügen zu widmen . In der Vorrede zum „ Natürlichen Sohn “ ſteht ſein dramatiſches Glaubens: bekenntniß , welches merkwürdig mit dem von Schiller aufgeſtellten übereinſtimmt ( in deſſen Uufſatz „ Die Bühne als moraliſche Unſtalt betrachtet“ ) . Dumas nennt ſein Theater ,, das nützliche Theater" ; er ver: langt von der Bühne der Gegenwart poſitive Lei ſtungen auf moraliſchem Gebiet : „ unſer Theater ſoll für das Gute tun, „ Tartüffe“ gegen das Schlechte getan .“ Er ſpricht von einer „ civiliſato . riſchen “ Aufgabe des Theaters und, damit kein Zweifel ſei , ſagt er ganz offen : „ Ahmen wir das Theater Voltaires nach , für den es nur eine Tribüne war. “ „Wir machen Theater auf offenem Platz , “ ruft er im „ Natürlichen Sohn “ aus. Und das iſt derſelbe Dumas, den man in Deutſch . land kurzweg als den Erfinder und Hauptpfleger des was Alerander Dumas Sohn . 275 „Ehebruch dramas" bezeichnet ? Derſelbe ! Benutzen wir dieſe Gelegenheit, um einen ſehr gehäſſigen Jrrtum zu berichtigen , der lediglich der Macht der Phraſe 311zu : ſchreiben iſt. Was heißt „ Ehebruchdrama“ ? Und welcher Vorwurf trifft einen Dichter, der mit Vorliebe den Ehebruch zum dramatiſchen Conflict wählt ? Zu nächſt : ſind wirklich die meiſten der Dumas'ſchen Dramen Ehebruchdramen ? Durchaus nicht, es ſei denn, daß man unter Ehebruch jede Art der Beziehung zwiſchen Mann und Weib begreift. Die Zahl der Dumas’ichen Stücke, in welchen weder Ehebrecher noch Ehebrecherin nach gewöhnlichem Sprachgebrauch eine Rolle ſpielen , überwiegt die der anderen . Und ſelbſt in ſeinen wirklichen ,, Ehebruchy " Dramen - macht ſich der Dichter etwa zum Verteidiger des Ehebruchs ? Beſchönigt er ihn ? Empfiehlt er ihn ? Ganz und gar nicht ; er beklagt ihn ; er verlangt in den Fällen , wo eine Schuld vorliegt, die Strafe ; er iſt bekanntlich bis zu dem grauſamen „ Tödte ſie ! " nämlich die Ehe brecherin gegangen. Über da , wo keine Herzens: und Gewiſſensſchuld vorliegt, wo in das Herz der wider ihren Willen verſchacherten Gattin eines un : wirdigen, ungeliebten , untreuen Mannes eine echte Liebe einzieht, da verlangt Dumas die Ehe ſcheidung. Das iſt der Angelpunkt all ſeiner Ehe: dramen, und mit der liebenswürdigen Offenherzigkeit , welche ihn auszeichnet, hat er ſelbſt ſchon vor Jahren, in der Vorrede zu der „ fremden “, erklärt : „ Die 18 * 276 Ulerander Dumas Sohn. Kammern brauchen uns nur die Scheidung zu gewähren , und eine der unmittelbarſten folgen dieſes Votums wäre die plötzliche und vollſtändige Umgeſtaltung unſeres Theaters. Die betrogenen Ehemänner Nolières und die unglücklichen frauen der modernen Stücke würden von der Bühne verſchwinden, denn nur die Unlöslichkeit der Ehe gibt den Grund her zu den geheimen Rachetaten oder den öffentlichen Klagen ehebrecheriſcher frauen . “ Mit dieſem factor eines faſt ausſchließlich fran zöſiſchen Rechtszuſtandes muß man rechnen, wenn man gegen das Drama Dumas' und ſeiner Genoſſen nicht wigerecht ſein will. In frankreich allein gibt es ſelbſt nach dem bürgerlichen Geſetzbuch bis zu dem Uugen blick, wo dieſe Zeilen geſchrieben werden, feine Ehe ſcheidung. ) Kein Wunder, daß ein Mann wie Dumas, an dem ein Advokat und ein großer Parlamentsredner verdorben iſt, bei ſeinen Unſchauungen über die Auf gabe der Bühne aus dieſer eine Tribüne gemacht hat , von der er einen feldzug führt um die Eheſcheidung . Wenn dermaleinſt in frankreich kommen alle heiljamen Reformen langſamer zu Stande als blutige Revolutionen wenn dermaleinſt die Eheſcheidung wirklich zur geſetzlichen Wirklichkeit geworden ſein wird , ſo hat Dumas ſich ein unberechenbares Verdienſt um ihr Zuſtandekommen erworben . Keiner hat ſo lange, ſo laut und ſo überzeugend wie er die Sache der 1 ) In den Tagen , wo dieſe Bogen gedruckt wurden, pafſirte das Geſetz über die Einführung der Eheſcheidung die franzöſiſchen Kanimern . Alerander Dumas Sohn . 277 menſchlichen freiheit auch in den heiligſten Fragen des Herzens verfochten. Den Schuldigen der Tod ! den Schuldloſen die freiheit ! das iſt mit kurzen Worten die Moral dieſes Dichters der verläſterten „ Ehebruch dramen “ . Daß dieſe ſchrecklichen Stücke in Deutſchland ein ebenſo großes, wenn nicht größeres publicum als in Frankreich gefunden haben , nur beiläufig. Läge etwas Verderbliches in dieſer Literatur, ſo hätte Deutſch land den größeren Teil an dieſem Verderb, denn ihm mangelt ja ſogar die Entſchuldigung, daß es ſich um die dramatiſche Behandlung von Rechtszuſtänden des eigenen Volkes dreht ! Dumas iſt der Dramatiker „ des Kampfes zwiſchen Manit und Weib “ . Man kann nicht ſagen, daß dies ein ſchlechtes dramatiſches Tummelfeld wäre, höchſtens könnte man über die Einſeitigkeit eines ſolchen Dramatikers ſich beklagen. Aber in frankreich iſt das Princip der Arbeitsteilung auch in der Literatur ſtrenger durchgeführt als bei uns ; Jeder hat dort ſeine Specia: lität, in der er es niatürlich eher zu einer gewiſſen Meiſterſchaft bringt. Uebrigens hat Dumas noch ein andres Steckenpferd , und, wenn man ihn hört , iſt dies ihm das liebſte: die frage des Kindes. Man kann dieſer Seite ſeiner Tätigkeit eine gewiſſe Ritterlichkeit nicht abſtreiten : er iſt im buchſtäblichen Sinne des alten Ritterſchwurs der Schützer und Unwalt der Witwen und Waiſen der Liebe. In dem Kampf zwiſchen der Brutalität und Gewiſſen: 278 Ulerander Dumas Sohn. loſigkeit des Mannes und der liebenden , hingebenden frau ſteht er auf Seiten der frau, auch da , wo das Geſetz und die Geſellſchaftsmoral von ſeiner Ueber zeugung abweichen . Und nun gar das Kind ! „ Inmitten aller Kataſtrophen , die aus den menſchlichen Dummheiten hervorgehen, gibt es nur ein uns wirklich intereſſirendes Weſen , welches verdient, daß man immer wieder und ohne jede Einſchränkung ihm zu Hilfe komme, weil es ſtets ohn Schuld unglücklich iſt: das iſt das Kind !" ( Vorrede zu » Monsieur Alphonse « ). Natürlich handelt es ſich um das uneheliche Kind, denn die andern haben Beſchüter genug, vor allem das Geſetz. Hier iſt der Punkt, wo Dumas aus der fülle des Herzents dichtet: er ſelbſt iſt ein ſolches uneheliches Kind, kein ungliickliches , denn einen angenehmeren natürlichen Vater konnte er ſich ſchwerlich wünſchen als Dumas Père. Aber den Makel der unehelichen Geburt muß er ſelbſt gefühlt haben, ſonſt hätte er nicht mit ſolcher Leidenſchaft immer und immer wieder ſich zum Unwalt der armen Weſen gemacht, welche in den meiſten Fällen weder Vater noch Mutter haben. Wieder iſt es ein Paragraph des Code Napoléon , gegen