Über Annahmen  

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{{Template}} Über Annahmen (1902; “On Assumptions”) is a work by Alexius Meinong.

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ANNAHMEN.


Von


A. Meinong.


Zweite, umgearbeitete Auflage.


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Leipzig, 1910.

Verlag von Johann Ambrosius Barth.


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III


Yorwort zur ersten Auflage.


Das vorstehende Widmungsblatt 1 möchte eine Art Ausdruck dafür sein, dafs der Name, den es trägt, der Natur der Sache wie meinem persönlichen Wunsche nach neben dem meinigen auf dem Titel dieser Schrift hätte zu stehen kommen sollen. Im Juni 1899 hat Fräulein M. Radakovic meine Aufmerksamkeit zum ersten Male auf die Tatsachen gelenkt, die ich in der vor- liegenden Schrift als Annahmen bezeichnet und einer ersten Untersuchung unterzogen habe. An der Durchführung dieser Untersuchung mitzuwirken hat dann die genannte Dame freund- lichst zugesagt; sie hat die monographische Bearbeitung der Ge- biete, auf denen die neue Tatsache ihr zunächst auffällig ge- worden war, darunter in erster Linie Spiel und Kunst, wirklich in Angriff genommen und fast bis zur Druckreife durchgeführt. Aber eine eben so schwere als langwierige Erkrankung, der gegenüber sich nicht nur physisch, sondern auch psychisch zu behaupten des Mutes und der Kraft eines Helden bedurfte, hat meiner lieben Mitarbeiterin einen vorläufigen Verzicht auf die Weiterführung ihrer Forschungen aufgezwungen : und steht nun- mehr auch zu hoffen, dafs sie in nicht allzu ferner Zeit ihr un- gewöhnliches Können wieder der Wissenschaft nutzbar zu machen imstande sein wird, so habe ich für die Durchführung der vor- liegenden Arbeit eben doch auf ihre Hilfe verzichten müssen, soweit solche in der selbständigen Ausarbeitung mancher nun- mehr entfallener Abschnitte dieses Buches gelegen gewesen wäre.

1 Dasselbe wies die Inschrift auf : „Fräulein Mila Radakovic in Freund- schaft zugeeignet“.


IV


Vorwort zur ersten Auflage.


Das kann aber an der Tatsache nichts ändern, dafs sie es war, die zu den hier niedergelegten Untersuchungen den Anstofs ge- geben und auch im Verlaufe derselben an Anregungen und Förderungen nicht gespart hat. Und sollten wirklich, wie ich zu glauben guten Grund habe, grofse und wichtige Tatsachen- gebiete durch diese Arbeit der wissenschaftlichen Forschung er- schlossen sein, dann mufs auch unvergessen bleiben, wem dieser Gewinn in letzter Linie zu danken ist.

Was die gegenwärtigen Darlegungen selbst anlangt , so braucht kaum ausdrücklich gesagt zu werden, dafs der Versuch, ein bisher theoretisch unbeachtetes Tatsachengebiet zu bearbeiten, eben nur einen ersten Anfang, nicht aber eine abgeschlossene Theorie bieten kann. Das tritt bereits in der Disposition des Stoffes deutlich genug hervor, die nicht aus einem „Prinzipe“ heraus in den Stoff hineingetragen, sondern mir durch die Tat- sachen aufgedrängt wurde. Ich mufs berichten, dafs dies, wie noch vieles andere in dieser Arbeit, sehr wider meine anfäng- liche Voraussicht ausgefallen ist. Zur Zeit, da ich die ersten Schritte im neuen Tatsachengebiete unternahm, hatte ich keine Ahnung davon, dafs ich auf dem eingeschlagenen Wege so vielen teils aller Welt, teils mindestens mir selbst gar wohl be- kannten Problemen begegnen und ihrer dabei von einer Seite ansichtig werden würde, die ihrer Lösung besonders günstig zu sein verspricht. Ist dies, wie nicht zu bezweifeln, der formellen Geschlossenheit dieser Ausführungen abträglich gewesen, so darf ich daraus doch eine erwünschte Bekräftigung meines Zutrauens darauf entnehmen, dafs dabei nicht die Empirie im Sinne einer vorgegebenen Theorie umgestaltet, sondern vielmehr ein selbst der Empirie entnommenes Theorem im Sinne der in gröfster Mannigfaltigkeit von allen Seiten sich herandrängenden Tat- sachen ausgestaltet worden ist.

Der Mannigfaltigkeit dieser Tatsachen entspricht einiger- mafsen die Verschiedenartigkeit der in einigen Kapiteln dieser Schrift auf die Annahmen führenden Voruntersuchungen, deren Daseinsberechtigung indes hoffentlich nicht nur in ihrer Be-


Vorwort zur ersten Auflage.


V


ziehung zu den Annahmen, sondern auch in ihren eigenen Er- gebnissen zur Geltung kommen wird. Es gilt dies insbesondere vom siebenten Kapitel \ dessen Thema, wenn ich recht sehe, für das Erkennen und durch dieses hindurch für das ganze psychi- sche Leben eine fundamentale Bedeutung hat, die mir freilich gerade von den Annahmen aus in besonderem Mafse deutlich geworden ist, die aber darum keineswegs an den Annahmen mehr hängt als etwa am Urteil. Insofern hätte, was ich in diesem Kapitel unter dem Namen des „Objektivs“ einer ersten Bear beitung unterzogen habe, im Grunde eine von der Sache der Annahmen ganz unabhängige Sonderbehandlung verdient; und es wird unter solchen Umständen kaum ungerechtfertigt er- scheinen, w r enn dieser erste Versuch, den Grund zur Theorie des Objektivs zu legen, zwar nirgends über die blofse Grundlegung, dafür aber mehrfach über das hinausgegangen ist, was im aus- schliefslichen Hinblicke auf die Annahmen etw r a schlechterdings unentbehrlich gewesen wäre.

