Sadismus und Masochismus (Albert Eulenburg)  

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Sadismus und Masochismus (1902, Sadism and Masochism) is a book by Albert Eulenburg on algolagnia and sadomasochism.

Full text

SADISMUS


UND


MASOCHISMUS


VON


DR A. EULENBURG,

GEHEIM. MED.-RAT UND PROFESSOR IN BERUN.


ZWEITE, ZUM TEIL UMGEARBEITETE AUFLAGE.


MIT 6 ABBILDUNGEN IM TEXT.


WIESBADEN.

VERLAG VON J. F. BERGMANN. 1911.


Nachdruck verboten.

Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in alle Sprachen, vorbehalten.

C/opyright, 1911, by J. F. Bergmann, Wiesbaden.


Druck der K5nigl. Univeraitatsdnielcorei H. StQrtz A G., Wßrzburg.


Inhalt.


Seite ErklSrnng und Ableitung der Begriffe „SadiBmus^ und „Masochismus^. Ihr

Wesen, ihre Bedeutung. Aktive und passive Algolagnie 1

Die physiologischen und psychologischen Wurzeln der Algolagnie (des ,,Sadismus^

und ^yMasochismus^) 8

Die anthropologischen Wurzeln der Algolagnie. Die atavistische Theorie in

ihrer Anwendung auf die algolagnistischen Phänomene. — Schema der

algolagnistisch veränderten Hergänge des zentralen Nervenmechanismus 22 Leben und Werke des Marquis de S a d e. Sein Charakter und Geisteszustand 31 Sacher-Masoch; der Mensch und der Schriftsteller 48

Zur speziellen Symptomatologie und Entwickelungsge- schichte der algolagnistischen Phänomene.

Notzucht, Lustmord, Messerattentate, Nekrophilie 56

Aktive und passive Flagellation (Flagellantismus) 65

Weibliche Grausamkeit. Sadismus und Masochismus des Weibes 79

Sadismus und Masochismus in der neuesten Literatur 89

Literatur 96


Erklärung und Ableitung der Begriffe ,,Sadi8mas^ und ^Masochismus^^ Ihr Wesen, ihre Bedeutung. Aktive und

passive Algolagnie« 

Zu den merkwürdigsten, vom individual-psychologischen und soziologischen Standpunkte gleichermassen interessanten psychosex aalen Abnormitäten gehört imzw^ifelhaft jene eigenartige Vermischung von Wollust und Grausamkeit, die wir im Hinblick auf einen ihrer jeden- falls markantesten Typen, ihren in Theorie und eigener Lebenspraxis bewährtesten, meistgenannten literarischen Vertreter als „Sadismus^^ bezeichnen.

Es darf dabei allerdings nicht ausser acht gelissen werden, dass dieser Ausdruck, der von französischen Autoren, Volksgenossen des Marquis de Sade, ursprünglich geprägt und bei uns durch Krafft-Ebings vielverbreitete Psycho- pathia sexualis in Kurs gesetzt wurde, in der französischen und deutschen Literatur keineswegs in derselben Bedeutung oder wenigstens nicht in dem nämlichen Begriffs- umfange allgemein Geltung erlangt hat. In der französischen Literatur gilt dieser Ausdruck vielfach als Kollektivbezeicbnung für eine recht ansehnliche Zahl psycho- logisch wohl in einem gewissen verwandtschaftlichen Verhältnisse stehender, aber in ihren Äusserungen und Erscheinungsweisen überaus heterogen gestalteter psycho- sexualer Abnormitäten oder „Perversitäten" — deren männliche oder weib- liche Träger man demgemäss als Sadisten („s a d i s t e s'*), deren hierher- gehörige Handlungen man als sadistische oder sadische Akte („actes sadiques") bezeichnet. Das Wort „Sadismus" wird dabei fast gleichwertig mit der weitestgehenden „Abirrung des Geschlechtssinnes** (aberration du sens g6n6sique) im Sinne von Moreau de Tours, dem Schöpfer dieser vielgebrauchten und missbrauchten Bezeichnung. In diesem Sinne finden wir es, um nur einzelne literarische Beispiele hervorzuheben, in dem inhaltreichen Werke von A. Cof- fignon (la corruption ä Paris; 22. Kapitel: „le sadisme** pag. 315 ff.) und ebenso bei Leo Taxil (la corruption fin de si^cle, nouvelle Edition, Paris 1894; „le sadisme" pag. 213 ff.). Coffignon reiht in die Schar der „sadistes** als der geistigen Abkömmlinge des „berühmten Marquis** alle in der Liebe Blasierten, nach einer neuen Sensation lüstern Haschenden, die Erotomanen, die „maniaques en amour** ; er kommt so zur Aufstellung von drei Hauptgruppen, den „b 1 a s 4 s**, den „monomanes" imd endlich den „passioneis'*, unter denen sich aber nur die letzteren mit dem bei uns gebräuchlichen Begriffe des „Sadismus" einigermassen Enlenbnrg, Sadismus nnd Masoehismas. IL Aaflage. 1


2 Erklttrong und Ableitung der Begriffe „Sadismus^ und „MasochismuB^.

decken, indem sie sich ihrer „Passion" entsprechend in gewaltsamen Ilandlungen betätigen und dabei entweder in den Leiden anderer Befriedigung finden, oder 2Ü>er (gleich unseren „Masochisten") auch durch selbsterlittenen, selbstempfundenen. Schmerz geschlechthch erregt werden. Diese weitgehende Begriffsfassung erscheint übrigens insofern nicht ganz unberechtigt, als die beiden grossen Monumental- wierko de Sades — seine „Justine et Juliette**, und fast noch mehr seine „Cent vingt jours de Sodome" — sich keineswegs ausschliesslich auf das beschränken, was wir unter „Sadismus** im engeren Sinne verstehen. Sie enthalten ^elmehr so ziemlich alle überhaupt denkbaren Spielarten sexueller Perversionen und Per- versitäten in buntester Vereinigung und Durchmengung. Sie bilden weit angelegte Museen (oder, wenn das passender erscheint, Raritätenkabinette oder „Schreckai3- kammem*'), in denen sich alle Abnormitäten und pathologischen Spezialitäten des Sexuallebens in Musterexemplaren und in zahllosen Variationen — allem An- schein nach sogar planmässig, oder wenigstens mit einer gewissen absichts- und eindrucksvollen Steigerung — auf- und ausgestellt finden.

Im Gegensatze zu einer solchen Erweiterung und Verallgemeine- rung des Begriffes hat Krafft-Ebing bereits in den älteren Auf- lagen seiner Psychopathia sexualis eine allerdings eng umgrenzte, aber in dieser Umgrenzung anscheinend scharfe und folgerichtige Definition des „Sadismus" geschaffen. Danach ist „Sadismus" dne Penn sexualer Perversion,

„welche darin besteht, dass Akte der Grausamkeit, am Körper des Weibes vom Manne verübt, nicht sowohl als präparatorische Akte des Koitus bei gesunkener Libido und Potenz, sondern sich selbst als Zweck vorkommen, als Befriedigung einer perversen Vita sexualis".

Folgerichtig hat Krafft-Ebing im Gegensatz dazu den Ausdruck „Masochismus^^ eingeführt — nach dem (am 9. März 1895 ver- storbenen) Schriftsteller Leopold von Sacher-Masoch. Unter den Begriff des Masochismus als sexualer Perversion sollen die Fälle gehören,

„wo der Mann, auf Grund von sexuellen Emp- findungen und Drängen, sich vom Weibe miss- handeln lässt und in der Rolle des Besiegten statt des Siegers sich gefällt".

Diese Benennungen haben dank der popularisierenden Kraft und der V^breitung des Krafft-Ebing sehen Werkes, längst in der deutschen und auch in dem überwi^enden Teile der ausländischen Literatur unbestrittene Geltung erlangt, obwohl sich gegen die obigen ein- engenden und schematisierenden Definitionen manche, schon vom empirischen Standpunkte wohlbegründete Bedenken erheb^i lasswi. Wie man leicht erkennt, laufen diese Definitionen darauf hinaus, im


Ihr Wesen, ihre Bedeutung. Aktive und passive Algolagnie. 3

„Sadismus" wesentlich nur eine krankhafte Steigerung des „normalen" Geschlechtsverhältnisses, der Eroberung des Weibes durch den Mann

— im „Masochismus" dagegen eine krankhafte Umkehr dieses Ver- hältnisses zu statuieren. Wenn dem so wäre, könnte der „Sadist" nicht der als solcher charakterisierte Gegenpol seiner eigenen Persön- lichkeit — nicht zugleich „Masochist" sein, was dennoch häufig der Fall ist — wie Beispiele genug aus Leben und Literatur, und vor allem gerade aus den Werken des denkwürdigsten literarischen Ge- samtvertreters aller psychosexualen Perversionen, de Sades, selbst beweisen. Ein bei de Sade besonders beliebtes, häufig angeschlagenes und in theoretischen Exkursen breit ausgesponnenes Thema ist gerade der Gedanke, dass die Marter als solche zugleich Genuss sein kann, dass sie es nicht bloss für den auferlegenden aktiven Theil, sondern

— durch eine Art von Autosuggestion — fast ebenso sehr für das erduldende Opfer selbst werden kann; weshalb beide Teile auch bei ihm vielfach nicht abgeneigt sind, die RoU^i wenigstens zeitweise miteinander zu vertauschen. Man sehe z. B. Roland, der sich von Justine aufhängen lässt (in Band IV der Justine) und die im Vor- genusse bevorstehender Polterung und Hinrichtung schwelgenden weib- üchen Opfer: Amelie in Band III der Justine, Juliette und Clairvil in Band 11. Juliette und Olympia in Band V der Juliette. Im kleineren Massstabo lehren auch die Erfahrungen beim Flagellantismus dasselbe. Gibt doch schon Baudelaire ähnlicher Wechselstimmung Ausdruck mit dem Gedanken: „Es wäre vielleicht süss, abwechselnd Henker und Opfer zu sein". (Tagebücher, deutsch von Osterheld, Berlin 1909.) Dass Wollust im erduldeten nicht minder wie im zugefügten Schmerz denkbar und wirksam ist, lehrt ja ohnehin fast auf jeder Seite die Märtyrergeschichte aller Religionen und Kulte — die mit Selbstpeini- gung und freiwilliger Selbstverstümmelung einhergehende Ausartung des antiken Heidentums, des Kybeledienstes und anderer vorderasiati- scher Kulte so gut wie die Askese der Fakire und Büsser, die Ge- schichte der Skopzen und verwandter gräkorussischer Sekten, und die Einzelgeschichte ungezählter religiöser Fanatiker. Aus dem freiwillig gewählten Leiden erwuchs ihnen höchste Wonne, die Verzückung des Schmerzes löste sich in Ohnmacht; der Tod selbst, die letzte bleibende Ohnmacht, wandelte sich nicht selten zur Verwirklichung äusserster wollustvoller Ekstase. Für eine krankhaft veranlagte oder in abnorme Richtung gedrängte Empfind ungs weise können mit dem Gedanken des Gemartertwerdens und schon mit dem blossen Vorgefühl der zu er- wartenden Martern sich eigene, reizvoll prickelnde und stachelnde Emotionen verknüpfen, wie andererseits auch Eitelkeit und Ehrgeiz im wetteifernden standhaften Ertragen der Martern (man denke an die sich zu den Altären der Artemis Orthia drängende spartanische

1*


4 Erklärung und Ableitung der Begriffe „Sadismus^ und ^yMasochismus*'.

Jugend und an die prahlerische Feindesverhöhnung an den Marter- pfahl geketteter Indianer) stolze Befriedigung findet.

Wie aus diesem antizipierten Hinweise auf später noch eingehen- der zu erörternde Fragen sich wohl ergibt, lassen sich die Krafft- E b i n g sehen Definitionen, soweit damit nicht bloss gewisse substitutive Geschlechtsakte als solche charakterisiert, sondern auch verschiedene Typen und Kategorien sexualperverser Individuen gekennzeichnet werden sollten, in so scharfer Umrissenheit nicht aufrecht erhalten. Die angegebenen Begriffsfassungen erscheinen übrigens auch insofern zu eng, als danach unter „Sadismus" lediglich grausame Handlungen, die von Männern verübt — unter „Masochismus" nur solche, die von Männern freiwillig erduldet werden, zu gehören scheinen; wälurend doch oft genug auch Männer gegen Männer, Weiber gegen Weiber, und (last not least) in völliger Umkehr der Krafft-Ebing sehen Formel, Weiber gegen Männer sadistisch wüten — ja der „maso- chistische" Mann genau genommen das „sadistische" Weib zur Vor- aussetzung hat, da er (wie u. a. auch die eigene Lebensgeschichte und das literarische Schaffen Sacher-Masochs bestätigt) nur bei diesem die Erfüllung seiner Wünsche, die Krönung des seiner Phantasie vorschwebenden Frauen-Ideals findet. Tatsächlich sind die meisten Romane Sacher-Masochs und seiner Nachahmer (Schlichte- groll, Bröhmeck, Curt Rombach, Irene Brug, L. Robin- son — und recht vieler anderen, da die masochistische Novdlistik in jüngster Zeit bei der grossen Verbreitung der Sekte zu einem offenbar einträglichen Geschäfte geworden ist) im Grunde weit mehr drastische Illustrationen und, wenn man will, Glorifikationen dieses sadistischen Weibtypus als des masochistischen Mannes. Der Mann ist dabei zwar immer der „geschlagene", aber recht oft doch der unfreiwillig und ungern geschlagene, das schwächlich duldende Opfer einer siegberauschten sadistischen Tyrannin, das seinerseits nur selten auf die Dauer in diesem Opferspiele etwas Beglückendes oder auch nur Befriedigendes findet. — Es ist also ein Mangel der Krafft- Ebingschen Definition, dass sie nur Akte heterosexueller, nicht auch homosexueller Grausamkeit, und dass sie nicht auch den weiblichen Sadismus — der vielleicht häufiger ist, als man ahnt — einschliesst. Man muss ferner von der Erfahrungs- tatsache ausgehen, dass der im Kraf f t-Ebingschen Sinne als „Sadist" zu Bezeichnende in zahlreichen Fällen eben nicht rein typi- scher Sadist ist, sondern zugleich Masochist, zugleich aber auch „sexual- pervers" in noch allen möglichen anderen Richtungen sein kann — Päderast, Nekrophile und Zoophile, Exhibitionist, Koprophage und tout le reste, wofür gerade die de S ad eschen Schriften eine an Bei- spielen überreiche, in ihrer Art unerschöpfliche Fundgrube bilden.


Ihr Wesen, ihre Bedeutung. Aktive und passive Algolagnie. 5

Für die psychologische Analyse des Sadismus kommt es jedenfalls nicht sowohl auf den Umstand an, dass Akte der Grausamkeit ge- rade von Männern an Frauen (oder auch umgekehrt) verübt werden — sondern das Wesentliche ist und bleibt, dass mit der ge- schlechtlichen Lustbefriedigung überhaupt das Be- gehen, oder Erdulden, oder (als Drittes) sogar nur das — sinnliche oder geistige — Anschauen gewalt- samer und grausamer Handlungen als ein schlechter- dings dafür notwendiges, unentbehrliches Ingrediens untrennbar verknüpft wird.

„Sadismus" und „Masochismus" sind also nur in der Theorie sich ausschliessende Gegensätze; sie sind in Wahrheit einander ver- wandte und innerlich nahestehende Aberrationen, die, gleich so vielem anscheinend Gegensätzlichem, in der menschlichen Psyche nicht selten vereint, neben- und durcheinander in demselben Individuum verwirk- licht angetroffen werden. Ihr gemeinschaftlicher Zug ist eben, dass Schmerz — sei er zugefügt oder erduldet, oder auch selbst nur in der Vorstellung (illusionär oder imaginär) existierend — zur Quelle von Wollustgefühl wird; dass er auf diesem Wege geschlecht- liche Erregung und die dem Ind-ividualempf inden ge- mässe Möglichkeit sexualer Befriedigung auslöst. Aus diesem Gesichtspunkte erscheint es gerechtfertigt, „Sadisten** und „Masochisten" unter dem beide Kategorien umfassenden Begriff der durch Schmerz in geschlechtliche Erregung Ver- se tz.ten, der y^Algolagnisten^^ (älyog und kayveia) zu vereinigen. Der von Schrenck-Notzing ursprünglich empfohlene, von mir übernommene und neuerdings auch von anderer Seite liäufiger in Gebrauch gezogene Ausdruck „Algolagnie** umfasst also die psycho- sexualen Anomalien in Form des „Sadismus** so gut wie des „Maso- chismus" — mag man auch, mit Schrenck-Notzing, jene als „aktive", diese als „passive** Algolagnie unterscheiden. Um den Tatsachen volle Kechnung zu tragen, müsste man streng ge- nommen noch eine dritte, sozusagen zahmere Abart oder Spielart, der ideellen (illusionären) Algolagnie aufstellen, wobei die geschlechtliche Erregung und Lustbefriedigung in psychisch-onanisti- scher Weise lediglich aus der autosuggestiv produzierten und lebhaft apperzipierten Vorstellung verübter oder erlittener Misshandlung geschöpft wird. Indessen da es sich doch auch dabei immer wieder um — wenn auch noch so blasse — Abbilder ihrem Inhalte nach sadistischer oder masochistischer Vorgänge handelt, so können diese Bewusstseinzustände den psychosexualen Kategorien der „aktiven** und „passiven Algolagnie** als Unterformen an entsprechender Stelle ein- gereiht werden. Für den Einzelfall besteht ja ohnehin keine feste


6 Erklflning and Ableitang der Begriffe „Sadismus*' und „Masochismus^.

Abgrenzung. Wie leicht kann sich aus dem scheinbar harmlosen Ge- dankensadisten bei Gelegenheit ein bedenklicher Wirklichkeitsadist ent- puppen — während umgekehrt dieser bei der Unmöglichkeit realer Befriedigung oder bei fortschreitendem Verfalle zum delirierenden Ge- dankensadisten herabsinkt. Einen Typus dieser Art schildert u. a. der Roman „L'öchelle** von Poinsot und Normandy (Paris, Fasquelle 1901). — Im gewissen Sinne lässt sich de Sade selbst (vgl. den biographischen Abschnitt) hierher rechnen.

Bei der „aktiven" Algolagnie also haben wir fremden — bei der „passiven" eigenen, zunächst in der Regel physischen Schmerz übertönt, überkompensiert durch ein Elem^it psychi- scher Lust, oder geradezu als Quelle eigenartigen psychischen Lustgefühles. In beiden Fällen ist übrigens, wie schon hier bemerkt sein mag, der Begriff des „Schmerzes" nicht in zu enger Abgrenzung zu fassen; vielmehr ist er zum Unlustgef ühle überhaupt zu er- weitem, und es ist neben dem physischen ganz besonders der psychische (moralische) Schmerz, wie er z. B. durch tiefste Demütigung, Erniedrigung, Beschimpfung, durch freche Verletzung und Verhöhnung des Schamgefühls usw. erzeugt wird, als meist ebenso wirksamer, wenn nicht wirksamerer lusterregender Faktor mit in Rechnung zu ziehen. Denn auch dies alles kann, so unbegreiflich und so widersinnig es erscheint, verübt oder erduldet gleichermassen zur Quelle psychischen Lustgefühls werden; und so kann der „Maso- chist" nicht bloss in den empfangenen Peitschenhieben, sondern noch mehr in der auferl^ten Demütigung schwelgen, die Fusss^ehen. oder andere noch unappetitlichere Körperteile seiner „Herrin" zu lecken, oder ihren Urin zu trinken — während für den „Sadisten" die ge- waltsame Entblössung und schmutzige Besudelung seines Opfers einen noch höheren Affektionswert haben kann, als dessen Misshandlung und Marterung. Von diesem Gesichtspunkte aus sind auch manche scheinbar abliegende Formen sexueller Perversionen und Perversitäten, wie Exhibitionismus, Voyeurtum, Koprophilie und Koprophagie, selbst gewisse Abarten des Fetischismus usw. mit den algolagnistischen An- trieben und Äusserungen der Lustbefriedigung in mehr oder weniger enge genetische Verbindung zu bringen. — Alle diese Dinge müssen uns klar machen, dass wir uns hier auf Gebieten des Seelenlebens bewegen, wo die als naturgemäss geltenden, gewöhnlichen („normalen") Beziehungen und Verknüpfungen abgerissen, verwirrt, durch neue und fremdartige, den Charakter des Krankhaften an sich tragende Assoziationen ersetzt sind — und dass wir es also mit ihrem Wesen nach als krankhaft zu betrachtenden, primär assozia- torischen Störungen des seelischen Mechanismus, von freilich sehr ungleicher Schweiz und Bedeutung im Einzelfalle zu


Ihr Wesen, ihre Bedeatang. Aktive und passive Algolagnie. 7

tun haben, aus denen die unmittelbar ins Auge fallenden krankhaften Äusserungen des Trieblebens mit kausaler Notwendigkeit resultieren. Der ärztlichen Wissenschaft erwächst hieraus die Aufgabe, Ursachen, Erscheinungsformen und Wirkimgen dieser Störungen näher ins Auge zu fassen, und hinsichtlich ihrer Rückwirkung auf das gesamte körperlich-seelische Verhalten der betreffenden Individuen, sowie auch hinsichtlich der Möglichkeit wirksamer Beeinflussung und Behandlung eingehend zu erforschen.


Die physiologischen and psychologischen Wurzeln der Algolagnie (des „Sadismus^^ und „Masochismus^^).

Insofern sich im Sadismus (in der Algolagnie überhaupt) krank- hafte Erscheinungen des Seelenlebens manifestieren, gehört er als psycho-sexuale Abnormität den Gebieten der Psychopathologie und der Psychiatrie an. Insofern sich im Sadismus Antriebe und Gesinnungen enthüllen, die man wenigstens innerhalb unserer „zivilisierten" Kultur- welt übereingekommen ist, als antisozial und daher antimoralisch zu stigmatisieren, und insofern die Gefühls- und Denkweise des „Sadisten" nur zu häufig in Handlungen gipfelt, die, den Charakter des Ver- brecherischen an sich tragend, ihren Täter mit dem Strafgesetz in ernsten Konflikt bringen, gehört der Sadismus zugleich ins Bereich der sozialen Pathologie und der Kriminologie, und sein Träger wird zum unfreiwillig interessanten Studienobjekt kriminalistischer, kriminal- anthropologischer und soziologischer Forschung. Schwierig, wenn nicht hoffnungslos muss es für den Augenblick noch erscheinen, die ver- schiedenen hier in Betracht kommenden Gesichtspunkte miteinander auszugleichen und zu verbinden. Am ersten dürfen wir auf ein Ge- lingen dieser Bestrebungen rechnen, wenn wir versuchen, den indi- vidual-psychologischen wie den tieferen anthropologischen und sozio- logischen Ursprüngen des Sadismus so weit wie möglich nachzugehen, und seine tief dringenden Wurzeln in der menschlichen Natur, die Ursachen seines Wachstums in der gesellschaftlichen Organisation überhaupt oder in gewissen, innerhalb bestinmiter Zeitperioden seuchen- artig um sich greifenden Krankheitszuständen des Gesellschaftskörpers blosszulegen.

Leichter freilich, als diesen an erschreckenden Abgründen der menschlichen Natur hart vorbeiführenden Weg einzuschlagen, erscheint es, sich im Tone des Moraleiferers oder des plädierenden Staats- anwalts über Lasterhaftigkeit und Verderbtheit, über Korruption und Perversität des einzelnen oder gleich ganzer Zeitrichtungen und Ge- sellschaftschichten sittlich zu entrüsten. Aber das alles sind doch leere Worte, und als Naturforscher, die wir Ärzte doch sein und bleiben wollen, haben wir die Pflicht und die Aufgabe, uns nicht so leichten Kaufes abspeisen zu lassen, sondern begreifen und ver- stehen zu wollen, d. h. die Dinge in ihren gegebenen Zusanmien-


(„Sadismus'^ und „Masochismus *^.) 9

hängen und Entwickelangen als naturbedingt, als notwendig, und in diesem Sinne zunächst als jenseit jeder subjektiven moralischen Wertschätzung liegend objektiv zu erkennen.

Welche Massstäbe man übrigens im einzelnen auch anzulegen gewillt ist — jedenfalls zieht sich, wie alle wirklichen Beobachter und Kenner dieses Gebietes stets zugegeben haben, hier ein recht breiter Qrenzsaum als Übergang zwischen „Irrsinn" und „Kriminalität", indem einerseits ein geringer Prozentsatz von Irrsinn mit einem grossen Quantum verbrecherischer Neigungen und Antriebe, andererseits eine geringe verbrecherische Beimischung mit einem bedeutenden Quantum von Irrsinn gepaart sein kann. Alle Übergangstufen finden sich hier von dei' mehr oder minder schweren angeborenen and ererbten Be- lastung zu der ausgebildeten Psychopathie; und wie flüssig und labil sind die Unterscheidungen, wie unsicher und schwankend Avird selbst das Urteil des erfahrenen Sachverständigen, wenn es sich um Be- stimmungen der „Zurechnungsfähigkeit", um Grenzabsteckungen des „unüberwindlichen Triebes" einerseits und der für das Individuum noch allenfalls überwindbaren verwerflichen, antisozialen Willens- richtung andererseits handelt!

Wir sind von der im Sadismus zutage tretenden eigenartigen Vermischung von Wollust und Grausamkeit ausgegangen. Wo- her kommt Grausamkeit überhaupt? ist sie nur dem Menschen eigen, bei dem Gall ein eigenes Organ der Grausamkeit nachweisen zu können glaubte, ist der Mensch wirklich „l'animal m^chant par ex- cellence"? — ist der Hang zur Grausamkeit der menschlichen Natur tief eingepflanzt, als einer ihrer Grundtriebe, wie es der grosse philo- sophische Vertreter des Pessimismus anzuerkennen scheint, indem er neben dem „Mitleid", das das fremde Wohl, und dem „Egois- mus", der das eigene Wohl will, die „Bosheit", die das fremde Weh will — es also gewissermassen uneigennützig, frei von egoisti- schen Sonderinteressen will — als dritten gleichberechtigten Kompo- nente» unserer WiUensantriebe hinstellt? Sicher gibt es neben der bewussten auch unbewusste Grausamkeit; sicher ist der Hang dazu auch iu geistig schwächeren oder noch unmündigen Geschöpfen vor- handen und sogar (wie die Grausamkeitsgelüste der Kinder und Frauen lehren) oft besonders entwickelt. Und diese unbewussten Grausamkeits- regungen erscheinen wiederum nur als besondere Äusserungsformen eines durch die ganze Natur, durch alles Geschaffene sich hin- durchziehenden gewaltigen Zerstörungs- und Vernichtungs- triebes, der gewissermassen die eine Seite der Dinge repräsentiert — die Natur selbst von der Todesseite gesehen, während sie uns in ihrer unerschöpflich neu gebärenden und neu erzeugenden Ur- kraft von der Lebens sei te erscheint. Wie Leben und Tod, Auf-


10 Die physiologischen und psychologischen Wurzeln der Algolagnie.

bau und Zerstörung im Universum, so erscheinen Zeugxmg und Ver- nichtung, Weltlust und Grausamkeit als entgegengesetzte, aber ge- rade deshalb sich gegenseitig fordernde, untrennbar zusammengehörige Pole des menschlichen Naturbedingtseins. Auf dem engeren erotischen Gebiete ist Grausamkeit in der liebe, und Wollust in der Grausamkeit ein unmittelbar zugehöriges Moment, ein fast niemals ganz auszu- scheidender Faktor. Das spiegelt sich schon in uralten mythologischen .Vorstellungen und Kulten; erscheinen doch bei Indern und Chaldäem die Gottheiten der Liebe, der Zeugung und Wollust zugleich als Sinnbilder des Todes und der Vernichtung; es sei an den indischen Siwa-Kultus, an den babylonisch-assyrischen Kultus der Istar-Beltis (der griechischen Mylitta), an die Dienste der phönizischen Astarte, der ägyptischen Isis, an den vorderasiatischen Kybele-Kultus mit seinen Mysterien, mit den sich prostituierenden Hierodulen und den sich geisselnden und lentmannenden Priestern (Gallen) erinnert Die kyprischo Liebesgöttin sielbst geht aus einem Grausamkeitsakte her- vor — das von seinem Sohn und Erben in der Herrschaft labge- schnittene Zeugungsglied des Kronos fallt ins Meer und befruchtet dieses zur Geburt Aphrodites. Ihre Nachahmer und Nachfolger finden die sich selbst entmannenden Gallen des Kybele-Dienstes in der (um 250) nach Origenes Vorbild auftauchenden ersten christlichen Sekte der „Kastraten" (Valerianer) — der Vorläufer der noch jetzt florierenden russischen Skopzen. Auch bei manchen der heutigen Kulturvölker, z. B. gewissen südaustralischen Stämmen wird eine freiwillige Halb- entmannung — eine Art künstlicher Hypospadie — als anscheinend religiöser Akt angegeben. Bei Weibern werden Infibulation, Aus- schneidung der Clitoris, ja selbst der Brüste und Eierstöcke in gleicher Weise vielfach geübt; es sei nur an die Infibulation der abessinischen Mädchen, an die Clitoridektomie bei den Frauen der Joaros am oberen Amazonenstrom (nach Mantegazza), an die Ovariotomie bei Ein- geborenen in Südaustralien und ebenfalls bei gewissen russischen Sekten erinnert.

Natürlich ist nicht jede grausame Handlung ohne weiteres ein sadistischer Akt. Sie wird dies vielmehr erst, wenn sie Wollust erweckt und wenn sie daher zum Zwecke der Wollusterregung (absichtlich oder unabsichtlich) gesucht und geübt wird.

Immerhin muss man schon hierbei sich gegenwärtig halten, dass, was wii' unter „Wollust" verstehen, eine zwar hauptsächlich, aber doch nicht ausschliesslich an die eigentlichen Sexualempfindungen gebundene, höchste und sublimierteste Lust ist; und wir müssen also auf die geheimnisvollen, in noch rätselhaften Veranlagung«! unseres Nervenapparates wurzelnden ursprünglichen Verkettungen der


(^Sadismus^ and „Masochismos^.) 11

elementaren Gefühle von „Lust" und „Unlust*' zurückgehen. „Es gibt", wie Eduard von Hartmann mit Recht sagt, „keine Lust, die nicht einen Schmerz enthielte, und keinen Schmerz, mit dem nicht eine Lust verknüpft wäre." Ganz besonders kommt diese Mischung beider Gefühl^omponenten bei allen Empfindungen auf dem religiösen Gebiete zur Geltung — in viel weiterem Sinne und Umfange, als aus den zitierten Beispielen hervorgeht; vor allem in den religiösen Anschauungen über Wert und Bedeutung des Opfers. Und gerade hier finden wir einen Schlüssel der aktiven nicht bloss, sondern auch der passiven Algo- lagnie. Wenn das dargebrachte Opfer in Selbstpeinigung (Askese) be- steht, so wird eben diese in der inbrünstigen Hingebung zugleich als Lust empfunden; sie führt bis zur „Ekstase", einem Seelen- zustande, wobei die Vorstellung der freiwillig erduldeten Qualen nur als höchste Lust erweckendes Moment, ohne das scheinbar zugehörige Schmerzgefühl, im Bewusstsein hervortritt — wobei das Schmerz- gefühl durch das unendlich stärkere Lustgefühl verdrängt und un- wirksam gemacht, gleichsam überkompensiert ist. Man kann dabei an analoge Beispiele aus hypnotischen Zuständen denken. — Anderer- seits kann auch das dem Mitleid entspringende Gefühl für die Qualen anderer durch ein höheres Lustgefühl im Bewusstsein gänzlich ver- drängt und ausgelöscht werden — wenn z. B. ein Arbues oder Torquemada im stolzen Gefühl, die Seelen seiner Opfer von ewiger Verdammnis errettet zu haben, deren von ihm verhängte zeitliche physische Leiden und Martern frohlockend mit ansieht.

Dass die „mystische Erotik aus Religion, Wollust, Grausamkeit zusammenfliesst", hat u. a. Novalis, der Dichter des Todes im Roman der blauen Blume (Heinrich von Ofterdingen) feinsinnig aus- gesprochen. In engster tausendfacher Verknüpfung enthüllen sich die Beziehungen zur Grausamkeit führender religiöser Mystik und Erotik in den Märtyrer- und Heiligengeschichten aller Zeiten, wo wir überall das Umschlagen in Akte der Selbstpeinigung sowohl wie der an anderen verübten Peinigungen beobachten; es sei an die ersten christ- lichen Einsiedler, an die Satzungen so vieler Mönchs- und Nonnen- orden und an die Erlebnisse ihrer Stifter und Stifterinnen, an das Leben der heiligen Therese, der heiligen Katharina von Cardone, der Maddalena Pazzi, der Elisabeth von Genton und so vieler anderer im Gerüche der „Heiligkeit" stehender Frauen, an die (noch in anderem Zusammenhange zu betrachtenden) Verirrungen des kirchlichen Flagel- lantismus erinnert.

Überhaupt aber muss auf die nicht bloss dem religiösen Gebiet eigene, sondern in viel weiterer Verbreitung auftretende Freude am Grausamen hingewiesen werden, wie sie sich fast zu allen Zeiten


12 Die physiologischen und psychologischen Wurzeln der Algolagnie.

und bei allen Nationen in dem vielbegehrten und gesuchten Zusehauen bei Akten der Grausamkeit, bei Gladiatorenkämpfen, Martyrien, Hin- richtungen, wie bei Tierkämpfen, Stiergefechten usw. betätigte und, soweit es der aufgelegte dünne Kulturfimis nur irgend ermöglicht, auch jetzt noch betätigt Bei kräftig und brutal angelegten Naturen kann sich die Freude am Zuschauen bis zum Drange eigener Mit- wirkung versteigen — Peter der „Grosse", der einen seiner Strelitzen eigenhändig köpft. Aber selbst für mitleidig veranlagte Individuen übt das Zuschauen bei Akten der Grausamkeit, ja unter Umständen schon das Hören und Lesen davon und das Betrachten von Abbildungen einen überaus starken Beiz aus, der sie nicht loslässt, sie magisdi gebannt hält, und, wie man bei offener Aussprache oft hören kann, vorübergehend die sonderbarsten Ideen- Assoziationen in ihnen auslöst Die gelangweilte Blasiertheit endlich wird dadurch aufgerüttelt und zum Aufsuchen neuer, noch nicht verbrauchter und abgestumpfter Reizmittel für die erschlaffenden Sinne gestachelt So werden auch Kunst imd Literatur — wie wir das im einzelnen noch erörtern werden — zum Dienste algolagnistischer Zwecke vielfach herangezogen ; ja sie treten, einer Zeitströmung, der sie sich nicht entziehen könn^i, gehorchend unbewusst in den Kreis solcher Aufgaben, um dann frei- lich durch ihre Leistungen wiederum jene Strömung mächtiger und verderblicher anschwellen zu lassen — ein verhängnisvoller, unent- rinnbarer Circulus vitioBusI


Treten wir nach diesen allgemeinen Betrachtungen an das engere Problem der Vermischung von Grausamkeit und Wollust im „Sadis- mus" und „Masochismus" näher heran, so ergeben sich dafür aus dem Wesen der geschlechtlichen Vorgänge selbst gewisse physio- logische und psychologische Anhaltspunkte; wir können so einiger- massen die Grundmotive aufdecken und übersehen, die in weiterer, exzessiver (individuell krankhafter) Steigerung zu den Erscheinungen der aktiven und passiven „Algolagnie" führen. Ich möchte nament- lich an drei Pundamentaltatsachen psychosexualer Erfahrung an- knüpfen :

1. Grausamkeit (oder, genauer ausgedrückt, der Trieb Schmerz zuzufügen und eventuell zu er- dulden) ist mit der geschlechtlichen Begier in der Wurzel physiologisch und psychologisch verbunden.


(„Sadismus^ and „Masochismns*'.) 13

2. Die geschlechtliche Befriedigung im Ge- schlechtsakte selbst ist mit Grausamkeit ver- bunden.

3. Die nach dem Geschlechtsgenusse (zumal beim Manne) sich geltend machende körperliche und seelische Keaktionentladet sich in Widerwillen gegen den Genussteilnehmer und in verstärktem Antriebe zu Grausamkeiten ihm gegenüber.