welchen Dumas ſeine Angriffe richtet : der Pa ragraph , der den Nachweis der Vaterſchaft verbietet , auch eine ausſchließlich franzöſiſche Rechtsanſchauung und darum nur auf franzöſiſchen Bühnen mit Recht verwendbar. Das uneheliche Kind, dieſes ſo „ intereſſante Weſen " iſt Dumas' Hauptfundgrube. Er zeigt es in Ulerander Dumas Sohn. 279 jeder Geſtalt: als frühreifes kluges Ding (Udrienne in „Monſieur Alphonſe" ), welches ſtärker als die eigene Mutter iſt in der Verheimlichung der Wahrheit, oder als Muſtermenſchen ( Jacques im „Natürlichen Sohn " ), der auf das Haupt ſeines höchſt unnatürlichen Vaters feurige Kohlen ſammelt. In der „ Uffaire Clémenceau “, in den „ Ideen der Madame Yubray" ſpielt das uns eheliche Kind gleichfalls eine wichtige Rolle. Dumas' Theſe iſt ſehr einfach ; ſie ſteht in der Vor: rede zum „ Natürlichen Sohn “ : „ Wenn ein Mann der Mutter ſeines Kindes nichts weiter vorzuwerfen hat, als daß ſie nicht hunderttauſend franken Rente beſitzt, ſo iſt es ſeine Pflicht, ſie zu heiraten, als ob ſie ſie hätte." Etwa der Mutter wegen ? Die kommt ihm erſt in zweiter Reihe - : des Kindes wegen ! Denn wißt ihr, fragt er, was geſchieht , wenn ihr ſie nicht heiratet, wenn ihr nicht die Schande und das Elend von ihr abwehrt ? Es verkommt, d . h . in ſo viel und ſo vielen Fällen von hundert wird es vor der Geburt, in ſo und ſo vielen nach der Geburt gemordet, bald ſchnell durch den Kindesmord ſeitens der Mutter, bald langſam durch die „ Engelmacherinnen “. In der Vorrede zum » Monsieur Alphonse « gibt Dumas einen wahrhaft er : ſchreckenden Auszug aus der Sterblichkeitsſtatiſtik über die unehelichen Geburten. Un der coloſſalen Kinder: ſterblichkeit in Frankreich ( 360000 Todesfälle auf eine Million Geburten jährlich ) hat die Unehelichkeit der Geburt einen furchtbaren Anteil. 280 2lerander Dumas Sohn. Um dieſen Zuſtänden ein Ende bereiten zu helfen , iſt Dumas jedes Mittel der Polemik recht. Seiner Un: waltſache zulieb macht er aus den unehelichen Kindern ſeiner Stücke lauter Anwärter auf den Montyon'ſchen Tugendpreis und aus den unehelichen Vätern lauter Scheuſale. Er gibt ſelbſt zu, daß die Wirklichkeit ſich oft anders verhält, aber erſt komint ſein Client, dann ſeine Kunſt. Man kann die dichteriſche Uneigennützig keit nicht weiter treiben . In ſeinem Ingrimm gegen die Grauſamkeit des franzöſiſchen Civilgeſetzbuchs in fragen der unehelichen Kinder geht er bis zum blutigen Sarkasmus und begegnet ſich darin merkwürdigerweiſe, gewiß unbewußt, mit dem engliſchen Satiriker Swift : Dumas ſchlägt nämlich vor , da man augenſcheinlich die unehelichen Kinder nicht als Menſchen betrachte, da man ſie morde, enterbe, rechtlos mache, fo folle man wenigſtens ſo viel Nutzen wie möglich aus ihnen ziehen künſtlichem Dünger für den Ackerbau ver arbeiten ; man ſpare dann wenigſtens die Begräbnißkoſten dieſer Naſenleichen ! - Die Eheſcheiding hat er ſicher herbeiführen helfent ; es iſt abzuwarten, wie weit ſeine dramatiſchen Plaidoyers auf die Uenderung jenes Para: graphen von der Vaterſchaft Einfluß gewinnen werden . Da, wo der Rahmen des Dramas nicht ausreicht, eine Theſe zu entwickeln und zu verteidigen , hilft ſich Dumas mit der Broſchüre und der Vorrede. Den Cha rakter von Plaidoyers aber hat alles, was er ſchreibt, auch in der Form . Er liebt das Gegeneinander: und ſie z11 Ulerander Dunias Sohn . 281 „ Die halten von Gründen und Gegengründen , er führt ge wiſſermaßen die Sache beider Parteien und entſcheidet dann als Richter, nachdem er als Staatsanwalt und als Verteidiger plädirt hat. In den Vorreden handelt er meiſt vom Kinde, in den Broſchüren von der Frau. » L'homme- femme « iſt die umfangreichſte, frauen , die morden, und die frauen, die wählen “ die fchneidigſte. In letzterer ſpricht er ſich ſehr entſchieden zu Gunſten des activen Wahlrechts der Frauen in frankreich aus. Endlich in der Streitſchrift „ Die Ehe: ſcheidung" hat er alle erdenklichen Gründe für dieſe ſociale Reform zuſammengetragen und an den Gründen der Gegner eine Kritik geübt, die wenig zli wünſchen übrig ließ . Dumas iſt kein großer Dichter ; er iſt auch kein großer Dramatiker, trotz der unleugbaren Wirkungs fähigkeit ſeiner Stücke. Hat er in ſeinen endloſen Vor: reden die Wahrheit ſeines Herzens geſprochen – und ich zweifle nicht daran ſo macht er ſich nichts daraus, ein großer Dichter zu ſein , wenn er nur ein nützlicher Dramatiker iſt. Und das müſſen wir ihm zugeſtehen : er hat mindeſtens das Gute gewollt und manches Gute erreicht; nicht immer mit den reinſten Mitteln , aber einem Unwalt ſieht man vieles nach, wenn er nur ſeine Proceſſe gewinnt. XX. Honoré de Balzac. ( 1799–1850. ) n der Literaturgeſchichte iſt es kein ganz ſeltener Neuerers durch ihre Uebertreibung und ihre größere Kunſt der Reclame den Meiſter in Vergeſſenheit bringen. Gewöhnlich kehrt das Publicum nach einem Menſchen alter zu dieſem zurück, aber inzwiſchen haben die lär menden Jünger ihren Zweck erreicht. So geht es heute mit Balzac und den „ Natura liſten“ des Romans. Das große Publicum kennt immer nur die neueſten Schriftſteller, zumal das deutſche Publicum , welches geiſtig von der Leihbibliothek lebt. Dieſe liefert nur „ Novitäten “ , Balzac iſt ſeit 35 Jahren todt, und Zola lebt. Es gibt viele recht gebildete Mens ſchen , die jeden Roman von Zola, von Balzac nicht einen einzigen geleſen haben . Honoré de Balzac. 283 Und doch geben die Naturaliſten " frankreichs zit , daß Balzac ihrer aller Meiſter iſt. Flaubert nannte ſich ſeinen Schüler ; Daudet, Zola, die Goncourts, Mau paſſant ſtehen auf ſeinen Schultern, und ſelbſt von Turgenjew weiß man , welche tiefe Verehrung er Balzac zollte. Balzac iſt der Schöpfer des europäiſchen Romans des 19. Jahrhunderts, nicht bloß des franzöſiſchen. Auch die Engländer haben von ihm gelernt, Thackeray am meiſten ; in Deutſchland hat er keinen beſtimmten Nachahmer, aber es wäre nicht übel, hätte er welche. Man nennt ihn den ,, Realiſten “ des Romans. Das Wort iſt durch ſeinen argen Mißbrauch in ſchlechten Ruf gekommen , aber nicht durch Balzacs Schuld. Ich kann mich hier nicht auf Auseinanderſetzungen über den Begriff des Realismus in der Literatur einlaſſen, auch nicht darüber, ob er im modernen Sinne ſchon vor Balzac eriſtirt habe oder nicht. Beſſer wir unter: ſuchen Balzacs Realismus und vergleichen ihn mit dem ſeiner Nachfolger. Balzac iſt Realiſt, weil er Dichter iſt. Er ſtellt die Menſchen und Dinge mit der künſtleriſchen Lebens: echtheit dar, weil er ſich