Auch das achte Kapitel 1 2 , das es mit der Bedeutung der An- nahmen für die Wert- und Begehrungstheorie zu tun hat, ist umfänglicher ausgefallen , als die blofse Berücksichtigung der Annahmen nötig gemacht hätte, und dies aus einem Grunde, der hier einer kurzen Darlegung bedarf. Die von mir in meinen „Psychologisch-ethischen Untersuchungen zur Werttheorie“ auf- gestellte und innerhalb angemessener Grenzen auch bereits be- tätigte Forderung, die Ethik auf Werttheorie, die Werttheorie auf psychologische Untersuchung der Werttatsachen zu gründen, hat zu einer Reihe von Publikationen den Anstofs gegeben, in denen ich wohl die hoffnungsvollen Anfänge einer psycho- logischen Werttheorie und einer werttheoretischen Ethik be- grülsen darf , fest überzeugt , dafs diese Ethik und keine andere die wissenschaftliche Ethik der Zukunft ist. Unter diesen I ublikationen nehmen ohne Frage die zwei Bände „System der


1 Jetzt Kap. III und V.

2 Jetzt Kap. IX.


VI


Vorwort zur ersten Auflage.


Werttheorie“ von Che. von Eheeneels nicht nur dem Umfange nach die erste Stelle ein, vielmehr mufs ich in ihnen auch in- haltlich, ohne den Wert der übrigen Arbeiten gering anzu- schlagen, die weitaus erfolgreichste Weiterführung der von mir angebahnten 1 werttheoretischen Untersuchungen erblicken. Aber, wie selbstverständlich ist oder es doch sein sollte, ist dies eine „Weiterführung“ im Sinne freiester Betätigung einer anderen Forscher-Individualität; und diese Betätigung hat in einigen wichtigen Dingen zu einem Dissens zwischen uns geführt, zu dem in ausreichend begründeter Weise Stellung zu nehmen es mir bisher an Gelegenheit gefehlt hat. Sie wird mir nunmehr durch die Tatsache geboten, dafs die beiden Arbeitsgebiete, die mein Tun bisher fast ausschliefslich in Anspruch genommen haben, das intellektualpsychologisch-erkenntnistheoretische Haupt- und das emotionalpsychologisch-ethische Nebengebiet sich durch den Verbreitungsbereich der Annahmen in ganz unerwartetem Mafse eng verknüpft erwiesen haben, so dafs, w r enn ich recht sehe, den Annahmen ein wesentlicher Anteil an der allfälligen Schlichtung des in Rede stehenden Dissenses zukommen könnte. Es war also am Platze, diesen in der vorliegenden Schrift zur Sprache zu bringen: nur habe ich mich unter den gegebenen Umständen für befugt gehalten, Einschlägiges auch dann aus der Diskussion nicht auszuschliefsen, wenn es mit der Theorie der Annahmen in keinen direkten Zusammenhang zu bringen war. Auf alle Fälle findet der Leser eingangs zum achten Kapitel die Paragraphen 47 — 51 2 ausdrücklich als diejenigen bezeichnet, die vom eigentlichen Gegenstände dieser Schrift relativ am meisten abliegen.

An dieser Stelle aber bietet mir der Hinweis auf die An-


1 Wie gleichwohl die wichtigsten Positionen, die das „System“ bringt, bereits etwa ein Jahr vor meinen „Untersuchungen zur Werttheorie“ in der Vierteljahr88chrift f. xumcnsch. Philosophie zur Veröffentlichung gelangen konnten, darüber vgl. Ehrenfels im Jahrgang 1894 der genannten Zeitschrift, S. 96, übrigens auch mein Vorwort zu den „Untersuchungen“.

2 Jetzt 48—52.


Vorwort zur ersten Auflage.


VII


fänge der psychologischen Werttheorie den erwünschten Anlafs zu einer Bemerkung in eigener Sache, die ich zunächst an den jüngsten ethischen Literaturbericht des „ Archivs für systematische Philosophie “ anknüpfe, wo gelegentlich auf mich und Ehrenfels als auf „die Werttheoretiker der Schule Brentanos“ hingewiesen wird, obwohl Brentano an unseren werttheoretischen Arbeiten nicht den geringsten Anteil hat, jene „Schule“ sie daher mut- mafslich längst als Irrlehre verworfen haben wird. Nicht lange vorher wurde in einer Art psychologischen Zentennarberichtes der „ Zeitschrift für pädagogische Psychologie “ mir, diesmal zu- sammen mit A. Höeler, die Stellung von Repräsentanten einer „scholastischen Methode“ in der Psychologie unter Bezugnahme auf Brentanos Vertrautheit mit der scholastischen Philosophie angewiesen, obwohl ich leider bekennen mufs, dafs mir eine solche Vertrautheit, aus der sicher vielerlei Gewinn auch für die moderne Wissenschaft zu schöpfen wäre, gänzlich abgeht. Nun kann ich es natürlich nur sachgemäfs finden, wenn etwa orien- tierende Darstellungen des gegenwärtigen Standes der Philosophie, soweit sie es für angemessen halten, auch von mir zu reden, des Zusammenhanges meiner Arbeitsrichtung mit der F. Brentanos gedenken. Auch fehlt mir sicher nicht die dankbare Würdigung der Tatsache, dafs meinen ersten Versuchen im Bereiche philo- sophischer Forschung Brentano in damals wohlwollender Ge- sinnung fördernd zur Seite gestanden ist : solches zu unterschätzen werde ich um so weniger Gefahr laufen, je gröfser die Anzahl derjenigen ist, denen ich seither ähnliches zu erweisen bemüht war, und je weniger mir das Andenken gleichgültig ist, das diese meine Schüler aus der Zeit unserer gemeinsamen Arbeit mit sich nehmen. Dennoch müfste ich die Umstände, unter denen ich einst in die wissenschaftliche Arbeit eingetreten bin, fast für eine Art Verhängnis halten, wenn mir auch noch ein Vierteljahr- hundert später Gegner wie Freunde Brentanos gleich wenig vergeben können, jene, dafs ich von Brentano gelernt, — diese, dafs ich nicht alles von Brentano, sondern im Verlaufe meines wissenschaftlichen Tuns durch redliches Bemühen auch einiges


VIII


Vorwort zur ersten Auflage.


von mir selbst oder eigentlich von den Tatsachen gelernt habe. Ich meine, ich hätte mir nachgerade den Anspruch erarbeitet, für mich selbst zu zählen, und nach Mafsgabe dessen einge- schätzt zu werden, was ich durch eigene ehrliche Arbeit zur Habe meiner Wissenschaft etwa beizusteuem imstande gewesen sein sollte. Das ist nicht Brentanos Freunden zuleide gesagt, und womöglich noch weniger Brentanos Feinden zuliebe: so gewifs es aber ein unpersönliches Ziel ist, das bisher meiner Lebensarbeit gesteckt war und ihr auch in Zukunft gesteckt bleibt, so gewifs habe ich ein Recht zu dem lebhaften Wunsche, dabei keinen anderen als sachlichen Schwierigkeiten oder Hinder- nissen zu begegnen.