Diese in solcher Formulierung zunächst schroff erscheinenden Leitsätze bedürfen einer etwas näher eingehenden — und natürlich zum Teil einschränkenden — Erläuterung.

1. Aus der voraufgehenden, kürzere oder längere Zeit ungestillt bleibenden Geschlechtsbegierde, der sexualen „Libido" entspringt ein Unlustgefühl, das sich gern in Akten der Gewaltsamkeit und der Grausamkeit entladet. Auch viele Tiere (Kühe, Stuten, Hühner — Büffel, Hunde, Störche, Tauben usw.) werden in Zeiten des geschlecht- lichen Erethismus derartig erregt, dass sie alles was ihnen zu nahe kommt, sogar den Gegenstand ihrer Begierde selbst, beissen und töten. Das Beissen speziell ist überhaupt eine häufige Begleiterscheinung der sexualen Erregung — vielleicht (im Sinne von G. Jäger) auf Grund der engen Beziehungen des Geruchsinns zur Wollust, indem der Innervationsapparat der Beissmuskeln durch den geschlechtlichen Ausdünstungsgeruch in analoger Weise wie sonst durch Nahrungs- gerüche reflektorisch erregt wird. Auch das Küssen — das übrigens, wie es scheint, dem „Urmenschen" gänzlich unbekannt war und als ein noch jetzt lediglich der weissen Rasse zukommendes Prärogativ betrachtet wird — ist ja im Grunde nur ein gemildertes und be- sänftigtes oder, wenn man will, symbolisch andeutendes Beissen. Die erotologische Literatur der Inder hat mit der ihr eigenen, fast pedantischen Methodologie das Beissen (und Schlagen) der verschiedenen Körperteile als Vor- und Begleiterscheinungen des Liebesaktes zu einer förmlichen Systematik herangebildet i). Es dürfte nicht ganz abzuweisen sein, dass, wie Gustav Jäger annimmt, die Geruchstoffe auch bei gewissen sadistischen Erscheinungen eine wesentliche Rolle spielen, indem z. B. beim Lustmord der Angstduft des Opfers auf den Täter erregend, Lustgefühl erweckend wirkt — wie ja auch in der Tier- welt beim Spielen der Katze mit der Maus, beim Wegtragen der


  • ) VgK Richard Schmidt, Beiträge zur indischen Erotik. Das Liebes-

leben des Sanskritvolkes, nach den Quellen dargestellt. Zweite umgearbeite Auf- lage. Berlin W 30, Hermann Barsdorfs Verlag, 1911. — Ebenda: Das Kamasutram des Vatsayana. 3. Auflage.


14 Die physiologischen und psychologischen Wurzeln der Algolagnie.

Beute durch Raubtiere usw. solche durch Angststoffe erweckte Lust- gefühle mitbeteiligt sein mögen (man dürfte auch an die ))ei rein ästhetischer Betrachtung unerklärliche Vorliebe für „haut gout" und dessen Erzielung durch Hetzen des Wildes erinnern) i).

Auf der anderen Seite verführt die durch Sitte und gesellschaf thche Verhältnisse gebotene Eindämmung des Geschlechtsverkehrs, der nicht selten auferlegte Zwang geschlechtlicher Entbehrung den schwächeren und widerstandsunfähigen Teil der Männerwelt, sich um den Preis der in Aussicht gestellten oder auch nur fälschlich erhofften Hin- gebung allen Launen imd Herrschaftsgelüsten ihrer „Herrinnen", all«i Misshandlungen und Demütigungen weiblicher Despoten sklavisch zu unterwerfen. In elementaren Anfängen ist ja auch dieser Zug im Geschlechtsleben — selbst innerhalb der Tierwelt, im vielgestaltigen Werben des Männchens um das Weibchen — allenthalben angedeutet So lange der den eigenen Begierden gegenüber widerstandsunfähige Mann noch „verliebt", d. h. im wesentlichen so lange sein geschlecht- liches Beehren noch ungestillt ist, kann ein berechnendes, schlau ver- sagendes und verheissendes Weib alles mit ihm machen, ihn (wie Lili ihren „Bären") triumphierend herumführen. Bei der ersichtlich zu- nehmenden Effemination der Männer und der entsprechenden Masku- linisation der Weiber, die zu den interessantesten (wenn auch mindest erfreulichen) kulturgeschichtlichen Erscheinungen unserer Zeit gehört, muss sich das natürliche Geschlechtsverhältnis zuungunsten der Männer immer mehr verschieben, und wir dürfen uns daher über das Umsichgreifen masochistischer Vertrottelung auf der einen Seite und das Hervortreten einer zahneknirschenden Misogynie älaStrind- berg auf der anderen Seite und ähnliche Kundgebungen keines- wegs wundern. — Wenn der „verliebte" Mann sich — ein trauriges Schauspiel — vielfach zum Sklaven und zum Spielball für die Launen elender Weiber hergibt, so machen sich diese in ausgleichender Selbst- gerechtigkeit ebenso zu Sklavinnen ihrer noch elenderen begünstigten Liebhaber, ihrer Zuhälter, die somit gewissermassen die männlichen Geschlechtsgenossen für erduldete Ausbeutung und Misshandlung räch^ — wie andererseits in nicht minder zahlreichen Fällen die unglück- lichen Ehefrauen als duldende Märtyrerinnen für das von jhr^i Ge- schlechtsgenossinnen Verbrochene zu büssen haben. Ein grässUches Beispiel eines derartigen Verhältnisses und des Herabsinkens zu tiefster masochistischer Demenz schildert u. a. der anonym erschienene Roman „La maitresse et Tesclave", Paris, maison mystere, fin du XIX si§cle.

1) Vgl. über diese und andere bemerkenswerte hierhergehörige Phänomen«  das grundlegende Werk „Die sexuelle Osphresiologie"; die Beziehungen des Geruchsinnes und der Gerüche zur menschlichen Geschlechtstätigkeit Von Dr. Albert Hagen (Iwan Bloch), Charlottenburg, H. Barsdorf, 1901.


(„Sadismus^ und „Masochismas*'). 15

2. Den im vorstehenden geschilderten physiologischen und psycho- logischen Beziehungen entsprechend, finden wir auch die geschlecht- Hche Befriedigung im Geschlechtsakte selbst mit gewaltsamer und grau- samer Betätigung, sei es gegenseitig oder nur seitens des stärkeren Teils an dem schwächeren erleidenden Objekt, vielfach unmittelbar verbunden. Das Kratzen, Beissen, Schlagen usw. bis zum ßlutver- giessen, Würgen und Umbringen in der Form des Lustmordes — Wovon im einzelnen noch die Rede sein wird — gehört als nur graduell und quantitativ verschiedene Äusserungsweise desselben, gleichzeitig auf erotische und auf gewaltsame, selbst mörderische Betätigung hin- drängenden, in der Wurzel verwandten Doppeltriebes hierher. Schon bei Tieren ist der Geschlechtsakt vielfach mit Grausamkeitshandlungen in der angedeuteten Weise verknüpft, und mehr noch tritt dieser Zu- sammenhang beim Menschen hervor, wo überdies der sich zum Teil ziemlich dicht an der Grenzschwelle des Bewusstseins abspielende und mit seinen konvulsivischen Bewegungen an das Bild des epileptischen Krampfes gemahnende Akt vielfach an die Sphäre des Krankhaften bedenklich heranrückt oder sie, zumal bei neuropathisch und psycho- pathisch veranlagten Individuen, in auffälligem Grade bereits über- schreitet

3. Der geistig und körperlich überlegene Mann empfindet es seiner Natur gemäss als eine Art von Beschämung und als Demüti- gung, sich durch den geschlechtlichen Andrang in solcher Weise über- wältigen lassen zu müssen, wie es tatsächlich der Fall ist und den tief eingepflanzten Wesensbedingungen zufolge wohl auch immer der Fall sein wird. Es ist dem Manne offenbar verhängt, dem Einfluss weiblicher Reize oder den Anreizungen der Weiblichkeit als solcher rettungslos zu unterliegen — wenigstens zeitweise — sofern er eben nicht bloss als intellektuelles W^sen, sondern auch als Geschlechts- wesen organisch prädestiniert ist. Aber für diese von der Natur er- zwungene und vom Manne als „Geisteswesen" schmerzlich empfundene uufreiwillige Hingebung an den mächtigsten und unwiderstehlichsten aller Triebe rächt sich der Mann nach erfolgter Befriedigung ;an dem veranlassenden Objekte und dem Opfer seines (hinterdrein ein ganz anderes Antlitz zur Schau tragenden) „Genusses". Wie jedem intensiven, körperlichen und seelischen Genüsse ein bitterer Nach- geschmack der Ernüchterung, der Enttäuschung, ein Stadium physi- schen und moralischen „Jammers" unvermeidlich zu folgen pflegt, so folgt auch dem am heissesten ersehnten und oft am schwersten erkämpften Genüsse der Geschlechtsbefriedigung — wenigstens beim Manne, für den ja dieser Genuss nur Episode, nicht, wie beim Weibe, höchster Lebensinhalt und Lebensbestimmung zugleich ist — ein Ge- fühl von Widerwillen und Ekel. Das alte, anscheinend nur für den


16 Die physiologischen und psychologischen Wurzeln der Algolagnie.

männlichen Teil^) geprägte Erfahrungswort, wonach jedes belebte Wesen — „omne animal" — „post coitum triste" sein soll, bedeutet für das höchststehende geistige Wesen noch weit mehr als für die gesamte übrige Stufenreihe der „animalia"; und was sich ihm als Nachempfindung aufdrängt, ist zuweilen nicht bloss ein gewisses dumpfes TJnlustgefühl, sondern geradezu ein zu festeren Vorstellungs- formen verdichtetes und konzentriertes Perhorreszieren derjenigen, die ihn dahin gebracht, verlockt, ihn mit sich auf diese nun als er- niedrigend empfundene tierische Stufe herabgezogen hat. Freilich je nach Charakter, Temperament, Bildung und Anpassungsfähigkeiten des legitim oder illegitim vereinten „glücklichen" Paares wird dieser ele- mentare Grundzug in unendlich verschiedenen Schattierungen und Ab- tönimgen zur Geltung gelangen. Von dem leichtesten, flüchtig aufsteigen- den Wölkchen der Enttäuschung, Abkühlung, Verstimmung, Ranküne, beginnenden Aversion wird er sich bis zum wildesten, mordlustigen Ge- fühl des Umbringenkönnens, UmbringenwoUens, Umbringenmüssens in den schwersten Fällen pathologisch steigern. Wie es scheint, blicken manche Männer auf das an ihrer Seite schlafende Weib, mit dem sie sich noch eben „eiiff} ytai (pdorfjri^ , in Lager und Liebe, ver- mischt (wie die stereotype homerische Formel lautet) mit einem Ge- fühle, als könnten sie diese holde oder auch unholde Sehläferin mindestens prügeln, wenn nicht kalten Blutes erdolchen oder erwürgen. Das ist zum Glück meist nur momentanste Anwandlung, flüchtiges Aufwallen oder Aufblitzen, es wird überwunden oder verschwindet spontan — aber es kehrt auch wieder und wird durch die Wieder- holung nicht abgeschwächt, sondern eher verstärkt, während umge- kehrt die Intensität des vorherigen Genusses mit dessen Wiederkehr inmier mehr zusammenschmilzt und sich zuletzt nahezu restlos ver- flüchtigt Auch darf man nicht etwa glauben, dass schon allein die verfeinerte Bildung, die höhere Kulturstufe, der beide Teile des „Liebes- paares" angehören, für sich hinreichen, um diese Empfindungen auf- »uheben oder doch in ihren Folgewirkungen unschädlich zu gestalten. Im Gegenteil, gerade der auf höhere Stufen des Denkens und Pühlens erhobene, in seinem ganzen Nervenleben künstlich verfeinerte, ästheti- sierte Kulturmensch empfindet den Ekel, den Widerwillen, die Selbst- verachtung wegen einer (so erscheint es in solchen Augenblicken) Cochonnerie, zu deren Verüb ung er durch einen unwiderstehlichen Trieb gezwungen wird, besonders schneidend und heftig; und er ist oder wird dann geneigt, diesem Empfinden nicht bloss gegen das einzelne ihm vom Schicksal aufgedrungene Weib, sondern gegen das ganze

1) Das W-eib kann, wie ein englischer Arzt (nach HavelockEllis) etwas zynisch, aber nicht "unzutreffend bemerkt haben soH, „nach dem Koitus singea".


(^Sadismus^ und ^Masochismas^). 17

weibliche Geschlecht Luft zu machen und dies Gefühl, wenn nicht in Handlungen, mindestens in Wort und Schrift nachdrücklich zu betätigen. So erklärt sich zum grossen Teil der Weiberhass und die Weiberfurcht gerade so mancher bedeutenden Denker und Menschen, von Euripides und dem alten Cato (der schon über die schlimme Natureinrichtung klagte, „dass wir weder ohne die Frauen leben, noch mit ihnen glücklich leben können") bis zu Schopenhauer und zu Strindberg, der in seinen Dramen und in seiner fast ins Pathologische umschlagenden „Beichte eines Toren" wohl das Äusserste, zugleich Selbstdurchlebteste, über diese Dinge gesagt und ein unheimliches Rätsel der Menschennatur mitschaudemd enthüllt hat


Bis hierher haben wir den innerhalb der Geschlechtssphäre liegen- den, aus dem Wesen der geschlechtlichen Vorgänge selbst stammenden physiologischen und psychologischen Ursprüngen des „Sadismus" nach- zugehen und seine Wurzeln in dem sexual gedüngten Erdreich auf- zuweisen gesucht. Doch wäre es verfehlt, die Betrachtung auf dieses enge Gebiet ausschliesslich zu begrenzen, da unzweifelhaft auch weitere und allgemeinere, ganz ausserhalb der Geschlechtssphäre liegende oder aus dieser herausragende Motive und Triebfedern bei den sadistischen Betätigungen oft wesentlich mitwirken. Einzelne Hindeutungen müssen hier freilich genügen. Eine grosse Rolle spielt unzweifelhaft der in der menschlichen Natur begründete Herrschaftsdrang und der als sein gerader Gegensatz ebenfalls in der menschlichen Natur nicht fehlende Drang zur Unterwürfigkeit, Dienstbarkeit, Hörigkeit — jener beim Manne überwiegend, dem das Dominium ebenso natürlich und selbstverständlich ist, wie seitens der Frau (das wohl weniger natürliche als künstlich angezüchtete) Servitium. In der Tat, zur „Herrschaft über die Natur" bestimmt und berufen fühlte sich der Mann von jeher, auch zur Herrschaft über das physisch und, nach seinem Dafürhalten, geistig inferiore Weib in skrupelloser Weise berechtigt. Zur bequemen Sicherung und Aufrechterhaltung seiner Herrschaft erhielt er das Weib in geistiger Unmündigkeit, wie ein Kind, um es dann auch als solches rechtlich und sozialethisch zu behandeln. Die vom Manne herrührende Gesetzgebung und die gesellschaftlich und staatlich geduldete oder geförderte Sitte heiligte das brutale Naturrecht des Stärkeren und vindizierte dem Manne, gegenüber dem Weibe, das Privilegium moralischer Demütigung, körperlicher Züchtigung, ja selbst der Tötung. Noch im England des 19. Jahrhunderts war der Frauenverkauf gesetzlich erlaubt. Noch bis in die neueste 2Jeit hineiü haben wir den Racheschrei „tuez-la" dem untreuen Weibe gegenüber vernommen, werden die sittlichen Ver- fehlungen beider Geschlechter stets mit ungleichem Masse gemessen,

Ealenbnrg, Sftdismas und Masochiamus. II. Auflage. 2


18 Die physiologischen and psychologischen Wurzeln der Algolagnie.

und ist selbst die bürgerliehe Rechtlosigkeit und Sehutzlosigkeit der Frau auch innerhalb unserer Kulturwelt nur sehr allmählich und langsam unter zähestem Widerstände und Widerspruch der in Recht- sprechung und Verwaltung massgebenden Mächte etwas eingeschränkt worden. Diese durch die Jahrtausende forterbende Tradition musste ein nicht allzu seltenes Auf schiessen und Emporwuchem sadistischer Antriebe beim Manne ebenso begünstigen, wie auf der anderen Seite der dem Weibe innewohnende oder künstlich eingepflanzte Dienst- barkeitsdrang, Hingebimgs- und Opferungsdrang es seinen Quälern und Peinigem oft nur allzu bequem machte. Zu allen Zeiten und in allen Zungen hat man ja dem Weibe die Pflicht sklavischen Qehorchens und märtyrerhaften Duldens gepredigt — von den Veden und homerischen Epen bis zu unseren neuzeitlichen Dichtem und Denkern ; lässt doch selbst der frauenfreundliche Schiller seine Jungfrau durch eine höhere Stimme belehren:

„Gehorsam ist des Weibes Pflicht auf Erden,

Das harte Dulden ist ihr schweres Los — " und nach Schopenhauer „trägt das Weib die Schuld des Daseins durch Leiden ab" wie der Mann durch Taten. Kein Wunder, wenn die so stets genährten Gefühle demütiger Hingebung und pflicht- schuldiger Opferung für den Herrn und Gebieter bis zur vöUigen Selbstentäusserung, ja zur Selbstentwürdigung krankhaft überspannt wurden. Ohne die Griseldis-Naturen würde es keinen Walter von Saluzzo, ohne die Käthchen-Naturen keinen Wetter von Strahl geben — und mit aus der Beobachtung geschöpfter Ironie lässt der feine Prauenkenner Gutzkow seine Helene d'Azimont in den „Rittern vom Geiste" ansingen:

„Armes Lamm, das eine Schlachtbank — oder

Einen neuen Hirten finden muss^)." Oskar Wilde leistet sich sogar die paradoxe Behauptung: „Von allen Eigenschaften des Mannes schätzen die Weiber die Grau- samkeit am höchsten — ." Und Ferdinand Kürnberger lässt in seinem posthum veröffentlichten Roman „das Schloss der Frevel" seinen Zwerg Zuppa sich in groteskem Humor ergehen: „Der Kampf, Freundchen, das ist die Quintessenz der Essenz. Die Qual, die ihr dem Weibe antut, die Träne, die ihr ins Auge tritt, und schliesslich habt ihr sie doch überschwatzt und überwunden, he schmeckt das?

1) Nicht als „Lamm" sondern als „Löwin** verlangt freilich Hennione von Preuschen v<m ihrem Fremide:

„KÜSS diese weissen Hände, die sich ranken

Um deiner Löwenmähne wirr Geflecht —

Und schlag in meine Glieder deine Pranken

Und töte mich — der Löwin wird ihr Recht l"


(„Sadismas'* and „Masochismus*^.) 19

In keinem Augenblicke ist ein Mann mehr Mann. Es sind die männ- lichsten aller Siege, Marengo und Austerlitz sind nur Schneider- herbergen dagegen 2)" usw. —

Freilich liegen auch hier, wie nicht zu yerkennen ist, die Wurzeln des weiblichen Sadismus, mit dem das sklavisch herabgedrückte Weib an seinen Zwingherm gelegentlich Kaciie ninunt. Nietzsche, auf dessen berüchtigtes Zarathustra-Wort „Gehst du zum Weibe? Ver- giss die Peitsche nicht" sich manche misogyne Idioten albemerweise berufen, hat jenen Zug sehr fein herausgespürt. „Allzu lange war im Weibe ein Sklave und ein Tyrann versteckt" verkündet er „in Menschliches, Allzumenschliches" gleichzeitig mit der Aufforderung, nicht die Frauen, sondern — die Männer besser zu erziehen!

Von dem der menschliehen Natur — vielleicht als phylogenetisches Erbteil — eingeborenem Zuge zur Grausamkeit ist schon in einem früheren Zusammenhange die Rede gewesen; hier muss aber noch jenes dem Grausamkeitstriebe in der menschlichen Natur nahe- stehenden und verwandten, wenn auch viel allgemeineren und weiter ausgreifenden, dämonischen Zuges gedacht werden, den wir vielleicht am besten als frevelnden Hochmut, als „Hybris" im antiken Sinne charakterisieren — das griechische Wort für die mit frommer Scheu empfundene trotzige Auflehnung des autonomen Menschengeistes gegen gottgewollte Ordnung und Sittengebot erscheint in diesem Sinne besonders bezeichnend. Es ist der der menschlichen Natur unaustilgbar eingepflanzte Kain-, Luzifer- und Prometheusdrang — das hochmütige und selbstherrliche, individualistische Sichaufbäumen gegen Autorität, Vorschrift und Satzung — das sich in dämonisch starken Naturen bis zur übermütigen Freude an dem Unerhörtesten, Verworfensten, zum triumphier^iden Hinwegsetzen über alle von Göttern und Menschen ge- zogenen einengenden Schranken, ja zum verneinenden Protest gegen göttliche Weltordnimg und Weltwillen, dem der eigene Individaalwille titanenhaft entgegengestemmt wird, steigert. Aus dieser Geistes- und Gemütsrichtung können die gewaltigsten Grosstaten des Menschen- geistes hervorgehen, aber auch seine verruchtesten Untaten — je nachdem das G^fäss beschaffen ist, in das dieser stürmisch über- quellende Inhalt hineingepresst und das durch ihn kolossal ausgedehnt oder gewaltsam zersprengt wird. Die neuerdings wieder unserem An- und Nachempfinden aufgeschwatzten prachtvollen Raubtierinstinkte der grossen Renaissance-Menschen, die, ohne Spur von Gewissensbekleidung, in grandioser moralischer Nacktheit dahinzuleben scheinen, eines Richard des Dritten, eines Cäsar Borgia — und nicht minder, uin die enge Beziehung zum Sadismus kenntlich zu machen, eines

2) „Die Zeit." Nr. 23; 19. Oktober 1902.

2*


20 Die physiologischen und psychologischen Wurzeln der Algolagnie.

Gilles de Eais, eines Cenci — sind aus diesem Nährboden ursprünglich erwachsen. Jener de Sade des 15. Jahrhunderts, der nach einer grossen kriegerischen Laufbahn und nach zahllosen Schand- taten in seinem 36, Lebensjahre hingerichtete Marschall Gilles de Eais (1404 bis 1440) rühmt sich in hochmütiger Prahlerei selbst des Unerhörten und Niedagewesenen seiner Verbrechen: „il n'est personne sur la planöte qui ose ainsi faire** ruft er grössenwahnsinnig seinen Genossen zu. Aus ähnlichem Holze geschnitzt scheint — maa hat neuerdings freilich eine Ehrenrettung versucht — jener Cenci gewesen zu sein, der Vater der vielbeklagten Beatrioe, dessen Gestalt •ein grosser Dichter, der zugleich ein grosser Seelenkündiger war, Shelley, in monumentalen Zügen vor uns hinzustellen gewusst hat. Aber auch bei de Sade selbst, auf dessen Leben und Werke wir noch einzugehen haben, findet sich an zahlreichen Stellen der Aus- druck dieses auf die ünerhörtheit der begangenen Frevel hochmütig pochenden und in dem Gefühle des Unübertroffenen schwelgenden Grössen Wahns ; Pläne zur Ausrottung ganzer Bevölkerung^i, grosser Orte durch Trinkwasservergiftung, durch künstlich erzeugte Erd- beben usw., werden geschmiedet und hier und da in Szene gesetzt; dem Gotte, dessen Existenz doch auf jeder Seite geleugnet wird, 'wird das freche Hinwegsetzen über seine vermeintlichen Gebote mit triumphierendem Hohn entgegengeschleudert; man rehabilitiert ihn ge- wissermassen, mn ihn zu beschimpfen. Manche der grauenhaftesten sadistischen Phänomene, Nekrophilie, Statuenschändung, alle die scheusslichen Praktiken des (neuerdings wieder in der französischen Literatur in Mode gekommenen) Satanismus haben ihre letzten Wurzeln, neben dem wollüstig mystischen Spiel mit dem Grauenhaften, wohl gerade in diesem hochmütigen Hinwegsetzen über alle Grenzen sittlicher und auch ästhetischer Scheu, in der triumphierenden Er- niedrigung und Verhöhnung alles dessen, was dem pietätvollen Glauben als vorzugsweise geweiht, verehrungswürdig, als unnahbar und un- antastbar gilt und seit jeher geölten hat — in dem blasphemischen Gedanken, nicht bloss mit Menschen, sondern mit dem höchsten über- menschlichen Wesen aus der unbegrenzten Souveränität des eigenen Ich heraus den Kampf aufzunehmen und bis zur Vernichtung zu führen.

Dies alles hängt nun weiter — das springt namentlich bei ge- wissen fanatischen Theoretikern imd Doktrinären des Sadismus, vor allem bei de Sade selbst, deutlich ins Auge — mit den aufs äusserste getriebenen Konsequenzen einer grob materialistischen, oder besser gesagt, mechanistischen Weltanschauung in der Wurzel zu- sammen. Bei de Sade sind es die niedrigsten, literarisch und auch moralisch geringwertigsten Vertreter des seichten Materialismus der


(„Sadismus'^ and „MasochismuB^.) 21

Aufkläruügszeit, der französischen Enzyklopädistenschule — die Hol- bach und Lamettrie — denen er folgt, denen er zum Teil un- mittelbar seine Argumente entlehnt, und aus deren schalen Aufgüssen er sich eine Art von Gifttrunk zusammenbraut, dessen seltsame In- gredienzien teilweise auch heutzutage einer gewissen Anerkennung bei den Vertretern krankhafter 2Jeitrichtungen vielleicht nicht entbehren würden. Freilich dem herkömmlicherweise unter Moral Verstandenem ist das alles diametral entgegengesetzt, und auch die vorgeschrittensten Verfechter einer rein mechanistischen Weltbetrachtung werden für ihre Person vor den gezogenen Konsequenzen zurückschaudern, können sich aber einer gewissen Mitverantwortlichkeit dennoch schwerlich ent- ziehen. Alle seit Jahrtausenden, seit Epicur und Lucrez, unter- nommenen und zeitgemäss erneuerten Versuche, auf eine derartige Weltanschauung eine Ethik zu begründen, sind gescheitert und mussten notwendig scheitern, um nur eine klägliche Verödung des Herzens und Verzweiflung zu hinterlassen. „Der Materialismu s", sagt mit Recht Eduard von Hartmann^), „kann keine Ethik be- gründen, und in den späteren Nachkommen der heutigen Materialisten werden sich dieidealistischen Instinkte immer noch abschwächen müssen." Wenn dem Zuge der Zeit folgend, trotzdem immer wieder Anläufe gemacht werden, frei- Uch unter ausgesprochener Abweisung des ethischen Materialismus in seinen brutalsten Formen und Äusserungsweisen, eine Ethik auf naturwissenschaftlicher Grundlage zu konstruieren, so soll derartigen Bestrebungen natürlich nicht im voraus jede Berechti- gung aberkannt, es müssen aber doch ihre bisherigen Ergebnisse als mindestens zweifelhaft angesehen werden. Das Unternehmen, die Ethik als „positive Wissenschaft" vollkommen unabhängig von allen nicht bloss religiösen, sondern auch metaphysischen Voraussetzungen zu konstituieren (entsprechend dem unkritischen, dogmatischen Posi- tivismus Auguste Comtes) ist bisher nicht gelungen ; und auch neuere, in ähnlicher Richtung sich bewegende Versuche, auf die ich wohl nicht ausdrücklich hinzuweisen brauche, müssen als bisher recht wenig erfolgreich gelten. So führt uns einstweilen wenigstens das Streben nach einer evolutionistischen Herleitung und Erklärung der Moralbegriffe auch auf diesem Gebiete nicht weiter, und wir verfallen dabei nur allzu leicht der (meiner Meinung nach recht unfruchtbaren, wenn auch von mancher Seite mit grossem Eifer vertretenen) evo- lution istisch-atavistischen Theorie des Sadismus und verwandter sexualer Perversionen, womit wir uns im folgenden noch näher auseinander- zusetzen haben.

1) Geschichte der Metaphysik. Leipzig 1899 und 1900.


Die anthropologischen Wurzeln der Algolagnie. Die ata- vistische Theorie in ihrer Anwendung auf die algolagnistischen Phänomene. — Schema der algolagnistisch veränderten Hergänge des zentralen Nervenmechanismns.

Eine der gesamten Zeitrichtung aus mancherlei Gründen ausser- ordentlich zusagende, überdies durch ihre imponierende Einfachheit und leichte Erfasslichkeit sich selbst der begrenztesten Laienintelligenz ein- schmeichelnde „Erklärung" für das rätselhafte Seelenphänomen der Algolagnie, insbesondere des Sadismus hat man — wie für so viele andere unerfreuliche antisoziale Erscheinungen, ja für das gesamte weite Gebiet des Verbrechertums überhaupt — im ^Atavismns^^ zu finden geglaubt ; mit welchem den Rückschlag in die XJrahnenreihe be- zeichnenden Ausdruck wir das Verständnis und zugleich die Verant- wortlichkeit für die uns befremdenden Affekte und Antriebe gewisser- massen weit von uns ab, auf entfernteste menschliche, oder noch weiter, auf unbekannte vormenschliche Vorfahren in der Stammes- entwickelung zurückschieben. Diese Vorstellimg läuft im Grunde darauf hinaus, dass dieser und jener von uns noch algolagnistische (sadistische) Instinkte haben soll, weil jene menschlichen oder vor- menschlichen Vorfahren in jenseits aller Erkenntnis liegenden Ur- zeiten derartige Instinkte einstmals gehabt und vielleicht als nützlich oder gajr notwendig im Daseinskampfe erprobt haben. Die Einfach- heit und mühelose Anbequembarkeit dieser Erklärung ist freilich nur scheinbar; ihre Schwächen und fast unüberwindbaren Schwierigkeiten fallen bei einigem Nachdenken nur zu deutlich ins Auge. Wo sollen zunächst unsere menschlichen Vorfahren diese für uns jetzt so un- angenehme und sozial unberechtigte Eigentümlichkeit zu ihrer Zeit herbezogen, oder in welcher Weise, unter welchen Umständen sie auf dem so beliebten Wege der „Anpassung" in Generationen allmählich herangezüchtet und fortgepflanzt haben ? Von unseren phylogenetischen Vorfahren oder Stammesverwandten können sie wohl etwas Derartiges kaum übernommen haben; denn wenn man auch eine aufsteigende Differenzierung und Verfeinerung der geschlechtlichen Impulse inner- halb der Tierreihe und selbst die beginnende Entwickelung sexualer Perversionen bei höher organisierten Tieren (widernatürliche Unzucht


Die anthropologischen Warzeln der Algolagnie etc. 23

bei Händen, Onanie bei Affen) als Erfahrungstatsachen anerkennen muss, so ist doch von irgendwelchen im engeren Sinne algolagnisti- schen Instinkten dabei nichts zu entdecken. Im Gegenteil pflegt gerade bei den höher organisierten Tieren, von denen ja auch manche in einer Art von monogamem Verhältnisse leben, das Männchen sein Weibchen ausserhalb des Geschlechtsverkehrs entweder mit Gleich- gültigkeit, oder selbst mit einer gewissen freundschaftlichen Zuneigung, die hier und da an Zärtlichkeit streift (wie bei Vögeln namentlich), zu behandeln. Auch unter den Primaten, den dem Menschen am Dächsten stehenden Anthropoiden, hat man mancherlei schätzbare Ge- mtitsregungen, aber meines Wissens bisher noch keine Spuren sadisti- scher Neigungen gefunden. Dass etwa bei der vielumstrittenen Über- gangsstufe des „Pithecanthropus erectus", oder dass bei unseren zweifel- haften Urahnen der Tertiärzeit und ihren jüngeren quatemären Nach- kommen etwas dergleichen zu vermuten sei, lässt sich wenigstens aus Schädel- und sonstigen Befunden nicht erschliessen.

Soweit aber unsere geschichtlichen Kenntnisse in das Dunkel der Vorzeit hineinleuchten — und das ist immerhin jetzt schon die ganz hübsche Strecke von ungefähr 8000 Jahren, also nahezu 270 Generationen — lässt sich auch ein ausgebreitetes Vorherrschen sadistischer und überhaupt algolagnistischer Neigungen nicht gewahren — nicht einmal (trotz der minder hohen Zivilisationsstufe) durchgängig grössere Gemütsrohheit und direktere Freude an Grausamkeit, die im Gegenteil z. B. an den Ausgängen des Mittelalters und zur Zeit der Renaissance durchschnittlich grösser und verbreiteter gewesen zu sein scheint, als bei den uns bestbekannten Nationen des „Altertums", die auf diesen traurigen Ruhm mit sehr vereinzelten Ausnahmen über- haupt keinen Anspruch erheben. Davon abgesehen erscheinen die alten Ägypter und Vorderasiaten, Inder und Chinesen, Griechen und Römer, Germanen und Slaven usw. speziell in ihren Sexualverhältnissen, in ihrem Liebes- und Eheleben kaum wesentlich anders, gewiss nicht besser, aber auch ebensowenig im Durchschnitt schlechter und „per- verser", als ihre jetzt lebenden und sich selbst so gern im Schimmer der Dekadenz erblickenden Nachfahren i). Und das gleiche wie von den alten Kulturnationen gilt im grossen und ganzen — auf die scheiobaren Widersprüche werde ich noch zurückkommen — auch von den heutigentags existierenden, mehr und mehr im Aussterben begriffenen „Naturvölkern" 2). Wo ist also hier für die atavistische

  • ) Vgl. u. a. „Das sexuelle Leben der alten Kulturvölker" von l)r. Josef

Müller. Leipzig, Th. Grieben, 1902.

  • ) Vgl. „Das sexuelle Leben der Naturvölker*' von Dr. Josef Müller.

Zweilo Auflage, Leipzig, Th. Grieben, 1902. — „Das Sexualleben der Naturvölker.** I. Das SexuaUeben der Australier und Ozeanier von 0. S c h i d 1 o f. II. Das Sexual- leben der Afrikaner von Hans Freimark. (Leipziger Veriag.)


24 Die anthropologischen VVurzehi der Algolagnie etc.

Lehre eine tatsächliche Anknüpfung zu finden, will man nicht etwa auf einzelne vorübergehende, durch besonder© örtliche und zeitliche .Veranlassungen gebotene, übrigens auch vor der historischen Kritik in ganz anderem Lichte erscheinende Gewaltsamkeiten (Frauen- raub u. dgl.) oder — auf die innerhalb des geschichtlichen Verlaufes auch starken Schwankungen unterliegende Geringschätzung und recht- liche Unterdrückung des Weibes zurückgreifen?

Denn allerdings, wie schon im vorigen Abschnitte hervorgehoben wurde, hat der Mann, soweit unsere geschichtliche Überlieferung reicht und also wohl auch in vorgeschichtlichen Epochen von der ihm ver- liehenen physischen Überlegenheit vielfach Gebrauch (oder Missbrauch) gemacht, um die schwächere „Gefährtin" in Druck und Abhängig- keit — in jener von Stuart Mill gekennzeichneten „subjection of women" — fortgesetzt zu erhalten. Er hat sie ohne Eücksicht auf ihre Inferiorität nur zu .häufig als Arbeitskraft ausgenutzt, ja geradezu als Lasttier verwertet, um seinerseits auf der Bärenhaut liegen und sich nur den noblen Passionen des Krieges und des Waidwerks hin- geben zu dürfen. Er hat sich auch fast überall, sei es in den Formen des rohen Naturrechts oder in gesetzlicher Kodifikation, eine Art von Herrenrecht und von Herrengewalt über sie zu wahren gewusst, die, ursprünglich angemasst, im Laufe der Zeit nach und nach zum unbe- strittenen Gewohnheitsrecht wurde, bis die so lange glücklich be- haupteten Positionen endlich in der Gegenwart bei der geschlossen«! Offensive aus Frauenkreisen und der bemerkbar abnehmenden Ver- teidigungs-Energie der Männer eine nach der anderen langsam ins Wanken geraten. Fast in allen Geschichtszeiten hat der Mann sich das Recht vorbehalten, das Weib gleich einer Sklavin zu behandeln, es zu züchtigen, zu misshandeln, ihre Untreue in monogamischen und polygamischen Verbindungen einseitig oft in grausamster Weise, mit dem Tode, mit raffinierter Marterung zu bestrafen. Aber das alles ist doch, wie schon gezeigt wurde, im grossen und ganzen mehr aus überspannten Herrschafts- und Eigentumsbegriffen, man möchte sagen aus einer Art von hochmütigem Grössenwahn des Mannes hervor- gegangen, und hat mit sadistischen Fühlungen und Antrieben direkt nichts zu schaffen, da in allen diesen Verhältnissen das Weib zu- nächst ledigHch als nutzbare Arbeitskraft oder Arbeitsmaschine, als Untergebene oder Hörige, als persönlicher Besitz irnd Eigentum des Mannes — nicht aber als Geschlechtswesen, als erstrebtes Ziel des Geschlechtsgenusses wesentlich in Betracht kommt, und es sich jeden- falls dabei nicht um das algolagnistische Bestreben handelt, durch Schmerzzufügung die geschlechtlichen Begierden (des Mannes) anzu- stacheln und gleichzeitig zu stillen. Von derartigen Bestrebimgen ist bei allen diesen historisch gewordenen und jetzt allmählich, wie es


Die anthropologischen Wurzeln der Algolagnie etc. 25

scheint, abbröckelnden Eechtsverhältnissen der Geschlechter doch in keiner Weise die Rede. Im Gegenteil, die weisen Gesetzgeber, die — von Manu und Moses her bis auf den ersten Napoleon — dem Weibe eine rechtlich so untergeordnete Stellung anwiesen, dachten und handelten in ihrer Art ganz frauenfreundlich, indem sie (ä la Moebius) sich des von ihnen längst erkannten physiologischen Schwachsinns des Weibes erbarmten und dieses unter den Schutz des Mannes stellten — eines freilich nur zu oft etwas unzuverlässigen und gewalttätigen Beschützers.