ſelbſt mit ihnen zuvor in leben: dige Beziehung gebracht. Er glaubt an die Geſchöpfe ſeiner Einbildung, er ſieht ſie, er leidet und freut ſich mit ihnen. Er lebt mehr in der Welt ſeiner Phantaſie, als in der ſeiner Sinne. Einem freunde, der ihm über eine Verwandte eine längere Geſchichte erzählt hat , ruft 287 Honoré de Balzac. er zu : Sehr ſchön , aber nun zur Wirklichkeit, 311 Eugenie Grandet der Heldin ſeines gleichnamigen Romans). Nur wer das tun kann, iſt ein Realiſt feiner Kunſt, den ſich fünſtleriſche Leſer gefallen laſſen . Balzac lebt in ſeinen Perſonen und läßt die per : fonen in ſich leben. Man weiß bei ihm nie , wo der Schriftſteller aufhört und wo der Roman anfängt; Autor und Buch ſind eines. Aber nicht etwa in dem Sinne, daß Balzac ſich ſelbſt abgeſchrieben hat. Im Gegen teil : wenige Schriftſteller verraten uns in ihren Werken ſo wenig von ihrem perſönlichen Leben, wie Balzac. Man kann die hundert Romane, die ſeinen Namen tragen, alle durchgeleſen haben und hat doch kein Bild vom Weſen ihres Verfaſſers. Es iſt noch etwas anderes in ihm als das, was man „ Objectivität“ nennt, etwas höheres. Er hat, als Autor, gar keine Perſönlichkeit, ſein Leben wird verſchlungen von der Romandichtung. Wohl hat er eine Mutter und Schweſter, aber um mit denen auch nur brieflich zu verkehren , muß er ſich ſchmerzliche Opfer ſeiner Geſundheit auferlegen , denn ſein Leben gehört nicht ihm , nicht den Verwandten , ſondern ſeinen Romanen . Der Mutter, die ihm Vor: würfe wegen ſeines ſeltenen Briefſchreibens gemacht, antwortete er : „ Meine gute Mutter, tu mir die Liebe und laß mich meines Lebens Laſt tragen, ohne mein Herz zu beargwöhnen. Ein Brief iſt für mich nicht nur ein Stück Geld, ſondern eine Stunde Schlaf und ein Tropfen meines Blutes , die ich opfere ." Honoré de Balzac . 285 Das war keine Uebertreibung, denn Balzac hat fich notoriſch zu Tode geſchrieben. Wie hat dieſer ges hetzte Menſch gearbeitet ! In einem Briefe beſchreibt er ſeine unſinnige Jagd auf den Roman : „ Jch gehe um 6 oder 7 Uhr Abends ſchlafen, mit den Hühnerni; um 1 Uhr Nachts ſtehe ich auf und arbeite bis 8 Uhr Morgens. Dann eſſe ich etwas Leichtes, trinke eine Taſſe reinen Kaffee und ſpanne mich wieder in die Arbeits karre bis 4 Uhr Nachmittags. Hierauf empfange ich , nehme ein Bad, eſſe zu Mittag und gehe ſchlafen . “ Iſt es da ein Wunder, daß er mit 50 Jahren wie vom Blitz getroffen zuſammenbrach ? Er mußte ſo arbeiteni , denn er hatte Schulden , verurſacht durch eine mißglückte, in fich ſehr ausſichts: reiche Speculation mit einer billigen Claſſikerausgabe. Wie groß die Summe feiner Schulden geweſen, weiß man nicht ; möglich, daß Balzacs erhitzte Phantaſie ſelbſt ſeine Schulden übertrieb oder doch die Angſt vor ihnen. Ja, hätte er die leichte Hand Dumas' des Uelteren gehabt oder hätte er Senſationsmaculatur wie Eugen Sue zu ſchmieren verſtanden, ſo wäre ihm die Arbeit gewiß lohnender geworden. Uber Balzac arbeitete ſchwerfällig wie ſelten ein franzoſe, und wenn dennoch jährlich 4-5 Bände fertig gebracht, ſo iſt das nur mit dem Aufgebot aller Kräfte geſchehen und dadurch, daß er aus einem gewöhnlichen Jahr ſo viel wie drei Arbeitsjahre fleißiger Durchſchnittsmenſchen machte. er 286 Honoré de Balzac. Balzac, dieſer außerordentliche Erzähler, war nichts weniger als ein Beherrſcher der Sprache. Vielleicht ſah er alles zu plaſtiſch, um es leicht aufs Papier werfen zu können . So parador es klingen mag - : Balzac war ein Genie, aber er hatte kein ſchriftſtelleriſches Talent. Er iſt in der Ausführung ſelten auf der Höhe ſeiner künſtleriſchen Intuition . Er iſt der ungleichſte Uutor, den man ſich denken kann : Genieblitze dicht neben ſchleppenden Mattheiten ; das einzig richtige, eine ganze Situation beleuchtende Wort, und dann wieder ein Taſten und Nebenbeitreffen wie bei einem Dilet tanten . Das auffallendſte Beiſpiel dieſer Ungleichheit Balzacs iſt wohl der Roman » La femme de trente ans « , deſſen Anfang nur Balzac, deſſen Ende jeder Stümper hätte ſchreiben können . Man merkt , daß die Hälfte aller Balzac'ichen Schriftſtellerei Nachtarbeit iſt, ein Gemiſch aus Hellſeherei und Schläfrigkeit. Die Lectüre Balzacs iſt keine Erholung, -- daher auch zum Teil ſeine Verſchollenheit bei der Leſermaſſe. Seine Perſonen ſcheinen keine franzoſen zu ſein, denn ſie verſtehen nicht zu plaudern ; nichts weniger Natür liches als Balzacs leicht ſein ſollender Unterhaltungs: ſtil. Und wie ſauer hat er ſichs werden laſſen ! Jn der Buchdruckerwelt war er verrufen wegen ſeiner endloſen Correcturen ; die Hälfte feines Honorars ging oft dafür drauf. Trotz der von Schuldenangſt beflügelten Eile hat Balzac ſeiner Künſtlerehre nie etwas vergeben ; er iſt nie zu einem Zeilenreißer und Converſationsmacher Honoré de Balzac. 287 geworden , wie Dumas der Ueltere. Neidiſch ſah er die Leichtigkeit, mit der ſeine freunde producirten , und doch blieb er bei ſeiner Art. Seine Manuſcripte ſind fämmtlich von ſeiner eigenen Hand geſchrieben , er hat nie einem Secretär dictirt. Sehr gute und ſehr ſchlechte Romane ſind in einem und demſelben Jahr entſtanden , aber die ſtiliſtiſche Mühe war bei allen dieſelbe . Ein Schriftſteller, der ſo wenig äußere Reizmittel beſitzt, für den vor allem die Sprache ſehr ſelten dachte und dichtete, muß ganz beſondere innere Vorzüge haben , wenn er nach 50 Jahren vor einem Gerichtshof von Seinesgleichen , vor den Romandichtern aller Länder als ihr Meiſter beſteht. Der Hauptvorzug der Romane Balzacs vor denen ſeiner Nachfolger iſt ihr poetiſcher Gehalt. Er ſchildert die Wirklichkeit, aber er photographirt ſie nicht. Sie bricht ſich durch das Prisma einer Dichterſeele, welche alle Strahlen durch : läßt . Mit jener göttlichen Unparteilichkeit, wie ſie nur große Künſtler beſitzen , läßt er die Sonne ſeiner Phan taſie ſcheinen über Böſe und Gute. Er iſt der Realiſt des Schönen und Guten nicht minder als des Häßlichen und Schlechten. Seine Nachfolger haben geglaubt, intereſſanter zu ſein , wenn ſie nur das häßliche, das Rohe ſchilderten ; bei Balzac merkt man die innere freude an einer reinen, edlen Geſtalt, deren er ſo viele geſchaffen . Da iſt vor allen Eugenie Grandet, eine faſt engelhafte weibliche figur, und doch ſo menſchlich wahr. Da iſt die Dulderin Madame Hulot ( in „ Couſine 288 Honoré de Balzac. Bette “ ), da der Held der Redlichkeit Céſar Birotteau, da iſt Schmucke ( in ,, Couſin Pons“ ), ein Deutſcher, das Gegenſtick zu dem ſcheußlicheu Deutſchen Rucingen . Bei Balzacs