So möchte denn auch, was die vorhegende Schrift bringt, unpersönlich aufgenommen und an den Tatsachen, zu deren Kenntnis es beizutragen bestimmt ist, auf seine Brauchbarkeit geprüft sein. Eine eigentliche Literatur hat der hier behandelte Gegenstand, den ich für wenigstens ex professo noch durchaus unbearbeitet halte, meines Wissens nicht : dagegen entspricht der Menge des durch die Annahmen Mitbetroffenen natürlich die Menge des literarisch Einschlägigen, so dafs dieses in einiger Vollständigkeit heranziehen zu wollen ein ganz aussichtsloses Unternehmen gewesen wäre. Nur wolle aus der geringen Anzahl von Arbeiten, die im folgenden ausdrücklich berücksichtigt er- scheinen, nicht geschlossen werden, dafs ich nur diesen Arbeiten für unser Thema Gewinn verdanke oder gar nur ihnen Wert beimesse. Dafs mir die Berufung auf Veröffentlichungen solcher Autoren besonders nahe gelegen hat, deren Lehrer zu sein ich vor kürzerer oder längerer Zeit in der glücklichen Lage war, kann ich freilich nicht in Abrede stellen. Aber es ist eben Tatsache, dafs gerade sie es gewesen sind, deren Zustimmung oder Widerspruch den bisherigen Fortgang meiner Arbeiten vor allem gefördert hat.

Graz, Oktober 1901.

Der Verfasser.


Torwort zur zweiten Auflage.


Haben die acht Jahre seit der ersten Veröffentlichung der vorliegenden Untersuchungen, wie ich hoffe, in der damals und schon vorher von mir eingeschlagenen Richtung weitergeführt, so erwuchs daraus für eine Neuauflage dieser Untersuchungen vor allem die Aufgabe, ihnen nutzbar zu machen, was sich inzwischen innerhalb ihres Problemenkreises geklärt hat, — und zu solcher Klärung womöglich Neues beizubringen. Zunächst also kam besonders in Frage, was einstweilen die ersten Versuche der Gegenstandstheorie, ihr gutes Recht theoretisch und praktisch festzulegen, ergeben haben. Zumal dem Objektiv gebührte sichtlich eine ganz andere Position in der Begründung der Annahmelehre, als ich ihm zu der Zeit einräumen konnte, da sich mir, — es war seltsamerweise erst während der Kon- zeption der ersten Auflage — Eigenart und Bedeutung des Ob- jektivs eben aufgedrängt hatte. Die Einsicht hierein hat zur Vorschiebung des einstigen siebenten Kapitels und zu seiner Erweiterung in das gegenwärtige dritte und fünfte Kapitel ge- führt, zwischen die mir als viertes Kapitel natiirlichst das ehe- malige dritte zu treten schien. Die übrigen Kapitel haben ihre Reihenfolge wie ihren Vorwurf behalten, letzteren unbeschadet der teilweise abgeänderten Überschriften, in deren einigen jetzt Fragen in den Vordergrund gestellt erscheinen, die sich mir seinerzeit noch in den Schwierigkeiten des Details verhüllten. So sind es namentlich das gegenwärtige sechste, siebente und achte Kapitel, in denen mich die inzwischen mir fühlbar ge-


X


Vonvort zur zweiten Auflage.


wordenen Schwächen der ersten Bearbeitung zu teilweise ziem- lich fundamentalen Abänderungen der seinerzeit vei’tretenen Auffassungen hindrängten, ohne dafs es mir gelungen wäre, dabei zu einem mich allenthalben befriedigenden Abschlüsse zu gelangen. Ich würde speziell zu diesen Dingen auch kaum

schon heute wieder das Wort ergriffen haben, wenn es angesichts des Bedürfnisses nach einer neuen Auflage zu vermeiden ge- wesen wäre.

Im Überblicke möchte ich sagen : was von älteren Gedanken der erneuten Überprüfung standgehalten hat, wird hoffentlich in geklärter, vielleicht auch vereinfachter Gestalt dem Leser vor die Augen treten. Aber es ist Neues genug hinzugekommen, um auch für neue Unfertigkeiten und neue Verbesserungs-

bedürftigkeiten, wie der Fortgang der lebendigen Forschung solche eben stets unvermeidlich macht, reichlich Raum, und dem Leser, der im redlichen Bemühen Grund zu wohlwollender Auf- nahme sieht, Gelegenheit zu nachsichtiger Beurteilung zu bieten. Solche Nachsicht möchte dann in besonderem Mafse wohl auch der Verteilung des Neuen in das Alte zustatten kommen, bei der es ohne übersehene Ungleichmäfsigkeiten schwerlich ab- gegangen sein wird. Was insbesondere über „Inhalt und Gegen- stand“ sowie über die „Selbstpräsentation der Erlebnisse“ hinzu- gekommen ist, wäre Adelleicht besser in besonderen Kapiteln

darzulegen gewesen. Aber der eigentliche Vorwurf des Buches

wäre dann noch mehr hinter Voruntersuchungen zurückgedrängt worden, als jetzt durch Kapitel II und namentlich III ohnehin der Fall ist.

Dafs eine neue Auflage im allgemeinen auch die Pflicht hat, die literarische Diskussion weiter zu führen, die durch die alte Auflage angeregt worden ist, versteht sich. Ich habe dieser Pflicht nachzukommen versucht nicht ohne das Gefühl lebhafter Dankbarkeit für die Förderung, die sich bekanntlich unter günstigen Umständen durch Widerspruch noch in höherem Mafse vollzieht als durch Zustimmung, — günstigen Umständen, wie sie, ohne hier der mir persönlich näher stehenden Forscher


Vorwort zur zweiten Auflage.