Der „Wilde'*, der „Naturmensch" — ein brutales Halbtier, in Wahrheit oft „tierischer als jedes Tier*' — blickt auf das Weib mit Verachtung einerseits wegen seiner physischen Schwäche, andererseits wegen der aus dem Gefühl dieser Schwäche notwendig entspringenden Sklavenuntugenden, der Falschheit und Tücke. Wie tief in den Augen auch des heutigen Wilden das Weib steht, davon hat u. a. der be- kannte, als Missionar und Zivilisator der nordafrikanischen Völker- schaften hochgeschätzte Kardinal Lavigerie einzelne Züge mitge- teilt, die in ihrer naiv stumpfsinnigen Barbarei geradezu grauenhaft anmuten. Aber jene Anschauung vom Weibe spiegelt sich auch im Lichte der stufenweise fortschreitenden Kultur, ja sie ist bis in unsere heutige Kulturwelt hinein wohl in Formen und Ausdruck gemildert, dem Wesen nach trotz aller galanten Phraseologie fast unverändert. Den Orientalen nicht bloss, sondern auch der hellenisch-römischen Kulturwelt war die Minderwertigkeit des Weibes eine so unzweifelhaft feststehende Tatsache, wie sie es noch für Lombroso und Moebius war, und nur wenige erleuchtete Geister (wie Piaton im „Staate*') vermochten sich zeitweilig über die Grenzen einer solchen Anschauung hinaufzuschwingen. Dem scharfblickenden Römer Tacitus machte es einen gewaltigen Eindruck, dass die alten Germanen am AVeibe „etwas Heiliges und Prophetisches** (sanctum et providum aliquid) verehrten — und doch war auch dieser altgermanische Frauenkultus recht fragwürdiger Natur und schloss Raub, Verkaufen und Ver- spielen der Frau, sowie die barbarische Bestrafung der Frau allein wegen ehelicher Untreue so wenig aus, wie die minnesängerische Anhimmelung der Frauen im späteren Mittelalter weibliche Recht- losigkeit und brutales tätliches Vergreifen am Weibe auszuschliessen vermochte. Jene Anhimmelung war eben etwas künstlich Anerzogenes, Manieriertes — die Barbarei dagegen steckte tief in der Gesinnung, und sie steckt verkappt und verhüllt noch jetzt in der verweigerten Rechtsgewährung, in der ungleichen zi^dlrechtlichen Behandlung, der schweren Benachteiligung des weiblichen Geschlechts in fast allen Beziehungen des sozialen und öffentlichen Lebens. So waren denn auch die Ergebnisse fast überall und zu allen Zeiten die nämlichen.


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Allenthalben hat der Mann durch die jahrtausendlange Abhängigkeit, in der er das Weib gehalten hat — indem er sie nicht als intellektuell und moralisch gleichwertiges Wesen anerkannt, indem er auch ilire geistige Entwickelimg nach Kräften eingeengt und gehemmt hat — allenthalben hat er dadurch die bekannten Sklavenuntugenden künst- lich gezüchtet, die man seit Jahrtausenden dem Weibe vorzuwerfen pflegt: Feigheit, Unaufrichtigkeit, Falschheit, List und Verschlagen- heit, Perfidie, Bosheit und Grausamkeit. Kein Wunder, dass wo das Weib einmal durch die Verhältnisse zur Herrschaft gelangt oder sich dem in B^ierden schwachgewordenen Manne gegenüber meiner Macht bewusst wird, dass es da herrscht, wie eben der Herr gewordene Sklav zu herrschen pflegt, ungezügelt, schamlos, despotisch und grau- sam; dass es vor keiner Überspannung des Herrschergelüstes, keinem Missbrauch der Herrschergewalt zurückschreckt. Dass der Mann seiner- seits im einzelnen Falle zur endlichen Vergelttmg solcher lange er- tragenen und erduldeten Kränkungen fortschreitet und die Schande der „Gynäkokratie" gewaltsam abwirft, ist nur allzu begreiflich. Ganz abgeschmackt erscheint aber die Wendung, die man der atavistischen Theorie des Sadismus gegeben hat (und von der sogar Zola in „Bete humaine" Gebrauch macht), dass es sich dabei um einen atavistischen Trieb zur Rächung uralter Kränkungen handle, die das Weib dereinst dem männlichen Geschlecht zugefügt habe, in der Zeit des uralten Eherechts, des „Matriarchats**, jener bekanntlich noch recht umstrittenen und in ihren ursächlichen Verhältnissen wie in ihrer Bedeutung keines- wegs klarliegenden Einrichtung. Mit dem gleichen Rechte könnte man auch die Schatten der alten Amazonen heraufbeschwören; oder umgekehrt in dem vereinzelten Hervortreten des weiblichen Sadismus einen atavistischen Trieb zur Rächung einstiger handgreiflicher Ehe- schliessungsformen, des Sabinerinnenraubes usw. erblicken. Derartige Argumentationen können eine ernsthafte Betrachtung b^i TagesUcht kaum noch vertragen.

Schliesslich muss nochmals ausdrücklich betont werden, dass die atavistisch-evolutionistische Theorie eine wirkliche Erklärung der algo- lagnistischen Antriebe und Handlungen keineswegs liefert. Sie weist uns vielmehr nur zurück auf die durch wiederholte und gehäufte Handlungen erworbenen Eigenschaften und Gewohnheiten unserer Vor- fahren, die sich in der Form von Instinkten — sei es als Einzel- oder als Rasseninstinkte — auf die Nachkommen übertrugen; aber wie und unter welchen Umständen die Vorfähren selbst zu Trägem solcher Affekte und Antriebe wurden, darüber vermag die Theorie keinen Aufschluss zu geben. Die gestellte Frage wird also nur in möglichst weit der kritischen Kontrolle entrückte Zeitfemen zurück- geschoben — ungefähr in derselben Weise, wie man sich der unbe-


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quemen Frage nach dem Ursprünge des Lebens auf der Erde mittelst der „kosmozoischen" Hypothese zu entziehen suchte, wonach das von einem anderen Weltkörper herstammende organische Leben durch herabfallende Meteore auf die Erde gewissermassen verschlagen wurde! Immerhin wird man an den atavistisch-evolutionistischen Ideen einen gewissen berechtigten Kern insofern anerkennen dürfen, als die Erfahrung der Urzeit den Menschen mit der Notwendigkeit, sowohl seinerseits Schmerz zu ertragen, wie auch anderen beseelten Wesen Schmerz zuzufügen, bald bekannt machen musste. Denn beim steten Kampfe des Menschen mit Raubtieren und mit andere ihm an Stärke gleichen oder überlegenen Geschöpfen war er — mochte er nun An- greifer oder Verteidiger sein — unausbleiblich genötigt, diesen Wesen Schmerz bis zur Vernichtung und Ausrottung zuzufügen, wollte er eigener schmerzhafter Schädigung und Tötung vorbeugen oder ent- gehen; und indem er seinen Zweck durch die von ihm ausgehende absichtliche Gegenschädigung erreichte, musste er wegen der Er- reichung dieses Zweckes an dem verursachten Schmerz zugleich ein Gefühl der Lust, der Befriedigung empfinden. Dieses Gefühl der Lust musste noch dadurch gesteigert werden, dass er dabei auch seiner höheren geistigen Begabung gewahr wurde, die ihm im Kampfe mit den an rein physischer Stärke gleichen oder überlegenen Mit- geschöpfen den Sieg sicherte. Natürlich konnten diese Gefühle nur dem Manne, dem Kämpfer imd Jäger, dem Erringer der Tierbeute, unmittelbar zuteil werden. So haben wir hier beim Manne die An- fänge eines Lustgefühls auf Grund des anderen beseelten Wesen absichtlich bereiteten Schmerzes. Der Gedanke ist nicht abzuweisen, dass, wie die sexuellen Lustgefühle ja auch im Laufe der Kulturentwickelung bis zu einem gewissen Grade immer wachsender Verfeinerung, immer künsthcher hinaufgetriebener Steige- rung unterliegen — man denke nur an die Reizungen der Verhüllung und Hervorhebung durch Kleidung und Schmuck, der sozial gebotenen Entziehung und Erschwerung beliebigen Geschlechtsgenusses usw. — , dass so auch die mit Schmerzzufügung und Tötung verbundenen Lust- gefühle allmählich an Intensität und Subtilität zunahmen. Denn die Kultur lehrte den Menschen leider nicht bloss mit grösserem Raffine- ment zu lieben, sondern auch mit grösserem Raffinement Schmerz zuzufügen, umzubringen, zu töten. Wie weit man es in dieser „Ent- wickelung'* gebracht hat, dafür liefert ja jeder Blick in die Arsenale der Folterkammern und in die Strafgesetzgebungen noch nicht allzuweit hinter uns liegender Zeiten die traurigsten Belege. Mehr und mehr erfreute das anderen zugefügte Leid als solches, als Selbstzweck, auch ohne die damit ursprünglich verbundenen Ideen der Notwehr, der Rache, der Bestrafung usw. — gerade wie die erotischen Lustgefühle


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schon durch den Anblick verhüllter, durch die Verhüllung jnarkierter und doppelt anreizender Körperteile, ja (beim Fetischisten) sogar durch den Anblick dieser Verhüllungen allein hervorgebracht wurden. So konnte es wohl unter begünstigenden Umständen dazu kommen, dass die sich ausbreitenden Territorien der erotischen Lustgefühle und der durch Schmerz erweckten Lustgefühle und der damit zusammenhangen- den Vorstellungen mehr und mehr einander genähert wurden, bis zu teilweiser Deckung — ja in einzelnen prädisponierten Individuen bis zu mehr oder weniger vollständiger Verschmelzung. Hier haben wir vielleicht die ersten individualistischen Anfänge der Algolagnie zu suchen — und indem wir diesen Gedankengang etwas weiter ausspinnen, ist es uns vielleicht vergönnt, wenn auch nicht zu einer „Er- klärung" der Algolagnie, doch zu einem gewissen Ver- ständnisse der dabei vor sich gehenden abnormen Seelenvorgänge und zugleich zu einer gewissen Ein- sicht in die entsprechenden (krankhaften) Störungen des zentralen Nervenmechanismus bei der Algolagnie zu gelangen.

Natürlich kann es sich dabei nur um Vorgänge handeln, die sich in den Sinnes- und Assoziationsfeldern der Hirn- rinde und damit zusammenhängenden Projektions- bahnen abspielen. Wer dem Vorhergehenden mit Aufmerksamkeit gefolgt ist, für den wird es zu der im folgenden versuchten f unktionell- anatomischen Darlegung und zu ihrer bildlichen Hlustrierung durch das beigefügte Schema keiner detaillierten Erklärung bedürfen; ihm wird beides auch ohne weitläufige Erläuterungen und Anmerkungen wohl verständlich erscheinen. Man könnte von diesem — wie ich zugebe, recht anfechtbaren — assoziationspsychologischen Standpunkte der Sache etwa nachstehende einfache Formulierung zu geben ver- suchen :

„Beim Algolagnisten geht der Weg zur Vor- stellung von Wollustgefühlen und genitalen Er- regungen, und zur Auslösung sexualer Impulse nicht direkt von den Sinneswahrnehmungen — sondern auf dem Umwege von solchen über die Vorstellung von Schmerzgefühlen (sei es durch Zufügung, oder Erduldung, oder durch blosses Mitansehen, oder Fingieren körperlicher oder seelischer Misshandlung und Demütigung).**

In diesi*m weiten Rahmen lässt sich alles unterbringen, was uns aa viel- gestaltigen Äusserungen algolagnistischer Affekte und Triebe in Leben und Literatur entgegentritt. Auf da-s einfachste Schema reduziert, können wir tins die dabei in


Die anthropologischen Wurzeln der Algolagnie etc.


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den zentralen (zerebrokortikalen) Zellen- und Nervenbahnen voraussetzenden Aus- und Umschaltimgen in folgender Weise vergegenwärtigen :

Die von den peripherischen Sinnesapparaten aufgenommenen und zentral- wärts geleiteten Sinneseindrücke, die für gewöhnlich sexual anregend wirken, ver- laufen von den betreffenden Sinnesfeldem (a) normalerweise in den Bahnen b zu den Assoziationsfeldem v, woselbst sie mit den Vorstellungen von Wollust- gefühlen und entsprechenden genitalen Erregungen verknüpft werden. Von hier aus gehen die Bahnen c zu den exzitierenden (motorischen) Genitalzentren inner- halb der Hirnrinde (g) und Von diesen wiederum die Projektionsbahnen für exzito- motorische genitale Impulse (e) peripheriewärts. — Auf der anderen Seite gelangen von den peripherischen Sinnesapparaten aufgenommene Eindrücke — von den vorigen in Qualität imd Quantität normalerweise gänzlich verschieden — zu den Sinnesfeldem f \md von hier in den Bahnen h zu den Assoziationsfeldem d, woselbst sie mit Vorstellung von Schmerzgefühlen und von Zufügimg oder £r- duldung schmerzerregender Handlungen usw. verknüpft werden. Diesen Assoziations- feldem gehen auch Verbindungsbahnen von den ersterwähnten Sinnesfeldem (i) zu; femer stehen sie durch intrazentrale Bahnen (k) mit den Assoziationsfeldem v



in wechselseitiger Verbindung. Von den Assoziationsfeldem d verlaufen die Bahnen 1 zu den koordinierenden motorischen Rindenzentren (m) und von hier die Projektionsbahnen p, mittelst deren die Ausführung der intendierten gewaltsamen Handlungen vor sich gehen kann, peripheriewärts.

Während nun unter normalen Verhältnissen der wollusterregende genitale Impulse auslösende Reiz über a, b, v, c, g und e kontinuierlich geleitet wird, müssen wir uns beim Algolagnisten die Bahn b als mit verstärkten Hem- mungen versehen, betriebsgestört, oder — in den schwersten Fällen — als gänzlich abgebrochen denken, so dass auf diesem Wege Vorstellungen von Wollustgefühlen und genitalen Erregungen nicht mehr ausgelöst und die motorischen. Zentren und Bahnen genitaler Erregungen nicht in Aktion gesetzt werden. Wohl aber kann das noch, und mit verhältnismässig um so grösserem Erfolge, auf dem Umwege über die Sinnesfelder d, durch die für gewöhnlich ausgeschalteten oder wenig be- nutzten Bahnen i und die die Assoziatiousfelder d und v verbindenden (intra- zentralen) Bahnen k geschehen. Somit werden ausser den adäquaten, von den Sinnesfeldem f aufgenommenen und in den Bahnen h fortgeführten Reizen zu den Assoziationsfeldem d über i sich auch die von a kommenden gesellen, und


30 Die anthropologiBchen Wurzeln der Algolagnie etc.

es werden sich also mit den Vorstellungen von Zufügung oder Erduldung schmer& erregender Handlungen die typischen Vorstellungen von Wollustgefühl und genitaler Erregung mftnmgfach assoziieren. Es können einerseits diese letzteren Vorstellungen mittelst der für sie freigegebenen Bahnen i, d, 1, m und p zur Verühung gewalt- sam schmerzerregender Handlungen den Anstoss erteilen — andererseits können die über h und i zugeleiteten, in den Assoziationsfeldem d gesanmielteii Vor- stellungen auf dem Wege über k, v, c, d und g zur Auslösung sexualer Impulsd dienen — so dass nicht bloss die betreffenden Vorstellungen wechselseitig tait- einander assoziiert werden, sondern auch, wie wir das beim Algolagnisten tatsäch- lich geschehen sehen, die Vornahme (oder Erduldung) schmerz- erregender gewaltsamer Handlungen und die Auslösung sexualer Impulse gleichzeitig oder sukzesiv in Wirksam- keit treten.

Überblicken wir noch einmal rasch den Gang der bisherigen Ausführungen, so lässt sich das Endergebnis wohl dahin zusammen- fassen, dass in uns allen mehr oder weniger verborgene Keime „sadistischer" sowohl wie „masochistischer", also überhaupt algolagnistischer Neigungen und An- triebe potentiell schlummern — und dass es diesen wie so vielen anderen Möglichkeiten unseres psychophysischen Wesens gegenüber in erster Reihe auf die Beschaffenheit der geistig-sittlich«! Gesamtpersönlichkeit, daneben freilich auch auf äussere Verhältnisse und Umstände ankommt, ob diese oder jene Seiten unseres Wesens dem fördernden Lichteinflusse zugekehrt und die vorhandenen Keime zu physiologisch reifender oder selbst überreifend krankhafter Ent- wickelung gebracht werden.

Die freilich banal erscheinende Tatsächlichkeit dieser Ergebnisse erfährt gerade durch die Lebensläufe und Schicksale der beiden Namen- spender des Sadismus und Masochismus — des noch ganz im ancien regime des „Aufklärungszeitalters" wurzelnden französischen Marquis, und des unserem zeitgenössischen Empfinden soviel naher gerückten Beamtensprösslings aus Halbasien — eine unvergleichlich wirksame Veranschaulichung und Illustrierung.


Leben und Werke des Marquis de Sa de. Sein Charakter

nnd Geisteszustand.

Donatien Alphonse Fran^ois, Marquis de S a d e wurde als Spröss- ling einer der vornehmsten und ältesten proven^alischen Adelsfamilien am 2. Juni 1740 in Paris geboren. In die lange Reihe seiner Vorfahren gehört jene mit Hugo de S a d « vermählte Laura von Noves, die Petrarca an einem Karfreitag, am 6. April 1327, in der Kirche Santa Chiara zu Avignon zum ersten Male erblickte. Ihre von der Poesie verklärte Lichtgestalt war es, die den Oheim und Erziehen unseres Marquis, den gelehrten Abb6 de S a d e (gestorben 1778), zu seinen einst hochgeschätzten „M6moires sur la vie de Petrarque*' (in drei Bänden, 1764 bis 1767) begeisterte. Ein grausamer Witz der Literaturgeschichte hat so die Objektivation selbstlosester, fast unirdischer Liebessehnsucht und den literarischen Hauptvertreter unerhörtester erotischer Ausschweifimg imd Verirrung in derselben Familie zu greller Kontrastwirkung vereinigt. Der Vater unseres Marquis war Diplomat, die Mutter Ehrendame der Prinzessin C o n d 6 , in deren Hause der junge de S a d e geboren wurde. Seine erste Erziehung leitete jener gelehrte Oheim in der A«btei Ebreuil; von dort kam der Knabe auf das College Louis le Grand in Paris, trat nach damaliger Sitte schon mit 14 Jahren bei den Chevauxlegers ein und wurde der Reihe nach Unterleutnant, Leutnant, Kapitän bei verschiedenen Kavallerie- Regimentern; in dieser Eigenschaft hatte er Gelegenheit, den Siebenjährigen Krieg — bekanntlich keinen besonderen Ruhmestitel der französischen Armee — mitzumachen. Nach Paris zurückgekehrt, heiratete er mit 23 Jahren die Tochter des Präsidenben MontreuiL Sie soll von einnehmendem Äusseren und sanftem Charakter gewesen sein, wusste ihren Gatten jedoch offenbar wenig zu fesseln, so dass er, wie es heisst, schon vom Jahre der Verheiratung an sich einem aua- schweifenden Leben hinzugeben anfing. Er wurde jedenfalls in demselben Jahre wegen unbekannter, in einem Bordell begangener Exzesse in Vincennes eingesperrt, aber wie es scheint ziemlich bald wieder entlassen. Später soll er in Gesellschaft einer Schauspielerin, die er für seine Frau ausgab, auf seinem Schlosse Contat gelebt haben. Der im nächsten Jahre (1767) erfolgte Tod des Vaters verschaffte de Sade die Nachfolge als Generalleutnant für Bresse, Bugey und Valromey, doch mochte er zu dieser Zeit schon zu sehr in den Strudel sinnlicher Ausschweifungen ver- sunken sein, um für eine ernstere Lebenshaltung imd Pflichterfüllimg noch /die nötige Befähigung zu besitzen. Gleich im darauf folgenden Jahre lenkte er durch eine Skandalaffäre, die auch zu gerichtlichem Einschreiten Anlass gab, die allge- meine Aufmerksamkeit auf sich und lieferte eine Probe dessen, was von seiner Lebensführung und deren späterer literarischer Fruktifikation noch erwartet werden durfte. Er hatte am 3. April 1768 durch seinen Kammerdiener, den Vertrauten aller seiner Ausschweifungen, zwei Freudenmädchen nach einem ihm gehörigen Hause in Arcueil führen lassen und ausserdem selbst eine Frau, der er zufällig begegnet war, Rosa Keller, die Witwe eines Pastetenbäckers, dahin gelockt, sie eingeschlossen und mit vorgehaltener Pistole gezwungen, sich vollständig zu ent- kleiden, ihr die Hände gebunden und sie bis aufs Blut gepeitscht; darauf hatte er sie in diesem Zustande verlassen, um sich zu den beiden Mädchen zu begeben und


32 Leben und Werke des Marquis de Sade.

die Nacht mit ihnen in einer Orgie zu verbringen. Am Morgen war es der Eiage- ' schlossenen gelungen, sich von ihren Banden zu befrei^i und durchs Feiuster zu springen; es kam zu einem grossen Auflauf; man drang ins Haus und fand dea Marquis und die Genossen seiner Lüste sinnlos betrunken^ De Sade wurde ver- haftet, die Kammer von Toumelle leitete eine Untersuchung ein, die aber auf könig- lichen Befehl — es war die Zeit Ludwig des Fünfzehnten und der Stem der Dubarry eben im Aufgehen! — alsbald niedergeschlagen wurde, nachdem der Marquis seinem Opfer, der Rosa Keller, ein Schmerzensgeld von 100 Louisd'or bezahlt und damit seine „Schuld gesühnt" hatte.

In dieser Affäre tritt schon deutlich ausgesprochen jene eigentümliche Form der Kombination von Wollust und Grausamkeit hfervor, die freilich nicht völlig dem- jenigen entspricht, wofür man den Ausdruck „Sadismus" im engeren Sinne geprägt hat, insofern die Vornahme grausamer Handlungen dabei nicht als Selbstzweck, sondern wesentlich als präparatorischer Akt, als Stimulus der Wollustbefriedigung zu dienen bestimmt ist : denn die Peitschxmg der Rosa Keller hatte allem An- schein nach den Zwteck, de Sade zum Verkehr mit den beiden Mädchen in „Stim- mung" zu bringen. Übrigens bewirkte der Vorfall in der Lebensweise de Sades keine ersichtliche Änderung. Er knüpfte mit der ihm, wie es scheint, wahlverwandterea Schwiester seiner Frau ein Verhältnis an und machte in deren Begleitung eine längere Reise nach Italien. Wir mögen in den beiden ungleichen Schwestern wohl die Urtypen von Justine imd Juliette vor uns haben, wie wir auch die Reise nach Italien in der „Juliette" vom Ende des dritten bis zum sechsten Bande, mit phan- tastischen Ausschmückungen natürlich, ausgiebig benutzt finden. Auf der Rückreise soll de Sade in Marseille (im Juni 1772) durch einen neuen Skandal zum Einr schreiten der Behörden Veranlassung gegeben haben, indem er bei einer von ihm veranstalteten Orgie den dazu entbotenen Freudenmädchen, kaatharidenhaltige Pastillen in solcher Dosis verabreichte, dass zwei der Mädchen an den Folgen des Genusses starben. Diesmal erging sogar von dem Parlament in Aix gegen de Sade und seinen Kammerdiener, die erst nach Grenf und von. da auf savoyisches Gebiet nach Chambery geflüchtet waren, ein Kontumazurteil, das beide wegen Sodomie und Giftmord zum Tode verurteilte; doch wurde dieses Urteil nach sechs Jahren, die die Schuldigen zum grossen Teil im Auslande zubrachten, kassiert und in eine dreijährige Verbannung von Marseille und fünfzig Livres Geldstrafe umge- wandelt. Aus Vincennes, wo man ihn voriäufig eingesperrt hatte, wusste de Sade mit Hilfe seiner Frau (im August 1778) zu entkommen. Die obige Affäre erscheint allerdings, nach der neuesten Darstellung (von C a b a n 6 s) sehr abgeschwächt, auf einen einfachen, in einem Marseiller Bordell verübten Exzess ohne tödlichen Ver- lauf beschränkt ; und auch über das Folgende existieren sehr verschiedene Versionen, die den Schauplatz bald nach Paris, bald nach Marseille veriegen und die Zeit des Vorkommnisses gleichfalls ziemlich imbestimmt lassen. Wiederum soll es sich um schreckliche Folgen der Kantharidenvergiftung bei eingeladenen Ballgästen, aus den Kreisen der vornehmen Welt — Herren und Damen — gehandelt haben. Dar Marquis und seine Schwägerin — die hier immer xmverhüllter als das Original der Juliette hervortritt — sollen beim Ausbruch der sich entwickelnden Schreckens- szenen, die mehreren Damen das Leben kostete, schleimigst das Weite gesucht haben^ Nach der von Brierre de Boismont wiedergegebenen Schilderung soll man femer — es ist nicht klar, ob vor oder nach diesem verhängnisvollen ßallsonper — in einem Hause einer abgelegenen Strasse von Paris eine tief ohnmächtige junge Frau angetroffen haben, der an verschiedenen Stellen des Körpers die Adern geöf&iet und zahlreiche Einschnitte mit der Lanzette beigebracht waren und die, mit Mühe ins Leben zurückgerufen, den Marquis, der sie in das Haus gelodct habe, nebst seinen Leuten als Urheber dieses Verbrechens anschuldigte. Auch hier hatten, wie


Sein Charakter und Geisteszustand. 33

es scheint, die auf seinen Befehl und vor seinen Augen vollzogenen Blutesxtziehungen dem Marquis als wollusterregender Reiz, als vorbereitender Akt der eigentlichen ge- schlechtlichen Befriedigung — diesmal an dem Opfer selbst — dienen müssen. Das Abenteuer klingt auch in Justine und Juilette wieder, im dritten und vierten Buch der Justine, in depr Schilderung des Grafen Gernande, jenes Monomanen der Ader- lässe und Inzisionetn, dessen blutgieriger Passion schon sechs Frauen zum Opfer gefallen sind. Wie es nun mit der Gleichzeitigkeit der beiden Ereignisse auch stehen mag; jedenfalls wurde de Sade daraufhin von neuem verhaftet und erst nach Vincennes, dann (im Jahre 1789) nach der Bastille gebracht, zu deren, letzten Insassen, oder — im Sinne der Revolutionsschwärmer — unglücklichen Opfern er sich zählen durfte. Deim erst kurz vor dem berühmten Bastülensturm wurde er in- folge eiiies Wortwechsels mit dem Grouvemeur Delaunay (dem nachherigen Opfer der Volkswut) nach dem Irrenasyl Charenton übergeführt, sonst würde auch ihm die Volksmenge an jenem blutigen 14. Juli 1789 die Freiheit verschafft haben, die er nun erst neun Monate später erhielt, durch den Beschluss der konstituierenden Versammlung vom 17. März 1790, der die sofortige Befreiung aller durch „lettre de Cache t** Verhafteten anordnete.

Der dankbare Marquis stürzte sich denn auch mit Begeisterung in (den Strudel der revolutionären Bewegung; er Hess mehrere dieser Richtung huldigende Theaterstücke aufführen und trat später dem Klub der Pikenmänner (soci^te popu- laire de la section des piques) bei, als deren Sekretär er am 29. September 1793 eine noch erhaltene Rede hielt, die den Manen der edlen Volkshelden M a r a t und Lepelletier geweiht und ganz \md gar mit dem schwülstigen Phrasengewäsch des Demagogentumes jener Tage, in das sich de Sade ziemlich geschickt hinein zu finden wusste, erfüllt ist. Auch in der Juliette, an der de Sade damals arbeitete und im Geheimen druckte, fehlt es nicht an bluttriefenden Tiraden gegen die „Tyrannen** tmd an einem ultrarevolutionären fanatischen Hasse geg«i Königtum und monarchische Institutionen, der nur durch den Hass gegen Religion und Kirche noch überboten wird. Bei alledem vermochte sich de Sade — wie es scheint, wegen einiger zur Rettung seines Schwiegervaters Montreuil unternommenen Schritte — dem Misstrauen der revolutionären Machthai)er nicht zu entziehen; er wurde als „verdächtig** denunziert, im Dezember 1793 verhaftet und erhielt erst nach dem Sturze Robespierres, im Oktober 1794, seine Freiheit wieder. Bessere Zeiten brachen für ihn imter dem Directoire an, als ein Wüstling und Schwelger wie Barras mit seinen Gesinnungsgenossen die Geschicke Frankreichs leitete und unter dem Aushängeschild der Republik die Sittenzustände spätrömischer Dekadenz wieder heraufführte. Damals durfte de Sade es wagen, nicht nur 1796 die vollendete Juliette, sondern auch 1797 sein gesamtes zehnbändiges Hauptwerk und zugleich eine neue veränderte Auflage der Justine mit Kupferstichen erscheinen zu lassen und von diesem Werke den fünf Mitgliedern des Direktoriums eigens ab- gezogene Velinexemplare zu überreichen. Aber diese schönen Zeiten konnten nicht dauern. Bald kam das Säbelregiment Bonapartes, das Konsulat; \md als de Sade auch dem Ersten Konsul seine beiden Werke in der eben neu erschienenen Gesamt- ausgabe zuzuschicken wagte, kam er schlimm an. Bonaparte soll, nachdem er wenige Zeilen gelesen hatte, die Bücher, trotz ihrer reichen Einbände, ins Feuer ge- worfen haben. Jedenfalls Hess er sofort die ganze Auflage konfiszieren, den Ver- fasser noch im selben Jahre verhaften und erst nach Sainte-Pelagie, dann (1803; nach Charenton bringen, wo er als unheilbarer und gefährlicher Geisteskranker bis zu seinem Lebensende festgehalten wurde. Allerdings scheint bei der gegen de Sade beobachteten Strenge auch der Umstand mitgewirkt zu haben, dass dieser ein gegen Josephine und ihre Freundinnen gerichtetes Pasquill — unter dem Namen Zolo^ et ses deux acolytes — pn Umlauf gesetzt haben soll. Aus den letzten Lebensjahren des Marquis, aus der Zeit seines Aufenthaltes in Charenton, Jbe- Eolenbnrg, Sadismas nnd MMoehismna. IL Auflage. 3


34 Leben und Werke des Marquis de Sa de.

sitzen wir verschiedene, von Augenzeugen herrührende, nicht von Widersprüchea freie Schilderungen. Nach einer davon erscheint de Sade als ein kräftiger, die Gebrechen des Alters nicht an sich tragender Greis mit schönem weissen Haar, von würdevollem Aussehen, liebenswürdigem und überaus höflichem Benehmen, der dabei auf jede Anrede mit sanftester Stimme schmutzige Worte hervorspradelte und bei seinen Spaziergängen im Hofe obszöne Figuren ia den Sand zeichnete. Er arbeitete emsig an Schriften ähnlichen Inhalts und liess auf der Bühne des Irren- hauses selbstverfasste Theaterstücke zur Aufführung bringen; später soll er auch, mit Genehmigung des offenbar sehr toleranten Anstaltleiters, Abb6 Culmier, Bälle und Konzerte arrangiert haben, die endlich der dabei stattgehabten Missbräuche halber auf ministeriellen Befehl (am 6. Mai 1813) untersagt wurden. Merkwürdig ist, dass ein sehr hervorragender Irrenarzt, der ärztliche Direktor von Charenton, Royer-Collard, auf das Dringendste die Entfernung de S a d e s aus der Irren- anstalt forderte, da er ihn nicht für geisteskrank hielt und seinen überaus schäd- lichen Einfluss auf die wirklichen Geisteskranken in wiederholten Eingaben betonte, während dageg<m mehrere vornehme Damen sich lebhaft für de Sade verwandten und dess«! Verbleiben in Charenton, wo er es augenscheinlich sehr gut hatte, bei dem Polizeiminister Fouch6 erbaten tmd durchsetzten. So starb denn de Sade als 74 jähriger Greis, nachdem er noch den Sturz Napoleons und die Restauration erlebt hatte, in dem Asyl, dessen Bewohner er seit nahezu 12 Jahren war, am 2. 'Dezember 1814. Von seinen Zeitgenossen haben ihn namentlich R6tif de la Bre- tonne (in den „Nuits de Paris" imd in der imter dem Pseudonym Lingnet heraus- gegebenenen Gegenschrift Anti-Justine), sowie Charles Nodier in seinen „Souvenirs" — der in ihm ein unglückliches Willküropfer des Konsulats und des Kaiserreichs erblickte I — literarische Aufmerksamkeit gewidmet Später hat Jules Janin in einem zuerst 1835 in der Revue de Paris erschienenen imd in den „Catacombes" wiederabgedruckten Aufsatz über das Leben und die Werke de S a d e s geschrieben, wobei jedoch mannigfache Irrtümer unterliefen. Weitere, zum Teil wertvolle bio- graphische Notizen sind in dem anonym erschienenen Buche „Le Marquis de Sade" (Brüssel, Gay und Doucd, 1881) enthalten. Neuerdings sind in Frankreich Abhand- lungen über den Marquis de Sade von Marciat (Lyon 1899) und von Cabapjäs (1900) erschienen; einen Teil der von der Marquise de Sade an ihren Gatten ge- richteten Korrespondenz hat Ginisty (grande revue 1899 Nr. 1) kürzlich heraus- gegeben. In Deutschland habe ich zuerst einen psychologischen Essai über den Marquis de Sade (Zukunft 1899, VII 26) veröffenüicht; im gleichen Jahre (1899) erschien dann die umfassende Monographie von Dr. Eugen Dühr^i „D^ Marquis de Sade und seine Zeit, ein Beitrag zur Kultur- und Sittengeschichte des 18. Jahr- hunderts'* (3. Aufl. bereits lÖOl), der nach wenigen Jahren desselben um die Sade-Forschung meistverdienten und auch vom Glücke besonders begünstigten Autors „neue Forschungen über den Marquis de Sade und seine Zeit; mit be«  sonderer Berücksichtigung der Sexualphilosophie de Sades auf Grund des neuentdeckten Or i gi nal- Manus krip te s seines Hauptwerkes „die 120 Tage von Sodom'* (Berlin 1904) folgten.