Nachfolgern häufen ſich die Schatten dichter und dichter, dazwiſchen zucken Blitze und ſteigen Peſtdämpfe auf; bei Balzac ſelber wechſelt Licht und Schatten ab, wie im Leben , wie in jeder großen Dichtung. Wie eng ſind die Grenzen des Könnens bei zola, ſelbſt bei Daudet, - bei letzterem mit jedem Roman ſich mehr verengend und das Element des Guten ausſchließend; wie weltweit bei Balzac ! Gewiß, er kennt das Gemeine, das Scheußliche, er ſchrickt auch nicht vor der brutalen Nacktheit der Schilderung zurück ; aber dicht daneben, in demſelben Roman, ſtehen bei ihm die Lichtgeſtalten, an denen das Gemeine nicht haftet. Will man die Grenzen des Balzac'ſchen Dichter: ingeniums überſchauen, ſo leſe man nacheinander die » Contes drôlatiques « mit ihrer den mittelalterlichen Fablianr nachgeahmten cyniſchen Derbheit und „ Eugénie Grandet“, oder „ Couſine Bette“ und „ Die Lilie im Thal“ . Uuch iſt ſeine Darſtellung des Laſters ſehr verſchieden von jener der „ Naturaliſten " . Dieſe bilden ſich etwas beſonderes ein auf ihre Gefühl. loſigkeit gegenüber den Krebsſchäden der Menſchheit; ſie ſpielen ſich auf die wiſſenſchaftlich kalten Be obachter hinaus, auf die Lazarethärzte. Balzac iſt das alles auch geweſen , ohne ſo viel Aufheben von der Wiſſenſchaftlichkeit und „ Document" .Forſcherei zu Honoré de Balzac. 289 machen ; aber daneben iſt er noch etwas Beſſeres als der kaltherzig beobachtende Arzt, für den der Kranke eben nur ein intereſſanter fall iſt, aber kein Individuum . Balzac hat etwas von einem Krankenpfleger, man fönnte ſagen von einer barmherzigen Schweſter, wenn der Vergleich nicht allzuſehr hinkte. Und da , wo nichts zu pflegen und zu lindern iſt, breitet er den Mantel der dichteriſchen Phantaſie darüber und läßt uns durch die düſtere Großartigkeit der Schilderung faſt vergeſſen, mit einem wie ekeln Gegenſtande wir zu tun haben. Der Galeerenſträfling Vautrin z . B. iſt gewiß eine furchtbare figur, aber Balzac hat ihn mit ſo unheim lichem Feuer zu ſchildern gewußt, daß die Poeſie der Darſtellung uns ſelbſt ſolche Monſtra erträglich madit. Und noch eines , was . Balzac von den Naturaliſten ſcheidet, vielleicht das Weſentlichſte. Letztere halten ſich zur Literatur eigentlich für zu gut; ſie betrachten die Romanſchreiberei des alten Stils für einen über wundenen Standpunkt; ſie haben nicht Worte genug der Verachtung für die, welche ſie ,,Romantiker“ ſchimpfen , alſo für Chateaubriand, ſelbſt für George Sand. Sie möchten gern auf einer Linie ſtehen mit den Profeſſoren der Phyſiologie, der Anatomie, der Pathologie . Darum die großſprecheriſche und im Grunde doch furchtbar dilettantiſche Nachäffung des Sprachgebrauchs der Naturwiſſenſchaft. Schildert einer dieſer Naturaliſten irgend eine Dirne oder einen verkommenien König oder eine liederliche Schauſpielerin , ſo halten ſie ſich für zu gut, Engel, Piychologie. 19 290 Honoré de Balzac . um bloß die Individuen zu charakteriſiren ; jene Dirne, jener König, jene Schauſpielerin ſollen nicht nur Typen ihres Standes ſein , ſondern ſie ſollen gar wiſſenſchaft: liche formeln fleiſchlich vertreten . Etwas vom Geiſte Victor Hugo's mit ſeiner Symboliſirungsſucht ſteckt in all dieſen Renegaten der wahren ſchriftſtelleriſchen Kunſt. Balzac hat vor allem Menſchen ſchildern wollen , nicht Principien in menſchlicher Geſtalt. Der Geiz: hals Grandet iſt das beſtimmte Individuum Grandet, nicht etwa der Geiz oder gar irgend eine wiſſen : fchaftlich klingende formel der phyſiologiſchen Pſycho: logie. Er bleibt innerhalb der Grenzen ſeiner Kunſt, . die weiß Gott weit genug geſteckt ſind, und ſucht ſeine Leſer nicht zu blenden durch falſche Wiſſenſchaftlichkeit aus zweiter oder dritter Hand. Das Größte, was einem Dichter zu leiſten vergönnt iſt: das Schaffen menſchlicher Einzelweſen, die ſich dem Leſer unrergeßlich einprägen, iſt unter den Realiſten des modernſten frankreichs außer Balzac nur noch Daudet zuweilen gelungen , aber auch dieſem ſchon ſeit Jahren nicht mehr. Der Zweck aller Balzac'ſchen Romandichtung bleibt immer der innere Menſch. Er iſt der Schilderer der Seele, ganz beſonders der weiblichen . Einer der talentvollſten Nachfolger Balzacs , Edmond de Goncourt, wollte neulich den Verſuch machen, das Geheimſte des Geheimen einer frauenſeele zu offenbaren, und hatte honoré de Balzac . 291 ſich zu dem Zwecke in einer Art von Circular an ſeine Leſerinnen gewandt und um Notizen gebeten , - der wiſſenſchaftelnde Dilettantismus der Naturaliſten nennt das „menſchliche Documente “ . Das Ergebniſ dieſer eigentümlichen Materialſammlung hat er alsdann zu einem Roman verarbeitet, der als ein Muſter ſeiner Gatung anzuſehen iſt : die rollſtändige Abtötung des Individuums im Roman. Goncourt glaubt damit etwas ganz Neues erfunden zu haben, wenigſtens ſagt er's in der Vorrede ſeines Romans „ Chérie “ , und doch iſt dieſe Art der Literatur nichts als die Galvaniſirung einer längſt begrabenen, unnatürlichen , langweiligen Dichtungsart : der allegorie. Im „ Roman von der Roſe" geht es ungefähr ebenſo zu , wie in den erperimentellen Romanen der Naturaliſten ; auch die falſche Wiſſenſchaftlichkeit iſt da ſchon zu ſpüren , nur an Schattenhaftigkeit der Perſonen über: trifft der allegoriſche Roman des 19ten Jahrhunderts den des 13ten. Balzac will nichts anderes beweiſen , als was ſeine Perſonen fühlen, ſagen und tun. Er treibt keinen hocuspocus mit den Geſetzen der phyſiſchen Erblichkeit, denn er weiß davon ſo wenig , wie die Wiſſenſchaft ſelber . Seine Menſchen ſind ſelbſtändige Weſen mit ſo viel Verantwortlichkeit, wie nun einmal jedes In dividuum auf ſich nehmen muß, ohne ſich hinter wiſſen ſchaftlich klingenden Redensarten wie Degeneration, Evo lution , heredität verſtecken zu dürfen. 19 * 292 Honoré de Balzac . Und wie er in den Seelen dieſer Menſchen zu leſen verſteht ! Er hat etwas von einem Detective des Seelen lebens ; man denkt bei ſeinen Romanen an den Teufel Usmodüus, der in Leſage's Gil Blas die Dächer der Häuſer abdeckt und den Studenten in das wahre Treiben ihrer Bewohner hineinſchauen läßt. Was alles muß Balzac, trotz ſeines zurückgezogenen Lebens, beobachtet und ergründet haben, um mit ſo ſicherer hand die Masken abzureißen und ſeinen Perſonen zuzurufen : Du biſt der Mann, du biſt die frau !? Mehr als tauſend Perſonen hat er in ſeinen Romanen geſchildert, natür lich nicht alle meiſterhaft, aber wie viele darunter ſo daß man ihr Bild nicht wieder loswird ! Die Holprig keiten ihrer Reden in Balzacs Stil , ja die Uebertrei bungen in der Zeichnung hat man längſt vergeſſen , aber die Menſchen ſelber nicht . Balzac hat einige äußere Vehnlichkeit mit Beau marchais : beide ſind Projectenmacher im großen Stil geweſen, nur daß . Balzacs Projecte ſtets mißglückten und ihren Erfinder in Schulden ſtiirzten , während Beaumarchais Millionen durch ſeine Hände gleiten ließ . Das großartigſte Project Balzacs war aber doch ein literariſches, jeine „Menſchliche Komödie “ , ein Schauſpiel in hundert Uiten , deren jeder ein Roman iſt. Nachdem er ſich eine Phantaſiefamilie von einigen hundert Mitgliedern geſchaffen , braucht er keine andere Welt mehr; ſeine Romanfiguren, aus allen Ständen genommen , ſind eine Art von Quinteſſenz der Geſell Honoré de Balzac . 