XI


zu gedenken, insbesondere in den Arbeiten G. Spenglers 1 , B. Russells 2 und neuestens D. H. Kerlers 3 realisiert waren. Schwieriger ist die Lage gegenüber solcher Polemik, bei der man mehr „ira“ als „Studium“ herausfühlen zu müssen meint. Über das „Verhängnis“, auf das bereits das Vorwort zur ersten Auflage hinzuweisen hatte 4 , haben mich inzwischen mindestens die „Freunde Brentanos“ nicht günstiger denken gelehrt. Aber von dieser Seite 5 ist in den letzten Jahren so viel Arbeit und Raum darauf gewendet worden, meine vielen Irrtümer in aus- reichend helles Licht zu setzen und insbesondere die Annahmen nicht einmal der Möglichkeit nach gelten zu lassen, dafs es mir doch nicht angängig schien, hier von jeder Abwehr abzusehen. Nur mufs ich gestehen, im Laufe dieser Arbeit um so mehr des undankbaren Geschäftes müde geworden zu sein, je mehr ich besorgen rnufste, die gegenwärtige Neuauflage mit polemischem Material zu überlasten, das für den blofs sachlich beteiligten Leser nur ausnahmsweise eigentliches Interesse haben kann. So mag mancher Angriff unabgewehrt geblieben sein, dem darauf- hin Unwiderstehlichkeit noch nicht nachgerühmt zu werden brauchte. Immerhin habe ich Polemisches nach Kräften in die Fufsnoten zurückgedrängt und Exkurse, die sich aus dem Text nicht gut mochten entfernen lassen, durch engeren Druck ge- kennzeichnet.

Was übrigens speziell die Möglichkeitsfrage bei den An- nahmen anlangt, so mag man billig zweifeln, ob es gerade die schlechtesten Dinge sind, an denen man sich bereits müde ge-


1 „Meinongs Lehre von den Annahmen und ihre Bedeutung für die Schullogik“, Jahresbericht des Erzherzog Rainer-Gymnasiums in Wien, 1903.

s „Meinong’s theorie of complexes and assumptions“, Mind, N.S., 13, 1904.

3 „Über Annahmen. Eine Streitschrift gegen A. v. Meinongs gleich- namige Arbeit, nebst Beiträgen zur Bedeutungslehre und Gegenstands- theorie“. Ulm, 1910.

4 Vgl. oben S. VII.

5 Vgl. auch die sicher nicht aus Mangel an Sympathie für sie hervor- gegangenen Bemerkungen in der Deutschen Literaturzeitung, Jahrgang 1909, Sp. 2645.


XII


Vorwort zur zweiten Auflage.


dacht hat, um „vorgängig“ ihre Unmöglichkeit zu erweisen. Einen Schicksalsgenossen wenigstens hätten die Annahmen, dessen sie sich Avohl rühmen dürften: das psychologische Ex- periment. Es gab genug und gibt auch heute noch sehr nach- denkliche Menschen und sehr ernsthafte Körperschaften, die der Frage, warum die experimentelle Psychologie unmöglich sei, mit vielem Fleifse nachsinnen: daneben entsteht und erblüht auf dem Boden theoretischer wie praktischer Bedürfnisse eine ex- perimentalpsychologische Arbeitsstätte um die andere, und tausend Arme regen sich, einen Streifen psychologischen Landes um den anderen der experimentellen Bearbeitungsweise zu erobern. Ob es gelingen ward, auch die Annahmelehre in dieses Gebiet ein- zubeziehen ? Man wird hierüber nichts Voraussagen können : ein glücklicher Gedanke kann bereits morgen den Weg dazu er- schliefsen. Aber schon heute darf sich die Annahmelehre des Erfolges freuen, der darin liegt, dafs die jüngste, schwierigste und hoffnungsvollste unter den psychologischen Teildisziplinen, die genetische Psychologie, sie zu einem Grundpfeiler ihres neu zu errichtenden Lehrgebäudes ausersehen hat, — nicht im Sinne einfachen Übernehmens der noch so bescheidenen Ergebnisse, die die ersten dieser Lehre gewidmeten Untersuchungen zu bieten hatten, sondern im Sinne durchaus eigenartiger Weiterbildung. So hat jener ganz unpersönliche gute Wille, den ernste Arbeit für ihresgleichen allenthalben bereit haben sollte, und der doch bekanntlich manchmal leichter über das Weltmeer reicht als von einem Lande zum nächsten, speziell meinen Anteil an dem, was man heute über die Annahmen weifs, wohl über Verdienst an- geschlagen. Um so vorbehaltloser darf ich mir das Zeugnis zu eigen machen, das der Wichtigkeit der im vorliegenden Buche bearbeiteten Tatsachen dadurch ausgestellt erscheint, dafs ein Forscher vom Range eines J. M. Baldwin der Gegenüber- stellung von Urteil und Annahme die Bedeutung einer kunda- mentalposition seiner „genetischen Logik“ einräumt 1 und auch

1 „Ab to the distinction between , general“ and .echematic“, between , belief“ and ,ae8umption“ — that is one of tbe radical poeitione of my


Vorwort zur zweiten Auflage.


XIII


die neueste, ebenso umfassende als verdienstvolle, gleichfalls den genetischen Gesichtspunkt in den Vordergrund stellende Be- arbeitung der Grundprobleme der Werttheorie * 1 in den ver- schiedensten Zusammenhängen auf die Berücksichtigung der Annahmen und der von ihnen abhängigen Erlebnisse sich be- dacht zeigt.

So kann ich mich alles in allem doch wohl der Hoffnung hingeben, durch die erste Auflage dieses Buches einigen Nutzen gestiftet zu haben. Und die zweite Auflage darf auf ihrem Wege „hinaus ins feindliche Leben“ der Wunsch begleiten, es möchte ihr in dieser Hinsicht kein minder günstiges Geschick beschieden sein. Lieben Freunden aber, die dieser Neubearbeitung durch Rat und Tat sich hilfreich erwiesen haben, sei dafür an dieser Stelle mein herzlicher Dank ausgesprochen, — namentlich meinen immer wieder neubewährten Arbeitsgenossen in Seminar und Institut, und obenan Herrn Dr. V. Benussi, der insbesondere auch für die Zusammenstellung des neuen Sachregisters Sorge zu tragen die grofse Güte hatte.

entire work, and I am glad to have it called attention to. It connects •with and carries further the ,assumption‘-theory of Meinong and the Austrian school.“ („Thought and things. A study of the development and meaning of thought“, London 1906—1908, Bd. II, S. 423).