„Justine et Juliette", de Sades bekanntestes und bis vor kurzem allgemein als seine einzige Schöpfung grösseren Stils ange- sehenes Werk, die Ursache und Quelle seiner herostratisohen Unsterb- lichkeit, besteht aus zwei miteinander eng zusammenhängwidon, weon auch ursprünglich getrennt herausgegebenen Teilen. Der erste Teil, „Justine", erschien anonym zuerst 1791, die Fortsetzung, „Juliette", ebenfalls anonym 1796, das Ganze in zehn Bänden in Holland 1797. Diese mii* vorliegende Gesamtausgabe trägt in ihren vier ersten Bänden


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den Titel: „Histoire de Justine ou les malheurs de la Vertu par le Marquis de Sade" (en Hollande 1797) und das bezeichnete Motto: „On n'est point criminel pour faire la peinture des bizarres penchants qu'inspire la nature." Die sechs folgenden Bände führen don Titel: „Histoire de JuUette ou les prospärites du vice par le Marquis de Sade." Druckangabe und Motto sind dieselben wie bei Justine. Auf- fällig ist, dass auf dem Titelblatt, als zur Justine gehörig, 44, zur Juliette 60 — im ganzen also 104 — Stiche bezeichnet werden, während tatsächlich nur 100 Stiche (zehn für jeden Band) vorhanden sind, deren Zugehörigkeit zu der betreffencten Ausgabe durch die beigedruckten Band- und Seitenzahlen ersichtlich ist. Übrigens ist — ganz abgesehen von der Schauerlichkeit des Dargestellten — der künst- lerische Wert dieser Illustrationen überaus gering. Grobe Fehler der Zeichnung, der Perspektive, gänzlicher Mangel an Individualisierung, dürftige, fast ärmliche Erfassung der Szenerie frappieren bei der Mehr- zahl der Bilder, denen man höchstens die kompositionelle Treue in Anlehnung an die oft recht komplizierten Gruppenbeschreibungen des Textes als ein immerhin zweifelhaftes Verdienst zusprechen kann. Hier hätte es, wenn derartiges überhaupt gewagt werden sollte, der entfesselten und vor nichts zurückschaudernden Phantasie l>edurft, mit der ein Dorö die Gestalten von Dantes Inferno nachzuschaffen gewusst hai

Der Inhalt — oder vielmehr die das Ganze beherrschende Grund- tendenz — ist schon durch die Nebentitel „les malheurs de la vertu" und „las prosp^ritäs du vice" genügend gekennzeichnet Mit zähester Beharrlichkeit wird durch alle zehn Bände hindurch immer und immer wieder das Thema variiert, dass es der „Tugend", gerade eben weil und so lange sie Tugend ist und sein will, notwendig höchst elend ergehen und dass das „Laster" eben so notwendig florieren und oben- auf kommen muss. Die Vertreterinnen der entgegengesetzten Moral- extreme sind die beiden Schwestern, Justine und Juliette. Wir finden sie zuerst in noch sehr jugendlichem Alter, eben verwaist und durch den Bankerott ihres Vaters in dürftigen Verhältnissen: Justine, fest entschlossen, imter allen Umständen tugendhaft zu bleiben, und die ältere Juliette eben so fest entschlossen, sich dem eine glänzende Karriere verheissenden Laster in die Arme zu werfen. So trennen sich ihre Wege. Wir begleiten nun vier Bände hindurch die tugend- hafte Justine auf ihren Irrfahrten, wobei es ihr immer jammervoller ergeht, ihr Vertrauen immer schmerzlich enttäuscht, ihre Gutherzig- keit immer an Unwürdige und an Bösewichte verschwendet wird, ihre Wohltaten jedesmal zu ihrem eigenen Verderben ausschlagen, ohne dass sie doch zur Erkenntnis ihrer grenzenlosen Torheit, nach des Verfassers Standpunkt, durchzudringen vermag, — was ihre auf- geklärten Gegner, die Grossinquisitoren der natürKchen Vernunft, mit

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36 Leben und Werke des Marquis de Sa de.

Fug und Recht geg^i sie erbittert. Schliesslich wird sie wegen einer ihr fälschlich zugeschriebenen Brandstiftung zum Tode verurteilt, ent- kommt aber aus dem Gefängnis und gelangt zufällig auf das Schloss ihrer Schwester, die sie von einer eben so glänzenden wie frivolen Gesellschaft umgeben antrifft Sie erzählt Juliette ihre Geschichte, die einen der Zuhörer zu der Bemerkung veranlasst: „voilä bien ici les malheurs de la vertu" und, auf die anwesende Juliette deutend: „lä, mes amis, les prospörites du vioe." Juliette, die es inzwischen zu grossem Reichtum und zum Range einer Gräfin Lorsanges gebracht hat, trägt nun ebenfalls ihre Geschichte vor, die zugleich die Geschichte ihrer wachsenden Erfolge ist; sie debütiert charakteristischerweise im Kloster, kommt dann zu einer Kupplerin, wird die Geliebte des ali- mächtigen Ministers Saint-Pond und die über unbegrenzte Mittel ver- fügende Anordnerin und Leiterin seiner heimlichen Orgien. Ein einziger Rückfall in die Tugend oder ein allzu skrupulöses Bedenken zieht ihr den Verlust dieser Stellung zu und nötigt sie zur Flucht; der treffliche Graf Lorsanges rettet und heiratet sie, wird von ihr aber seiner langweiligen Tugendboldigkeit halber verabscheut und bald ver- giftet, worauf sie in Begleitung ihres Liebhabers eine an Abenteuern reiche Reise nach Italien antritt. Die einzelnen Etappen werden sehr genau beschrieben, namentlich der Aufenthalt am Hofe des Gross- herzogs von Toskana (des späteren Kaisers Leopold des Zweiten), am päpstÜchen Hofe und am Hofe des Lazzaronikönigs Ferdinand von Neapel und seiner tribadischen Königin Karoline, der Schwester Marie Antoinettes; endlich in dem noch republikanischen Venedig. Hier lebt sie als Kurtisane im grössten Stil, wird schliesslich in das Schick- sal einer Freundin hineingezogen, die zwar Giftmischerei im kleinen gewerbsmässig verübt, aber vor einer ihr behördlich anbefohlenen Gift- misch^ei im grossen zurückschreckt — mehr aus „Mangel an Mut" als an gutem Willen, wie die Erzählerin entschuldigend b^ierkt — , und kehrt nach Frankreich zurück, wo sich die Verhältnisse in- zwischen aufs günstigste für sie aplaniert haben. Die Schlussworte ihrer Erzählung enthalten eine triumphierende Apologie von Laster und Verbrechen, mit deren Hilfe sie es so herrlich weit gebracht hat. Justine ist aber nicht zu bekehren, und da Juliette sich weigert, eine solche ,^Prüde" als Schwester anzuerkennen und im Hause zu behalten, so wird sie beim Herannahen eines Gewitters auf die Strasse geworfen und sogleich von einem Blit^trahl getötet, vor den Augen der zuschauenden Gesellschaft, die in entzückten Jubel darüber aus- bricht, dass der „Himmel" die Tugend in solcher Weise belohne. Dies das nackte Gerippe der Handlung, die in ihrem Rahmen eine bunte Fülle von Gemälden erotischer Ausschweifungen und blut- triefender Orgien umschliesst und mit emer kaum minder breiten Fülle lehrhafter Exkurse in monologischer und dialogischer Form,


Sein Charakter und Geisteszustand. 37

namentlich in der zweiten Hälfte, durchsetzt ist. Die „Helden" und „Heldinnen" (sit venia verbo) dieser Orgien scheinen das Bedürfnis zu fühlen, sich seihst und ihren Opfern bei jeder Gelegenheit die Notwendigkeit und Berechtigung ihres Handelns mit allem nur mög- Hchen rhetorischen Aufwände vorzudemonstrieren und für ihre Grund- sätze mit fanatischer Überzeugungstreue Propaganda zu machen. Seiner ersten Anlage nach weist das Werk auf die Zeit vor Ausbruch der Revolution zurück, da das Königtum Ludwigs des Sechzehnten und Marie Antoinettes noch als unerschüttert vorausgesetzt wird und wenigstens keine ausdrückliche Wendung auf die späteren Vorgänge der Revolution hindeutet Übrigens scheint nach einzelnen, allerdings nicht sicher b^laubigten Angaben noch eine andere, aus späterer Zeit stammende Überarbeitimg zu existieren.

Das zweite (der Zeit nach erste, allerdings unvollendet gelassene) Hauptwerk de Sades wurde nach dem von Dr. Eugen Dühren — Iwan Bloch — aufgefundenen Originalmanuskript „les 120 journöes de Sodome ou Töcole du libertinage par le marquis de Sade" zuerst in Paris von dem Club des bibliophiles 1904 als Privatdruck veröffentlicht. Eine sehr gute deutsche Über- tragung durch Karl von Haverland erschien in 2 Qrossquart- bänden als Privatdruck (in 650 Exemplaren) Leipzig 1909. Das Werk, obgleich Von Rötif de la Bretonne und von Pisanus Praxi erwähnt, galt bis zur sensationellen Wiederentdeckung des Manuskripts als gänzlich verschollen und mutmasslich vernichtet Das Manuskript ist von de Sade in der Bastille, und zwar an 36 aufeinandför- folgenden Abenden, vom 22. Oktober bis 27. November 1785, von 7 bis 10 Uhr niedergeschrieben, auf lose Blätter, die der Verfasser der Länge nach sorgfältig aneinanderklebte, und, da er in der Bastille an stetem Papiermangel litt, auch rückwärts beschrieb. Das gesamte Maüuskript bildete auf diese Weise einen 12,1 m langen, beiderseits mit den fast mikroskopisch kleinen Schriftzügen de Sades bedeckten aufgerollten Streifen. Es blieb, als der Marquis 1789 die Bastille verlassen durfte, mit anderen Handschriften dort zurück und befand sich in der Folge drei Generationen hindurch im Besitz einer Familie Tilleneuve-Trans. Gegen die (anfangs nach der ersten Über- raschung stark angezweifelte) Echtheit wird wohl bei gründlicher Kenntnisnahme, kein irgendwie berechtigtes Bedenken aufkommen können — so gross ist die Übereinstimmung nicht bloss in der ganzen Fühl- und Denkweise, sondern auch in tausend kleinen Einzel- zügen mit der übrigen literarischen Hinterlassenschaft de Sades.

Dagegen kann ich der in gewissem Sinne übertriebenen Wert- schätzung des — allerdings Torso gebliebenen — Werkes durch Heraus- geber und Übersetzer nicht so unbedingt beistimmen. Man hat näm- lich auf Grund dieser öent vingt joum^es de Sodome ihren Autor


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als „Theoretiker", gewissermassen als „Systematiker des pathologischen Sexuallebens" abstempeln wollen, dem es schon hundert Jahre vor Krafft-Ebing darum zu tun gewesen sei, „einen wissenschaftlichen Einblick in die Ursachen und die Arten der mannigfaltigen sexuellen Ausartungen zu gewinnen" und der sich auch über diese wissenschaftliche Bedeutung einer solchen Einsicht völlig klar gewesen sei. So kämen wir gar schliesslich noch dahio, in dem vielverlästerten „cöl&bre marquis" den eigentlichen Be- gründer und Schöpfer einer wissenschaftlichen Sexologie in dankbarer Anerkennung zu verehren. Gegen eine solche Um- und Überwertung möchte ich doch Protest einlegen; auch haben derartige Gesichts- punkte wohl dem von keiner „wissenschaftlichen" Betrachtung und Schulung angekränkelten, stets ins masslos Phantastische, zuchtlos über- schweifenden Geiste de Sades gänzlich fem gelegen, wenn man auch anerkennen muss, dass die 120 joumöes, trotz ihrer Unvollendet- heit und der Flüchtigkeit ihrer Anlage und Durchführung, in bezug auf erschöpfende und lückenlose Vorführung aller nicht nur erfahrungs- gemäss festgestellten, sondern überhaupt denk- und ersinnbaren, von den leichtesten bis ins Ungeheuerliche aufsteigenden geschlechtlichen Verirrungen bisher unerreicht und fast unvergleichbar dastehen. Aber auch die schriftstellerischen Mängel de Sades, die flüchtige und verwahrloste Schreibweise, die Krassheit und Unmöglichkeit der Er- findung, die Rohheit und Brutalität der psychologischen Durchführung

— von dem Abstossenden des Stoffes ganz abgesehen — erscheinen hier auf die Spitze getrieben und lassen die immerhin subtilere Durch- arbeitung von „Justine et Juliette" doch bedenklich vermissen.

Ober die übrigen Schriften de Sades kann ich mich kurz fassen, da sie

— so weit sie ihm mit Sicherheit zugehören — nicht geeignet sind, uns die Be- fähigung und geistige Eigenart ihres Verfassers von anderer und besserer Seite kennen zu lehren. Am meisten der Erwähnung wert ist noch „La philosophie dans le boudoir"; in der in meinem Besitz befindlichen Ausgabe mit der Bezeichnung: „ouvrage posthume par Fauteur de Justine'*, Londres aux depenses de la compagnie 1805 (in zwei Bänden). Da de Sade zur Zeit des Druckes noch am Leben war, muss der Ausdruck „posthume" der Unkenntnis oder absichtlichen Irreführung ent- springen. Das Buch ist ein verwässerter, geistloser Abklatsch der in Justine und Julietto entwickelten Lehren, ungewandt auf die „Erziehung" eines unerfahren^! jungen Mädchens ; es berührt sich somit im Stoffe merkwürdig mit der Mirabeau zugeschriebenen „Education de Laure", wie ja auch andere literarische Jugend- sünden des vielbewunderten Revolutionheld^i, wie „Ma con Version." und „Erotica biblion" des sadischen Geistes einen recht starken Hauch verspüren lassen. Mirabeau, der in einem noch erhaltenen Briefe gegen jede Gemeinschaft mit d e Sade entrüstet protestiert und diesen Autor, falls er es wagen sollte, sich auf ihn zu bezieh^i, mit Stockhieben bedroht, kann sich demnach, wie auch andere Revolutionsmänner — ich erinnere nur an Saint- Just imd Marat — , dem Verdachte einer gewissen Geistesgenossenschait nicht gänzlich entziehen.

„Alinie et VaJcour, ou le roman philosophique", ein Buch, das de Sade vor der Revolution während seines Aufenthaltes in der Bastille geschrieben haben soll


Sein Charakter und GeisteBznstand. 39

(zuerst gedruckt 1793), ist ein ziemlich unbedeutender, auch wieder mit viel ein- tönigem Räsonneraent durchsetzter Roman; und dasselbe scheint von dem unter dem Namen „Les crimes de l'amour** zusammengefassten Novellenzyklus zu gelten, woraus mir allerdings nur eine („Juliette et Raunal, ou la conspiration d'Amboise, nouvelle historique**) aus eigener Lektüre bekannt ist. Man findet sie in dem 1881 bei Gay und Douc6 in Brüssel anonym erschienenen Werke „Le Marquis de Sade**, das ausserdem boch eine daran knüpfende Abhandlung über den Roman (Id^e sur les romans") xmd eine gegen einen missgünstigen Kritiker, Villeterque, gerichtete Schmähschrift („L'auteur des crimes de l'amour ä Villeterque folliculaire") sowie die schon erwähnte, in der section des piques zur Leichenfeier Marats und Iiepel- letiers gehaltenen Rede enthält Alle diese Schriften zeigen nur, dass de Sade über die Gabe eines mittelmässigen Skribenten — die Kunst, langweilig zu schreiben — in ziemlich hohem Grade verfügte, und ausserdem, dass er es zweckmässig fand, wenigstens in der Zeit, wo er die „Idde sur les romans" erscheinen Hess, die ihm zugieschriebene Autorschaft der Justine hartnäckig zu leugnen. Dass es ihm dabei auf einen Haufen der handgreiflichsten und fadenscheinigsten Lügen nicht ankommt, wird uns bei der ganzen sonstigen Eigenart des Mannes schwerlich be- fremden.

Der „moralische*' Standpunkt (sit venia verbo), den de Sade in seinen Hauptwerken, wie auch in der „Philosophie dans le boudoir" einnimmt — sofern es erlaubt ist, im Sinne der alten Moralisten von einem solchen zu reden — , ist der einer Art Antimoral, einer Teufelsmoral, die in Inhalt und Tendenz seines grossen Doppel- werkes erschöpfend zum Ausdruok gelangt und auf die schon die Titelbezeichnung gleichsam präludierend hinweist. Das beständige Un- glück, das die „Tugend" mit Naturnotwendigkeit zu erleiden hat, und das Glück, das dem „Laster" ebenso naturgemäss erblüht, ist ja das Hauptthema, das durch alle zehn Bände in allen erdenklichen Variationen durchgeführte, in Handlung umgesetzte und mit weitschweifigen KoDMnentaren erläuterte Leitmotiv der gesamten Komposition. Die Be- griffe „Tugend" und „Laster" werden dabei ganz im alten, land- läufigen Sinn genommen; doch geschieht das, möchte man sagen, mit einer Art unfreiwilliger Selbstpersiflage: denn auf jenem vorge- schobensten Standpunkte mechanistischer Weltauffassung, wie ihn de Sade einzunehmen behauptet, gibt es, im Grunde genommen, weder Tugend noch Laster; die Moralbegriffe „gut" und „böse" existieren einfach nicht, da sie in dem alles umfassenden Begriff des mechanisch bedingten Naturgeschehens ihre Auflösung find-an. Davon aber, dass er in diesem Sinne eigentlich gegen Gespenster ficht, merkt der Verfasser in seinem antimoralischen Fanatismus so wenig wie von der Absurdität des selbstgefällig zur Schau getragenen Qotteshasses und der Gottesfeindschaft neben seinem auf Schritt und Tritt feierlichst als unumstössliches Dogma verkündeten materialisti- schen Atheismus. Ein ungeheurer Eifer wird an unzähligen Stellen darauf verwendet, zu deduzieren, dass das sogenannte „Böse" keines- wegs verwerflich, weil nicht gegen die Natur, vielmehr ganz deren


40 Leben und Werke des Marquis de Sade.

Zielen und Absichten gemäss sei, und dass wir im Gtegenteil höchstens dann verwerflich handeln, wenn wir uns diesen Absichten der Natur widersetzen, statt ihnen, auch soweit sie in unseren scheinbar ver- brecherischen Begierden zum Ausdruck kommen, blindlings, wider- standlos zu folgen. Altruistische Rücksichten können und dürfen uns dabei am allerwenigsten hindern; „was die Toren Himianität nennen, ist nur eine aus der Furcht und dem Egoismus entsprungene Schwäche", heisst es in der Philosophie dans le boudoir. Band II, Seite 178), und ebenda wird auseinandergesetzt, dass es „Verbrechen" überhaupt nicht geben könne, dass wir nur blinde Werkzeuge dessen zu sein haben, was die „Natur** uns „inspiriert**: „Nons dicta-t-elle d'embraser l'univers? Le seul crime serait d'y rösister et tous les scelerats de la terre ne sont que les agents de ses caprices.** Und ganz dieser Anschauung entsprechend krönt denn auch Juliette die lange Erzählung ihrer Aben- teuer und siegreichen Erfolge mit den ein wahrhaft infernalisches Glaubensbekenntnis enthaltenden Worten: „Tant pis pour les victimes, il en faut; tout se detruirait dans Funivers, sans les lois profondes de requilibre : ce n'est que par des f orfaits que la nature se maintient et reconquit les droits que lui enleve la vertu. Nous lui obeissons donc en nous livrant au mal; notre resistance est le seul crime, qu'elle ne doive jamais nous pardonner. Oh I mes amis, convainquons-nous de oes principes ! Dans leur exercioe se trouvent toutes les sources du bonheur de rhomme** (Juliette, Band VI, Seite 343, 344).

Ich glaube, man hat ein gewisses Eecht, einen solchen Moral- standpunkt als den einer Art Antimoral oder Teufelsmoral zu kenn- zeichnen, und ich möchte daran nur die Bemerkung knüpfen, dass bei dem Ausbau dieser „Moral** auch eine ganz ähnliche Inkonsequenz oder — richtiger — Unzulänglichkeit zutage tritt wie bei der ge- wöhnlichen deistischen Moral; während diese nämlich den Ursprung des „Bösen** nicht in überzeugender Weise darzutun vermag, erscheint es vom Standpunkt de Sades ebenso unmöglich, den Ursprung des „Guten**, das es ja nach, alledem doch auch in der Welt gibt und das in seinen zu „Opfern** bestimmten Vertretern sogar einen so breiten Raum einnimmt, einleuchtend zu erklären. Ein Versuch dazu wird übrigens gar nicht einmal gemacht; wer wollte auch Selbst- kritik und nötigenfalls Verzichtleistung auf die schon von vornherein feststehenden Prämissen bei einem mit geistigen Scheuklappen ver- sehenen und im Genüsse seines Ein- und Allgedankens schwelgenden Monoideisten erwarten?

So bekunden denn alle die zahlreichen Vertreter und Ver- treterinnen des Bösen, die uns in Justine und Juliette vorgeführt werden, ein felsenfestes Vertrauen auf den Sieg ihrer Sache, ein Ver- trauen, das in der ganzen Kette der Ereignisse, die sich vor uns ab- spielen, auch niemals getäuscht wird. Selbst in den misslichsten Lagen,


Sein Charakter nnd Geisteszustand. 41

in die sie der Zufall hin und wieder versetzt — Juliette, !zweiter und fünfter Band — , verlässt dieser „Glaube" sie nicht und ver- anlasst sie, sich den Repräsentanten des Guten gegenüber, wo diese wirklich einmal vorübergehend obenauf kommen, mit dem selbst- gewissesten Übermut zu benehmen und jenen ihren baldigen Sturz vorauszusagen. Die Unterdrückung ^und Vernichtung der als „gemein- schädlich** erkannten Tugend ist gewissermassen die Mission, die Pflicht und Aufgabe des Lasters; nicht nur im Einzelleben, sondern auch in den grossen Verhaltnisöen des staatlich-gesellschaftlichen Lebens, füi' dessen Organisation nach denselben Prinzipien an verschiedenen Stellen der Juliette beachtenswerte, wenn auch begreiflicherweise frag- mentarisch gebliebene Anläufe gemacht werden.

Im vorhergehenden wurden schon mehrfach zwei Züge erwähnt, die — wenn wir von den sexualpathologischen Momenten ganz ab- sehen — in de Sades literarischer Physiognomie besonders auffällig hervortreten, sich aber doch mit den übrigen zu einer geistigen Ein- heit zusammenschliessen. Das ist der eigenartig gefärbte Atheismus de Sades und sein politischer Radikalismus.

Der Atheismus de Sades geberdet sich, wie wir sahen, inkonsequent^weise zugleich als ein fanatischer Misotheismus, der von dem bekannten Worte: „si Dieu n'existait pas, il faudrait rinventer" nur Gebrauch zu machen scheint, um diesen eigens er- fundenen Gott blasphemisch zu beschimpfen imd zu verhöhnen. Dieser doktrinäre Atheismus schliesst »natürlich auch, wie gewöhnlich, einen Hang zu kindisch-abergläubischem Mystizismus keineswegs aus, wo- von wii- das grasseste, zugleich furchtbarste und lächerlichste Beispiel in dem sehr breitgetretenen imd mit geheimnisvoller Wichtigtuerei behandelten Ceremoniell Saint-Fonds finden, der sich mit den zum Tode bestimmten Opfern regelmässig einschliesst, um sie mit ihrem eigenen, aus der Nähe des Herzens entnommenen Blute einen Zettel unterzeichnen zu lassen, in dem sie ihre Seele dem Teufel verschreiben und den sie auf dem Wege einer nicht wiederzugebenden Inkorporation in die doch immerhin als möglich erachtete andere Welt mitnehmen müssen (Juliette, Bd. II, Seite 286 ff.). Auf der anderen Seite schlägt dieser Atheismus wieder in eine völlig anthropomorphistische Auf- fassimg der Natur um, — nur dass diese als Vertreterin des Bösen personifizierte Natur statt des milden Gottesantlitzes eine Teufelsfratze zu tragen scheint, deren Kultus der zerstörten Gottesanbetung mit grinunigem Hohne pomphaft substituiert wird.

Der politische Kadikalismus de Sades ist zum Teil von jener entsetzlich oberflächlichen, kurzsichtig dilettantischen Art, wie er uns in den depravierten französischen Adelskreisen gerade in den Zeiten kurz vor Ausbruch der Revolution gar nicht selten be- gegnet. Ein bemerken^erter Grundzug ist überdies auch hier, ganz


42 Leben and Werke des Marquis de Sade.

wie bei der eben geschilderten Abart des Atheismus, neben der prin- zipiell antimonarchischen Gesinnung der fanatische Hass gegen König- tum und Kirche und gegen alle damit zusammenhängenden sozialen Institutionen, — man darf sagen : der Gfeist eines, auf der sich souverän geb^denden naturalistischen Kritik beruhenden, individualistischen Nihilismus und Anarchismus. Und diese Denkweise lässt de Sade, so leer und gehaltlos sein doktrinärer Radikalismus im übrigen auch ist, immerhin als einen „Vorläufer" erscheinen, für den sich auch in imseren Tagen des theoretischen und praktischen Anarchisten- treibens und des wiederauflebenden Stimer-Kultus manche unerfreu- liche Anknüpfimg bietet.

Um die geistigen Wurzebi einer solchen Erscheinung wie de Sade in noch grösserer Tiefe blosszulegen, müsste man freilich noch andere dem Volks- und Zeitgeiste angehörige Paktoren in weit grösserem Umfange, als es hier möglich ist, zu berücksichtigen suchen. Es würde dabei jenem eigentümlichen gallokeltischen Elemente des fran- zösischen Volkscharakters Rechnung zu tragen sein, d^n neben dem frivol-erotischen auch der lüstern-grausame Zug von jeher nicht fehlte und der in Voltaires Kennzeichnung seiner Landsleute als „Tigeraffen" den zutreffendsten Ausdruck, in sozialen Vorgängen der „grossen" Revolution bald nachher eine drastische Illustration findet Es würde ferner auf jenen eigenartigen Geist der in Sittenverderbnis und De- genereszenz hinsiechenden französischen Adelskaste Bezug zu nehmen sein, bei der sich hohler Standesdünkel mit einem frivolen, alles, auch die Grundlagen der eigenen Existenz negierenden und zersetzenden Skeptizismus und Pseudoradikalismus — man denke nur an das Auf- treten eines Philippe Egalitö — imheilbringend vereinigt, und endlich müsste vor allem der Zusammenhang mit gewissen Elementen der zeitgenössischen Popularphilosophie in Rechnung gezogen werden, namentlich mit der durch die Enzyklopädisten und ihre seichte Ge- folgschaft vertretenen materialistisch-atheistischen Richtung. Es mag als ein in seinen Konsequenzen einem de Sade schon bedenklich nahestehender Repräsentant dieser „Aufklärungsphilosophie" nur der berüchtigte Verfasser der Histoire naturelle de Täme und des Homme- machine, Lamettrie, namhaft gemacht werden, den auch des grossen Friedrichs akademische Lobrede und D u Bois-Rey monds etwas geschraubte Ehrenrettung sowie Poritzkys neuere ausgezeichnete Biographie^) uns menschlich kaum näher zu bringen vermögen. Der Auf klär ungsstandpunkt für religiöse und ethische Fragen war dmrch den materialistischen Atheismus der Enzyklopädisten ein für allemsJ


1) J. E. Poritzky, Lamettrie (Berlin 1900). Man sehe z. B. La- ra e 1 1 r i e s widerwärtige Fehde mit Albrecht von Haller, dem er seinen anonym erschienenen „Phomme machine** heuchlerisch widmete.


. Sein Charakter und Geisteszustand. 43

g^eben; de Sade hat nur, skrupelloser als ein Diderot, skrupel- loser selbst als Lamettrie, die äussersten Eonsequenzen des theo- retischen und natürlich auch des praktischen Materialismus auf seine Weise gezogen. Ganz wie seine Zeitgenossen hängt er dabei an der altdemokri tischen korpuskularen Theorie der Materie, mit ihren räum- lich getrennten, überall gleichartigen Teilchen (Molekeln), durch deren Bewegung und Stoss alle Phänomene des körperlichen und geistigen Lebens in einer für ihn und seinesgleichen restlos befriedigenden Weise erklärt werden; die „molöcules malfaisantes" spielen denn auch bei seinen antimoralischen Explikationen eine hervorragende KoUe. Die klagliche Öde einer solchen Weltanschauung wird nur durch die brutale Selbstgewissheit, mit der sie vorgetragen und als keines Be- weises bedürftig hingestellt wird, allenfalls überboten.

Auf der anderen Seite ist nicht zu übersehen, dass auch Ver- bindungsfäden von de Sade zu gewissen zeitgenössischen Vertretern einer analytischen Richtimg der Psychologie hinüberführen, die von Max Dessoir^) in seiner beachtenswerten Geschichte der neueren deutschen Psychologie als subjektivistische Analytiker zu- sammengefasst wurden. Für den psychologischen Roman, der auf sub- jektivistischer Analyse des Seelenlebens beruht, hatte bekanntlich Rousseau in seiner Novelle Heloise den Ton angegeben, — derselbe Rousseau, der in seinen Confessions einen Akt des moralischen Exhibitionismus verübt und dabei selbst vor der Enthüllung direkt exhibitionistischer Neigungen nicht zurückscheui Einem de Sade unendlich näher als die trotz allem grosse und ergreifende Gestalt Rousseaus steht jener „Rousseau du ruisseau", Retif de la Bretonne, über den Dessoir urteUt: „Er wurde von wütendster Sinnlichkeit gepeitscht imd durch den Götzendienst des eigenen Ich in eine Art Exhibitionismus hineingetrieben. Daher hat er wie kein Zweiter verstanden, die Entstehimg, Eigentümlichkeit und Gewalt der Geschlechtsliebe zu analysieren und dem Ich einen geradezu raffinierten Kultus zu widmen." Da haben wir im Keime (den literarischen d e 3 a d e , nur schwächlicher, passiver, sozusagen unblutiger. Wäre Rätif eine mehr aktiv und impulsiv, weniger kontemplativ veranlagte Natur ge- wesen und hätten ihm, dem armen Bauemsohne, die Mittel und die Atmosphäre des „celfebre Marquis" von früh auf zur Verfügung ge- standen, so wäre vielleicht ein zweiter de Sade aus ihm geworden, der schriftstellerisch dem anderen an Kraft und Feinfühligkeit der Schildenmg überlege gewesen wäre. Nicht umsonst ertönt bei R^tif aus allen Tonarten das Lob dieser ungemeinen Peinfühligkeit, dieser „sensiblUt^ quelquefois d^licieuse, quelquefois cuisante, affreuse.


  • ) Max Dessoir, Geschichte der neueren deutschen Psychologie. Zweite

Auflage. Erster Halbband. Berlin, Karl Duncker, 1897, S. 301 ff.


44 Leben und Werke des Marquis de Sa de.

dechirante", die sich dann psychologisch verfeinert in dem „patho- logischen Egotistnus", dem „Beylismus" Stendhals^) durchzusetzen weiss, dessen neu auflebender Einfluss sich in einem grossen Teile unserer modernsten, vor allem der französischen Literatur nur zu deutlich bekundet — wo diese Richtung, wie schon bei dem ewig mit seinen Nerven beschäftigten, sich selbst als „Ungeheuer an nervöse Reizbarkeit" bezeichnenden Stendhal, mehr und mehr ins direkt Krankhafte, in die „reizbare Schwäche" und die Perversionen des Sexual-Neurasthenikers ausmündet. So geschieht es auch schon bei Rötif , dem Eirunder und Bahnbrecher des analysierenden Romans dieser Richtung, der übrigens nebenbei Fetischist (leidenschaftlich» Pußs-Petischist) war. Es ist wohl kein blosser Zufall, dass er früher als andere Zeitg^iossen auf de Sade aufmerksam wurde und dass dessen halb mit eifersüchtigem Neid, halb mit Abscheu betrachtetes Werk ihn zu seiner elend geschriebenen „Anti-Justine" anregte, die er freilich selbst nicht zu beenden und deren mitten in einem Satz ab- brechende erste Hälfte er nur unter einem Pseudonym (Linguet) heraus- zugeben wagte 2).

Es bleibt nun noch eine letzte, den Psychologen und Arzt inter- essierende Frage zu erledigen: die Frage nach dem Geisteszustände des Autors von „Justine" und „Juliette". Gehen wir noch einmal von den Werken aus und sehen wir dabei zunächst ab von der Ab- scheulichkeit des Inhalts, von den Gefühlen der Indignation, des Ekels, die uns beim Durchblättern dieser stattlichen Bändezahl von Seite zu Seite erfüllen. Unwillkürlich imponierend wirkt trotzdem schon der blosse Umfang des Werkes und das Mass der damit geleisteten geistigen und der rein mechanischen Arbeit. Der bizarre Entwurf dieser ungeheuerlichen, langgedehnten, vielgliedrigen Komposition und seine bis ins einzelne gehende Ausgestaltung mit all ihren fast un- entwirrbaren Fäden, mit der Unzahl der nacheinander auftretenden Personen, mit der sehr raffiniert durchgeführten allmähliöhen Steige- rung und mit der fast nie — nur ganz vereinzelt*) — versagenden

  • ) Stendhal (Henri Beyle) Journal; vie de Henri Bnilard; Souvenirs

d'6gotisme usw. — Deutsche Stendhal- Ausgabe in sechs Bänden neuerdings von Fr. von Oppeln-Bronikowski.

  • ) L' An ti- Justine, ou les d^lices de l'amour, par M. Linguet, avocat au et en

Parlement, au Palais-Royal, chez feu la veuve Girouard, 1798. Eine neue Aus- gabe (nach einer Abschrift des Manuskriptes) erschien in Brüssel, in zwei Bänden, 1863. Vgl. übrigens das grosszügig angelegte Werk: „Rötif de la Bretonne. Der Mensch, der Schriftsteller, der Reformator" von Dr. Eugen Dühren (Iwan Bloch), Berlin 1906, mit dessen Hochschätzung R4tifs in jeder der drei Titelbezeichnimgen ich allerdings nicht übereinstimme.

■ ) Einmal, im vierten Bande der Justine, lebt eine Person wieder auf, die kun zuvor bei einer Orgie ums Leben gebracht war. — In den flüchtig gearbeiteten 120 joum6es de Sodome begegnen allerlei Unstimmigkeiten und Widersprüche allerdings ziemlich häufig.


Sein Charakter und Geisteszastand. 45

Treue der Erinnerung und Bückbeziehung: das alles setzt doch eine wenigstens in den Jahren der Abfassimg ganz ungemeine Arbeits- kraft und ausdauernde Arbeitsleistung voraus, die mindestens die her- kömmliche Meinimg einem chronischen Geisteskranken, vielleicht einem kongenital Schwachsinnigen, nicht ohne weiteres zuzugestehen geneigt sein dürfte. Wenn es wahr sein sollte, dass de Sa de sein Werk eine Zeitlang in einem Keller eigenhändig gedruckt, dass er auch die Entwürfe zu den Zeichnungen selbst angefertigt habe, so würde unser Staunen über die Ausdauer und vielseitige Leistungsfähigkeit noch mehr berechtigt erscheinen. Einem Maniakus sind freilich solche Leistungen keinesw^s unmöglich; imd wenn man die ungeheuere graphomanische Tätigkeit mancher Kranken in den manischen Stadien zirkulären Lreseins überblickt, so wird man auch in dieser Hin- sicht einen minder zweifelnden Standpunkt einzunehmen geneigt sein.

Stellen wir einmal die Frage lein gerichtsärztlich, etwa in der Weise: gesetzt, der Verfasser von Justine und Juliette wäre nach der ersten Gesamtausgabe von 1797, auf Grund einer antizipierten (und in diesem Falle gewiss wohlberechtigten) Lex Heinze, unter Anklage gestellt worden; sein Verteidiger hätte den Einwand mangelnder Zu- rechnungsfähigkeit erhoben und der Gerichtshof hätte, dem Antrage des Verteidigers stattgebend, die Zuziehung ärztlicher Sachverständigen beschlossen; wie würden sich diese Sachverständigen wohl zu äussern gehabt, in welchem Sinne würden sie, aller Wahrscheinlichkeit nach, ihr Gutachten erstattet haben.

Wie sie zu de Sades 2ieit sich vermutlich geäussert hätten, das lehrt uns das schon erwähnte Beispiel des ausgezeichneten Irren- arztes Koyer-Collard, des ärztlichen Direktors von Charenton, der de Sade fast zwölf Jahre hindurch in dieser Anstalt beobachtete und während dieser ganzen Zeit nicht müde wurde, in immer wieder- kehrenden Reklamationen bei der R^erimg seine Entfernung zu be- antragen und g^en seinen fortgesetzten Aufenthalt zu protestieren. Aber auch die Irrenärzte unserer 2ieit würden, wie ich glaube, der Mehrzahl- nach sich kaum in der Lage befunden haben, de Sade vor dem Strafrichter für geisteskrank und „der freien Willensbestim- muDg beraubt" zu erklären und ihn der unzweifelhaften gerichtlichen Verurteilung damit zu entziehen.