293 ſchaft, und ihre Geſchichte ſoll zugleich die Geſchichte ihrer Zeit ſein . Uber man beachte wohl : Balzac hatte zuerſt den Roman der Individuen geſchrieben und dieſe dann durch die Sammlung der „Menſchlichen Ko : mödie “ in Beziehung zu einander gebracht, während die Pſeudowiſſenſchaftler der teueſten Zeit überhaupt keine einzelnen Romane mehr ſchreiben , ſondern nach einem vorgefaßten Plan ganze Serien von Romanen verſprechen und auch ausführen. Auch Balzac verwen : det oft genug dieſelbe Perſon in zwei verſchiedenen Romanen, aber er tut das ohne Aufwand wiſſenſchaft: licher Redensarten, ohne Kokettiren mit der Kenntniß der Erblichkeitsgeſetze, --- lediglich weil er dieſelbe Figur ſehr gut in eine andere Gruppe einfügen kann, und weil der Leſer eine ihm ſchon bekannte figur immer mit Vergnügen wiederſieht. Er treibt dabei keine Myſtik, ſpielt nicht Vorſehung, ſondern handelt wie ein naiver Menſch und gutaufgelegter Künſtler. Nicht einmal das haben die Naturaliſten der Neu: zeit vor Balzac voraus, daß ſie das Gewöhnliche, das Alltägliche in die Literatur eingeführt haben. Er iſt es geweſen, der ſie das gelehrt hat ; aber leider iſt es bei der Lehre geblieben . Das Ulltägliche gehört mit nicht größerem noch geringerem Rechte in die Literatur des Romans als das Uußerordentliche ; beides wird erſt durch die Hand des Künſtlers literaturfähig. Es genügt nicht, daß man einen platten Dummkopf genau ſo platt und ſo dummköpfig abconterfeit, wie er im wirklichen 294 Honoré de Balzac. Leben iſt, denn im Dummköpfe kennen zu lernen , brauchen wir wahrhaftig keine Romane 311 leſeit . Worauf es uns ankommt, gleichviel ob wir im Roman Dummköpfe oder Genies vor uns haben -- , das iſt : wie ſieht dieſer Menſch aus im Geiſte dieſes Schrift: ſtellers ? Mit einem Wort: Porträtmalerei wollen wir, nicht Photographie ! Darin iſt nur Einer von ſeinen Schülern Balzac nahe gekommen : Guſtave Flaubert in ſeiner „Ma: dame Bovary “. Wer aber ſehen will, wie auch bei die em talentvollſten Nachfolger Balzacs die Kunſt des Abmalens in das Handwerk des Ubklatſchens ausartet, der leſe deſjen nachgelaſſenes Werk „ Bouvard und Pécuchet" ! Balzac hat das Gewöhnliche poetiſch 311 machent verſtanden. Das gibt z . B. ſeinem Parfümeriewaaren: händler Caeſar Birotteau eine tragiſche Größe, die durch die Niedrigkeit des Stoffes keine Beeinträchtigung leidet . Man lieſt die Gejtichte ſeines Bankrotts mit einer Spannung, als handle es ſich um den Untergang eines Weltreiches . Was ror Balzac für ſehr gemein , für ſehr uns poetiſch galt - . wenigſtens in der Literatur - , das hat er zu einem factor der Romandichtung gemacht, der ſeitdem eine Rolle darin ſpielt wie früher die Liebe oder die Eiferſucht oder ſonſt ein Seelenmotiv, ich meine das Geld. Balzac weiß den runden Simmen eine Beredſamkeit zu geben, als wären es Liebhaber. Honoré de Balzac . 295 Man hat das alles nachgeahmt, aber wer die Originale beſitzt, duldet keine Copien . Mit Balzac hat frankreich ſeinen größten Meiſter des pſychologiſchen, poetiſchen Romanis verloren. Sehen wir zu , was es dafür von ſeinen Nachfolgern erhalten hat ; Jola kanıt es uns zeigen. XXI. Emile Zola . ( Geboren 1840. ) T.as beſonnene Urteil über dieſen augenblicklich meiſtgeleſenen Schriftſteller frankreichs iſt ſchwer geworden durd allerlei Unwahrheiten , welche von der Berufkritik und auch vom Publicum ausgeſtreut werden . Jola gilt für den unmoraliſchſten Romanſchriftſteller, der je gelebt , -- jedenfalls für den unmoraliſchſten der Neuzeit. Dieſes törichte Vorurteil läßt keine unbefangene Kritik aufkommen. Was Jola ſonſt noch iſt, in welchem Verhältniß er zu ſeiner Zeit, zur Romanliteratur ſeines Landes und der Welt ſteht, ob er trotz ſeiner „ Unmoral" ein Künſtler iſt oder nicht, das alles kommt gar nicht in frage , denn ,, er iſt ſo unmoraliſch " ! Und ſo urteilen - außer den frauen auch Männer, dieſelben Männer, welche nicht das Mindeſte auszuſetzen haben an den Emile Zola. 297 Zweideutigkeiten der modernen Operetten, poſſen , Luſtſpiele ; jo urteilen Zeitungsredacteure, welche es ruhig geſchehen laſſen , daß in den von ihnen geleiteten Blättern jeden Tag die ſchamloſeſter Annoncen er: ſcheinen . So urteilen männliche Leſer, obwohl ſie in Gola ſchwerlich irgendetwas gefunden, was ſie ſelbſt nicht längſt gewußt, ja wohl ſelbſt in Männergeſell ſchaften lachend weiter erzählt haben ! Es herrſcht gerade in Bezug auf Zola eine förmliche Verſchwörung der Henchelei . Warum iſt Zola in : moraliſch ? Weil er inmoraliſche Menſchen und ihre Handlungen ſchildert ? Aber ſeit wann gehören denn die dunkeln Elemente des Lebens nicht auch zıır Literatur ? Oder ſchildert er ſie etwa in der Abſicht, ſeine Leſer zur Unmoral zu verführen ? Beſchönigt er das Laſter ? Macht er lüſtern darnach ? Nein, das haben ſelbſt ſeine ärgſten feinde ihm noch nicht nachgejagt. Im Gegen : teil : man wirft ihm ja vor, daß er das Laſter gar 311 gräßlich und abſchreckend ſchildere, daß es doch ſehr unappetitlich ſei , Nana an den ſchwärenden Pocken ſterben zu ſehen , und dergleichen . Nun wohl, man nenne einen Schriftſteller, der ſich bei der Schilderung des Schlechten in der möglichſt abſtoßenden Pinſelführung gefällt, wie man wolle , nur unmoraliſch darf man ihn nicht ſchelten . Dieſe Bezeichnung verſpare man ſich für die zahlloſen franzöſiſchen und leider auch deutſchen Romandichter, die offenbar nur in der Abſicht, die Einbildung des Leſers zu reizen, ſich mit der Schilderung 298 Emile Zola. des Caſters abgeben und nie deutlich merken laſſen , auf welcher Seite fie eigentlich ſtehen . Gola iſt nicht umoraliſch, mindeſtens iſt er es nicht mit Abſicht. Seine Zwecke ſind ganz unverkenn : bar jolche der erziehenden Moral, und auch viele ſeiner