1 W. M. Urban, „Valuation, its nature and laws, beeing an introduction to the general theory of value“, London 1909.

Graz, Pfingsten 1910.

Der Verfasser.


XIV


Inhalt.

Seite

Vorwort zur ersten Auflage III

Vorwort zur zweiten Auflage IX

Inhalt XIV

Erstes Kapitel.

Erste Aufstellungen.

§ 1. Ein Tatsachengebiet zwischen Vorstellen und Urteilen .... 1

§ 2. Das Negative gegenüber dem „blofs Vorgestellten“ 8

Zweites Kapitel.

Zur Frage nach den charakteristischen Leistungen des Satzes.

§ 3. Zum Begriffe des Zeichens 21

§ 4. Ausdruck und Bedeutung beim Worte. Sekundärer Ausdruck

und sekundäre Bedeutung 24

§ 5. Der Satz als Urteilsausdruck 30

§ 6. Unabhängige und abhängige Sätze, die nicht Urteile ausdrücken 33

§ 7. Das Verstehen bei Wort und Satz 38

Drittes Kapitel.

Das Objektiv.

§ 8. Geurteilte Objektive 42

§ 9. Beurteilte Objektive 47

§ 10. Das Objektiv und die Sprache 53

§ 11. Allgemeines über die Beschaffenheit der Objektive 59

§ 12. Über die Arten der Objektive 71

§ 13. Die modalen Eigenschaften der Objektive 80

§ 14. Zum Terminus „Objektiv“ 97

Viertes Kapitel.

Die nächstliegenden Annahmefälle.

§ 15. Explizite Annahmen 106

§ 16. Annahmen in Spiel und Kunst 110

§ 17. Die Lüge 116


Inhalt.


XV


Seite

§ 18. Annahmen bei Fragen und sonstigen Begehrungen 120

§ 19. Aufsuggerierte Annahmen 126

Fünftes Kapitel.

Das Objektiv und die Annahmen.

§ 20. Vom Erfassen der Objektive 161

§21. Aggredierte Objektive. Zur Deutung sekundärer ürteilsausdrücke 144

§ 22. Annahmen bei Beurteilungen 149

§ 23. „Urteile auf Kündigung“. Die „bewufste Selbsttäuschung“ . . 154

§ 24. Emotional aggredierte Objektive 160

§ 25. Annahmen bei Gefühlen und Begehrungen 166

, Sechstes Kapitel.

Annahmen bei Operationen an Objektiven.

§ 26. Unmittelbare und mittelbare Evidenz . 171

§ 27. Das Wesen der Überzeugungs Vermittlung 173

§ 28. Die Evidenzvermittlung. Scheinbare Schwierigkeiten bei der- selben 178

§ 29. Evidenz aus evidenzlos geurteilten Prämissen 185

§ 30. Evidenz aus ungeurteilten Prämissen 187

§ 31. Die Natur des hypothetischen Urteils . - 197

§ 32. Operationen an und Relationen zwischen Objektiven .... 213

Siebentes Kapitel.

Annahmen beim Erfassen des Präsentierten. Das Meinen.

§ 33. Vorbemerkung 217

§ 34. Die Seinsansicht: a) Vom Beurteilungsgegenstande 218

§ 35. Die Seinsansicht : b) Aktuelle und potentielle Gegenständlichkeit 222

§ 36. Die Seinsansicht: c) Der Anteil der Annahmen 226

§ 37. Die Seinsansicht: d) Die Gegenständlichkeit bei negativen Ur- teilen und Annahmen 229

§ 38. Zur Selbstkritik. Die Aufserseinsansicht 233

Achtes Kapitel.

Annahmen bei Komplexen. Weiteres über das Meinen.

§ 39. Anschaulich und unanschaulich. Der einfachere Fall .... 247

§ 40. Zusammensetzung und Zusammenstellung 251

§ 41. Die logische Indifferenz der Zusammenstellungen 256

§ 42. Der kompliziertere Fall 259

§ 43. Relation zwischen Inhalt und Gegenstand. Die Adäquatheit . 262

§ 44. Die gegenständliche Bedeutung von Realrelationen zwischen

Inhalten - 266

§ 45. Seins- und Soseinsmeinen 268

§ 46. Die Meinaufgaben und deren Lösung 278


XVI


Inhalt.


Neuntes Kapitel.

Zur Begehrungs- und Wertpsychologie.

Seite

§ 47. Vorbemerkung 287

§ 48. Das Begehren als „relativ glückfördernde“ Vorstellung ... 289

§ 49. Das Zeugnis der inneren Wahrnehmung 293

§ 50. Das Vorstellungsgesetz der „relativen Glücksförderung“ ... 296

§ 51. Das Begehrungsgesetz der „relativen Glücksförderung“ . . . 299

§ 52. Die „Einschaltung“ in die subjektive Wirklichkeit 302

§ 53. Die Annahmen bei der Begehrungsmotivation 305

§ 54. Phantasiegefühle und Phantasiebegehrungeu. Die Einfühlung 309

§ 55. Phantasiegefühle als Annahmegefühle 315

§ 56. Phantasiegefühle als Begehrungsmotive 321

§ 57. Vom Motivationsgesetz zur Wertdefinition 323

§ 58. Noch einmal die Phantasiegefühle. Wertung gegenüber Wert- haltung 329


Zehntes Kapitel.

Ergebnisse. Bausteine zu einer Psychologie der Annahmen.

§ 59. Zur Beschreibung des Annahmeerlebnisses. Akt und Inhalt . 338

§ 60. Fortsetzung: Evidenz 345

§ 61. Das Verhältnis der Annahmen zu ihrer psychischen Umgebung 355 § 62. Die Annahmen und die Sprache. Noch einmal das Verstehen 359 § 63. Die Stellung der Annahmen im System der Psychologie. An- nahmen als Gedanken 366

§ 64. Über die Möglichkeit der Annahmen 372

§ 65. Ausblick. Neues zur Bestimmung des Begriffes der Phantasie 375

Register 385


1


Erstes Kapitel.