Es lag zwischen jener Zeit und der unserigen eine Periode, in der man vermutlich mit der Annahme einer eigenartigen geistigen Störung, die unter dem Namen der „moral insanity" eine grosse Rolle spielte, sehr rasch bei der Hand gewesen sein würde. Dieser von Prichard (1835) geprägte Ausdruck — der die früheren Bezeich- nungen einer „Mwiia sine deUrio" (Pinel), einer „Monomanie affective" (Esquirol) vollständig verdrängte — sollte einer Form der Seelen-


46 Leben and Werke des Marquis de Sade.

Störung entsprechen, die sich lediglich durch eine krankhafte Um- wandlung, eine Perversion der natürlich^i sittlicltet Antriebe und Gefühle und durch eine daraus entspringende Neigung zu onsitthchen Handlungen, ohne sonstige Störungen der Intelligenz, charakterisierte. Wir meinen jetzt, dass es einen „moralischen Wahnsinn" in diesem Sinne, eine solche partielle, rein affektive Form der Seelenstörung nicht gibt, dass vielmehr immer und überall die auf angeboren«: Anlage beruhende Abschwächung der Intelligenz, nur in eLnem Falle mehr, im anderen minder ausgesprochen, nie aber gänzlich fehlend, neben der Gefühlsstörung hervortritt und dass es sich demnach um Fälle angeborenen Schwachsinns, meist auf degenerativer Grundlage handelt. Es spricht manches dafür, dass ein derartiger Zustand bei de Sade vorgelegen haben mag: die schweren Perversitäten des Ge- schlechtslebens, die Lügenhaftigkeit, der anscheinend nicht fehlaide Hang zu herumschweifendem Leben, auch die immerhin auffäUige Urteillosigkeit hinsichtlich der Polgen, die so unverhüllt gleichsam am hellen Tageslicht sich abspielende Skandalaffären, wie die früher erwähnten, für ihn denn doch bei aller Protektion schliesslich nach sich ziehen mussten. Das und noch manches andere lässt sich wohl in dieser Richtung verwerten; doch bleibt das biographische Material immerhin, namentlich für den früheren Entwickelungsgang de Sades, imgenügend und, wie aus dieser Darstellung hervorgeht, im einzelnen auch zu widersprechend, um ein alle Zweifel ausschliessendes psychia- trisches „Gutachten" darauf zu begründen.

Die Schwierigkeit wächst noch dadurch, dass solche Formen angeborenen Schwachsinns, die sich durch Anomalien der sittlichen Gefühle und daraus entspringende Handlimgen vorwiegend charakteri- sieren, erfahrungsgemäss nicht immer im ununterbrochenem Flusse oder gar in gleichmässig stetigem Anschwellen das ganze Leben hin- durch verlaufen, sondern sehr häufig Perioden verhältnismässiger Kühe und scheinbarer Besserung mit Perioden der Steigerung und Wieder- verschlimmerung abwechselnd darbieten. Andeutungen solcher Wechsel- perioden, die aber wegen des unzulänglichen Materials doch nicht scharf umrissen genug hervortreten, machen sich auch in dem Lebens- bilde de Sades einigermassen bemerkbar. Daneben mag — wofür auch die früher mitgeteilte Beobachtung zu sprechen scheint — in den letzten Lebensjahren ein Übergang in jene dem Greisenalter eigene, auf Rückbildung des Gehirns beruhende Form der Demenz als nicht ausgeschlossen gelten.

So werden wir denn unser End urteil in dieser Beziehung dahin zusammenfassen: es kann vielleicht über den Punkt Meinungsver- schiedenheit herrschen, ob de Sade bis in sein höheres Alter hinein von einer bestimmten Form geistiger Störung befallen, ob er im l(tfid- läufigen Sinne „geisteskrank", im rechtlichen und gerichtsärztlich«!


Sein Charakter und GeisteszuBtand« 47

Siiine „wahnsinnig" oder „blödsinnig", „unfähig, die Folgen seiner Handlungen zu überlegen" oder „des Gebrauches seiner Vernunft gänz- lich beraubt" war. Ganz gewiss aber war er eine mit schwerer degenera- tiver Veranlagung, mit perversen, zumal nach der sexualpathologischen Seite gerichteten Neigungen und Antrieben behaftete, anomale Persön- lichkeit, und wegen dieser nicht auszurottenden, vielleicht auch perioden- weise gesteigerten perversen Neigungen und Antriebe eine eminent antisoziale Erscheinung. Und der erste Konsul hatte unzweifelhaft das praktisch Richtige getroffen, als er die menschliche Gesellschaft von einem ihrer unwürdigsten Mitglieder, von dem Träger einer mit fortwuchemder Zerrüttung und Verwüstung drohenden moralischen Verpestung, durch einen Federstrich unbedenklich befreite.


Sacher-Masoch; der Mensch und der Schriftsteller.

Wie die Lebensgeschichte de Sades, so bietet auch die des Namensgebers des „Masochismus" ein grosses psychologisches Inter- esse; sie liefert uns den Schlüssel zum Verständnis seines literarischen Schaffens imd der davon ausgehraiden unbestreitbaren, anscheinend immer noch im Zimehmen begriffenen Wirkung. Nach den Ermitte- lungen eines für den Helden seiner Darstellung enthusiastisch be- geisterten Biographen (Schlichtegroll)^) soll Sacher-Masoch von einem spanischen Ahnherrn, Don Mathias Sacher, her- stammen, der in der Schlacht bei Mühlberg 1547 als Rittmeister bei der spanischen Kavallerie Karls des Fünften mitkämpfte, in dieser Schlacht verwimdet wurde, und in der Folge die Tochter oines böhmi- schen Adligen heiratete, um sich mit ihr in Prag dauernd nieder- zulassen. Als mehr als zwei Jahrhunderte später bei der Zertrümme- rung des polnischen Staates die „Königreiche" Galizien und Lodemerien an Österreich fielen, wurde der Grossvater unseres Helden — Johann Nepomuk von Sacher — in österreichischer Beamtenstellung zunächst mit der Aufsicht über die Staatssalinen des salzreichen Landes betraut; der offenbar geschickte und pflichttreue Mann avancierte später zum Gubernialrat und zum erblichen Standesherrn des König- reichs, und starb 1836. Zu dieser Zeit fungierte sein Sohn Leopold bereits als Polizeidirektor in der Provinzialhauptstadt Lemberg. Er hatte 1827 die Tochter eines kleinrussischen Adligen, des Professors und Universitätsrektors FranzvonMasoch, eines um das Medizinal- wesen der Provinz verdienten Mannes, geheiratet, und durfte mit kaiser- licher Erlaubnis 1838 seinem Namen den Familiennamen und das Wappen der M a s o c h s hinzufügen. Der einzige Sprössling dieser Ehe, unser Leopold von Sacher-Masoch, wurde am 27. Januar 1836 im Lemberger Polizeipräsidium geboren: ein zart angelegtes, schwäch- liches Kind, das nur durch die kraftstrotzende ruthenische Amme Hanscha am Leben erhalten und über die Gefahren der ersten Kind- heit w^gebracht werden konnte. Aus ihrem Munde vernahm der Knabe die schwermütigen Volksweisen der Ruthenen, denen er be- gierig lauschte, und ihr behauptete er selbst nicht bloss die Erhaltung seiner physischen Existenz, sondern im eigentlichen Sinne auch ,.seine


1) Sacher-Masoch vnd der Masochismus. Literaturhistorische und kulturhistorische Studien von Carl Felix von Schlichtergroll. Dresden, H. R. Dohm, 1901.


Der Mensch und jder Schriftsteller. 49

Seele*' zu verdanken. In dem bunten Treiben jenes Völkergemisches, in dem sieh Orient mid Okzident kreuzen, fand der empfängliche Knabe früh die mannigfachsten Anr^ungen, während sein Natur- sinn sich in dem reizend gelegenen Viniki, dem Heimatort jener Hanscha, zu schönster Blüte entwickelte. Mächtige Eindrücke von ganz anderer Art brachte das Aufstandjahr 1846; die von den rutheni- schen Insurgenten gegen ihre polnischen Herren und Bedränger da- mals verübte Greuel mussten sich der Phantasie des zehnjährigen Knaben auf das lebhafteste einprägen, wie sie denn auch in seinen späteren literarischen Werken mannigfache Verwertung und poetische Ausschmückung gefunden haben. In ähnlicher Weise wirkten zwei Jahre später (1848) die Revolutionsszenen in Prag, wohin der Vater inzwischen als Hofrat und Polizeichef berufen worden war; hier erst, in dem — damals noch deutschen! — Prag erlernte der junge Leo- pold auch die deutsche Sprache. In der schönen Hauptstadt der Steiermark, in Graz, wohin der Vater 1853 in gleicher Beamtenfunktion übersiedelte, begann Sacher-Masoch seine Studien, promovierte 1855 zum Doctor juris und habilitierte sich im darauffolgenden Jahre, ein Zwanzigjähriger, als Privatdozent für deutsche Geschichte. Nach der Schilderung eines seiner damaligen Hörer: „ein zarter, schlanker JüDgling von beinahe knabenhaftem Aussehen", der sein Kolleg über die Reformationszeit „etwas müde und abgespannt" vortrug. Doch war es ihm ernst mit dem erwählten Beruf; und so gab er 1857 seine erste, mit Beifall aufgenommene historische Schrift „Über den Aufstand in Gent unter Karl dem Fünften" heraus, die er d^n jungen Kaiser Franz Joseph widmen durfte und der 1862 eine zweite, ihren Stoff derselben Zeitepoche entnehmende Schrift „Ungarns Untergang und Maria von Österreich" folgte. Die dafür gemachten Spezialstudien erwiesen sich noch in anderer ungeahnter Weise fruchtbar ; sie lieferten Sacher-Masoch den dankbaren Stoff zu dem ersten grösseren novellistischen Werke, mit dem er (1866) an die Öffentlichkeit trat — zu dem dreibändigen historischen Roman „Der letzte König der Magyaren". Ein bedeutendes Werk, das viele spätere Schöpfungen seines Urhebers überragt, und dem Staube der Vergessenheit, der sich über geschichtliche Romane nur zu leicht breitet, wohl entrissen zu werden verdiente. Ich erinnere mich noch des gewaltigen Ein- drucks, den mir dieses Jugendwerk des damals noch gänzlich unge- nannten Autors machte, als es mir unmittelbar nach seinem Er- scheinen während des Feldzuges von 1866 in Böhmen auf der Bibliothek des kleinen Lichtensteinschen Schlosses Ratay, wo ich für einige Zeit Quartier gefunden hatte, zufällig in die Hände geriet Schon damals waren mir die eigentümlichen, herrschsüchtig despotischen und geradezu grausamen Züge auffallend, die Sacher-Masoch einzelnen Frauencharakteren, namentlich der (im übrigen stark ideali-

Enlenbarg, Sadiimas und Maiocbismus. II. Anflage. 4


50 Sacher-Masoch.

sierten) Königin Maria zu geben wusste, und nicht minder die bis zur Willenlosigkeit herabsinkende Schwäche und Schlaffheit seiner Männergestalten ; doch liess sich damals natürlich noch nicht ahnesi, in wie engem Zusammenhang diese Schilderungen mit der persön- lichen Eigenart ihres Autors standen. Inzwischen war dieser selbst bereits dem Banne seines Schicksals, das ihn zum willenlosen Sklaven despotischer Frauengewalt, zum lebenslänglichen Untertan einer von freien Stücken auf sich gfeladenen Gynäkokratie bestimmt zu haben schien, imentrinnbar verfalleni.

SchlichtegroUsagt vonihm: „Er war eine Persönlichkeit, die die Weiber faszinierte und sie anzog, wie der Lichtschein die Motten. War aber die Annäherung erfolgt, der Kontakt geschlossen, pflegte sich das Bild schnell zu verkehren : das Weib ward zur Kerze und d^ arme Schmetterling, der sich die Flügel versengte, war der Dichter selbst" — In recht erhebüchem Masse versengte sich S acher - Masoch so die Flügel zuerst an einer Frau Anna von Kotto- witz, Tochter und Gattin eines Arztes, die bedeutend älter war als der junge Dichter; nach Schlichtegroll „eine Dimennatur, aber ohne den Mut, die Konsequenzen auf sich nehmen zu woll^, lüstern und doch sentimental prüde, sich stets das Opfer wähnend und in Wahrheit doch nur von anderen Opfer fordernd." Sie lebte mit dem Manne, der „ein libertin schlimmster Art", auch sonst, wie es scheint, moralisch recht niedrig bewertet war, in äusserst unglücklicher Ehe und zog den jungen Sacher-Masoch, dem gegenüber sie sich auf die Femme incomprise hinaufspielte, leicht als hilfsbereiten Tröster in ihre umstrickenden Netze. Nach mancherlei Zwischenfällen brachte sie es dahin, sich von ihrem Gatten zu trennen und offenkundig mit Sacher-Masoch zu leben, wobei sie dann ihre masslosen Liaunen, ihre Verschwendungssucht, ihr stetes An- betungsbedürfnis, ihre von Tag zu Tag wachsenden exzentrischen An- sprüche in imgezügelter Weise hervorkehrte. Sacher-Masoch arbeitete damals an seinem gross angelegten, leider unvollendet ge- bliebenen „Vermächtnis Kains", dessen erster Teil („Die liebe") mit der so berühmt und vorbildlich gewordenen „Venus im Pelz" 1870 erschien ; unstreitig eine seiner besten und ausgereif testen novellistischen Schöpfungen, wofür er das Modell in nächster Nähe zur Hand und vor Augen gehabt haben mochte. Übrigens hatte er noch das un- verdiente Glück, dass ihn ein unter dem nom de guerre eines Grafen Meciszewski auftauchender Abenteurer — der sich in der Folge als durchgegangener russischer Apothekerlehrling entpuppte — von diesem unwürdigen Idol, als dessen Anbeter er über vier Jahre Stand ge- halten hatte, endgültig befreite.

Freilich wurde er di^mal nur erlöst, um im „Irrgarten der Liebe" blindlings weiter zu taumeln. Den Empfindungen, mit denen


Der Mensch und der Schriftsteller. 51

er auf sein überstand^ies Yorhältnis zur Kottowltz zurückblickte, hat er selbst in ein^n als literarische Beichte ä la Strindberg aufzufassendem Buche „Die geschiedene Erau, Passionsgeschichte eines Idealisten" (1870) künstlerisch vollendeten Ausdruck gegeben. Aber wurde er auch von diesem Weibe frei — die Befreiimg vom Weibe trat leider nicht ein. Ihm war einmal verhängt, an dieser für so viele schwach- imd weitherzige Männer verderblichsten Lebensklippe immer und immer wieder zu scheitern. — An die Stelle jener treu- losen Dauergeliebten traten zunächst flüchtige Verhältnisse, von zum Teil recht fragwürdiger Art und mehr und mehr spezifisch „maso- chistiseher" Färbung. So reiste Sacher-Masoch, wie sein Biograph berichtet, mit einer Fürstin Bogdan off, die ihn ihrer Gunst ge- würdigt hatte, als deren Diener oder Privatsekretär — der Welt gegen- über jedenfalls ganz als ihr Untergebener erscheinend — für einige Zeit nach Florenz. Mit einer Baronin Fanny Pistor liess er sich in der „Wanda imd Severin"-Position, d. h. sie in der Pelzjacke auf einer Ottomane, mit strenger Miene auf ihn herabblickend, er demütig zu ihren Füssen knieend, photographieren. Von einem Ver- hältnis mit der für ihn begeisterten Baronin Reizenstein (schrift- stellerisch bekannt unter dem Pseudonym Franz von Nemmersdorf) rias er sich los, weil sie doch nicht so recht sein erträumtes Frauen- ideal mit Pelzjacke und Peitsche zu verkörpern vermochte und er überdies unerfreuliche Nebenbeziehungen der Dame zu — ihrer Kammerjungfer entdeckte. Nidht lange darauf fiel er in die Netze der Frau, die den unheilvollsten Einfluss auf sein Leben üben sollte: die unter dem Namen WandavonDunajew bekannte Tochter einer geschiedenen Grazer Selterswasserbuden- und Tabaktrafik-Inhaberin Aurora Rümelin. Ohne jeden Liebreiz, mit harten gewöhnlichen Zügen, wie ihr Bild sie zeigt, nichts weniger als verführerisch, scheint sie dagegen ein stattliches Talent zur Intrigue, einen strebsamen Eifer zum Emporkommen um jeden Preis, womöglich mit Vorspannung an- erkannter Grössen der Literatur, besessen zu haben. Sieben undzwanzig- jährig bandelte die imbeschäftigte und unternehmungslustige junge Dame erst mit Bosegger an, bei dem sie aber trotz unverdrossen wiederholter Versuche kein Entgegenkonmien fand, — dann mit dem schwachen und unselbständigen Sacher-Masoch, bei dem sie auf Grund der aus seinen Werken geschöpften Personalkenntnis mehr Glück hatte. Sie besuchte ihn maskiert, als vornehme Dame, dann als Offiziersfrau unter dem Namen Alice auftretend, liess sich von ihm die Füsse küssen und stellte ihm auch die gewünschten weiteren tatiichen Misshandlungen in Aussicht. Sie brachte es dahin, dass er die mit einer Grazer Künstlerin, Fräulein Frauenfeld, angeknüpfte Verlobung zurückgehen liess, dass er auch alle seine sonstigen Familien- und Freundschaftsbande allmählich lockerte, seine Grazer Stellung

4« 


52 Sacher-Masoch.

schliesslich aufgab und mit der angeblichen Frau von Dunajew, die durch ihn Mutter eines Knaben geworden war, ^e Ehe ein- ging (1873). Wir wollen die Geschichte dieser elenden, ohne g^;en- seitige Liebe und Achtung gesehlossenen und aufrecht erhalt^ien Ver- bindung und der traurigen häuslichen Verhältnisse, die das Ehepaar erst in Brück an der Mur, dann in Budapest, schliesslich eine Weile in Leipzig ziu: Schau stellte, hier nicht weiter verfolgen. Li Leipzig, wohin Sacher- Mas och zur Begründung und Leitung einer in grossem Stil geplanten Zeitschrift sich gewandt hatte, wurde ihm nochmals das imverdiente Glück, dass der durch anderweitige roman- tische AbenteuOT zu allgemeiner Notorietät gelangte spätere Figaro- Mitarbeiter Jacques St. Göre — damals noch ein simpler Jakob Kosenthai, der aber dem Jakob schon den wohlklingenderen Vor- namen Armand substituiert hatte — ihm seine Frau ver- und ent- führte und mit ihr nach Paris durchging; eine Art Talentprobe für die später mit sensationellem Erfolg in Szene gesetzte Entführung einer anderen, nicht minder bekannten und berühmten Schriftstdlergattin. An diesen Tatsachen und der daraus entspringenden Gesamtbeurteilung wird auch durch die später veröffentlichte „Lebensbeichte" der Frau Wanda — die übrigens manche interessante Einzelheiten, z. B. das dreieckige Verhältnis mit dem „Griechen" imd den Geheimbesach des Bayemkönigs Ludwig 11. bei S. M. erschliesst — und die damit verknüpfte ärgerliche Polemik nichts Wesentliches geändert i).

Inzwischen tröstete sich Sacher-Masoch anfangs mit einer durch Korpulenz hervorrag^iden Jüdin, später mit seiner nachmaligen zweiten Gattin, der als talentvoll, klug und energisch geschilderten, 1856 zu Strassburg geborenen, als Gouvernante in Amerika und Europa viel herum verschlagenen und schliesslich in der Pleissestadt gelandeten Hui da Meister. Sie sorgte mütterlich für den Dicht«- und den bei ihm gebliebenen einen Sohn Alexander (den anderen, Demetrius, hatte die Mutter mit auf die Beise genommen). Nach einem kurzen nochmaligen Auftauchen W an das in Leipzig und nach jahrelangen widerlichen Auseinandersetzungen, nach Überwindung zahlloser, aus dem doppelten Verhältnis als Ausländer (Österreicher) und als Katholik erwachsender Schwierigkeit^!, konnte endlich die Scheidung sowohl wie die Möglichkeit zur Eingehung einer neuen Ehe «reicht werden und Sacher-Masoch heiratete Hulda Meister, mit der er sich nach dem völligen Zusammenbruch seiner Leipziger Hoffnungen in dem kleinen Dörfchen Lindheim in der Wetterau ein bescheidenes Heim gründete. Allerdings verfolgten ihn auch hierher Belästigungen und Drohungen seiner ersten Frau, die,

1) Ein angebliches (nach meiner Meinung apokryphes) „Tagebuch** S a c h e r • Masochs lag mir vor «inigen Jahren in Abschrift nach dem Manuskripte vor. Der Druck scheint glücklicherweise bisher nicht stattgefunden zu haben.


Der MesBch und der Schriftsteller. 53

als Mutter des einzigen ihm gebliebenen Kindes auftretend, nicht müde wurde, die Eechtsgültigkeit der zweiten Ehe anzufechten und literarische und persönliche Gegner ihres Gatten als Mitkämpfer für sich zu ge- winnen. Inunerhin war dem vielgeprüften Dichter hier noch ein ruhiges Ausklingen vergönnt und er kannte, vor der Zeit geistig und körper- lich aufgerieben und erschöpft, aber resigniert und in Frieden, eben erst sechzigjahrig, sanft und schmerzlos am 9. März 1895 sein Leben beschliessen.

Ein Leben, das soviel verheissend begonnen hatte und so traurig versandete! Wesentlich doch mit durch eigene Schuld, — wenn auch diese Schuld mehr eine solche der Schwäche, der Passivität als des aktiven Sündigens sein mochte. Diesem Helden der Sdiwäche aber, wie sein Biograph es tut, im Gegenteil eine „ungewöhnliche Stärke" za vindizieren, und alles Unglück seines Lebens auf die verhängnisvolle EoUe, die seine erste Frau, Wanda Dunajew, darin gespielt habe, zu schieben, von ihr zu behaupten, „dass sie ein herrliches Leben gebrochen und fast an den Rand des Abgrunds geführt hat", das erscheint doch nicht bloss als Übertreibung, sondern geradezu als Äusserung unbegreiflicher Verblendung. Welch ein „Mann", der eine Frau solche Rolle in seinem Leben spielen lässt, und welche „Stärke", die sich widerstandslos zum Spielball eines solchen Weibes hergibt und zu dessen Fussschemel erniedrigt! Und sie war in seinem Leben ja keineswegs die erste und einzige. Der unheilvolle Drang, der Sacher-Masoch nicht bloss zum Weibe trieb, sondern ihn nur noch in der sklavischen Unterwerfung unter das Weib und in der Misshandlung durch das Weib aufregenden Genuss finden Hess, hatte allmählich, wie es scheint, die Macht eines allbeherrschenden un- widerstehlichen Triebes über ihn angenommen. Ich besitze ein sehr charakteristisches Dokument dafür in dem Bericht, den mir eine hochangesehene österreichische Schriftstellerin über ihre vor etwa zwanzig Jahren stattgehabte Begegnung mit Sacher-MasoCh zu überlassen die Güte hatte. Dieser Bericht lautet wörtlich:

„Als ganz junges Mädchen und noch völlig unbekannte Anfängerin, schrieb ich an Sacher-Masoch, dessen „Vermächtnis Kains** mir gewaltig imponiert hatte, und bat ihn, mein Streben durch seinen Rat und Beistand zu unterstützen. Er antwortete mir sehr ausführlich und sehr freundlich und es entspann sich eine lebhafte Korrespondenz zwischen ihm und mir, die etwa ein Jahr lang währte. In seinen Briefen zeigte er sich als ein ausserordentlich gutmütiger imd gefällige Mensch; auch als ein anhänglicher Gatte und — namentlich — zärtlicher Vater. Doch schon brieflich versicherte er mich, dass es sein höchstes Glück wäre, von einer Frau gepeitscht zu werden. Ein Jahr später kam er nach Wien und be- achte mich. Er war sehr erstaunt, dass ich ihn (es war im Frühling) ohne Pelz empfing; schwärmte mir von seinen Kindern vor und bat mich gleichzeitig, ihn zu peitschen. Aber natürlich müsste ich mich zu diesem Zweck in einen Pelz kleidend

Ich fragte ihn scherzend, ob er wirklich durchgehauen werden wolle. Und zwar so, dass er es spüre und es ihm weh tue. was er bejahte. Darauf meinte ich,


54- Saeher-Masoch.

däss ich allenfalls bereit sei, ihn zu prügeln, da er so sehr erpicht sei anf diesoi Gtennss; nur müsse die Sache mit der Prügelei zu Ende sein. Damit aber war er nicht einverstanden. Zuerst die Prügelei und dann . . . das andere. Ich Hess die Sache fallen, da ich den Scherz (für mich war es eben nur ein Scherz) j«itt zu be- kommen anfing. Dass er mich fragte, ob ich mich schon einem Manne hingegeben hätte (eine Frage, die mich, die ich noch sehr jung und herb war, aufs äusserste überraschte), dass er mir riet, mich dem Erstbesten hinzugeben, um den „ersten Schreck'* hinter mir zu haben, dass er mich auf die homosexuelle Liebe zwischen Frauen aufmerksam machte und meinte, ich hätte vielleicht dazu Talent, indem die Männer mich nicht »reizten*, das will ich noch nebenbei bemerkt haben« Ich empfing einen höchst sonderbaren Eindruck von ihm, muss aber sagen, dass er, von seinen Exzentrizitäten auf dem sexualen Gebiet abgesehen, ein liebenswürdiger, einfacher und S3^pathischer Mensch war und dass namentlich seine schwärmerisch-zärtliche Liebe zu seinen Kindern etwas Rührendes an sich hatte."

Wie auch diese Augenzeugin bestätigt, war Sacher-Masoch eine durchaus liebenswürdige, sympathische, aber von früh auf unter dem Bann einer verhängnisvollen psychosexualen Veranlagung stehende, in sich ungefestete und haltlose Natur. Gewiss werden wir seiner dichterischen Begabung und eigenartigen Bedeutung gern Gterechtigkeit widerfahren lassen, die ihm freilich nicht immer imd nicht von allen Seiten zuteil wurde. Ich selbst habe diese Bedeutung noch bei Leb- zeiten des Dichters ausdrücklich anerkannt i) und habe insbesondere auch hervorgehoben, wie sehr gerade die ihm eigene Wendung des erotischen Problems einer eigenartigen, zumal im slavischen Volks- boden wurzelnden Auffassung der Qeschlechtsverhältnisse entsprungen sein mag ; einer Auffassung, die — nicht ohne tiefe Berechtigung — in der Liebe wesentlich einen Kampf der Gteschlechter und in diesem Kampfe das Weib als den stärkeren, siegreichen Teil sieht, — wie es ja unzweifelhaft, gerade bei einzelnen slavischen Völkergdiaften, infolge der reichen Begabung und stärkeren Willenskraft ihrer Frauen, in gewissem Sinne der Fall ist. Wenn also somit zugegeben ist, dass Sacher-Masoch einerseits aus einer bestinunten Umwelt, wi© aVich aus eindrucksvollen Jugenderinnerungen herausschöpfte, und dass seine Gestalten wenigstens zum Teil in tatsächlich bestehenden kulturellen und ethnologischen Verhältnissen wurzeln, so entwickeltMi sich doch diese früh eingesogenen Anschauungen- und Vorstellungen nur vermöge der inneren Schwäche und Widerstandslosigkeit seinCT Natur für ihn zu „überwertigen Ideen", die ihn sein ganzes Leben nicht mehr losliessen und nicht nur auf sein gesamtes künstlerisches Schaffen, sondern leider auch auf seine persönliche Lebensführung den verhängnisvollsten Einfluss behaupteten. Gewiss werden wir auch


1) In meiner Darstellimg der sexualen Neuropathie, zuerst abgedruckt in dem Zuelzer-Oberlaender sehen Handbuch der Harn- und Seuxalorgane, Bd. IV, Leipzig, F. C. W. Vogel, 1894; vgl. den später erweiterten Sonderabdruck, 1805, S. 111.


Der Mensch und der Schriftsteller. 55

für seine menschlichen, nur allzu menschlichen Verfehlungen, wie für die unverkennbare Minderwertigkeit seines späteren literarischen Schaffens — nach den ersten glanzvollen Erfolgen — alle möglichen entschuldigenden und mildernden Umstände bereitwillig zugeben. Aber den uns von seinem Biographen Schlichtegroll aufgedrängten und so absichtsvoll nachdrücklich hervorgekehrten Vergleich mit Goethe müssen wir doch als unwürdige und geradezu ungeheuer- liche Profanation in doppeltem Sinne zurückweisen, da wir in Goethe nicht nur die genialste und universellste Dichterpersönlichkeit, sondern auch den vorbildlichen Lebenskünstler und höchsten Meister der Selbst- erziehung verehren, während der arme Sacher- Masoch sein Leben lang weder im Sinne der bekannten Faustvorschrift, „die Poesie zu kommandieren", noch den sein persönliches Dasein verwüstenden Mächten Halt zu gebieten vermochte. Nicht an Goethe, sondern allenfalls an Günther, an Lenz, an den unglücklichen Bürger, an Grabbe und andere durch eigene und fremde Schuld entgleiste „Genies" mögen wir bei seinem Namen denken. Er „wusste sich nicht zu bezähmen", müssen wir abschliessend auch von ihm mit den Worten jenes Grössten urteilen, „und so zerrann ihm sein Leben wie sein Dichten".


Zur speziellen Symptomatologie und Entwickelongsgeschichte der algolagnistischen Phänomene.

Notzucht, Lustmord, Mädchenstecherei, Nekrophilie.

Während „Lustmord** und „Leichenschändung** (NekrophiKe) vor- zugsweise, wenn auch nicht ausschliesslich als sadistische und von typischen Sadisten begangene verbrecherische Akte in Betracht kommen, ist davon bei der gewaltsamen, gesetzwidrigen Vollziehung des Bei- schlafes, die die heutigen Strafgesetzbücher als „Notzucht** (franz. viel, engl, rape) charakterisieren, natürlich keineswegs in allen oder doch nur in den meisten Fällen die Rede. Notzuchtsattentate, Stupra- tionsakte, können von ganz anderer als sadistischer Seite imd aus ganz anderen als algolagnistischen Motiven und Impulsen begangen werden. Es kann, wie wohl zumeist bei idiotischen oder kriminell veranlagten oder unter Alkoholwirkung stehenden Individuen, sich um Öffnung des zu lange verschlossen gehaltenen Ventils, um eine ge- dankenlos brutale Stillung des Geschlechtsbedürfnisses in dem von H r a z geschilderten kritischen Momente : „tument tibi quum inguina- malis tentigine rumpi?** handeln; oder um eine als selbstverständlich betrachtete schonungslose Ausnützung der durch Zufallsgunst sich bietenden Situation, wie etwa beim Treiben der Lanzknechte früherer Zeit in gewaltsam eroberten Städten; es mag ein mit kühlem Blut verübtes Verbrechen, die Laune eines Wüstlings, oder ein Exzess wirklicher erotischer Leidenschaft vorli^en; es mag sogar die Tat sich in das Gewand eines Racheakts hüllen, wie die Stupration Ijavinias durch Cliiron und Demetrius in Shakespeares Titus Androniöus. Alles das hat mit algolagnistischen, im engeren Sinne sadistischen Trieb- federn nichts zu schaffen. Der Sadist sucht bei Begehung der Not- zucht, der Stupration nicht sowohl die Befriedigung seines allgemein oder einem bestimmten Individuum gegenüber irritierten Geschlechts- triebes, oder diese Befriedigung wenigstens nicht unmittelbar, sondern zunächst und vor allem den (physischen und moralischen) Schmerz, die schmachvolle Erniedrigung und Misshandlung seines Opfers. Erst aus dieser quillt ihm selbst die geschlechtliche Erregung und Lust- befriedigung, die daher unter Umständen gar nicht einmal so sehr der Beischlafsvollziehung selbst als der präparatorischen Akte dazu, oder der mannigfaltigsten begleitenden und komplizierenden Gewalt- handlungen bedarf. Der echte Sadist würde in jedem Falle den un- erlaubten und gewaltsam erzwungenen Beischlaf dem freiwillig ge- währten, legitimen vorziehen, ja letzteren überhaupt als wertlos ver-


Kotzucht, Lustmord, Mftdchenstecherei, Nekrophilie. 57

schmähen oder geradezu perhorreszieren (daher der Hass sämtlicher de S ade scher Helden gegen ihre Gattinnen, und auch sadistischer Heldinnen gegen ihre Männer) ; er geniesst und goutiert den Geschlechts- verkehr überhaupt nur, insofern dieser gewaltsam erzwungen und durch allerlei Beimischungen von besonders schmachvoller Demütigung und Erniedrigung, oder von voraufgehenden und nachfolgenden Grausam- keitsakten in für ihn pikanter Weise gewürzt ist. Zu charakteristischem Ausdruck gelangen diese Empfindungen und Stimmungen, die speziell aus der gewaltsamen Entehrung und schmachvollen Erniedrigung des Opfers den höchsten Lustreiz schöpfen, in einem „the battles of Venus" betitelten englischen Werke i), wo die „pleasures of rape" in folgender Weise gefeiert werden:

,,l caonot ocmceive a higher bonquet to a man of lustful humotur, than to see a modest and beautiful woman forcibly stripped naked ; to observe her struggling and discovering her hidden beauties by degrees, luitil she comes to her last shift, and then to lay her down and, notwithstanding her efforts, rifle all her charms, and penetrate even into her honeyed treasure. For here are snpposed resistance of both kinds, with modesty and beauty; and on the man's side an imagin&tion; prepared by best, and a body disposed to make the utmost advantage of its man- dates."

Ahnliche Gelüste kann man an zahllosen Stellen der de Sade- schen Werke wie bei neueren sadistischen Autoren zum Ausdruck gebracht finden — und man kann dem Inhalt der obigen Schilderung und allem darauf weiter zu Erwartenden auch in bildlicher Wiedergabe, in den zum G^nuss ideeller sadistischer Liebhaber in den Handel ge- brachten Serien sadistischer und flagellantistischer Akte, Photo- graphien usw. begegnen. Die scheusslichsten Ausgeburten der Phantasie feiern hier ihre bildliche Auferstehung. Vor mir li^t eine solche (technisch gut ausgeführte) Bilderreihe, wobei einer von zwei Männern geschändeten weiblichen Person schliesslich ein dicker Pfahl in den After getrieben wird ; auf anderen Bildern werden die Opfer in mannig- faltigen Attitüden gegeisselt oder gekreuzigt. Serien von Hexenfolte- rungen, Inquisitionsszenen, chinesischen und sonstigen ausländischen (auch russischen) Torturen, Pariser Apachenszenen usw. erfreuen sich anscheinend besonderer Beliebtheit.

Was die „Lustmorde" speziell betrifft, so braucht natürlich nicht jeder „Lustmord" aus rein sadistischen Motiven zu entspringen; nicht jeder Lustmörder braucht Sadist im engeren Sinne zu sein. Doch hat es wohl keinen erheblichen praktischen Wert, hier verschiedene Kategorien, des „typischen", des „hyperhedonischen" (Ziehen) und


1) The hattles of Venus. A descriptive dissertation on the varions modes of enjoyment etc. — Translated from the posthuraons works of Voltaire (!). Printed at the Hagne in the year 1760.