Mittel. Leider kommen die meiſten ſeiner Romane nicht in die richtigen Hände: was ſoll ein nüchterner Leſer aus dem „ Njommoir“, dieſer Höllenbreugelei der Trunkiicht, lernen, und was kann eine ſolche Brand markung der Unzucht wie in „ Nana" und in „Pot bouille “ einer ehrbaren Leſerin nützen ? Und daß die Jahl der nüchternen und ehrbaren Leſer und Leſerinnen Zola’ſcher Romane größer iſt als die der anderen , wird nicht beſtritten werden können . Es läßt ſich aus den mehr als 25 Bänden Zola's jdywerlich eine Seite aufweiſen, die wirklich unmoraliſch, die unkeuſch wäre. für Knaben und junge Mädchen freilich ſchreibt dieſer Mann nicht, und nur ſolche Leſer könnten an einzelnen Stellen moraliſche Gefahr laufen . Jola iſt bis zum Efel roh, er wiihlt in den Scheuß lichkeiten des menſchlichen Lebens, er fürchtet ſich vor keinem übeln Geruch , er läßt ſeine „ Helden “ und „ Heldinnen " Vocabeln ſprechen , die in ehrbaren Wörter: büchern fehlen ; aber er iſt nie und nimmer ſchlüpfrig. Er kennt keine lasciven Andeutungen, er hebt keine Vorhänge halb auf und lädt dadurch die Phantaſie zur Ergänzung ein . Was er Häßliches zu ſagen und zu Emile Zola. 299 zeigen hat, das ſagt und zeigt er mit der Brutalität der Wahrheit und des Zornes. Eine ganz andre frage iſt es , ob Zola in der Darſtellung des Häflichen und Gemeinen die Grenzen der künſtleriſchen Notwendigkeit eingehalten hat oder nicht . Da muß man ohne Beſinnen ſagen : er hat ſie iinzählige Male überſchritten , ohne Zwang, aus einem hange, der Zola's und eines großen Teils der neueſten franzöſiſchen Literatur pſycho logiſches Kennzeichen trägt : aus Blaſirtheit. Zola hat in mehreren Büchern bewieſen , daß er nicht ausſchließlich die Nachtſeiten des menſchlichen Lebens hervorſucht, ja daß er nicht einmal ausſchließlich an der brutalen Nacktheit des Wortes ſeine künſtleriſche freude hat. » Une page d'amour« und » Au bonheur des dames « ſind da , um ihn gegen den Vorwurf der Ein feitigkeit zu verteidigen . Aber es iſt nicht zu leugnen, daß er mit Vorliebe das ſchildert, was den Leſer abſtoßen muß. Um Gola's Eigenart zu begreifent , darf man nicht vergeſſen, in welcher Zeit er großgeworden iſt. 1840 geboren und als Jüngling ron 18 Jahren nach Paris gekommen , hat er ſein erſtes Jahrzehnt als Mann unter dem zweiten Empire, in deſſen ſiegesbewußteſter und genußſüchtigſter Periode verlebt. Mittellos, mit einem ganz geringen Gehalt als Buchhalter des Ver legers Hachette, in einer Manſardonkammer, fo hat Emile Zola vom Ende der 50er bis zum Ende der 60er 300 Emile Zola . Jahre in jenem Paris gedarbt , in welchem die Roman : dichter der Mode, die Beſucher der Weltausſtellungen, die officiellen Lobhudler des Kaiſerreichs eitel Glanz und Glück erblickten . Von ſeiner Dachkammer aus ſah Gola dieſes Paris mit anderen Uugen an , als die Boudoirdichter ; und als die gewaltige Kataſtrophe von Sedan das Kaiſerreich weggefegt, hatte Zola's Stunde geſchlagen . Die Gräuel der Commune hatten ihm die Richtung für ſeine Betrachtung gewieſen , und er ſchlug ſie ohne Schwanken ein. Seine Romane ſind der draſtiſchſte Uusdruck des Katzenjammers, der Blaſirtheit nach dem Genußtaumel des verfloſſenen Kaiſerreichs . Man braucht nicht an der Schwelgerei der fetten Jahre teilgenommen zu haben , um dieſes Gefühl des Ekels gegen jenes Treiben zu teilen . Unter dem Empire wäre ein Schriftſteller wie Jola felbſt dann nicht möglich geweſen, wenn die Cenſur ihm ſeine furchtbaren Strafgerichte an der Kaiſerwirtſchaft hätte durchgehen laſſen . Dieſe fatzenjammerliche Stimmung der franzöſiſchen Geſellſchaft nach 1871 iſt der Boden , auf dem Gola's Romane gewachſen ſind . Die Genusfähigkeit war durch die raffinirte Schwelgerei eines Menſchenalters abges ſtumpft; die eleganten Unzüchtigkeiten einer hortenſe Schneider (der Großherzogin von Gerolſtein) Fitzelten die Ohren nicht mehr ; die Nacktheiten einer Cora Pearl hatten die Augen ermüdet. Wie wenn man's einmal mit dem Widerlichen verſuchte ? Mit dem Wild: Emile Zola. 301 bretduft der Fäulniß, mit dem Waten im Schlamm , mit dem Anblick deſſen , was jeden natürlichen Sinn anekelt ? Ich mache Jola nicht den Vorwurf, daß er dieſe Stimmung der Blaſirtheit in böſer, etwa in gewinnſüchtiger Abſicht ausgenutzt, 110ch weniger, daß er ſie großgezogen habe . Er hat ſie geteilt, und in ihm iſt ſie zum ſtärkſten ſchriftſtelleriſchen Ausdruck gekommen , weiter nichts. Zu wiederholten Malen nannte ich den Geiſt des .frondirens", die Luſt am Widerſpruch um des Widerſpruchs willen , einen der Charakterzüge des frants zöſiſchen Volks und ſeiner Literatur. Bei Zola iſt dieſes frondiren außerordentlich ſtark entwickelt. Jhr liebt die Wohlgerüche ? Da habt ihr die Düfte der Hallen, eine ganze Käſegeruch :Symphonie ( im » Ventre de Paris « ). Ihr geht an einem Betrunkenen voll Ubſcheu ſchnell vorüber ? Seht , hier liegt Coupeau in ſeinem eigenen Säuferunrat (im , Aljommoir" ). --- Begegnet ihr einer Dirne, ſo wendet ihr euch ab ? Hier iſt Nana, die höchſte Potenz des Dirnentums, ein ganzes Bordell in einer einzigen Perſon . Die Geburt eines Kindes Sünkt euch allen zwar ein ſehr wichtiger Act der Natur, aber die Details überlaßt ihr dem Geburtshelfer ? Hier packe ich euch am Arm , halte euch feſt vor dem Bett einer Gebärenden und laſſe euch alle ihre Qualen hören und ſehen ( in » La joie de vivre « ) . Ihr legt mit einem Gefühl förperlichen Behagens täglich reine Wäſche an und werft die unſaubere in die Ecke ? Da, ſeht her, 302 Emile Zola. was ſagt ihr zu dieſem Korb voll ſchmutziger Wäſche ? Und dabei breitet der Verfaſſer Stück für Stück vor Naſen und Augen aus. Nicht daß Zola ſeinie häßlichen Stoffe ſo behandelt, wie er es tut, ſondern daß er ſie überhaupt gewählt hat, könnte man ihm zum Vorwurf machen . Über wer kann gegen ſeine Weltauffaſſung ? Zola ſieht in der Welt die Schatten deutlicher als die Lichter. Es iſt das vielleicht ein fehler des inneren Auges, ähnlich dem des kleinen Kay im Anderſen'ſchen Märchen , dem ein Splitter des zerborſtentent Teufelſpiegels ins Auge geflogen war, und der in folge deſſen alles verzerrt fah . Uebrigens hat ihn der foloſſale Erfolg inſofern gerecht fertigt, als er augenſcheinlich die Stimmung der Blaſirt: heit und den Hang zum Hautgoût des Widerwärtigen bei dem Publicum befriedigt hat . Zola iſt das Haupt der Naturaliſtenſchule, welche ihrerſeits die fortſetzung des Balzac'ſchen Realismus vorſtellen will. Der Naturalismus ſoll nach der Defi: nition der Berufenen fein : die naturwahre Wiedergabe der Wirklichkeit. Es verſteht ſich von ſelbſt, daß dieſe im ſtrengen Sinne unmöglich iſt, wenigſtens unmöglich mit den Mitteln der Kunſt. Sie iſt aber auch über: flüſſig , denn um uns nur die Wirkungen zu verſchaffen , welche die Wirklichkeit bietet, werden wir uns beſſer an dieſer halten . Die Naturaliſten ſehen ſich denn auch genötigt zuzugeſtehen, daß ſie im beſten falle die Wirk: lichkeit nur ſo wiedergeben können, wie ſie ſie geſehen Emile Zola. 303 haben, und daß bei der Darſtellung ohne eine gewiſſe Convention nicht auszukommen ſei . Jola ſchildert is den Lebensgang der Nana nicht etwa durch einen Po : lizeibericht über jeden ihrer Tage und jede ihrer Nächte, ſondern auch er bedient ſich der perſpectiviſchen Ver kürzungen, die zum Wejen aller ſchriftſtelleriſchen Kunſt gehören. Uber nun kommt die große Neuerung, welcher die Naturaliſten ſich rühmen und durch deren Einführung in den Roman ſie ihn aus den Schranken menſchlicher Unzulänglichkeit in das Gebiet der abſoluten Wahrheit und Wirklichkeit gehoben glauben : es iſt das, was ſie mit großer Unverfrorenheit ,,wiffenſchaftliche Mes thode“ nennen. Die Phantaſie hat ihre Rolle aus : geſpielt, fortan herrſcht das „ Experiment“. Man gibt ſich den Anſchein , als ſei jedes Wort, jeder Ge: danke, jede Handlung, jede Geſte auf „wiſſenſchaftlichem “ Wege gefunden und dann protokollirt. Es iſt ein Glück, daß dic Naturaliſten ihre Romane nicht ganz genau nach ihren Theorien ſchreiben, denn ſonſt läſe ſie kein Menſch. Gewiſſe Neußerlichkeiten verdanken ſie aller dings einer Beobachtung, die an Scharfblick für das Detail andere Romanſchriftſteller übertrifft; aber da wo ſie wirklich große Leiſtungen der Menſchendarſtellung aufzuweiſen haben, ſind ſie ganz genau ſo verfahren wie ihre Vorgänger ſeit Jahrhunderten : ſie haben das Leben der Wirklichkeit mit der Phantaſie beleuchtet, ſie haben es gemalt wie Künſtler, nicht abgeklatſcht 307 Emile Zola. wie Stubenmaler. Nur wenn ſie als Künſtler geſchaffen haben, ſind ihnen figuren gelungen wie Nana, wie Coupeau, wie Deniſe. Oder wollen ſie uns ernſtlich einreden , daß ihnen zu jeder ihrer Perjonen wirklich ein lebendiges Modell gedient, von der Wiege bis zum Grabe ? Können ſie uns wirklich für alles , was dieſe Perſonen ſagen und tun, das „ menſchliche Docu: ment“ vorweiſen ? Haben ſie gar nichts aus dem Eignen hinzugetan ? Das glauben ſie wohl ſelber nicht, oder wenn es wahr wäre, jo hätte ihre Schriftſtellerei ein Ende; ſie wären dann ſehr brauchbare Verfertiger von Polizeiberichten, von Conduiteliſten und dergleichen, aber was ſie mit der Kunſt gemein haben , wüßten ſie dann wohl ſelbſt nicht zu ſagen . Noch ſchlimmer ſteht es mit der andern Behaup. tung der Naturaliſten, daß es ſich nicht mehr darum handle, Menſchen zu ſchildern , ſondern den wiſſenſchaft: lichen Nadyweis der Entwickelung dieſer Menſchen zu liefern. Zola hat hiermit den größten man kann es nicht gelinder ausdrücken : Schwindel getrieben ; in beſter Abſicht , will ich hinzufügen . Sein Unglück wollte es , daß ſeine driftſtelleriſche Lehrlingszeit in die periode der Populariſirung der Wiſſenſchaft fiel, unter der wir alle leiden . Ohne eigene forſchungen, ohne ſelbſtgemachte Erperimente, ohne je durch ein Mikrofop geſehent 311 haben, fann heutzutage Jeder: mann die Weisheit gewiſſer Bücher für allgemein Gebildete“ nachplaudern. Die ſchwankenden Reſultate Emile Zola. 305 unabgeſchloſſener phyſiologiſcher Unterſuchungen werden von dieſen Laien für ewige Wahrheiten genommen ; Naturgeſetze, an deren feſter Begründung die größten Gelehrten Zweifel hegen , gelten dieſen ſeltſamen Jün gern der Wiſſenſchaft für ſelbſtverſtändliche Uyiome, und nun wird flott damit hantirt in dem Gefühl, für tief , für neu, für wiſſenſchaftlich zu gelten . Jola ſteht voran in der Reihe dieſer wiſſenſchaft: lichen Laien . Mit der Energie, die ihn auszeichnet, hat er ſich aus dem unſicherſten Material der phyſiologiſchen Wiſſenſchaft ſein fir und fertiges Syſtem gezimmert und darauf alle feine Romane aufgebaut. Die Erblichkeit iſt Zola's naturwiſſenſchaftliches Steckenpferd, alſo eine Erſcheinung , die als folche zu allen Zeiten unbeſtritten war, deren Gründe und Geſetze aber noch nicht die aller geringſte wiſſenſchaftliche feſtigkeit gewonnen haben . Was macht das dem Laien aus ? Er hat einige Beob achtungen über menſchliche Vererbung ſelbſt gemacht, - wie ſie beiläufig Jedermann macht und machen muß hat auch Einiges darüber geleſen , und nun iſt alles ſonnenklar: der und der Vater wird mit der und der Mutter das und das Kind erzeugen ; iſt 110ch über einen Großvater oder eine Großmutter etwas Näheres bekannt, ſo wird ſich das Reſultat der elterlichen Vererbung in dem und dem Grade umgeſtalten. für Zola ſind die Geſetze der Erblichkeit, welche die Wiſſenſchaft vielleicht noch ein Jahrhundert lang vergeblich erforſchen wird, bis auf die dritte Decimalſtelle genani berechnete Regel-de Engel, Piychologie . ! 20 306 Emile Zola . Lodd tri- Erempel. Das iſt es, was ich Schwindel nenne, mag er auch gutgläubig getrieben werden. Daß das Kind das Product ſeiner Eltern und Voreltern iſt, mußte uns das erſt Zola ſagen ? Und wenn das juft nichts Nenes iſt, wozu dann der gewaltige Apparat einer auf mindeſtens 20 Romane berechneten Vererbungsſerie, in welcher uns jene uralte Wahrheit bewieſen werden ſoll ? Daß das Kind eines Säuferpaares wenig Ausſicht hat , ein Muſterkind zu werden , zumal wenn die ſchlechte Erziehung dazu kommt, iſt das wirklich ſo ſehr nieu ? Und bedurfte es dazu des wiſſenſchaftlich tuenden Wortframes ? Zola foll uns aber einmal beweijen , daß Nana und Octave Mouret und Gervaiſe ſo werden mußten, wie ſie geworden ſind . Tagtäglich ſehen wir, daß Kinder ganz anders ſich entwickeln , als nach ihren Eltern zu erwarten ſtand ; die Zahl der Uusnahmen von der directen Vererbung iſt faſt ſo groß wie die der Regel. Zola weiß gewiß ſo gut wie irgendeiner, daß tauſend andre Einflüffe dabei mitſpielen , – Einflüſſe , die wir unmöglich alle nach: weiſen können. Wozu alſo dieſes ganz und gar ober : flächliche Spielen mit einer Wifienſchaft, die ihren Namen noch nicht verdient hat, da wir ſo gut wie nichts von ihr wiſſen ? Wenn aber auch alles ſich ſo verhielte wie Zola in ſeinen Erblichkeitsromanen der Rougon Macquart: Reihe ſich und den Leſern einreden will, was wäre dann gewonnen ? Nichts, oder vielmehr alles wäre für Emile Zola. 307 TH11C men ? der une multe intes 31 des uret rden