Erste Aufstellungen.

§ 1 .

Ein Tatsachengebiet zwischen Vor stellen und

Urteilen.

Dafs es kein Geschehnis gibt im Bereiche des Geisteslebens, das, falls es nicht selbst eine Vorstellung ist, nicht das Vorstellen zur Voraussetzung hätte, gehört längst zu den Selbstverständlich- keiten, die nicht leicht einem ernst zu nehmenden Zweifel aus- gesetzt sind. Um so häufiger konnte man von alters her der Neigung begegnen, den Anteil des Vorstellens an den Betätigungen der Intelligenz zu überschätzen, indem man meinte, alles, was der Vorstellungen nicht entraten kann, selbst für Vorstellungen nehmen zu sollen. Und auch heute noch ist trotz des Nach- druckes, mit dem D. Hume und J. St. Mill die englische, F. Brentano die deutsche Psychologie auf die Eigenart des Ur- teils hingewiesen hat, hierüber die öffentliche Meinung in Psycho- logie und Erkenntnistheorie keineswegs zu der Einigung gelangt, die der Durchsichtigkeit der Sachlage entsprechen möchte. Es ist indes nicht die Aufgabe der nachstehenden Untersuchungen, das Urteilsproblem einer neuerlichen theoretischen Bearbeitung zu unterziehen. Nur auf einer Art Umweg möchten sie mit zur Beseitigung der hier oft mehr subjektiven als objektiven Schwierig- keiten beitragen, indem sie darzutun versuchen, dafs das Urteilen, weit davon entfernt selbst Vorstellen zu sein, an das Gebiet des Vorstellens nicht einmal angrenzt, vielmehr von diesem Gebiete noch durch eine Gruppe gleichsam zwischenliegender Tatsachen getrennt ist, die den Vorstellungen wie Urteilen gegenüber aus- reichend scharf zu charakterisieren, sich der Erkenntnis des einen wie des anderen der beiden Tatsachengebiete gleich fruchtbar erweist.

Meinong, Über Annahmen, 2. Aull.


1


2


Erstes Kapitel.


Dabei denke ich natürlich nicht daran, hier in Sachen des Urteils eine völlig neutrale Stellung einzunehmen. Was ich dar- zulegen habe, geht zu sehr auf das direkte anschauliche Erfassen der durch die innere Wahrnehmung dargebotenen Wirklichkeit zurück, als dafs es durchführbar wäre, einem Teile des sich da bietenden Tatsachenbildes gegenüber bei einer Unanschaulichkeit stehen zu bleiben, die noch für recht weit auseinanderliegende Meinungen über die Natur des Urteils Raum liefse. Andererseits aber scheinen jene charakteristischen Züge am Urteil, die mir für das Folgende von entscheidendem Belange sind, doch so naheliegend bis zur Handgreiflichkeit, dafs ich mich der Hoffnung nicht entschlagen kann, in der Anerkennung derselben unvor- eingenommene Beobachter mit sonst wie immer gearteten Vor- meinungen auf meiner Seite zu haben.

Zwei Dinge nämlich sind es, von denen meines Erachtens jedermann zugeben kann, dafs das Urteil sie hat, indes sie dem Vorstellen fehlen. Wer urteilt, glaubt etwas, ist von etwas über- zeugt 1 ; nur eine ganz unverkennbare Erweiterung des Wort- gebrauches kann es ermöglichen, von Urteilen zu reden, wo das Subjekt seine Überzeugung in suspenso läfst. Jedem Urteile kommt ferner seiner Natur nach eine bestimmte Stellung zu innerhalb des Gegensatzes von Ja und Nein, von Affirmation und Negation. Habe ich in betreff des A oder in betreff seiner Verbindung mit B eine bestimmte Ansicht, eine Überzeugung,, so geht diese ganz unvermeidlich entweder dahin, dafs A ist, resp. AB ist, oder dahin, dafs A nicht ist, resp. A nicht B ist.. Und das gilt nicht nur im Falle gewissen, sondern nicht minder im Falle ungewissen Urteilens : auch wenn ich blofs vermute,.


1 Es ist kaum zu früh, schon jetzt darauf hinzuweisen, dafs hier und im Folgenden „Urteil“, ebenso aber auch „Glaube“ und „Überzeugung“ weit genug verstanden sind, dafs nicht nur (subjektive) Gewifsheit, sondern auch jeder Grad stärkerer oder schwächerer Vermutung einbegriffen ist. Das ist beim Ausdrucke „Überzeugung“ oder „Überzeugtheit“ als besonders gewaltsam verspürt worden, vgl. A. Höfler in den Gött. Gel. Anz. 1906,. S. 210, Anm. Aber es gibt doch sprachgebräuchlich jedenfalls Grade der Überzeugtheit: damit scheint mir die Anwendbarkeit des Terminus über den Fall der Gewifsheit (im strengen Sinne der obersten Vermutungsgrenze) hinaus gewährleistet, wenn ich auch nicht in Abrede stellen kann, dafs man schwache Vermutungen im täglichen Leben nicht als Überzeugungen gelten lassen würde. So meinte ich in dieser Hinsicht die Ausdrucksweise der ersten Auflage aufrecht erhalten zu können.


Erste Aufstellungen.


3


hat diese Vermutung unvermeidlich affirmativen oder negativen ( 'harakter.