58 Zur speziellen Symptomatologie und Elntwickelmigsgeschichte etc.

des „algolagnistischen (sadistischen) Lustmörders aofzustell^i und streng zu unterscheiden, weil im konkreten Einzelfalle doch die be- stimmenden Motive meist schwer ermittelbar sind und vielfach durch- einanderfliessen. (Vgl. die vom juristisch-forensischen Standpunkte interessanten Bemerkungen über d^i Lustmord von Walter, Monats- schrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform, 6. Jahrg. 1910, S. 691 und von M. R. Senf, ibid 8. Jahrg. 1911, S. 299.) — Natürlich gibt es unter den Lustmördern auch Homosexuelle, d&cea Opfer dann Angehörige ihres eigenen Geschlechts sind (Fall Corny imd andere). —

Tatsächlicäi schliessen sich als Glieder einer Kette die ver- schiedensten sadistischen Handlungen aneinander, von der einfach^i Notzucht zur Plagellation, zur Beefudelung, zur raffiniertesten Miss- handlung und Marterung des Opfers, zur Verwundung, Verstümme- lung und mehr oder minder grausamen Tötung. Der sadistische „Lust- mörder" b^eht auch nach der Tötung oft noch Verstümmelung seines Opfers, besonders an den Genitalien. Warum der einzelne Sadist dies^ oder jener Idee den Vorzug gibt, sich an dieser oder jener Vorstellung ganz besonders berauscht, dadurch im höchsten Grade oder aus- schliesslich geschlechtlich irritiert wird — für diese, aus uns unbe- kannten ursprünglichen Gefühls- und Ideenassoziationen herstammen- den Nuancen können wir den Grund so wenig angeben, wie in der Regel für den besondetren Inhalt der Wahnideen und Halluzinationen geisteskranker Individuen. Genug, sie sind da, sie heischen ihr Recht, und dürfen bei häufiger Wiederkehr und typischer Wiederholung auf Einreihung in eine besondere Spielart oder Varietät sadistischer Perversionen Anspruch erheben.

Gewissennassen einer Vorstufe oder Übergangstufe zum eigent- lichen „Lustmörder" entsprechen diejenigen Sexualverbrecher, die sich in typischer Weise damit begnügen, ihre Opfer — stets Frauen oder Mädchen» zuweilen solche in ganz kindlichem Alter — zu „stechen", sie mit scharfen Werkzeugen, gewöhnlich an gewissen durch Ideen- assoziation nahegelegten Prädilektionsstellen (Unterleib, Hinterteile, Lenden, Schenkel usw.) mehr oder minder schwer zu verwunden — und die nach solcher heimtückisch beigebrachten Verletzung schleunig davoneilen: die sogenannten Stecher, Piqueurs, Mädöhen- stecher — die in der neueren Grossstadtannalistik eine in einförmiger Weise nur zu häufig wiederkehrende Rubrik bilden. Dass übrigens gerade dieser Sadistentypus keineswegs eine völlig neue und über- raschende Erscheinung darstellt, das geht aus einem interessanten Dokument, einem von Charlotte von Schiller an Knebel gerichteten Briefe vom 19. März 1820 hervor i), worin es wörtlich heisst:


1) Mitgeteilt in der Vossischen Zeitung, 20. Februar 1909.


Notzucht, Lustmord, Mftdchenstecherei, Nekrophile. 59

„Vamhagen v. Ense schreibt mir: Unter den Seltsamkeiten, die bisweilen wie Senchen über ganze Städte und weite Länderstrecken sich ausbreiten, kam in Paris 1820 oder vielleicht schon 1819 der schändliche Mutwill auf, dass Leute, die man nach ihrem Treiben Piqueurs nannte, abends auf den Strassen, besonders auf den Boulevards tmd im Palais Royal alle Frauenzimmer mit spitzigen Werk- zeugen, die sie teils in der Hand verbargen, teils in Stöcken oder Schirmen ange- bracht hatten, zu stechen beliebten. Am liebsten in die Hinterteile, die Schenkel usw., meist nur leicht, aber immer blutig und oft schwer und gefährlich. Alle Frauen, vornehm oder gering, alt und jung, waren dem ausgesetzt, niemals erstreckte sich der Unfug auf die Männer. Dies dauerte in Paris mehrere Wochen, und die Täter blieben stets unentdeckt. Dann hörte die Sache wieder von selbst auf. In London war es bei schwachen Versuchen geblieben, so auch in Brüssel. In Deutsch- land lieferten, so viel ich mich erinnere, nur Hamburg und München einige Beispiele, die schnell vorübergingen." Charlotte v. Schiller fügt hinzu: „Dass auch in Bayern die Piqueurs ihr Wesen treiben, erschreckt mich. Es ist ein so gewaltiges Streben, anderen Schmerzen zu machen und so viel Tücke dabei."

Wir werden später sehen, daäs diese letztere Auffassung glück- Kcherweise nicht immer zutrifft, sondern dass auf diesem Gebiete neben dem echten Sadistentypus auch rein psychopathologisch aufzaifassende Fälle vielfach in Betracht kommen.

Als sadistisch oder pseudosadistisch betrachten wir dem Obigen zufolge den bereits in allen Einzelheiten aus der kriminalistischen Erfahrung bekannten und auch in der Literatur — main denke an Jacques in Zolas „bete humaine" — geschilderten Typus des Lust- mörders — tmd so auch den des Leichenschänders, »des Nekrophile n. Auch letzterer ist neuerdings literaturfähig geworden (in Gustav Klitsches Novelle „Der Mörder der Schönheit"). Bei der Nekrophilie könnte es zunächst zweifelhaft erscheinen, ob es sich hier in der Tat um eine „algolagnistische" Perversion handelt, da ja dem Opfer dieser Passion ein Schmerz nicht mehr zugefügt werden kann. Allein es ist zu bedenken, dass dieser Schmerz in der Phantasie des geistig herabgekommenen Täters doch sehr wohl angetan werden kann, indem entweder der geschändete Körper als noch lebend vor- gestellt, oder der Eindruck der Schändung als über Tod imd Grab hinaus sich erstreckend imaginiert wird; ausserdem aber kann die Lustempfindung des sadistischen Täters in der früher erörterten Weise auch durch das grandiose Hinw^egäetzen über alle göttlichen und mensch- lichen Gesetze, durch das Grauenhaft-Entsetzliche des Vorgangs ge- ra(Ie für diesen Akt mächtig angeregt und erhöht werden. Dass Lust- mord und Nekrophilie wahlverwandt sind, psychisch eng zusammen- hängen, das bekräftigen zahlreiche Beispiele bei de Sade, dessen Helden mit Vorliebe nicht blo^ im Be^attungsakte selbst den Tod ihrer Opfer herbeizuführen suchen, sondern auch an der postmortalen Begattung der zu Tode gemarterten Opfer ihrer Lüste unsägliche Be- friedigung finden; es mag dafür auch noch eine, die nahe Zusammen- gehörigkeit der scheinbar heterogensten psychosexualen Abnormitäten


60 Zur speziellen Symptomatologie und EkitwickelnngsgeBchichte etc.

bekundende Äusseorung aus einem späteren vielgenannten sadistische Werke angeführt werden. In den (der genialen Wilhelmine Schröder-Devrient^) asug'esohriebenen) „Memoiren einer Sängerin", Bd. n, S. 177, erzählt die Verfasserin bei Schilderung einer Eeise durch das damalige Italien:

,,Hier herrschen Onanie, Päderastie und Leichenschändimg in schreckea- erregender Menge. Ja es werden sogar Mordtaten verübt von solchen Wüstlingen, die dann die kaum erkalteten Opfer für ihre Lüste missbrauchen. Der Prozess gegen den Salami- fabrikanten in Verona hat zu dieser Zeit grosses Aufsehen und allgemeine Entrüstung erregt. Er begnügte sich nicht, die Mädchen, die er in sein Garn lockte, zu ermorden, sondern er schändete einige sogar vor, andere nach begangener Er- mordung. Wenn in Italien ein Frauenzinmier hingerichtet wird, was, nament- lich im Kirchenstaate, eben nicht zu den Seltenheiten gehört, so kann man als ge- wiss annehmen, dass, wenn sie vor ihrem Tode noch eine Jun|;fraa war, sie es 24 Stunden nach ihrem Tode sicherlich nicht mehr ist, und dass Ehemänner, die der Zufall vor Hahnreischaft geschützt hat, wenn ihre Gattinnen jung und schön gewesen, den Hömerschmuck nach ihrer Weiber Tode erhalten."

Aus Gerichtsverhandlungen notorisch gewordene Beispiele von Sadismus in mannigfacher Verflechtung von Stuprum, Inzest, Plagel- lation und anderweitiger Misshandlung, Lustmord und Nekrophilie Hessen sich in grosser Zahl anführen. Ich erwähne nur die berühmte Gerichtsverhandlimg g^en das Ehepaar Nicolas und Rose Defert, die Mörder ihrer 17 jährigen Tochter AdeUne Def^t (vor der cJour d'assises de la Marne am 3. Dezember 1859; Presse, 7. Dezember 1859); den Prozess des Abbö Edard Tariel (in Couterne am 9. März 1877 wegen Leichenschändung verurteilt) ; den Prozess Saunris (Flagellation imd Stuprum der 16 jährigen Marie Marülier, vor der cour d'assises de la c6te d'or am 6. Dezember 1877. (Authentische Darstellung der beiden letzteren in dem Werke: „la chastetd clericale", par Robert Chartie, Bruxelles 1878, Henry Kistemaeckers.) — Im Falle Defert wurde die 17 jährige Tochter täglich von den entmenschten Eltern mehrmals gegeisselt, mit glühenden Kohlen und mit Zündhölzern ge- brannt, mit einem Nagelbrett auf das schon blutende Fleisch ge- hauen usw. — einmal wurde sie ganz entkleidet, festgebunden "und ihr durch den Vater ein dickes Stück Holz in die Geschlechtsteile getrieben. Über die stattgehabte Stupration weigerte die Tochter sich Zeugnis abzulegen.

Dass auch bei uns heutzutage die Spezies der sadistischen Lust- mörder der „Messerstecher" und der Nekrophilen noch nicht ausge- storben sind, davon mögen die folgenden, aus 2ieitungsberichten ent- nommenen Fälle den sprechenden Beweis liefern.

1) 1804—1860. Die Schilderungen entstammen anscheinend den dreisaiger Jahren des vorigen Jahrhunderts.


Notzucht, Lastmord, Mftdchenstecherei, Nekrophilie. 61

(22. März 1901.) Jack the Kipper^) in der Pfalz. Von imserem a.-Korre8pondenten aus Ludwigsburg wird uns geschrieben: in den letzten Wochen werden regelmässig in entlegeneren Stadtteilen auf einsamen Wegen von einem an- scheinend irrsinnigen perversen Verbrecher im ,,Mondenschein'* lustwandelnde Liebes- pärchen überfallen. Auch Mädchen, die spät abends in die Stadt zum Einkauf gesandt werden, bedroht der Unhold. So wurde eine junge Arbeiterin, die mit ihrem Ge- liebten nächtlich am Mundenheimer Bahndamm lustwandelte, plötzlich durch zwölf Stiche in den Unterleib auf den Tod verwundet, ihr Freund, als &c sich zur Wehre setzte, grässlich verstümmelt Der junge Mann schleppte sich nach der nächsten Polizeiwache, währ^d seine Geliebte auf der Strasse liegen blieb. Das Attentat geschah blitzschnell; der Täter entfloh. Ein ähnlicher Fall ereignete sich zum ersten Male vor einigen Wochen. In geradezu barbaiischer Weise wurde ebenfalls auf der Mund^iheimer Chaussee in dner Sonntagsnacht ein Pärchen überfallen und das Mädchen dabd am Unterleib durch Dolchstiche verwundet. Man glaubte anfangs an den Racheakt eines verschmähten Liebhabers der Verletzten. Die Ludwigshafener Polizei recherchierte aber vergeblich in dieser Richtung. Eine Woche später ereig- nete sich ein ähnlicher Fall; nur war das Opfer, das glücklicherweise nur leicht verletzt wurde, diesmal ein vom Einkauf nach Hause eilendes, einer besseren Familie zugehöriges junges Mädchen. In den Ludwigshafener Vororten herrscht infolge all dieser Vorkonunnisse jetzt eine förmliche Panik. Kein Dienstmädchen wagt sich mehr über die Strasse; keine verheiratete Arbeiterfrau kauft mehr abends ein, sie schickt ihren Mann zum „Kaufmann"! Hoffentlich wird die Behörde bald Mittel und Wege finden, um des Übeltäters habhaft zu werden xmd der Bevölkerung ihre Rahe wieder zu geben.

Über 'etaeii ziemlicli ähnlicIieQ Fall, der sich im Auslände lab- spielte, berichtete eine hiesige Zeitung unter dem 23. Oktober 1901 folgendes:

Jack the Ripper in Kiew. Wie uns aus Kiew geschrieben wird, ist in Kiew dieeer l^age von der Polizei in der Person des 18 jährigen Iwan Kaprowitsch, Sohnes wohlhiüi)ender Eltern, ein Jack the Ripper gefasst worden. Zahlreiche jui^e Mädchen, besonders Backfische, sind ihm zum Opfer gefallen. Er pflegte sie auf offener Strasse während der Abenddämmerungsstunden zu überfallen und ihnen mit einem Federmesser Stiche in den Hals und die untere Magengegend zu ver- setzen. Einige der jungen Mädchen erlitten derartig gefährliche Verletzungen, dass sie sich einer ernsten operativen Behandlung unterziehen müssen. Als der Unter- suchungsrichter ihn nach dem Motiv seiner Handlungsweise befragte, antwortete der Ripper: „Oh wie ich die Weiber nicht ausstehen kanni Ihr Anblick versetzt mich in Krämpfe. Der Hass gegen diese Furien verdunkelt bei ihrem blossen An- blick Hainen Verstand, und es übersteigt meine Kräfte, mich zu übarwinden, ihnen nicht einen blutigen Stich zu versetzen." Es handelt sich offenbar um einen sexuellen Psychopathen.

Unter der Spitzmarke: Ein neuer Jack the Ripper** wurde vor kurzem aus Atlanta (U. St. Am.) folgendes berichtet:


^) Ein zur Artbezeichnung gewordener Londoner Lustmörder um 1892; ebenso gefürchtet wie ehedem „Vacher Töventreur", Troppmann und ähnliche Zelebritäten ihres Faches.


62 Zur speziellen Symptomatologie und £ntwickelung8ge8chichte etc.

Durch das geheimnisvolle Dunkel, das ihn umgibt, durch sein plötzliches Auftauchen und Verschwinden und durch die Scheusslichkeiten seiner Taten ver- breitete ein Neger unter der Negerbevölkenmg von Atlanta lähmendes Ent- setzen. Mit grausamer Regelmässigkeit hat dieser unbekannte Verl»recher an acht Sonnabenden hintereinander abends Mulattinnen ermordet und in einer Weise grässlich verstümmelt, wie sie durch die Taten des berüchtigten Jack the Ripper gekennzeichnet ist. Das letzte Opfer wurde, wie ein Kabeltelegramm aus New York meldet, in einer dunklen Gasse gefunden. Der Kopf war fast gänz- lich vom Rumpf abgetrennt, genau so, wie es bei den vorhergehenden sieben Frauen der Fall gewesen war. Die Tochter der Ermordeten sagte aus, dass sie ebenfalls am Sonnabend abend von einem grosse stark gebauten und gut ge- kleideten Neger verfolgt worden wäre, der sie beim Laufen in den Rücken stach. Dies ist die einzige Spur, die die Polizei über den Täter dieser merkwürdigen Reihe von Verbrechen erhalten hat In jedem einzelnen Falle scheint sich der Mörder am Abend hinter die Opfer, die sämtlich hübsche Mulattinnen waren, ge- schlichen zu haben. Indem er sie bei den Haaren festhielt, durchschnitt er ihnen mit einem Rasiermesser die Hauptschlagader am Halse, ehe er seine Opfer verstümmelte.

Über eine ganze Anzahl rasch hintereinander und offenbar von den nämlichen Individuen verübter Messerattentate gegen Mäd- chen und Frauen, die offenbar sexualpathologischen Motiven ^it- sprangen, wird in den Berliner Zeitungen vom Pel>ruar 1909 aus- führlich berichtet. Die Gesamtzahl der — stets in typischer Weise verübteu Attentate belief sich in der Zeit vom 9. bis 18. Februar auf nicht weniger als 26, wovon am ersten Tage 6, am 12. und 13. Februar je ein Überfall zu verzeichnen war, an den nächstfolgenden Tagen 5, 7 ^und 6. Bei den Überfällen des ersten Tages wurde eine 30 jährige Arbeiterfrau durch einen Stich über der Lendengegend mit Verletzung einer Schlagader tödlich verwundet, während die übrigen Verletzungen meist leichterer Natur waren. Natürlich fehlte es auch bald nicht an Attentatmeldimgen, die auf Erdichtung oder auf Autosuggestion als Folge des in der Stadtgegend ausgebrochenen Schreckens beruhten. Der Täter wurde, wie ja meist in derartigen Fällen, nicht ermittelt. Dass er seine Überfälle plötzlich einstellte, ist wohl weniger (wie die Zeitungen damals annahmen) auf die Furcht* vor polizeilichen Nach- forschungen zurückzuführen, als auf das jähe Erlöschen und Abbredien des psychopathologischen Zustandes, in dem und aus dem heraus er in kurzer Zeit und in rascher Aufeinanderfolge diese Massendelikte beging — aller Wahrscheinlichkeit nach eines epileptischen Dämmerzustandes. Von Geisteskranken neigen neb^i Schwach- sinnigen vor allem Epileptiker zur Mädchenstecherei, da sie an starkem Sexualtrieb und heftigen Impulsen zu Gewalttaten, überdies an Trübung und Aufhebung des Bewusstseins leiden. — In dieser Beziehung recht belehrend war ein um 2 Jahre weiter zurückliegendes Berliner Vor- kommnis. Es wurden damals an einem Nachmittag (26. Juli 1907) drei im Alter von 3 bis 5 Jahren stehenden Mädchen schwere Ver-


Notzucht, Lustmord, Mädchenstecherei, Nekrophilie. 63

letzungeD beigebracht, denen eines der Kinder erlag, während die beiden anderen mit dem Leben davonkamen. Während von der Kriminal- polizei noch ohne Erfolg nach dem Täter gefahndet wurde, meldete sich über 3 Monate darauf, am 8. November 1907, ein 22 jähriger Buchdrucker, Epileptiker, der schon mehrfach in Irrenanstalten ge- wesen war und sich wieder zur Beobachtung in Herzberge befand. Er bezichtigte sich selbst der Messerstechereien und bekundete, als OT an die Tatorte geführt wurde, eine solche Vertrautheit mit den Örtlichkeiten und den Vorgängen, dass er von Polizei und Staats- anwaltschaft als der wirkliche Täter erachtet wurde. Ein Strafver- fahren konnte jedoch gegen ihn nicht durchgeführt werden, da die Qerichtsärzte ihn als geisteskrank und die Tat als in einem Dämmer- zust^id verübt betrachteten. — Es ist dabei in Betracht zu ziehen, dass derartige Psychoepileptiker sich während ihrer Anfälle eines in ganz eigenartiger Weise krankhaft veränderten Bewusstseins erfreuen, das sie in den Stand setzt, bei Verübimg ihrer Tat mit anscheinend genauer Überlegung, planmässig und sogar mit grossem Raffinement zu Werke zu gehen und alle Vorkehrungen, um nicht ertappt zu werden, mit grosser Sorgfalt zu treffen. Wenn sie auch im Moment der Tat nicht wissen, was sie tun, und nachher nicht, was sie getan haben, so bleibt doch eine gewisse Reminiszenz davon, wie eben der obige Fall lehrt, mehr oder weniger deutlich erhalten oder kann unter begünstigenden Umständen später zurückkehren.

Von Nekrophilie aus neuester Zeit mögen nur die beiden folgenden Fälle (wovon der zweite auch durch den eigenartigen Aus- gang merkwürdig ist) als Illustration dienen.

1. (April 1901.) Ober eine kaum glaubliche Leich^ischändung wird ,uns aus Schönau an der sächsisch • böhmischen Grenze bei Zillone folgendes ge- meldet Auf dem dortigen Friedhofe war am Vormittage die 30 jährige ver- ehelichte Frau Maschke beerdigt, die Gruft jedoch noch nicht völlig geschlossen worden. Als nun am Nachmittage eine Einwohnerin aus Schönau das neben der Frau Maschke befindliche Grab eines Verwandten besuchte, bemerkte sie zu ihrem nicht geringen Entsetzen, wie sich der Deckel des Sarges, in welchem die Leiche von Frau Maschke ruhte, hin und her bewegte. Die Entdeckerin dieses grausigen Vorkonmmisses begab sich daher zum Totengräber und erstattete diesem Anzeige. Der Kirchhofsbeamte eilte infolgedess^i mit mehreren Arbeitern sofort an die be- zeichnete Grabstätte, wo sie zu ihrem grossen Schreck den schon oft vorbestraften Armenhäusler Wokatsch dabei überraschten, als dieser im Begriff war, die Frauen* leicho zu schänden. Der bestialische Verbrecher wurde sofort ergriffen und dem zuständigen Bezirksgericht Hainspach überwiesen. Bald darauf fand an Ort und Stelle eine gerichtliche Untersuchung statt, zu welchem Behufe die Leiche wieder aus der Gruft genommen und nach der Leichenhalle gebracht wurde, um dort fest- stellen zu können, wieweit sich der Verbrecher bereits an der Leiche vergangen hat

2. Eine furchtbare Strafe hat, wie uns geschrieben wird, in Oebisfelde einen Mann ereilt, der dort vor kurzem wegen Leichenschändung verhaftet worden. Die 14 jährige Tochter des dortigen Gastwirts Karl Müller war gestorben, die Leiche


64 Zar speziellen Symptomatologie und Entwickelungsgeschichte etc.

war in einem oberen Zimmer des Hauses aufgebahrt, als der 26 jährige Dachdecker Selzner sich spät abends aus der Gaststube, woselbst er mit anderen Leuten trank, in das Zimmer begab und sich in verbrecherischer Weise an dem toten Kinde verging. Der Täter wurde verhaftet und gestand die Tat ein. Jetzt nun, nachdem Selzner im Untersuchungsgefängnis seiner Aburteilung harrte, erkrankte der Mann plötzlich stark und musste vor einigen Tagen in die Gröttinger Universitätsklinik eingeliefert werden. Dort wurde festgestellt, dass er sich eine schwere Blutver- giftung zugezogen habe und zwar durch Leichengift, womit er sich bei Ausübung seiner bestialischen Tat infiziert hat. Selzner liegt in der UniversitätskHnik hoff- nungslos darnieder.

In seiualpaüiologischer und forensisoher Beziehung ist übrigens darauf aufmerksam zu machen, dass es sich bei der Verbindung von Notzucht und Mord nicht immer um „Lustmord", d. h. um ein aus sadistischen Antrieben und Motiven entsprechendes Verbrech^i zu handeln braucht. Viehnehr kann die Tötung sich an die vorauf- gehende Notzucht in einer Weise ansohliessen, die sie als nicht ur- sprünglich beabsichtigte, aus den Umständen sich zufällig ergebende Polgewirkung (als „Totschlag" im gesetzlichen Sinne) erscheinen lässt So hatte in Berlin ein Arbiter eine 46 jährige Prau in einen Keller verschleppt, sie dort vergewaltigt und mittelst eines in den Mund gepreesten Knebels getötet; die anfangs auf überl^ten Mord (Lust- mord) gerichtete Anklage musste aber, nach einem von Moll er- statteten Gutachten, in dieser Beziehung fallen gdassen v^erden, weil entscheidende Merkmale des eigentlichen Lustmordes in diesem Falle wenigstens nicht mit Sicherheit nachweisbar waren. — Dieses Thema ist kürzlich von E. Wulffen in seinem gross angel^ten Werke „Der Sexualverbrecher" 1) — auf das ich für die Bezi^ungiöi des Sadismus in kriminalistischer Hinsicht überhaupt verweise — näher ausgeführt worden.

B ö h m 2) glaubt bei den „Lustmorden" sadistische Beweggründe meist aus- schliessen, dangen Wegfall normaler Hemmungen gegenüber dem eigenartigen Drängen nach Verletzung des Partners im Liebesakt auf Grund nervöser Belastung annehmen zu müssen. Danach würde es sich mehr um „Lust t ö t u n g" als um „Lustmord" handeln^ die Anwendung von § 211 des RStG. also auszuschliessen sein. Dem widerspricht aber der Umstand, dass, wie wir sahen, häufig genug die Verletzungen allein auch ohne voraufgehenden Geschlechtsakt oder als dsssen Ersatz zur sexuellen Befriedigung des Täters erstrebt werden. — Vgl. auch die oben zitierten Aufsätze von Walter imd Senf. —


1) E. Wulffen, Der Sexualverbrecher. (Enzyklopädie der modernen Krimi- nalistik. Bd. VIII.) Verlag von Dr. T. Langenscheidt, Gr.-Lichterfelde-Ost

2) Max Böhm, Vermischte Abhandlungen aus dem Gesamtgebiete der praktischen und theoretischen Heilkunde. 1908. S. 143.


Aktive und passive Flagellation (Flagellantismus).

Die als Geisseisucht, Flagellationsmanie, Flagel- lantismus zu bezeichnende Fonn psychosexualer Verirrung um- fasst ein so ungeheueres Gebiet und ihre, in neuester Zeit, wenn nicht vermehrte, doch in grösserem Umfange reproduzierte und zugänglicher gewordene Literatur ist bereits so unabsehbar, dass eine keineswegs erschöpfende, nur den Gegenstand einigermassen umfassende Darstellung weit über den Rahmen dieser Abhandlimg hinausgreifen, ja eine eigene Monographie erfordern würde. Ich verweise auf die als Anhang folgenden, eine auch nur relative Vollständigjkeit anstrebenden Literatur- angaben, und muss mich hier damit begnügen, einzelne der gerade für das Verständnis algolagnistischer Vorgänge hauptsächlich in Betracht kommenden Seiten des Gegenstandes kurz zu erörtern.

Dass die passive Flagellation als ein mächtiges sexuelles Stimulans und Aphrodisiakum (für den flagel- lierten Teil) zu betrachten sei, ist eine jedenfalls recht alte — wenn auch vielleicht nicht, wie man angenommen hat, bis in das graue Altertum hinaufreichende — Erfahrung. Den Lidern war die Flagel- lation in diesem Sinne allerdings wohlbekannt und geläufig (vgl. S. 12). Dagegen finden sich meines Wissens bei den Schriftstellern des grako- romanischen Altertums keine ganz sicheren Spuren, die auf Bekannt- schaft mit der Flagellation als einem Aphrodisiakum hinweisen (während bei einem Komiker u. a. vorkommt, dass eine Kupplerin ihre Mädchen peitscht, damit sie vollere Hinterbacken bekommen). Vielleicht könnte man die bekannte Stelle bei Petron, wo der wegen Impotenz hinaus- geworfene Liebhaber sich bei seiner Dame brieflich entschuldigt und sich zur Sühne erbietet, nackt vor ihr zu erscheinen und sich von ihr schlagen zu lassen, in diesem Sinne auffassen (der Brief kehrte in freier Nachahmung in der histoire amoureuse des Gaules [1665] des Grafen Bussy-Eabutin unter den Liebesabenteuern der Gräfin Olonne wieder). Das 1766 erschienene und vielaufgelegte Machwerk: „über den Gebrauch der Alten, ihre Geliebte zu schlagen", enthält ein durchweg xecht unkritisches und zum TeU kindisches, anekdotisches Sammelsurium. — Wenn, wie schon erwähnt wurde, die Gallen sich zu Ehren Kybeles geisselten, die spartanischen Jünglinge sich am Altare der Artemis Orthia mit Ruten peitschen Hessen 1), so handelte es sich dabei zunächst um religiöse, teils unter den Begriff der Selbstpeinigung, der Askese fallende, teils als Opfe-

1) Nach Burckhardt „eine Ausnahme in der ganzen griechischen Welt und eino wahre Schule der Ferozität** (griechisch© Kulturgeschichte I, S. 112).

lDl«nbarg, Sadf imos und Maaoehismas. U. Auflage, 5


66 Aktive und passive Flagellation (Flagellantismus).

rung betrachtete Gebräuche, denen im tieferen Sinne freilich der früher erörterte Zusammenhang von religiöser und erotischer Mystik zugrunde lag, wobei aber die Entfesselung sexueller Instinkte und Antriebe doch nicht den mit der Prozedur unmittelbar verbundenen Zweck bildete. Auch bei der Austeilung von Schlägen durch die Luperei an die ihnen entgegenkomm^iden Franzi (bei den Luperkalien) handelte es sich offenbar nicht um eine beabsichtigte sexuelle Erregung, viel- mehr um ein symbolisch gedachtes Zeichen der Reinigung imd Be- fruchtung.

Von ärztlicher Seite ausführlich gewürdigt finden wir die Be- deutung der Flagellation als eines sexuellen Stimulans säuerst bei dem alten Meibom in der berühmten (1639 in Leiden erschienenen) „epistola de f lagrorum usu in re venerea et lumborum renuraque officio", mit dem den Kern der Sache andeutenden Motto:

„Delicias pariunt Veneri crudelia flagra;

Dum nocet, lila juvat; dum juvat, ©coe nocet"

In weiterer Folge haben Bartholini (1679), Paulini (1698), Boileau (1700), Thiers (1703), Lanjuinais (1725), besonders aber der französische Arzt Fran9ois Am^döe Doppet in seinem (Genf 1788 zuerst erschienenen) „traite du fouet et de ses effots sur le physique de Tamour" dem Gtegenstande zum Teil von gleichen Gesichtspunkten aus ihre Aufmerksamkeit gewidmet, der natürhch auch in die eigentlich flagellantistische Literatur der Engländer und anderer Nationen aus den beiden letzten Jahrhunderten mannigfach hineinspielt

Es würde jedoch ein Irrtum sein, anzunehmen, dass nicht schon lange vor Meibom die Flagellation als sexuelles Stimulans bekannt und angewandt worden sei; vielmehr scheint die Kenntais und die Praxis dieses Mittels durch arabische Ärzte zuerst eingedrungen zu sein — wie es denn u. a. auch ein arabischer Arzt gewesen sein soll, auf dessen Rat sich die Herzogin Leonore Gonzaga von Mantua von der Hand ihrer Mutter mit Ruten peitschen liess, um in der ehelichen Umarmung wärmer zu werden und zu konzipieren. Ein Zeitgenosse dieser Herzogin war jener Alfons von Ferrara (der Gönnw Tassos), der, wie es heisst, seiner Gemahlin nur nach voraufgegangener Flagel- lation beizuwohnen vermochte. Das aus dem 16. Jahrhundert stammende, den Namen der „Aloisia Sigea" tragende Buch de arcanis amoris et Veneris usw. enthält bereits diese und ähnliche Beispiele; ebenso findet man sie bei Brantöme und bei englischen Autoren gegen Ende des 16. Jahrhunderts. Doch noch weiter hinauf reicht eine


Aktive und passive Flagellation (Flagellantlsmus). 67

naiv charakteristische Erzählung des Giovanni Pico deila Mirandola (Picus Mirandulae) in den „disputationes adversus astro- logiam divinatricem" lib. V cap. 27, wobei es sich um eine intendierte, recht stürmische Erweckung erotischer Gefühle bei der dazu ver- anstalteten Flagellation und durch diese handelt — ein Vorgang, wie er sich seitdem in gleich typischer Inszenierimg wohl vieltausendfach abgespielt bat:

,,Vivit adhuc homo mihi notus prodigiosae libidinis et inauditae; nam ad Venerem nunquam acoenditur, nisi vapules. Et tarnen scelus id ita cogitat: saevientes ita piagas desiderat, nt increpet verberantem, si cum eo lentius egerit, band compos plene voti, nisi eniperit sanguis et innocentes artus hominis nocentissiml violentior scutica desaeverit Efflagitat miser hanc operam summis precibus ab ea semp^ foemina quam adit, praebetque flagellum pridie sibi ad id officii aceti infusione duratum, et supplex a meretrice verberari postulat: a qua quantum caeditur durius, eo ferventius incalescit, et pari passu ad voluptatem doleremque con- tendit Unus inventus homo qui corporeas delicias inter cru- ciatus inveniat, et cum alioquin pessimus non sit, morbum suum agnosdt et odif*

Dieser Mann — wir würden ihn jetzt wohl unter die „Maso- chisten" rechnen — scheint also damals, gegen den Ausgang des 15. Jahrhunderts (Pico lebte von 1463 bis 1494), noch als eine „Ausnahmenatur" betrachtet worden zu sein. Kaum ein Jahrhundert später würde er schon zahlreiche „Mitstrebende" gefunden haben. So scheint nach vielfachen zeitgenössischen Zeugnissen u. a. in den Londoner Bordellen um diese Zeit die Flagellation als Stimulans für ältere Habitues dieser Häuser bereits beliebt und gebräuchlich gewesen zu sein. Ned Ward in „the London spy" erzählt ein derartiges Abenteuer, und spricht von einer dieser Praxis ergebenen Menschen- klasse, die im Bordell-Argot als „flogging cullies" bezeichnet werden. Thomas Shadwell lässt im vierten Akt seines Stückes „the virtuose" eine entsprechende Szeki^ sich abspielen — grauenvoller Gedanke für tinen heutigen Bühnenzensor! — und Otway hat, was ; noch interessanter ist, im 3. Akte seiner „Venioe preserved" eine ganz ausgesprochen masochistische Szene: der Senator Antonio lässt sich von seiner Geliebten Aquilina, die er zu dem Zwecke auf- sucht, ins Gesicht speien, sich als Hund behandeln, unter den Tisch ducken, treten usw. und schhesslich aus dem Zimmer peitschen. Auf die gleichen Neigimgen eines verhassben Kritikers zielt ein bissiges Epigramm Christoph Marlowes, des bekannten Vorgängers und Rivalen Shakespeares^):


1) Abgedruckt in den Works of Christopher Marlowe, Londoa 1826, Vol. 3, p. 454.

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68 Aktive. und passive Flagellation (Flagellantismus).

„When Erancus comes to solace with his whore, He sents for rods and strips himself stark naked; For his lust sleeps and will not rise before By whipping of the wench it be awaked. I envy him not, but wish I had the power To make myself his wench but one half hour."

Wie England überhaupt sich rühmen darf, bis in die neueste Zeit hinein das gelobte Land, die Hochburg des Plagellantismus (auch in seiner Anwendung als pädagogisches und häusliches Zucht- und Strafmittel) gewesen und geblieben zu sein, so hat es auch in der Entwickelung des Plagellationskultus an den der Venus vulgivaga geweihten Stätten offenbar stets in erster Reihe gestand^i und das Zeremoniell dieses Kultus der „fortschreitenden Zivilisation" und den Anforderungen neuzeitlichen Komforts entsprechend stetig weiter mt- wickelt^).

Schon im Anfange des 19. Jahrhimderts gab es in London luxuriös ausgestattete Etablissements, die vorzugsweise der Flagellation dienten und in denen geschickte, berufsmässig ausgebildete Hände — wie die unserer heutigen „Masseusen" — über den danach lüsternen Männern die Rute schwangen. So wird u. a. die Anstalt einer Mrs. CoUett, zu deren Prequentanten auch der nachmalige Georg der Vierte als Prinzregent gehörte, und ihrer Nachfolgerin Mrs. Mitchell, ebenso die einer Mrs. James imd noch anderer Kolleginnen in den zeit- genössischen Annalen rühmlichst hervorgehoben. Die „Königin" dieses Gewerbszweiges scheint aber nach allgemeinem sachkennerischem Ur- teil die unsterbliche Erfinderin des „Berkeley horse"i), Mrs. Therese Berkeley (oder Berkley) gewesen zu sein, die in Nr. 28 Charlotte Street, Portland Place, ihr Qieschäft eröffnete, das sie mit ein^- stattlichen Anzahl wohlgeschulter, auch noch mit ihren Kose- namen und allen ihren spezialistischen Talenten der Nachwelt über- lieferter Gehilfinnen betrieb, und von dem sie sich mit dem an- ständigen Vermögen von 100000 Pfund zurückzog, um in der so ehrenvoll verdienten Müsse ihre (leider unveröffentlicht gebliebenen und, wie es scheint, abhanden gekommenen) Denkwürdigkeiten zu schreiben. Diese Dame, die 1836 starb, beschenkte die Welt mit dem als „Berkeley-Pferd" (The Berkeley horse) zu pornographischer Be- rühmtheit gelangten Apparate, der in der flagellantistischen Literatur


1) Vgl. darüber u. a. Pisanus Praxi „index librorum protibitonim", Ixjndon (1877) i^troduction XLIII— XLVI; auch Venus schoolmistress ; Curiosities of flagellation, London 1875 und andere in dem Literaturverzeichnis aufg^hite Werke, vor allem Eugen Dührens (Iwan Blochs) dreibändiges „Geschlechts- leben in England". Berlin 1901—1903.