den Komandichter verloren . Wir wären damit näm : lich auf dem Standpunkt angelangt, den das griechiſche Drama mit ſeiner Idee des unabwendbaren Schickſals, und den die deutſche Nachäffung: das Schickſals -Drama des 19. Jahrhunderts, eingenoinmen . Wenn ich von vornherein dahin belehrt werde : Nana iſt das Kind der und der Eltern, Eltern dieſer Urt haben aber nach dem und dem Geſetz der Erblichkeit Kinder von der und der Beſchaffenheit, ſo kann ich mir die aus : führliche Veranſchaulichung eines folchen Erblichkeits: beiſpiels ja wohl erſparen. Uuf der Annahme des freien Willens der Perſonen beruht unſer ganzes Jntereſſe. Dieſe Un : nahme mag irrig ſein , ſie iſt es ſogar aller Wahr ſcheinlichkeit nach, - aber ohne dieſe fiction gibt es keine große Literatur . Ohne ſie ſehe ich die Willkür der Götter walten , ſehe ich blinde Geſetze der Ver: erbung die Menſchen vor ſich herſtoßen , aber ich ſehe keine Menſchen, feine Individuent. Auf die Individuen kommt es aber auch Zola und jeinen Schülern gar nicht an . Das höchſte Ziel aller Kunſt, ſoweit ſie den Menſchen zum Zweck hat : näm : lich menſchliche Geſtalten zu ſchaffen , eriſtirt für Jola nicht. Ich habe ſchon in dem Abſchnitt „ Balzac “ aus: geführt , daß ſich dieſe neueſte Richtung eigentlich für viel zu gut zur Literatur hält , daß ſie ſich als Wiſſenſchaft betrachtet. O über die Kurzſichtigen , die nicht ſehen wollen , daß faſt alle Wiſſenſchaft von ders 1110 ; tiiܐ 6 10 abei with ber wic ola irts ire 20* 308 Emite Zola . heute ſchon nach einem Menſchenalter die Torheit von geſtern iſt, daß aber der kleinſte, ganz unwiſſenſchaftliche, aber künſtleriſche Roman die Wiſſenſchaft der Jahr : hunderte überdauert! Die Naturaliſten haben ſich läſter: licher Weiſe auf Göthes ,, Wahlverwandtſchaften" be: rufen : auch da ſei ein wiſſenſchaftliches factuin , näm : lich die ungleiche Anziehung chemiſcher Körper, die Vorausſetzung des Romans. Kein Menſch würde etwas gegen die Verwertung der Wiſſenſchaft durch Gola ein : wenden, wenn dieſer es gemacht hätte wie Göthe, der fich zur Veranſchaulichung eines vereinzelten Vorgangs in der Menſchenwelt berief auf das Gleichniß eines Vorganges in der Welt der Chemicalien. Gewiß iſt es Göthe nicht im Traum eingefallen , aus dieſem Gleichniß ein Geſetz für die menſchliche Geſellſchaft zu machen, noch weniger aber das Wie dieſes Geſetzes wiſſenſchaftlich ergründen zu wollen . Der Humor bei der Sache iſt vollends der, daß Zola in der Praxis dieſe pſeudowiſſenſchaftliche Spielerei hübſch bei Seite läßt. Außer der Ueberein ſtimmung der Familiennamen und dem Geſammttitel : ,, Geſchichte einer familie “ gibt es nichts, was an dieſe ſtrengen Geſetze der Erblichkeit erinnert. Die einzelnen Romane des Rieſencyclus hängen nicht einmal ſo eng zuſammen wie in Balzacs „ Menſchlicher Komödie " , die offenbar Gola als Vorbild gedient hat. Man braucht das ,, ſommoir " nicht geleſen zu haben , im Nana " vollkommen, und mehr als Einem lieb iſt, zu verſtehen ; Emile Zola . 309 und „ wen man kann ſich die Lectüre des „ fehltritts des Ubbé Mouret “ ſparen , und findet dennoch weder in „ Pot: bouille “ noch in » Au bonheur des dames « irgend eine Dunkelheit. Wozu alſo der ganze Hocuspocus, an den der Verfaſſer ſelbſt nicht glaubt ? betrügt man hier ? “ wie figaro ſagt. Nein , Zola hat keine neue Wiſſenſchaft entdeckt, er hat auch keine fiagelneue Kunſt geſchaffen . Er läßt den realiſtiſchen Roman da , wo er ihıl gefunden, be : reichert durch einige Werke großartiger Kraft, neu : belebt durch eine ſcharfe Beobachtung der Wirklichkeit und verunziert durch eine 311 einſeitige Betonung des Häßlichen . Man ſtreiche oder andere bei Zola das Nebenſächliche : nämlich die allzu gefliffentliche Wahl des rohen Wortes, wo ein weniger rohes genügen würde ; die langen Schilderungen von Widerwärtigkeiten, wo ſie weder zur Stimmung des Ganzen, noch zur Charakteriſtik der Perſonen notwendig ſind , - und man hat einen großen Romandichter aus der Schule Balzacs, der ſeinen Meiſter an ſprachlicher Gewandtheit über: trifft, ihm aber an ſeeliſcher Vertiefung und Vielſeitigkeit der Menſchenſchilderung weit nachſteht. Sobald ſich das erſte Staunen der Blaſirtheit über jene Nebenſächlichkeiten gelegt haben wird, iſt es mit Zola's ertrotzten Erfolgen zu Ende ; er wird dann die Probe zu beſtehen haben, ob auch ohne die Rohheiten, ohne die Nacktheiten, ohne die Kunſtſtückchen der Schil: derei ſeine Romane ihre Wirkung üben . Ich glaube, 310 Emile Zola. bei ſeinem großen Erzählungstalent, bei dem Ernſte , mit dem er arbeitet, bei der unleugbar künſtleriſchen Urt ſeiner Anſchauung wird er auch dieſe Probe be : ſtehen. Er braucht weder auf die Blaſirtheit zu ſpecu liren , noch ſich mit wiſſenſchaftlichen flicken zu ver brämen , um als das 311 gelten , was er iſt: der größte franzöſiſche Sittenromandichter nach Balzac. Was wir bis jetzt von ihm kennen, iſt ſo entſtellt durch Schul manier und Koketterie mit der Naturwiſſenſchaft, daß ein abſchließendes Urteil unmöglich iſt. Man betrachte ihn als einen vielleicht heilſamen Sauerteig in dem träge gewordenen Brei des franzöſiſchen Romans ſeit Balzacs Tode, und warte mit Geduld auf das Reſultat der Gährung K. f . Hofbuchdruckerei Karl Prochaska in Tejchen . Papier der Schlöglmühl. 543231 In der „ Salon -Bibliothek “ find folgende = Werke erſchienen : Die Zonen des Geiſtes. Aphorismen von Moriz Jokai. M. 2.50 ff. 1.50. Haidekraut. Ein neues Skizzen- und Bilderbuch von Johannes Scherr. M. 4.50 = fl. 2.50. Der Naturgenuß. Ein Beitrag zur Glückſeligkeits: lehre von Hieronymus ſorm . M. 2.50 = fl. 1.50. Der Liebe Müh' umſonſt. Drei Novellen von Julius von der Traun. M. 3.50 = fl. 2 . Vom Wiener Volkstheater. Erinnerungen und Aufzeichnungen von Friedrich Schlögl. m. 2.50 fl. 1.50. Literariſche Phyſiognomien. Von Wilhelm Gold: ba u in. M. 3.50 fl. 2 . Eingeſchneit. Novelle von Ernſt Eckſtein. M. 2.50 = fl. 1.50. Der Menſch als Krone der Schöpfung. Von Carus Sterne. M. 4.50 = fl. 2.50. Heſperiſche Früchte. Von Robert Hamerling. M. 3 = fl. 1.80 . Tagebuch aus Abbazia. Von Heinrich 21 o é . fl. 2.50. Ball- Elfe. Roman von Hans Wach e nhuſen. 2 Bände. M. 6 =fl. 3.60. Pſychologie der franzöſiſchen Literatur. Von Eduard Engel. º. 4.50 = fl. 2.50. Suite. Aufſätze über Muſik und Muſiker von Eduard hanslid. M. 4.50 = ff. 2.50. Geſchmackvoll iu Leinwand mit Rothſchnitt gebunden jeder Band um 50 Pf. = 30 kr. mehr. M. 4.50


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