Im Gesagten liegt eingeschlossen, was ich jetzt aber auch ganz ausdrücklich hervorheben zu sollen meine, nämlich dafs ich zum Charakteristischen am Urteil jene eigenartige Zweiteiligkeit nicht rechne, die speziell dem sogenannten kategorischen Urteil eigen ist und in der Gegenüberstellung von Subjekt und Prädikat, dem A und B im obigen Formelbeispiele, zur Geltung kommt. Ur- teilen ist Glauben, und geglaubt wird auch , wenigstens unter- normalen Umständen, wenn einer den Satz „A ist ’ 4 ausspricht. Manchen erscheint wohl heute noch jene Zweiteiligkeit, deren Eigenart auch im folgenden nicht ungewürdigt bleiben wird, so- wesentlich für das Urteil, dafs sie vorziehen, dort, wo sie fehlt, von „setzenden und nicht setzenden Vorstellungen zu reden 1 . . .‘- Ich glaube nicht, dafs diese Benennung sachgemäfs ist. Das A zwar im Paradigma „A ist“ mag ja immerhin zunächst mit Hilfe von Vorstellungen erfafst werden; aber so geläufig das Bild vom „Setzen“ geworden ist, am Ende wird das A eben doch nur er- fafst, und es zu „setzen“ steht nicht in unserer Macht, mindestens nicht in der unseres Erkennens. Wie käme überdies gerade die Vorstellung dazu, zu „setzen“? A wird ja in genau derselben Weise vorgestellt, mag „gesetzt“, oder „nicht gesetzt“ werden oder keines von beiden. Wer gleichwohl den Glauben, dafs A ist resp. nicht ist, nicht für ein Urteilen gelten lassen will, wird billigerweise berücksichtigen müssen, dafs ich mich im folgenden des Ausdruckes „Urteil“ in einigermafsen andererWeise bediene, und wird gegen meine Aufstellungen nicht Einwendungen er- heben dürfen, die sich ergeben, wenn mein Wortgebrauch durch den von mir abgelehnten ersetzt wird . 2

Die beiden oben namhaft gemachten Momente also, Über- zeugtheit und Position innerhalb des Gegensatzes von Ja und Nein, finde ich ausnahmslos bei allem, was Anspruch darauf hat, Urteil zu heifsen, und ich kann mich der Meinung nicht ent- schlagen, dafs keine Theorie irgend jemanden daran hindern

1 Vgl. D. H. Kerler, „Über Annahmen. Eine Streitschrift gegen A. v. Meinongs gleichnamige Arbeit.“ Ulm 1910, S. 3.

2 Dies ist, soviel ich sehe, eine der Wurzeln der von Kerler a. a. 0. vertretenen Einwürfe; vgl S. 33 f., wohl auch S. 12, 14 ff., 30. Von einer anderen, die vom betreffenden Terminus ebenfalls nicht unabhängig ist, soll sogleich unten S. 0 die Rede sein.


1 *


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Erstes Kapitel.


könnte, sie gleichfalls anzutreffen. Nur habe ich diese beiden Momente lange für blofs Eines gehalten, oder wenigstens das zweite für eine Art Determination des ersten, und zwar für eine jener Determinationen, die ohne das, was sie determinieren, nicht Vorkommen können. Dai's jede Überzeugung affirmativ oder negativ sein müfste, hätte mir stets selbstverständlich geschienen ; aber ich hätte nie erwartet, Affirmation oder Negation irgendwo zu finden, wo die Überzeugung fehlt. Dals dies nun gleichwohl möglich, ja nichts weniger als selten verwirklicht ist, dies nebst den Konsequenzen daraus macht ungefähr das Wichtigste dessen aus, was durch die folgenden Darlegungen erwiesen werden soll. Das erwähnte Zwischengebiet zwischen Vorstellen und Urteilen 1 ist dadurch sofort mitgegeben, sobald ausgemacht ist, dafs nicht nur die Überzeugtheit, sondern nicht minder auch der Gegen- satz zwischen Affirmation und Negation eine wesentlich vor- stellungsfremde Tatsache ausmacht.

Doch dürfte sich empfehlen, ehe in eine genauere Unter- suchung hierüber eingetreten wird, irgend einen der mancherlei diesem Zwischengebiete angehörigen Fälle einer möglichst un- mittelbaren Betrachtung zu unterziehen. Dies ist bei Tatsachen der in Rede stehenden Art leichter als bei Adelen anderen psychischen wie jDhysischen Geschehnissen, indem die Herstellung- geeigneter Tatbestände bei einigem guten Willen hier bis zur Unfehlbarkeit leicht gelingt, so wie sich auch die suggestive Kraft des gehörten oder gelesenen Wortes hier fast ausnahmslos bewährt. Ich versuche, von dieser Kraft Gebrauch zu machen, indem ich den Leser dieser Zeilen auffordere, sich etwa zu denken, die Buren hätten der englischen Übermacht nicht weichen müssen oder sie hätten seitens der Völker des europäischen Kon- tinents nicht nur Bewunderung und Sympathie, sondern auch politisch wirksame Unterstützung erfahren. Das begründete Be- fremden darüber, dafs in diesem Zusammenhänge ganz plötzlich Dinge vergangener Tagespolitik zur Sprache gebracht werden, wird den Leser schwerlich verhindert haben, meiner Aufforderung Folge zu leisten ; und er wird die Aufforderung hoffentlich auch


1 Dafs dieser zunächst dem Interesse erster Orientierung dienende Hinweis auf die Zwischenstellung präzisere Ausgestaltung gestattet, wird sich später ergeben ; vgl. insbesondere Kap. 10, § ß3f., wo sich auch Gelegen- heit finden wird, prinzipiellen Eimvendungen Rechnung zu tragen.


Erste Aufstellungen.


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nicht für unangebracht halten, wenn ich nun beifügen kann, dafs er, indem er meinem Verlangen nachgekommen ist, in sich eine jener Tatsachen hergestellt hat, die uns im folgenden zu be- schäftigen haben.