Aktive' und passive Flagellation (Flagellantismus). 69

Albions eine nicht anbeträchtliche Rolle spielt und dessen von schönen Seelen auf Grund gelbstempfangener Eindrücke oft mit schwärmerischer Anerkennung gedacht wird. Einer Beschreibung bedarf die kleine zum Auspeitschen von „gentlemen" bestimmte Maschinerie nach beistehender Abbildung kaum noch; sie liess sich in beliebigem Winkel verstellen, um den Körper in jede speziell wünschenswerte Position bringen zu können. Auf einem zeitgenössischen Kupferstiche erblickt man einen auf dem „Pferde" befindlichen nackten Mann, dem Mrs. Berkeley eigenhändig die Posteriora mit Ruten peitscht, während ein in einem Stuhl darunter sitzendes halbentblössfces Frauenzimmer als „frictrix" an seinem „embolon" arbeitend dargestellt ist Das Original des

Fig. 2.



Berkeley-Pferdes soll sich in der Society of arts in Adelphi (London) befinden, wohin es durch den Arzt und Testamentsvollstrecker der Berkeley, Dr. Vance, gelangte, der auch ihre ganze, gewiss recht lehrreiche, zum Teil mit Männern und Frauen der höchsten Aristo- kratie geführte Korrespondenz durchsah — aber leider zerstörte. Doch der Geist der Mrs. Berkeley lebt und wirkt fort! Offenbar gab und gibt es auch im heutigen England zahlreiche Flagellantinnen, nicht bloss von Geschäfts wegen, sondern auch von wirklicher Vokation. In der bei Pisanus Fraxi^) zitierten Korrespondenz eines enthusiasti-

1) L. c. LVI.


70 Aktive und passive Flagellation (Fiagellautismas).

sehen Rutenfreundes wird ein Londoner Etablissement erwähnt, wohin 20 junge Mädchen zu kommen pflegten, „who go through all the



Fig. 3. Flagellationsbank in einfachster Form. An jedem Ende des horizontalen Brettes zwei Lederriemen zur Befestigung der Hände nnd Fttsse des aaf dem Banche

liegenden „Patienten^.



Fig. 4. Flagellationsbank in vervollkommeneter Form und reicherer Ausstattung; u. a. in der Mitte eine sattelförmige Sttltze für den Körper und weiter nach vom eine kleinere Kinnstütze; am Kopfende zwei Spiegel, die dem „Patienten^ alle mit ihm vorgenommenen Prozeduren gleichzeitig zu beschauen gestatten (nach Fowler, maisons de flagellation, Paris-Pragues, 1907).

phases of schoolmistress and whip fearfully severely"; desgleichen ist von verschiedenen Damen von hohem Rang und von der hübschen


Aktive und passive Flageliation (Flagellantismus).


71


jungen Frau eines Geistlichen die Rede, die die Neigung für (aktive und passive) Flageliation bis zum Exzess trieb.

Aber auch in anderen Ländern, namentlich in Prankreich, fehlte es der Flageliation als sexualem Stimulans nicht an zunehmender Verbreitung und Würdigung. Allbekannt ist die klassische Selbst-



Fig. 5. Korsettdisziplin, oder „englische Ejrziehung^ (für Masochisten, die es lieben, als „schlechte Schüler^ oder als „kleine Mädchen^ von strengen englischen Gouver- nanten behandelt, and misshandelt zu werden nach Fowler, 1. c).

Schilderung Rousseaus (in seinen „confessions**), wobei es sich offenbar um eine früh erworbene psychosexuale Abnormität handelte. Serrurier berichtet einen ganz ähnlichen Fall von einen seiner Schulfreunde, der ein unbeschreibliches Vergnügen dabei empfand.



-tmm


Fig. 6. Zwangskorsett zn dem gleichen Zwecke.

gepeitscht zu werden, und sich absichtlich Strafe zuzog, um diese Züchtigung zu erleiden, die jedesmal einen Samenerguss bei ihm zur Folge hatte 0. In dem Werke „l'inquisition frangaise ou liistoire de


1) Dictionnaire des sciences mödicales, 1812 — 1822; Art. pollution.


72 Aktive und passive Flagellation (Flagellantismus).

la bastille" (vol. 3, p. 256) erzählt de Renneville von einem alten Docteur de la facult^, einem mehr als 70 jährigen, kindisch gewordenen Greise, für den täglich erduldete Pustigationen 2,ur zweiten Natur, zum unentbehrlichen Lebensbedürfnis geworden waren. — In der einen immer weiteren Umfang annehmenden masochistischen Literatur unserer Tage wird man Beispiele aller dieser und ahnhcher Spielarten in unendlicher Zahl finden, und aus Darstellungen des Bordellwesens in der „Cit^ lumifere" bei Jeannel, Delcourt, Coffignon, Leo Taxil, Fowler, Jaf et Saldo o. a mag man sich über die in „erstklassigen" Bordellen zur Befriedigung flagellomanischer Besucher getroffenen, auch dem „verwöhntesten Ge- schmack*' Rechnung tragenden Vorkehrungen eingehender belehren. Die vorstehenden Abbildungen (Figg. 3—6) einer einfacheren und einer komplizierteren, sozusagen mit allem Komfort der Neuzeit ausgestatteten Prügelbank und des — bei einer gewissen Spielart von Masochisten als Sinnbild und Werkzeug strenger „englischer" Erziehung beliebten — Zwangskorsetts mögen wissbegierigeren Lesern von dem auf diesem Gebiete Geleisteten wenigstens eine Andeutung geben.


Wie die passive, so wirkt auch die aktive Flagellation, wenn schon in ganz anderer Weise, auf psychischem Wege, sexuell stimulierend; und wie jene in nahen Beziehungen zur „passiven Algo- lagnie", zum Masochismus, so steht diese in noch intimerer Ver- bindung mit der „aktiven A 1 g o 1 a g n i e", dem Sadismus, dessen üppigster Nährboden, imd zugleich dessen beliebtestes, am leichtesten erreichbares, bequemstes, der mannigfaltigsten Abstufung fähiges Hilfs- und Äusserungsmittel sich in ihr von alters her darstellt.

Besonders musste auf diesem Gebiete der fast keiner Zeit er- sparte, in der christlichen Ära aber aus verschiedenen Gründen mehr zu- als abnehmende Missbrauch der Flagellation als — kirchliches und profanes — Zucht-- und Strafmittel verhängnisvolle Wirkungen zeitigen ; wie das die Geschichte des Flagel- lantismus fast auf allen ihren Blättern eindringlich bestätigt.

Dem Altertum blieb auch dieser Missbrauch der Flagellation im grossen und ganzen fremd; oder wenigstens war zu seiner Entstehung nur verhältnismässig beschränkter Anlass gegeben. Die Qeisselung eines Freien widerstrebte den nicht-orientalischen Nationen ; der Sklave aber galt als Sache. Die schon an anderer Stelle erwähnten Kultus- Vorkommnisse blieben vereinzelt. Wir kennen natürlich nicht die Ge- fühle, die die Artemis-Priesterin beim Geissein spartanischer Jünglinge,


Aktive and passive Flagellation (Flagellantismus). 73

oder die Priesterin der syrischen Göttin bei ähnlichen Anläsgen beseelt haben mögen — oder die der römische Pontifex maximus empfand, wenn er eine der Nachlässigkeit in der Peuerwacht schuldig befundene Vestalin hinter einem Vorhang (wie Plutarch es schildert) auf den entblössten Körper eigenhändig abstrafte. Und bei dem „plagosus Orbilius" handelte es sich um Kinder. — Die systematische Einführung der Hagellation als eines für Erwachsene bestimmten kirchlichen Buss- und Zuchtmittels und damit auch ihr immer vielseitigeres Eindringen als häusliches Korrektions- und Öffentliches Strafmittel blieb dem Gange der kirchlichen Entwickelung, ungefähr vom 5. Jahrhundert ab, vor- behalten. Wir können dies natürlich hier nur in den allgemeinsten Umrissen andeuten ; es sei auf die im Literaturanhang zitierten Spezial- Werke, auf Gretser, BoileaUjThi er s, La njuinais, Förste- rn an n u. a. verwiesen. Das Übel begann mit kleinen Anfängen, in Einsiedeleien und Klöstern, wo allmählich das freiwillige Siöhselbst- geisseln oder Sichgeisselnlassen durch andere als ein Zeichen der so hochbewerteten Demut und Bussfertigkeit in ausgedehnten Gebrauch kam. Am höchsten, gewissermassen zum System ausgebildet ward dieser Geissellustsport — denn ein solcher war es, mit dem Eekord des HeiHgengeruches — durch den Dominikanermönch, späteren Kardinal Damiani; seither entwickdt sich mehr der Gebrauch der „Disziplin" als kirchli<^hen Pönitenz- und Absolutionsmittels, und nehmen auch die berüchtigten Geisseiprozessionen, die bis ins Jahr- hundert der Aufklärung hineinspukten, ihren erbaulichen Aufschwung. „Der Mönch und die Nonne zergeisselten sich" — beide gewisser- massen von Berufs wegen ; aber auch die Laien, Männlein und Weiblein, vor allem die Damen der höchsten Kreise taten eifrig mit — be- kannt ist u. a., in wie unglaublicher Weise sich die „heilige" Elisabeth von ihrem Beichtvater Konrad von Marburg geissein Hess; bekannt ist auch der Geisseikult der heiligen Brigitta von Schweden und Hedwig von Polen — imd so vieler anderer frommer regierender Frauen bis (einem on dit zufolge) herab zu Spaniens tugendsamer Isabella und Eugenie Montijo.

Schon sehr früh zeigten sich Missbräuche, die vielfach ein energisches Einschreiten kirchlicher Oberen und lange Zeit deren Widerspruch gegen das Umsichgreifen der Disziplin nach sich zogen. Schon unter Hadrian dem Ersten erging (772) ein Verbot an die Geist- lichen, ihre Pönitenten zu schlagen: „episcopus, presbiter et diaconus peccantes fideles diverberaie non debeant". Das Verbot wurde natür- lich niemals beachtet, und das seelsorgerische Disziplinarrecht als ein streng und eifrig gehütetes Privil^ aufrecht erhalten.

Wenn hier von Missbräuchen die Rede ist, so handelt es sich für uns nur um Anwendungen der aktiven Flagellation zu Zwecken


74 Aktive und passive Flagellation (FlagellantismtiB).

sexualer (algolagnistischer) Erregung. Unzählig sind die Flagellations- geschichten, die von einem derartigen Missbrauch der Flagellation als kirchlichen, besonders klösterlichen Buss- und Zuchtmittels berichten. Doch ist natürlich nur das Wenigste davon in dieser Hinsicht sicher beglaubigt — sehr vieles anekdotischer Klatsch, oder tendenziös bös- willige Erfindung; anderes mindestens so, dass es für eine Ausl^ung im obigen Sinne nicht unbedingt in Betracht kommt. Freilich mag es wohl nie an vereinzelten Pädagogen imd Klerikern (Jesuiten und Nicht- jesuiten) gefehlt haben, die wie B o i 1 e a u singt, „oet abus odieux" geflissentlich kultivierten

„Qui, sous couleur d^öteindre en nous la voluptö, Par Taustörit^ m^me et par la p^nitence Sait allumer le feu de la lubricitö." Besonders gefährlich wurde der Gebrauch der „Disziplin" — welche Bezeichnung für diese kirchlichen Buss- und Zuchtmittel all- mählich aufkam — seitdem nian dazu überging, die Züchtigung nicht mehr (wie im Anfange) auf Schulter und Rücken, sondern vorzugs- weise — und namentlich beim „schwächeren" Geschlecht fast all- gemein — auf das Gesäss zu erteilen — die sogenannte „disciplina deorsum" oder „secundum sub" g^enüber der disciplina sursum oder secundum supra im Mönchslatein jener Tage — und seitdem man auch dazu gelangte, die Pönitenten bei der Züchtigung mehr od«  weniger vollständig zu entblössen, weil schon in der geduldeten oder freiwillig vorgenommenen Entblössung an sich ein verdienstlich» Akt echter Selbstdemütigung liegen sollte — wie es bei einem Zelotik«" dieser Richtung (Kardinal Pullus) heisst — „est ergo * satisfaötio quaedam, aspera tamen, sed Deo tanto gratior quanto humilior, cum quilibet sacerdotis prostratus ad pedes, se caedendum virgis exhibet nudum". Und nicht bloss „quilibet", sondern noch mehr „quaelibet". Von diesem nicht unbedeiÄlichen Gesichts- punkte scheint u. a. jener in so traurigen Ruf gekommene Brüder B. Cornelis Adriaensen von Dordrecht ausgegangen zu sein, der in Brügge so eifrig gegen Calvinisten und Lutheraner predigte und eine Art flagellantistischer Schule unter der weiblichen Bevölkerung Brügges ins Leben rief, indem er seine zahlreichen weiblichen Beicht- kinder, oder wenigstens eine Elite davon, in die Mysterien der unteren Disziplin auf den nackten Körper einweihte. Es hat sich, seitdem die erste „Historie von B. Cornelis Adriaensen" im Jahre 1569 ^- schien, eine umfangreiche, teils ernsthafte, teils satirische Literatur darüber entsponnen, die wir bei Pisanus Praxi i) am unbe-

1) Centuria librorum absconditorum, p. 213—224. — Sehr unkritische und tendenziöse Darstellungen dagegen bei Giovanni Frusta, Corvin und andere, die lediglich vom antiklerikalen Standpunkte an die Sache herangingen.


Aktive und passive FlageUation (Flagellantismas). 75

faDgensten und objektivsten gewürdigt finden. Trotz der überscharfen, namentlich von Cornelis' Zeitgenossen Marnix und dem Ge- schichtsschreiber der Niederlande van Meteren gegen ihn erhoben^i Angriffe muss man zu der Überzeugung kommen, dass sich dem ,3ruder Comelis" kaum etwas andeies als die nach unseren Begriffen indezente Ausführung der „Disziplin" vorwerfen lässt; dass dagegen die von Marchand, Boileau und anderen später hinzugefügten oder übernommenen skandalösen Details überwiegend auf Vorein- genommenheit und fanatischer Feindseligkeit blühen, jedenfalls un- b^laubigt sind. Es hat nicht den Anschein, als habe sich Comelis irgendwelcher sexueller Attentate g^en seine Beichtkinder schuldig gemacht: auch hat er keinen Orden, keine „gynopygische Sekte", keine Qeisslersozietät gestiftet, sondern nur einzelne Frauen und Mädchen, meist nach ihrem eigenen oftmaligen Verlangen, zu seinen wunderlichen Bussmysterien herangezogen. Er war mit einem Worte ein beschränkter Zelotiker, aber sinnlich obszöne oder gar sadistische Ajitriebe lagen ihm anscheinend fem. Gfehetzt und verleumdet wurde in dem damals entbrannten Streite von protestantischer und katholischer Seite gleich stark und gleich widerlich, denn alle Waffen galten in diesem Kwnpfe beider Parteien für gut : „tantum relligio potuit suadere malorum". !

Weniger günstig lautet das geschichtliche Endurteil in einer anderen ekklesiastischen cäause cölfebre, der berühmten Affäre Girard- Cädiöre, die sich in den Jahren 1728 bis 1730 in Toulon abspielte. Auch darüber liegt eine ansehnliche, bei Pisanus Fraxi^) zu- sammengestellte und gesichtete Literatur vor. Der Jesuitenpater Girard kam im April 1728 als Rektor des söminaire royal de la marine nach Toulon, ein damals 47 jähriger Mann, gross, trocken, abgemagert, etwas schwerhörig, schmutzig, der überall hinspuckte — aber mit der Reputation eines frommen und beredten Predigers. So verführte er die dimials 17 jährige Marie Cädifere, sein Beichtkind, deren in einem Jesuitenkolleg erzogener Bruder zu den wärmsten Bewunderern des Paters gehörte. Girard verstand offenbar seine schöne Beicht- befohlene zu „hypnotisieren", was bei ihr ausserordenüich leicht bis zu ausgesprochenen lethargischen Krisen gelang („ä tel contact löger qu' une autre n'eut pas remarquö, eile perdait connaissance ; un frölement prfes du seir ^juffisait" heisst es in Michelets Schilde- rung); er schwängerte sie, stigmatisierte sie, indem er alte skrofulöse Narben wieder aufriss und künstlich offen erhielt, durch Saugen der Wunden etc. — schliesslich vielleicht in der Tat sadistischen Regungen


1) L. c. p. 225—253. -- Vgl. auch Michelet, Histoire de France, und la sordöre.


76 Aktive und passive Flagellation (Flagellantisinnfi).

nachgehend, vielleicht um sie abortieren z\i lassen, liess er sie sich nackt ausziehen, auf dem Bette niederknieen, „disziplinierte" sie, küsste den Teil, den er gezüchtigt hatte. Er verabreichte ihr auch Abortiv- mittel, die nicht ohne Wirkung blieben, und brachte sie lünterher in ein von Toulon entferntes Kloster der heiligen Clara in Ollicules. Den Fortgang dieser Skandalgeschiohte mag man in den atierten Werken nachleeen; auch wie unter dem Einflüsse der Jesuiten das Parlament in Aix den Qirard freisprach xmd die Cädiere zur ordwit- liehen und ausserordentlichen Folter xmd zum Tode durch den Strang verurteilte! — ein Gerichtserkenntnis, das sich würdig dem spätren gegen die Familie Galas anreiht, aber glücklicherweise nicht wie dieses zur Vollziehung gelangte. Girard selbst starb im Gerüche der Heihg- keit 1733 in seiner Vaterstadt D61e.

Als würdiger Genosse zu diesem Jesuitenpater Girard gesellt sich der Kapuzinermönch Achaziusin Düren zu Anfang des vorigen Jahrhunderts, der seine Pönitentinnen erst mit in Essig und Salz erweichten Ruten ganz nackt peitschte, dann seine Lust an ihnen befriedigte — und der dabei unter Verheirateten und Unverheirateten einen so grossen Anhang gewann, dass er eine Art von adamitischem (oder evaitischem) Flagellantinnenklub zusammenbrachte and längere Zeit leitete. Ein gegen ihn vom Gericht in Lüttich eingeleitetes Ver- fahren wurde auf Befehl Napoleons, um den Skandal zu ersticken, niedergeschlagen.

Derartige Flagellanten- und Flagellantinnenklubs scheinen übrigens, wenn wir den 25eitgenössischen und späteren Berichten trauen dürfen, in exklusiven Gesellschaftskreisen vor und nach der Revolutionszeit in Paris, London und anderen Grossstädten floriert zu haben; und sie scheinen, mancherlei Andeutungen in der heutigen Literatur und Journalistik zufolge, auch jetzt noch 2fu florieren. Unter den Frauen fanden sich zu allen Zeiten hervorragende Liebhaberinnen, wie der passiven, so auch der aktiven Flagellation; und bemerkens- wert erscheint dabei, dass, wie weibliche Grausamkeit sich bekannt- lich überhaupt dem eigenen Gesiohlechte gegenüber mit Vorliebe be- tätigt, passionierte Flagellantinnen auch aus der Flagellation ihrer Geschlechtsgenossinnen sexuell stimulierende Wirkungen oft mit Vor- liebe schöpften. Ein aus antiker Zeit stanmiendes Beispiel ist die Gattin des nachmaligen Kaisers Juliaü (des Abtrünnigen), Helena, die, wie die Fama berichtet, junge gaUische Sklavinnen vor ihren Augen entkleiden und peitschen lieos, während andere Frauen oder kleine Kinder sich damit besichäftigen musfeten, sie durch Masturbation ge- schlechtlich zu befriedigen. Eine würdige Nachahmerin in mod^n gemilderter Form erwuchs ihr in der als hochstehende Gönnerin und Praktikantin der Flagellation literarisch Verewigten Katharina


Aktive and passive Flagellation (Flagellantismas). 77

von Medici. Sie ist die „dame grandissime", von der Brantöme (Vies des damee galantes) als klassischer Hof-, Augen- and Ohren- zeuge in seiner unverblümt naiven Schreibweise berichtet:

„J'ai Olli parier d'une grande Dame de par le monde, mais grandissime, qui ne se contentant de lasdvetö naturelle; car eile estait grande putain et estant marine et veuve, aussi estait-elle tr6s belle; pour la provoquer et exciter d'avantage eile faisait despouiller ses Dames et filles, je dis les plus belles, et se d^lectait fort ä les voir et puis eile les battait du plat de la main sur les fesses, avec de graades clacquades et blamuses assez rüdes, et les filles, qui avaient d^linqu6 en quelque chose, avec de Ixmnes verges, et alors son contentement estait de les voir remuer, et faire les mouvements et tordions de leur corp» et fesses, lesquelles selon les coups qu'elles recevaient, en montraient de bien estranges et plaisantes. Aucunes fois, sans les despouiller, les faisait trousser en robbe, car pour lors elles ne por- taient pas de caie^ons, et les claquetait et fonettait sur les fesses, selon le sujet qu' elles luy donnaient, on pour les faire rire, ou pleurer, et sur ces visions et contemplations s'y aiguisait si bien en appötits, qu'apräs eile les allait passer bien souvent k son escient avec quelque galant homme bien fort et robust e/* —

Die Motive der Geiaselpassion dieser königlichen Flagellantin sind in den letzten Worten deutlich genug gekennzeichnet Es kann danach nicht befremden, daes, wie Brantöme weiter berichtet, Katharina ihrer schon erwachsenen Tochter (der nachmaligen, als Margarethe von Valois bekannten und berüchtigten Gemahlin Heinrichs des Vierten) auf gleiche Weise und zu dem gleichen Zweck, ein- oder mehrmals täglich eigenhändig die Rute erteilte. Ein Fräu- lein von Limeuil wurde wegen einiger auf Katharina bezüglicher satirischer Verse vor versammeltem Hofe mit Ruten gepeitscht. — Ähnliche Dinge werden übrigens von dem russischen Hofe des 18. Jahrhunderts, namentlich aus der Zeit der Qynäkokratie: der Czarinnen Anna Iwanowna, Elisabeth Petrowna, und der grossen Katharina (die Byron bekanntlich nicht ganz mit Un- recht als

„the greateet of all sovereigns and whores"

feiert) vielfach berichtet. Beispiele davon werden uns noch im nächsten Abschnitt beschäftigen. Hier sei nur noch in Ergänzung der vor- stehenden Ausführungen hervorgehoben, dass in der Pathogenese algo- lagnistischer (sadistischer) Impulse auch der Missbrauoh der Flagellation als pädagogisches und häusliches Kor- rektionsmittel und als öffentliches (kriminalisti- sches) Straf mittel eine kaum geringere Rolle gespielt hat — und hier und da noch spielt — wie der im vorstehenden besprochene klösterliche und kirchliche Disziplin-Missbrauch. Die Affäre Dippold — die eigenartigen Vorgänge, die sich in einzelnen Fürsorgeanstaltein während der letzten Jahre bei uns abspielten — die nicht minder


78 Weibliche Grausamkeit.

merkwürdigen, aus englischen Offizierskreisen berichteten Vorkomm- nisse, wie das bei der Gtarde „unter Kameraden noch anscheineod übliche ragging (vgl. „Tag" vom 12. Februar 1903, Nr. 71) haben von der nicht auszurottenden Macht derartiger Perversionen noch neuer- dings unerquickliche Proben geliefeirt. Auf eine spezielle Durchführung dieses Themas, wie auch auf eine Würdigung der sehr umfangreichen heutigen flagellantistischen Literatur müssen wir jedoch aus den vor- bezeichneten Gründen an dieser Stelle verzichten i).


ij Vgl. u. a. das (übrigeias in ziemlich unkritischer Weise kompilierte) Werk: „Stock und Peitsche im 19. JahrhunderL Ihre Anwendung und ihr Missbrauch im Dienste des modernen Straf- und Erziehungswesens*', von D. Hansen. Dresden, H. R. Dohrn, 1899. — Neue Folge, Ibid. 1900; zweite, umgearbeitete Auflage (1902).


Weibliche Grausamkeit» Sadismus und Masochismus

des Weibes.

Dass dem weiblichen Gesohlechte, wohl im Zusammenhange mit der ein tertiäres Geschlechtsmerkmal bildenden grösseren Sensitivität, ein gewisser Hang zur Grausamkeit imiewohnt, und dass sich dieser Hang namentlich den eigenen Gesehlechtsgenossinnen gegenüber mit Vorliebe betätigt, ist eine in der Geschichte und im täglichen Leben tausendfach bestätigte Erfahrung. Wo dabei eifersüchtiger Hass gegen eine Nebenbuhlerin und Schönheitskonkurrentin oder Baohsucht ins Spiel kommen, kann die Grausamkeit sich ins Megärenhafte, ja ins Bestienhafte hinein steigern.

Schon der hellenischen Mythologie sind derartige Züge nicht fremd, man denke an die unerbittliche Rachsucht lunos, an Venus und Psyche, an Antiope und Dirke, an Medea und Kreusa. Ebenso- wenig fehlen sie im deutschen Volksmärchen mit seinen unzähligen bösen Königinnen, Stiefmüttern imd Schwiegermüttern. Das deutsche Volksepos bringt den gleichen Zug u. a. in der Misshandlung Gudruns durch die böse Königin Gerlinde zur Geltung. Unter den grossen Dramatikern der WeltHteratnr haben solchen zur Dämonie des Hasses imd erbarmungsloser Vernichtung verzerrten Weibnaturen u. a. Aischylos im Agamemnon, Euripides in den Bakchen, in der Hekabe und im Hippolytos, Shakespeare in Macbeth und Titus Andronicus, Corneille in Rodogune, Racine in Andromaque und Athalie, Kleist in der Penthesilea, Hebbel in den Nibelungen, Grillparzer in Medea, B. Klein in HeUodora, d'Annunzio in „la Gloria", Oskar Wilde in der Salome machtvollen Ausdruck verliehen.

Dass in der Tat das Weib, wenn es durch Gehässigkeit, Neid, Eifersucht und Rachsucht angestachelt, wenn es von der in ihm schlummernden Herrschsucht oder von religiösem Fanatismus gepackt ist, über alle Schranken der Menschlichkeit hinaus und zu mänaden- haften Untaten fortgerissen wird, das lehren die blutgetränkten Blätter der Geschichte seit den sagenhaften Zeiten der Semiramis bis in unsere Tage. Man denke nur an die Haremsintriguen imd die Grau- samkeitsorgien siegreicher Rivalinnen in alter und neuer Zeit, am


80 Weibliche Graasamkeit.

Hofe des altpersischen Xerxes und Artaxerxes so gut wie bei den islamitischen Sultanen und den heutigen Fürstenhöfen des fernen Ost- asiens; lan die phönizische Isebel und Athalia, die kyrenäisdhePheretima, die persische Parysatis, die makedonische Olimpias, die syrische Laodike (Gemahlin des zweiten Antiochus), die römisohe MeesaUna und Agrippina, die Byzantinerinnen Zoe, Theodora und Irene, die Qepidin Rosamunde, die Prankenköniginnen Predegunde und Brun- hüde, die Westgotin Goswinthe und so viele Zeit- und Volksgenossinnen dieser gekrönten Purien. Man denke an die als Heilige verehrte Gross- fürstin von Kiew, Olga, die den Tod ihres Gatten Igor an dem ganzen Volk der DrewaÜer auf so furchtbare Weise rächte ; an die „im Maien- blut badende" Agnes von Ungarn, Albrechts des Ersten Tochter und Bächerin ; an die portugiesische Eleonora Tellez, die englische Isabella, Gemahlin Eduards des Zweiten, an die prachtvollen weibUchen Renaissance-Bestien, eine Katharina Sforza, Lucrezia Borgia, Katharina von Medici, Maria Stuart, Maria und Elisabeth Tudor ; an die russischen Autokratinnen des 18. Jahrhunderts, an die dänische Marie Juliane, an KaroUne von Neapel, die vnirdige Genossin einer Lady Hamilton. — In Erfindimg und langjähriger Verübung raffinierter Untaten gegen ihre zahlreichen Dienerinnen fast einzig dastehend erscheint jene be- rüchtigte „Blutgräfin" Elisabeth Bäthory, deren zutreffende psycho- logische Analyse freilich noch aussteht (es scheint sich um ein Produkt eigenartigen Blutaberglaubens — vielleicht aber auch um einen Fall von weiblichem Sadismus auf hysterisch-degenerativer Grundlage ge- handelt zu haben) 1). Ein schwaches Seitenstück dazu bietet aus neuerer Zeit die (wegen Marterung ihrer Lehrmädchen durch den Strang hingerichtete) ^hottische Mrs. Brownrigg^).

Begreiflicherweise spielt gerade bei den vom Weibe ausgehen- den imd verübten Grausamkeiten die im voraufgehenden Abschnitte charakterisierte Perm der Plagellation eine hervorragende Rolle, als mit Pug und Recht geschätztes und begierig herangezogenes Mittel, um die Gegnerin nicht nur körperlich zu martern, sondern auch zu- gleich durch die ihr angetane Schmach auf das Tiefste zu demütigen. Venus geisselt die gebundene Psyche, Gerlinde lässt Gudrun mit Ruten streichen; Predegunde peitscht die mit den Haaren an einen Bett- pfosten gebundene Geliebte ihres Stiefsohnes Chlodevech, Goswintha ihre Schwiegertochter Ingundis, die sie bei den Haaren herumschleift Elisabeth Bäthory lässt ihre unglücklichen Opfer entkleidet zu Tode


1) Vgl. „Die Blutgräfin" (Elisabeth Bdthory), ein Sitten- und Charakterbild von R. A. Eisberg. Breslau, Schottländer, 1893.

^) Eine neuere Majssenmörderin, die amerikanische Krankenwärterin Jane Toppan, hat, nach eigenem Geständnis, „fast lauter Frauen** zu ihroi Opfern er- koren; um Männer hat sie sich, wie sie sagt, nie bekümmert.


Sadismus und Masochismos des Weibes. 81

peitschen. Die „gütige** Czarin Elisabeth lässt ihre Nebeabuhlerin Frau von Lapuchin, die „sohönste Frau des Hofes" unter dem Deck- mantel einer politischen Intrigue öffentlich knuten, und ihr dann noch die Zunge ausreissen. In dem fast ein Jahrhundert gynäkokratisch regierten, halbbarbarischen Russland begeben sich noch zahllose, nicht minder erbauliche Dinge; selbst die doch westlicher Kultur ent- stammende grosse Katharina geisselt das mit einem ihrer Günstlinge überraschte Fräulein Bruöe eigenhändig, lässt Fräulein ButurHn wegen einer witzigen Karrikatur auf die Kaiserin vor versammeltem Hofe durch Pagen auspeitschen, und die mit ihrem Günstling Momonow verheiratete schöne Fürstin Tsoherbatow einer Indiskretion wegen bei Nacht von sieben als Weiber verkleideten Moskauer Polizisten aus dem Ehebett redssen und vor den Augen ihres zum entsetzten Zu- schauen verurteilten Gatten mit Ruten züchtigen.

Sehr bezeichnend ist eine Skandalaffäre, die sich in Prankreich unter dem roi soleil, Ludwig dem Vierzehnten, abspielte und damals viel Akten- und Pamphletstaub auf wirbelte i). Es handelte sich um eine bittere Verfeindung zwischen zwei früh^?en Freundinnen, der Dame de liancourt und der Marqujise Tresnel. Jene, eine schöne geijstvolle Frau, sollte die Marquise durch einige auf deren Lebens- wandel bezügliche ^tirische Bemerkungen gekränkt haben. Die Marquise lauert ihrer Gegnerin mit bewaffnetem Gefolge auf der Land- strasse auf, lässt sie aus der Kutsche herausreissen, von ihren Lakaien niederstrecken, schmachvoll entblössen und auspeitschen ; ob bei dieser Gelegenheit noch, wie in der Anklageschrift angedeutet wird, ein un- sittliches Attentat durch einen der Lakaien — einen Neger — an ihr verübt wurde, ist nicht sicher erwiesen.

Ein Jahrhujidert später rächt sich eine andere Marquise an dem Chevalier von Bouffiers für ein sanglantes Epigramm, indem sie ihn vor ihren Augen von Lakaien durchpeitsohen lässt — wofür er übrigens in geschickter Weise Repressalien zu üben versteht^). Madame du Barry lässt unter buchstäblicher Ausnutzung eines von ihrem könig- Üchen Liebhaber hingeworfenen Wortes ihre frühere Freundin, die Marquise de Rozen, die als Hofdame einer Prinzessin (der Gräfin von Provence) sie neuerdings „geschnitten" hat, durch vier Kammer- mädchen aufgreifen und energisch ausstäupen. Man erinnert sich viel- leicht, dass vor etwas über zwanzig Jahren Sarah Bernhardt ihre Kol- l^iÄ und abtrünnig gewordene Freundin Marie Colombier in deren Wohnung überfiel imd mit einer ähnlichen Züchtigung bedrohte.

1) Vgl. Gayet de Pitaval, Causes cel^bres et interessantes, Amsterdam et U^gOB 1755. Tome 3, pag. 348.

  • ) La chronique scandaleuse, ou m^moires pour servir ä rhistoire de la g^nd-

ration präsente. Paris 1780, I— III, pag. 11 — 13.

Enlenbnrg, Sadianraa nnd Masoehismns. H. Auflage. 6


83 Weiblicho Grausamkeit

Schlimmer und folgeoreicher war das Schicksal der schönen Th^roigne von Mericouri Diese als Amazone von Lüttioh oder als „belle Ld^geoise vielgefeierte Straasenheldin der französische Aevo- lution — Lamartine nennt sie ,Ja Jeanne d'Arc impure de la place publique** — wurde von den „Tricoteusen", fanatischen Jako- binerinnen, am 21. Mai 1793 bei hdlem Tage auf der Terrasse der Tuilerien überfallen, niedergeworfen, schmählich entblösst und mit Ruten gezüchtigt Sie verfiel vor Schmerz und Wut in Raserei, und verbrachte den ganzen zwanzigjährigen Rest ihrer Tage, zuletzt in fast tierischer Herabgesunkenheit, in einer Zelle des Injenhaoses Bicßtre^). Wir erfahren, dass die ihr in moralischer Hinsicht so unähnliche schöne Frau Roland damals eingestandenermassen Tag und Nacht von der Angst verfolgt wurde, dass der Pariser Pöbel auch ihr das Schicksal Th^roignes bereiten kömite, und dass das Tragen von calefons seitens der Damen als ein freilich ungenügendes Schutz- mittel für die exponiertesten Körperteile seitdem allgemein aufkam. An Theroigne vollzog sich freilich die Nemesis; hatte sie doch nicht nur ihren literarischen Gegner Suleau, den talentvollen jungen Ver- teidiger der Sache des Königsthrons, bei Gel^enheit des Augustauf- standes 1792 mit penthesileenhafter Wut hingemordet, sondern etwas später in jenen blutigen Septembertagen auch eine der entsetzUchsten Henkerszenen dieser Mordtage inspiriert und geleitet — die kanni- balische Hinschlachtung einer unter dem Namen des schönen Blumen- mädchens („la belle bouquetifere**) bekannten weiblichen Untersuchungs- Gefangenen der conciergerie du palais am 3. September 1792. Dies Mädchen war beschuldigt, an ihrem treulosen Geliebten, ein^n Grenadier der französischen Garde, aus Eifersucht einen Verstünmielungsver- such gemacht zu haben, imd das gab ihren Henkern die Idee, nach Th^roignes Vorschlag einen Akt unmittelbarer Wiedervergeltung an ihr zu vollziehen. Der Autor der histoire des Girondins schildert den grässlichen Vorgang folgendermassen*) :


  • ) Vgl. Lamartine, Histoire des Girondins, I— III, livre 21, IV, pag. 137

—139. — Pellet, Etüde historique et biographique sur Theroigne de M6ricourt, Paris 1886.

« ) L. c. t. III, livre 25, pag. 271. — An der Tatsächlichkeit des Berichtes ist, so märchenhaft er auch klingt, kaum zu zweifeln. M i c h e 1 e t , der Freund der Montagne, gibt in seiner histoire de la r^volution freilich nur eine kurze Hinr deutung. Dagegen findet sich in der „Collection des m^moires relatifs k la Invo- lution fran^aisc (m^moires sur les joum6es de Septembre 1792)", Paris 1823, p. 349, die Szene nach zeitgenössischen Quellen fast wörtlich übereinstimmend mit der obigen Darstellung geschildert. („Elle fut attach^e ä un poteau, nue, les jambes 6cart6es, les pieds clon6s contie terre, les seins coupds ä coups de sabre, on cmploya pour la faire expirer et le fer et le feu d'une manidre quo la pudeur et rhumanit^ (16fendent de retracer.")


Sadismus und Masochismns des Weibes. 83

„Les assassins, parmi lesqnels se trouvaient des vengeurs de sa victime et des instigateurs anim^s par Ba kivale devanc^rent Toffice du bouireau. Th^roigne de M^ricourt pröta son g^nie k ce supplice. Attach^e nue ä un poteau, les jambes 6cart6es, les pieds clou^s au sol, on brüla avec des torches de paille enflamm^e le oorps de la victime. On lui coupa les seins ä coup de sabre; OQ fit rougir des fers de pique qu'on lui eofonpa dans les chairs. Empalöe enfin sur ces fers rouges, ses cris traversent la Seine et allaient frapper d'borreur les habitants de la rive opposöe. Une cinquantaine de femmes d61ivr6es de la Conciergerie par les tueurs pr6t6rent leurs mains k ces supplices et surpass^rent les hommes en f6rocit6/*

Die in den letzten Worten liegende Erfahrung findet sich bei ähnlichen Gelegenheiten immer und immer wieder bestätigt Man sieht übrigens, dass die Phantasie eines de Sa de nicht allzuweit zu suchen hatte, um Modelle seiner Sadisten und Sadistinnen in dem damaligen schlammig aufgewühlten französischen Volksboden zu finden. An' Atrozität vermögen vielleicht nur rote Indianerweiber mit diesen Megär^i der weissen Rasse zu wetteifern. Man weiss, dass niemand den Indianer an ausgesuchter Grausamkeit in Marterung seiner Opfer übertrifft — es seien denn die Indianerinnen; und diese exzellieren wiedenmi in Marterung weisser weiblicher Gefangenen. Ein von den Indianern geschonter und später entlauf^ier junger Bursche beschreibt als Augenzeuge folgende höllische Szene, deren Opfer eine abenteuer- lustige junge Dame war, die von Indianern in Neu-Mexiko aus einem Postwagen gerissen imd davongeschleppt, erst eine Zeitlang gemiss- braucht, dann wegen ihres widerwilligen Verhaltens den Weibern zu beliebiger Behandlung überlassen wurde ^):

„She suddenly found herseif surrounded by all the women in the party, dragged io a tree and tied with her back to it, her hands over her head and her feet Wide apart Then (the scout said) a scene ensued the like of which could not be equalled out of hell. The men took no part in it — The women did i t all. First they danced about the victim and jecred at her. Then one of them split one of her nipples with a knife. Then another did the same with the other. They cross-severed both breasts. Then they seamed her belly with their knives and thmst thoms into her hips and buttocks. They singed away the hair under her arms. They cut off first one lip and then the other of her vulva. Then they started a fire xinder her and kept it up until the inside of her thighs was wasted brown. Finally they thrust red bot brands up her vagina, jabbed their knives into her eyebaUs, filled her mouth with red bot embers and scalped her.** — Das Opfer soll unter diesen Martern noch fast zwei Stunden gelebt haben, zuletzt aber an- scheinend unempfindlich gewesen sein, da sie nur noch ganz schwach ächzte.

Bemerkenswert ist dabei die passive Rolle der Männer, die es zwar imter ihrer Würde finden, ein Weib zu martern, aber auch


  • ) Human Gorillas, A study of rape with violence. Paris, Charles

Carrington, 1901, pag. 163, 164.

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84 Weibliche Grausamkeit.

nicht die geringste Veraulaasimg nehmen einzugreifen and der Sache ein Ende zu machen. Übrigens fehlt auch in dieser Szene so wenig wie in der mit dem Blumenmädchen das sexuale Motiv; die Weiber wurden aufgeregt; — dort durch den Kastrationsversuoh, den das Mädchen in der Eifersucht gegen seinen Liebhaber gemacht hatte; hier dadurch, dass das Opfer ihren Männern zuvor längere Zeit als Objekt ihrer Begierden, wenn auch unfreiwillig, gedient hatte.

Natürlich hat es auch an weiblichen Scheusalen nicht gefehlt, die in Beziehung auf Grausamkeit gewissermassen bisexual waren, und gegen Männer imd Weiber paritätisch und unterschiedBlos wüteten. Dass es aber Weiber gibt, die mit Vorliebe xmd zum Zwecke der Befriedigung algolagnistischer Instinkte die Misshandlung und Marte- rung von Männern betrieben — also Sadistinnen im engeren Sinne — dies wird wenigstens durch die geschichtliche Erfahrung nicht gerade in hervorragendem Masse beglaubigt, während die neuere (masochisüsche) Literatur allerdings an derartigen Beispielen überreich ist Die immer wieder aufgefrischten Märchen von d^i männer- mordenden Amazonen, der afrikanischen Myrina, der böhmischen Wlasta, von fabelhaften weiblichen Scheusalen, wie d^ Böhmen- königin Drahomira, von jener „schwarzen Czarin", der Negerkönigin Zinga, der Chinesen-Kaiserin Tao-Ei usw. passen grösstenteils wenig in diesen Bahmen; imd jene zum Überdruss besungene Margarethe von Burgund, die ihre Eintagsliebhaber nach einer in der Tour de Nesles durchsohwärmten Nacht in der vorbeifliessenden Seine ertränkea liess, folgte dabei wohl mehr einem Gebote handgreiflicher Klugheit als sadistischen Impulsen.

Im „Sadismus" des Weibes will man — ebenso wie im „Masochis- mus" des Mannes — gewissermassen eine Umkehr des natürhchen Geschlechtsverhältnisses erblicken. Man argmnentiert, dass das Weib im Verhältnis zum Manne gewissermassen von Natur masochistisch angelegt sei — wie der Mann dem Weibe gegenüber von Natur sadistisch. „Im Verkehr des Geschlechtes kommt dem Manne die aktive, selbst aggressive Rolle zu, während das Weib passiv, defensiv sich verhält" (Krafft-Ebing). Aus dieser banalen Halbwahrheit soll hergeleitet werden, dass es ganz in der Ordnung sei, wenn das Weib ihr Glück darin finde, vom Manne geprügelt imd mit Füssen ge- treten zu werden — während man das umgekehrte Verhältnis als etwas Widernatürliches, als Inversion des normalen Geschlechtsver- hältuisses auffassen müsse.

Indessen dürfte eine derartige Auffassung wohl vor dem Richter- stuhl der Vernunft wie der täglichen Erfahrimg gleich schlecht be- steheo. Wenigstens imsere heutigen, im grossen und ganzen zwar


Sadismad nnd Masochismos des Weibes. 85

keineswegs „emanzipationslüstemeii", aber mehr und mehr zu einem gesunden und richtigen Selbstgefühl heranreifenden Frauen würden mit einer solchen, das biblische Herrengebot noch weit überspannen- den Anschauung kaum etwas anzufangen wissen. Die in Demut er- sterbenden Griseldisnaturen können ebensowenig als Prauenideale gelten, wie die männerzerfleischenden Penthesileen ; die einen gebahren siöh so krankhaft unerfreulich und widerlicfh wie die ancteren — und selbst das vielgepriesene Käthchen von Heilbronn dürfte einem Manne von gesundem Fühlen und Denken im Grunde wenig Sympathie ein- flössen; sie ist eine psychopathisöhe Halluzinantin, eine erotomane Hysterische, die auch nur ein männlicher Hysteriker, wie es Heinrich von Kleist unbeschadet seines Genies war, so recht nachzuempfinden und zu goutieren vermochte.

Durch unzahlige Zitate hat sich die Fabel von jener jungen russischen Ehefrau fortgeschleppt, die imglücklich darüber ist, von ihrem Manne noch nicht den national herkömmlichen Liebestribut in Form von Schlägen empfangen zu haben, und die nicht eher ruht, als bis er ihr diesen schlagenden Liebesbeweis mit einer eigens be- schafften Eute auf die von der Natur für diesen Zweck präformierfcen: Körperteile nachträglich liefert. Die nicht schlecht ersonnene und ursprünglich ganz naiv gefasste Fabel wird von Doppet in seinem Trait^ du fouet schon mit echt französischem Raffinement aufgetischt und ist von da mehr oder weniger ausgeschmückt und entstellt in alle späteren Flagellationsschrif ten übergegangen. Ähnlich lässt übrigens auch Montesquieu in einer seiner Lettres Persanes (51) eine Russin ihre Sehnsucht nach Prügeln aussprechen und ihr Schicksal beklagen, dass ihr Mann sie in dieser Beziehung arg vernachlässige, während ihre Schwester das Glück habe, von dem ihrigen alle Tage braun und blau geschlagen zu werden. Man beruft sich darauf, dass auch die grosse Katharina sich in Adaptierung an russische Landes- sitten v(Mi Potemkin habe mit der Peitsche traktieren lassen — was allerdings weit weniger feststeht, als ihre (schon früher erwähnten) aktiv flagellantistischen Neigungen. Wenn übrigens in der Tat die bis auf Peters des Grossen Zeit unter barbarischem Druck schmachtende russische Frauenwelt damals noöh und auf lange hinaus das Gefühl ihrer Würde abgestumpft oder bis zu einem gewissen Grade eingebüöst haben sollte, so könnten daraus allgemeine Folgerungen zugunsten eines naturgemässen weiblichen Masochismus gerade so wenig her- geleitet werden, wie aus dem entgegengesetzten Verhalten des von Sacher-Masoch mit bekannter Vorliebe geschilderten polnischen Frauen- typus zugunsten eines naturgemässen weiblichen Sadismus.

Die vielen Sadistinnen der modernen Literatur, namentlich aus den späteren Sacher-Masochschen Erzeugnissen und denen seiner Epi-


86 Weibliche Grausamkeit.

gonea und Nachahmer, sind gewiss im grossen und ganzen mehr fromme Wünsche, wirklichteitslose, idealisierte oder stilisierte Phantasie- geschöpfe ihrer dekadenten Verfasser — Wunsehmaide oder Walküron, in denen diese traurig gestalteten Helden ihr eigenartiges Weibideal sehnsüchtig y^körpem. Das „sadistische Weib" ist — in der Literatur sicher, und bis zu einem gewissen Grade wohl auch im Leben — eine Schöpfung des masochistischen Mannes. Da der „Masochist" zu seiner An- regung und Befriedigung ein Weib braucht, das ihn wie oin&a Hund oder schlimmer als einen solchen behandelt und prügelt, so erschafft er sich, wie Pygmalion die geliebte Galathee, für Kunst und Leb^ Weiber nach seinem Bedarf und stattet sie mit den unentbehrlichen Attributen, auch mit dem ganzen hoheitsvollen Nimbus aus, den sie für ihn haben müsswi, um ihn in der zu seiner Beglückung erforder- lichen Weise als gebietende Herrin imd Sklavenbeherrscherin aus- giebigst zu malträtieren. So Sac her- Mas ochs Frauen, seine Venus im Pelz, seine afrikanische Semiramis, die Heldinnen seiner nach- gelassenen Novellen, eine Lola, Theodora, Ilona, Matema usw., so auch Schlichtegrolls Hexe von Klevan und die Pfannenbergerin seines Ulrich von Lichtenstein. Diesen psychologischen P^l- und Missgeburten würdig zur Seite stehen jene stolzen Frauen und govOT- nesses des, wie es scheint, eine englische Spezialität bildenden maso- u^ chistischen Erziehungsromans, die die ihnen anvertrauten jimgOT Lords (solche müssen es immer sein) in Weiberkleidung, mit enggeschnürten Korsetts (vgl. S. 71) unter der Rute und mit den demütigendsten Dienstleistungen und Huldigungen aufziehen — um übrigens am Schlüsse die Sonne ihrer höchsten Gunst über (oder unter) ihnen leuchten zu lassen. Viel tiefer erfasst wird der Typus einer echten „Sadistin" neuerdings von d^n bedeutenden französischen Novellisten Octave Mirbeau in seinem als Lektüre freilich fast uijerträglichen „Jardin des supplices". Seine Sadistin repräsentiert den Typ^ ^^ sexualperversen Hysterischen — allerdings auch zugleich der Beherrscherin des schwachen, verliebten und darum ihr gegenüber willenlosen Mannes. Nun gibt es ja leider Hysterische mehr als genug ; auch gibt es in gewiss^i Gesellschaftsschichten unserer Grossstädte Damen genug, die gern die „Perverse" in irgend einer Form spielen oder wenigstens markieren möchten — wie es bekanntlich Verbrecher genug gibt, die mit Vorliebe den „wilden Mann" spielen. Man merkt diesen Damen die Mühe an, die sie darauf verwenden, auf Stucks Sünde oder auf Klingers Salome und verwandte Kunstschöpfungen zu posieren oder sich in ihren zur Schau getragenen Gefühlen auf gewisse dramatische Ibsen- und Sudermann-Heldinnen hinauszuspiel^; wobei sie glücklicherweise zumeist doch in der Philisterei stecken


Sadismus und MasochismnB des Weibes. 87

bleiben und es, wenns hoch kommt, niöht über „eine von Hysterie befaUenc Buchholtz" (wie Heinrich Mann so hübsch sagt) hinaus- bringen. Eine reizende Selbstpersiflage einer solchen ihre Phantasie künstlich überhitzenden would be-Perversen enthält Marie Made- leines allerliebste Dichtung „Grössenwahn". Die perverse Dichterin betrachtet: sich mit Begeisterung im Spiegel:


„Ich finde, von klingendem Rhythmus Ist doch ein jeder Vers — Und ausserdem bin ich wirklich Doch eigentlich riesig pervers!

Hätt' ich nur nicht so viele Gedanken; Ich glaube das tut nicht gutl" So sprach sie betrübt und probierte Ihren neuen Pariser Hut.


„Ich habe so viele Gedanken, Und pervers bin ich ausserdem; Ich bin in der Tat für alle Ein ungelöstes Problem!**


Einzelne als weiblicher Sadismus gedeutete Fälle, die aus neuerer Zeit berichtet werden, sind teils in den Einzelheiten zu unsicher oder zu wenig aufgehellt, teils sind sie mit anderweitigen Motiven in solcher Weise durchsetzt, dass sie als rein sadistische Belege jeden- falls nicht gelten können. Es wird von einer Zirkusdirektorin erzählt, die die Gewohnheit hatte, jeden Abend nach beendeter Vorstellung das männliche Personal, einschliesslich ihres Gemahls, mit der Reit- peitsche durchzuprügeln, und die sich schliesslich eine gerichtliche Verurteilung wegen schwerer Körperverletzung zu mehreren Wochen Gefiingnis zugezogen haben soll. Mehr sadistische Züge würde, wenn sichergestellt, ein anderer Fall zeigen i), der geradezu an gewisse Szenen bei de Sade erinnert; ein jimges Mädchen soll nämlich mit dem Gatten einer verheirateten Frau ein Liebesverhältnis unterhalten und ihre Herrschaft über den Mann benutzt haben, um ihre un- glückliche Nebenbuhlerin jeden Tag auf das Grausamste mit Stock-


1) Vgl. das schon zitierte Werk „Stock und Peitsche", 2. Auflage (1902), S. 102. — Wenn man sieht, wie in diesem Buche Wahrheit imd Dichtung durch- einander gemischt sind, und mit welcher Unzuverlässigkeit auch gerichtlich ver- handelte Fälle darin wiedergegeben sind (z. B. auf S. 149 der Fall Franke, bei dem ich selbst als Sachverständiger mitgewirkt habe), so erscheint ein gewisses Misstrauen nicht unberechtigt.


88 Sadismas and Masochismus des Weibes.

schlagen zu misshandeln und überdies zu den niedrigsten Arbeiten für sie zu zwingen; später soll sie auch dem Manne, als dieser sidi seiner Frau anzunehmen versuchte, den Stock zu kosten gegeben haben. Die Sache erscheint nicht durchsichtig genug; wohl möglicli, dass hier neben Eifersucht und befriedigtem Hochmut auch wirk- lich sadistische Triebfedern hineinspielten. Von einer Bezugnahme auf weitere, nach der Seite des tatsächlichen Verlaufes wie der p^cho- logischen Analyse gleich wenig klarliegende Fälle mag hier Abstand genommen werden.

Als Ergebnis sei am Schlüsse dieser Betrachtungen nochmals wiederholt, dass, wenn auch ein natürlicher Hang zur Grausamkeit — und zwar überwiegend dem eigenen Gteschlechte gegenüber — dem Weibe nicht abgesprochen werden kann, doch die algolagnistiseben Erscheinungsformen beim Weibe Ausnahmezustände und in ihren höheren Graden wohl immer krankhafter Natur sind — gerade wie beim Manne; nur dass sie eben ausserordentlich viel seltener vor- konunen als beim Manne. Bein sadistische Züge mögen dem Weibe als solchem ursprünglich vielleicht gar nicht eigen, sondern, wo sie sich finden, erst durch den entnervten, schwachen, verUebten und in der Verliebtheit unmännlich und verächtlich gewordenen Mann provo- ziert sein. Für den sexuell geknechteten Mann mag das brünstig begehrte Weib dann freilich zum blutsaugenden Vampyr, zur Lorelei oder zur männerwürgenden Russalka sich gestalten — in weldien schönen und tiefsinnigen Schöpfungen der Volkspoesie man ja auch Darstellungen von weiblichem Sadismus zu finden gemeint hat, wahrend sie in Wahrheit doch nur die Macht des auf den Mann ver- hängnisvoll und verderblich einwirkenden Weib- zaubers symbolisch verkörpern.


Sadismus and Masochismns in der neuesten Literatur.

Von der namentlich in Prankreich und England schwunghaft betriebenen Literatur, die aus der Ausbeutung der verschiedensten Formen sexualer Perversionen eine Spezialität und, nicht selten, eine pornographische Spekulation macht, soll hier nicht die Rede sein; ebensowenig von jener Hintertreppenliteratur, die den Neigungen ihres PubKkums auf das Lüsterne und zugleich auf das Schauerlich-Grausame Rechnung tragen muss und dabei meist mit mehr „gutem Willen" als mit Geschick ihre Päden um sensationelle Tagesereignisse und geschichtliche Aktualitäten unverdrossen herumspinnt Wenn ein OctaveMirbeauim „jardindessupplices" seine hysterische Sadistin inmitten blühender Gartenparadiese in den grässlichen Polter- orgien chinesischer Straf- und Hinrichtungsstätten schwelgen lässt, so haben bei uns die vor elf Jahren so beliebten „Chineeengreuel" meines Wissens nur in der Kolportage-Literatur eine — allerdings in dieser Hinsicht recht ausgiebige — Verwertung erfahren. Später sind dann die Draga-Romane, russische Revolutionsromane usw. ge- folgt Verschwinden solche Spekulationserzeugnisse auch in der R^el bald genug wieder, so geschieht dies doch nur, um neuen ähnlichen Erzeugnissen Platz zu machen, und im ganzen darf der sittlich ge- fährdende und schädigende Einfluss dieser Sorte von Literutur auf weite Volkskreise — zxansl auf die heranwachsende Jugend — doch nicht \unterschätzt werden.

Derjenige Teil unserer deutschen Gegenwarts-Novellistik, der -rieh von vornherein vorzugsweise an die, wenn nicht „höhere", doch »esser situierte Gesellschaftsschicht, an die Träger und Trägerinnen /on „Bildung und Besitz" wendet — ist freilich auch von einer oft bedenklichen Neigung zu sadistischen Zügen und Schilderungen nicht ganz frei zu sprechen, wovon auch die voraufgegangenen Ab- schnitte bereits mehrfache Beispiele enthielten. Ich will von den ausgesprochenen und zielbewussten Vertretern derartiger Richtungen ganz absehen, und mich mit einzelnen Stichproben jüngster novellisti- scher Produktion, und zwar von keineswegs talentlosen Autoren be- gnügen.

In dem die wohlbekannte Atmosphäre von Berlin W. atmenden, übrigens mit zolascher Energie und Verve geschriebenen Erstlings-


90 Sadismus nnd Masochismus in der neuesten Laterator.

roman „Im Schlaraffenland" von Heinrich Mann wird eine vor dem „vornehmsten Premiferenpublikum" sich abspi^ende Erst- aufführung eines Proletarierstückes „Die Rache" Akt für Akt be- schrieben, womit offenbar Aufnahme und Erfolg der Hauptmann- schen „Weber" vor einem gleich beschaffenen Publikum in drastischer Weise übertrumpft werden sollen. Da wird u. a. die als „Messalina" geschilderte Gattin eines Pabrikdirektors von dem wütenden Volk auf die Bühne geschleppt und öffentlich ausgepeitscht, unta* rasendem Beifallsjubel der diese Szene da capo fordernden „Millionäre". Nacfc allerlei anderen Greueln wird in der Kirche, wo sich die Proletarier gegen das heranrückende Militär verteidigen, der „kriegsgefangenen Messalina" mit Gewalt ein Chorhemd übergezogen, sie wird von der Kanzel herabgestossen, unten aufgefangen, in ein grosses Weihwasser- becken getaucht und schliesslich ganz durchnässt auf die Barrikade gestellt, „dorthin wo die meisten Schüsse fielen". Diese Episode hat einen „starken Heiterkeitserfolg"; das Parterre „krümmte sich" und die Logeninhaberinnen „schluchzten leise vor Vergnügen". Später wird ein Eisenbahnzug zum Entgleisen gebracht; einige unverletzte Frauen werden von den im Hinterhalt liegenden Proletariern „unter viehischem Brunstgebrüll hinter das nahe Gebüöoh" geschleppt, und die Damen der Logen „erhoben sich von ihren Sitzen, um über die Sträucher wegzusehen".

,,Dic musion war so stark, dass einige Empfindliche sich das Taschentuch vor die Nase hielten. Aber die meisten der fleischigen Brünetten auf den RSngen pressten, weit vorgebeugt, mit nervösen Händen die schwer arbeitende Brost Sie schlössen die Augen in der Hingebung des Genusses, und ihre leidenschaftlichen Nüstern öffneten sich weit in den mit matter feuchter Blässe bedeckten Gesichtern. Sie sogen, halbbetäubt, den faden Blutgeruch ein, der warm durch das Haus zu schwimmen schien. Als endlich das Zeichen zum Applaus gegeben wurde, hatte die Wut ihrer aufgepeitschten Instinkte sie bereits so entkräftet, dass sie kaum noch die Hände 2u erheben vermochten. An Hälsen und Nacken perlten, grosse Tapfen, der säuerliche Duft ihrer Transpiration vermischte sich mit den schweron Wohl- gerüchen, die den erhitzten Kleiderstoffen und den Blumen entströmten. Ifi^ und da tönte ein schrilles, gläsernes Auflachen mit dem Klirren der Brillanten zu- sammen. Junge Mädchen, die hinter dem Rücken der Mütter lüstern hervoiiugten, kreischten laut auf — zwei oder drei von ihnen fielen in Ohnmacht*'

Die nur allzu realistische Lebenswahrheit der Schilderung — so ähnlich mögen sich die Matronen der römischen Verfallzeit b^ den Aufregungen der geliebten Gladiatoren- und Tierkämpfe und die schönen Madriderinnen beim nationalen Genuss der Stiergefechte nicht selten geberdet haben — mag der Länge des Zitats zur Entschuldi- gung dienen. Auch ein späteres Werk desselben Verfassers „die Göttinnen, oder die drei Romane der Herzogin von Assy" enthält


Sadismas und MasoehiBmas in der neueeten Literatur. 91

namentlich in seinem dritten, „Venus" betitelten Teile stark sadistiöche Ejnsoden (z. B. m, S. 223 ff.), die freilich durch den symbolistischen Zug des Glänzen eine Milderung erfahren. Daneben sei eines anderen novellistischen Werkes gedacht, des unter .dem Deckmantel der Pseudo- nymität erschienenen Phantasieromans „Der letzte Mann" ron Eva. Es ist die Geschichte eines Übermenschen, der von der Höhe der errungenen Weltherrschaft durch die zuletzt sich aufbäumende Stümpfe Masse in Vernichtung gestürzt wird. Es enthält eine Pülle blut- und wollüsttriefender Schilderungen, die glorreich durch die Schlussszene gekrönt werden, in der das geflüchtete Übermenschen- paar nackt auf einer wüsten Inselklippe im Angesicht des Todes und der Verfolger und vor einem gestürzten Kruzifix die letzte Be- jahung des Lebenswillens, den letzten Zeugungsakt ausführt und sich dann höhnisch triumphierend von dem steilen Pelsvorsprung ins Meer hinabschwingt. Eine merkwürdige Apotheose ! — Auf die (schon in der Darstellung de Sades näher gewürdigte) dem Sadismus über- haupt vielfach inhärierende Verkettung mit blasphemischen Vorstellungen, wie sie in den beiden zitierten Romanstellen überein- stimmend hervortritt, sei nur beiläufig verwiesen. In diese Kategorie fallen denn auch die neuerdings anscheinend wieder zu grösserer Beliebtheit gelangten Schilderungen von Besessenheit, Satansmysterien, schwarzen Messen u. dgl., wie wir sie nach dem Vorbilde von Barbey d'Aurevillys diaboliques u. a. in den novellistischen Erzählungen von Hanns Heinz Ewers („die Besessenen"; „der Zauberlehr- Hng oder der Teufelsjäger" usw.) und neuerdings sogar bei dem sonst zahmeren Artur Landsberger („Wie Hilde Simon mit Gott und dem Teufel kämpfte") so ausgiebig finden.

Das Thema des Inzests zwischen Mutter und Sohn behandelt ein hysterisch-perverser Roman „mater dolorosa" ^) ; den Inzest zwischen Bruder und Schwester haben zwei bis zur Selbstkarikatur überspannte Romanphantasien von Catulle Mendös und von Prczybyczewski zum Thema erkoren, denen sich neuerdings Kurt Münzer („der Weg nach Zion") und der literarische Abgott Italiens, der grosse Phraseur und Poseur Gabriele d*Annunzio in seinem letzten Roman „forse che si- forse che no" würdig anreihen ; nicht minder auch der Russe Artaibaschew in seinem (weit über Gebühr gepriesenen) Ssanin.

Wie schon früher die unter dem Namen Rachilde tätige Schriftstellerin die — übrigens recht schwach * ausgefallene — Ent- wickelungsgeschichte einer Sadistin, so haben neuerdings Poinsot und Normandy in dem bereits erwähnten Roman „roch eile"


1) L'auteur de „amiti^ amoureuse'* (Mad. Lecomte de Nouy) et Maurice de Waleffe, Mater dolorosa. 8. 6d. Paris, Calman L6vy, 1902.


d2 Sadismus und Masochismns in der neuesten Literatur.

die Entwickelungsgesdhichte eines Sadisten zu geben versucht; odw sie haben sich wenigstens bemüht, die verschiedenen Etappen des von ihm zurückgelegten Weges, von der grausamen TierquäleiPei des Knaben und vom zufalligea Anblick der ersten aufregenden Magel- lationsszene bis zu den algolagnistischen Delirien und HaUurinationen, in denen der auf der letzten Sprosse Angelangte einer erträumten Geliebten die scheusslichsten Besudelungen und Misshandlungfen zu- fügt, nach „menschlichen Dokumenten" zu schildern. — Als ein Seitenstück oder eine Ergänzung dazu darf in gewissem Sinne die Entwickelungs- und Verfallsgeschichte eines Masochisten in dem (anonym erschienenen Romane) „la maitresse et Tesdlave" gelten. Das Buch ist im einzelnen höchst widerwärtig und abstossend ; aber nicht übel ist der Grundgedanke durchgeführt, wie der An- sioss za den späteren masochistiöchen Verirrungen bei den „Helden" als acht- oder neunjährigem Knaben durch ein seine Sinnlichkeit ani- erst erweckendes Dienstmädchen gegeben wird ; wie die damals herauf- beschworenen Gefühle und Vorstellungen dann lange Jahre hindurch anscheinend schlmnmem, um nach einer langen, konventionell iglück- lichen Ehe bei dem schon alternden Vierzigjährigen wiedermn durch einen zufälligen Anlass jählings hervorzubrechen und nun steinen ganzen Lebensrest mit uneindämmbarer Gewalt zu überfluten i).

Viel minderwertiger ist der unter dem Qesamttitel ,,les dös- öquilibrös de Tamour" von Armand Dubarry herausge- gebene Romanzyklus (wovon einzelne Bände u. a. „coupeur de nattes" und „les flagellants"); ohne jede künstlerische Er- findung und Darstellung und mit eingestreuten pseudo-wissenschaft- lichen, meist nach Krafft-Ebing übersetzten Kompilationen. Viel- fach sadistischen Inhalts sind auch die literarisch mehr minderwertigen fach sadistischen Inhalts sind auch die literarisch ebenso minder- wertigen Romanfabrikate eines Jean de Villiot, Vaadfere, Alöra, Jean Virgans und ähnlicher (vgl. das Literaturverzeichnis am Schlüsse). Einzelne sadistische Szenen neben stark erotischen finden sich aber auch bei namhafteren Schriftstellern, wie Catulle Mendfes, Dubut de Laforest, Metenier („Madame la beule"), Louys („Aphrodite" u. a.), Nonce Casanova („Messalina"), Lombard („Byzance") und anderen, zum Teil schon das porno- graphische Gebiet bedenklidi streifenden Schöpfungen der neu- französischen erzahlenden Muse. —

Die neuere sadistische und masochistische Lyrik führt auf Bandelaire zurück, dessen berühmte „fleurs de mal"


1) Man denke an den in mancherlei Beziehung vorbildlichen, Kammerheim imd Senator Graf Mnffat in Zolas „Nana**l


Sadismus und Masochismns in der neuesten Literatur. 93

im Anfang ebenso enthusiastisclie Beifallstürme des intemationalein Ästhetentmns, wie moralisierenden Widersprucli entfesselten; als Zeichen wechselnder Zeitströmung bleibt immerhin bemerkenswert, dass dem Dichter, den man zu seiner Zeit gerichtlich verurteilte, im heutigen Frankreich ein Denkmal gesetzt wurde I Ihm klingen die Begriffe Liebe und Tod, Qual und Wollust in unauflösbarer Dissonanz ineinander; ja im Genüsse der Ldebe schwelgt er schon in Vorahnungen des Grauens kommender Verwesung. Sein würdiger Nachfolger war in Frankreich der (auch schon denkmalsreife) geniale Alkoholiker Paul Verlaine (1844—1896; caprices, fötes galantes, jadis et naguöre, romances sans parole usw. — eine Auswahl seiner Ge- dichte auch ins Deutsche übertragen, bei Schuster und Loeffler 1902). — Auch des genialen Engländers Swinburne 1866 erschienene „poems and ballads" stürmen zum Teil in wildem Sadismus dahin (so z. B. satia te sanguine, Dolores, les noyades, und die Sapphics; aus dem erstgenannten Gedicht seien als Probe nur zwei Strophen dar deotscbea Übertragung von Hauser angeführt:

Jdi möcht' einen Tod dir geben

So herb, dass die Furcht er vertrieb —

Denn besser ist sterben als leben;

Ich wünsche dich tot, mein Lieb.

Ich wünsche vom Blitz dich getroffen.

Und starbst du, schaute ich zu.

Ich wünsche dich tot wie mein Hoffen —

Mich tot dir zu Füssen wie du."

An solchen ausländischen Beispielen und Einflüssen haben sich auch deutsche Lyriker zu algolagnistischen Stimmungsergiessungen herangebildet

Der hochbegabte, zu früh verstorbene LudwigJacobowski ^) singt in „Warum ich liebe":

„Doch wenn ich jetzt herüberrisse

Dein stolzes Haupt mit einem Ruck,

Und küsste Dich mit wildem Bisse

Dass kaum Du stammeln kannst „genug";

Und bluteten Dir beide Füsse

Von meiner Peitsche rotem Strich

— Wehtun schafft tausendfache Süssel —

Dann lieb ich Dich, dann lieb ich Dich! — "


») GeseUschaft, Band XV, 1899, Heft 1, p. 33.


94 Sadismus tind Masochismas in der neuesten Literatur.

Entgegengesetzter Natur ist — oder auch vielmehr war — das liebesideal von JohannesWedde^). Er sucht stets nach sein^ „LUith", nach dem Ewig- Weiblichen in der Form grausamer Schredc- lichkeit:

„0 wo find' ich Dich? Wo fass* ich Dich, Du süsse Folter in?"

Und er redet die endlich Gefundene nach masochistischer Gfe- pflogenheit an mit „Herrin Jungfrau", und begehrt von ihr, sie möge ihr „kleines Männchen" fühlen lassen.

„Dass Du ganz nach Herzensluat

Ohne Rücksicht, ohne Milde

Alles mit mir machen kannst,

Alles was sensit nie ein Mensch

Leidet gern an andern Menschen,

Weil ich ein besondrer Mensch

Neben Dir mit eignen Rechten

Nicht mehr bin und nicht mehr sein will —

Nein, allein ein Stück von Dir,

Ja ein Spiel nur, das Du küssen.

Aber auch zerbrechen kannst,

Ja zertreten und verbrennen,

Ja zerstechen und zerschneiden,

Und am liebsten gar verspeisen." —

Ein weibliches Seitenstück zu diesem uns läppisch erscheinenden Poetlein bildet die nicht unbegabte Dichterin des Masochismus, die unter dem Namen „Dolorosa" ihre Ljrrik spendende Autorin der Ge- dichtsammlung „confirmo te chrysmate" *). Für Geist und Form dieser Dichtungen nur eine Stichprobe mit der (Mirbeau nachgebildeten) Überschrift „le jardin des supplices", dem Fürsten v. V. — (Man bemerke, wie charakteristischerweise „Liebe" in der zweiten Strophe einmal nicht mit „Triebe", sondern mit „Hiebe" zusammengereimt wird.)


  • ) Gesammelte Werke, 2 Bände, Hamburg, Hermami Grüning, 1894. — Vgl.

Magazin für Literatur, 1896, 9. — Der (1890 verstorbene) Verfasser war zugleich skeptisch agnostischer Mystiker und sozialdemokratischer Agitator! Ein begeisterter Anhänger (Hermann Müller) feiert ihn in einer eigenen Schrift als literarische Grösse und zugleich als Mann von urdeutschem Gemüte.

») M. Lilienthal, Verlag Berlin 1902.


SadismoB und Masochismos in der neuesten Literatur. 95

„Ich legte mein schwarzes Gewand von mir Und löste mit bebenden Fingern mein Haar, Nackt und zitternd lag ich vor dir Und bot meinen jungen Leib dir dar.

Du entfachtest die schlummernden Brände

In mir zur ekstatischen Inbrunst der Liebe.

Lass mich küssen, mein Fürst, deine grausamen Hände

Für das jubelnde Glück deiner Peitschenhiebe.

Lass mich die schmalen Füsse küssen, Die meinen Nacken zu Boden zwangen; Lass mich die harten Stricke küssen, Die mich quälten wie feurige Schlangen!

Lass mich, mein Fürst, deine Peitsche küssen. Die mir die Lust der Schmerzen sang, Lass mich den Sand der Erde küssen, Der mein Blut mit durstiger Sehnsucht trank.

Wie eine Sklavin lag ich vor dir Und bot meinen Leib den Martern dar. Und die tiefste Wollust ward dir und mir Im Garten der Qualen offenbar.

Auf dem Gebiete des Dramas sei nur an die aufoi»feirungs- wütige und von erotischer Mystik durchdrungene Ottegebe in Gerhard Hauptmanns „armem Heinrich erinnert, die in der Klause des Paters Benedikt sich geisselt, weil sie nur noch unter den Schlägen atmen kann. Und dem gegenüber wieder (Gestalten wie die Heldinnen von Wildes „Salome" und Wedekinds „Erdgeist**! Der allzu stark, oft fast leidenschaftlich betonte Zug zum Sexuellen nicht bloss, sondern zum Sexuell-Perversen gibt einer grossen Anzahl von Schöpfungen unserer literarischen Gegenwart und jüngsten Vergangenheit ein Ge- präge, wie es in solcher Eigenart den unmittelbar voraufgegangenen literaturepochen doch überwiegend fr^oid war.

Es ^iegt mir, dem Arzte, natürlich gänzlich fern, auf die Lebenden vde auf die Toten moralkritische Steine zu werfen; nur nicht achtios vorbeigehen wollte ich an einem Zuge, der in der Hterarischen wie in der gesamtkünsüerischen Physiognomie unserer Zeit viel zu scharf und bedeutsam hervorspringt, um ihn in übel- angebrachter Prüderie oder in geflissentlicher Verkennung ablehnend zu ignorieren.





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