Das, wozu dieses erste Beispiel uns nun zunächst verhelfen soll, ist einmal ein angemessener Name für die Gegenstände dieser Untersuchung, — aufserdem eine erste Charakteristik dieser Gegenstände. In ersterer Hinsicht kommt uns der Umstand zu statten, dafs wir es mit einer Sache zu tun haben, die der Praxis des täglichen Lebens ungefähr in demselben Mafse geläufig ist, als die Theorie sie bislang vernachlässigt hat. Jedermann ver- steht es, wenn ich die Zumutung, die eben an den Leser gestellt worden ist, dahin kennzeichne, es habe sich darum gehandelt, den Leser zu veranlassen, eine bestimmte Annahme zu machen. Und was nun zweitens in betreff der Bedeutung dieses Wortes vor allem hervortritt, das ist ohne Frage die Gegensätzlichkeit zum Urteil, soweit das Moment der Überzeugtheit in Betracht kommt. Wie könnte ich auch den Leser dazu auffordern, etwas zu glauben , von dem er nur zu gut weifs , dafs es falsch ist? Dieses „Annehmen“ ist eben augenscheinlich etwas, das durch das Vorliegen einer gegenteiligen Überzeugung ganz und gar nicht beeinträchtigt wird. Ein anderes charakteristisches Moment ist vielleicht nicht ganz ebenso handgreiflich, indem es schon etwas mehr an psychologischem Blick voraussetzt: aber doch auch nicht allzuviel davon, wenn ich recht sehe. Denn in aller nur wünschenswerten Deutlichkeit scheint mir bei Betrach- tung dessen, was man in solch einer „Annahme“ vor sich hat, zunächst das hervorzutreten, dafs die Sachlage hier mit der beim Urteilen zwar nicht identisch, aber doch in irgend einer Weise verwandt, ihr ähnlich ist, — dann aber, dafs es hier doch wieder ganz anders zugeht, als wenn man einfach etwas vorstellt, z. B. eine Farbe, einen Ton, oder auch eine Melodie, eine Landschaft oder was sonst, falls die Vorstellung nur nicht etwa eine unan- schauliche ist, ein Vorbehalt, dessen Begründung in späteren Ausführungen zu finden sein wird . 1 Immerhin mag indes trotz der Deutlichkeit der Sachlage gerade dieser letzte Punkt, die

1 Unten Kap.VIII, wo sich freilich heraussteilen wird, dafs möglicher- weise auch schon die von den anschaulichen Vorstellungen genommenen Beispiele nicht frei von Ungenauigkeit sind. Doch dürfte dies der Brauch- barkeit dieser Beispiele, namentlich für den Anfang, keinen Eintrag tun.


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Erstes Kapitel.


Verschiedenheit gegenüber den Vorstellungen, nicht sofort jedem überzeugend sein : es soll daher sogleich unten versucht werden, den förmlichen Beweis hierfür anzutreten, der nur eine etwas ausführlichere Untersuchung verlangt, weshalb es angemessen sein wird, ihn resp. diese Untersuchung zum Gegenstände eines besonderen Paragraphen zu machen.

Das Wort „Annahme“ soll im folgenden als technischer Ausdruck für alle Erlebnisse gebraucht werden, von denen ich zu zeigen hoffe, dafs sie jenem Zwischengebiet zwischen Vorstellen und Urteilen angehören . 1 Dafs damit der Sinn, in dem hier von Annahmen die Rede sein soll, nur in ganz vorläufiger Weise, zum Zwecke erster Orientierung bestimmt sein will, wird jedem, der von dieser Bestimmung mit einigem guten Willen Kenntnis genommen hat, selbstverständlich sein. Genaueres mufs sich aus eingehenderer Bekanntschaft mit den einschlägigen Tatsachen ergeben, die zu gewinnen die folgenden Untersuchungen zum Ziele haben. Grofsen Wert meine ich aber darauf legen zu müssen, dafs nicht etwa jemand mit einer vor der Untersuchung gebildeten Annahmedefinition (oder einer diese ersetzenden defi- nitorischen Bestimmung) an das Folgende kritisch herantrete, um dann zu finden, dafs dieses mit jener Definition nicht stimmt . 2

1 Der Theorie hat den Gedanken wie den Namen als erster wohl G. Frege nutzbar gemacht, worauf ich durch B. Russell aufmerksam ge- worden bin („Meinong’s theorie of complexes and assumptions“, Mind, N. S., 13, S. 341 Anm. 1, auch S. 206 Anm. 1). Sollte es einmal, wofür jetzt doch schon manches spricht, eine Geschichte der Annahmelehre geben, dann wird wohl an deren Spitze ein Satz aus Freges Vortrag über „Funktion und Begriff“ (Jena 1891) zu stehen verdienen, der deshalb hier im Wort- laute wiedergegeben sei: „Diese Trennung des Urteilens von dem, worüber geurteilt wird, erscheint unumgänglich, weil sonst eine blofse Annahme, das Setzen eines Falles, ohne gleich über sein Eintreten zu urteilen, nicht ausdrückbar wäre“ (a. a. 0. S. 21 f.).

2 Das scheint mir der schon oben berührte (vgl. S. 3, Anmerkung) einigermafsen terminologische Mangel Von D. FI. Kerlers Kritik. Unter „Vervollständigung“ (D. H. Kerleu „Über Annahmen“, S. 4) meiner obigen Bestimmung definiert er (a. a. 0. S. 30): „Annehmen heifst, etwas dem besseren Wissen und dem Sachverhalte zuwider oder auch denselben igno- rierend als seiend setzen“*; ohne „ein Hinwogsetzen über den Sachverhalt oder ohne „eine Fälschung desselben . . . kann von einer Annahme nicht ge- sprochen werden“. Der Begriff der „Annahme“, den die folgenden Dai- legungen legitimieren sollen, ist sicher weiter: wie aber sollte der Umstand, dafs Kekler enger definiert, eine Einwendung gegen diese Darlegungen begründen ?


Erste Aufstellungen.


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Es könnte ja, eben weil der Untersuchung vorangehend, doch nur entweder eine Angabe über den Sprachgebrauch oder eine °-anz willkürliche Nominaldefinition sein. Letzterer fehlte natür-

ö #

lieh jede autoritative Bedeutung: erstere dagegen, falls sie un- bestritten gelingt, verdiente gewifs nach Tunlichkeit berücksichtigt zu werden, und auch ich bin bei der Wahl des Wortes „Annahme" bemüht gewesen, die Fühlung mit dem Sprachgebrauch nicht zu verlieren. Aber mein Vorwurf ist nicht zunächst das, was und sofern es „Annahme“ genannt wird : mein Vorwurf sind gewisse Erlebnistatsachen, für die mir die Bezeichnung „Annahme“ unter den verfügbaren Wörtern am besten geeignet scheint, deren charakteristische Eigenschaften jedoch erst nähere Erforschung zu ergeben hat, um dadurch zugleich auch die wissenschaftlich ge- klärte Bedeutung und das mit dieser gegebene Anwendungsgebiet des Wortes „Annahme“ ins reine zu bringen.

Übrigens kann schon jetzt konstatiert werden, dafs der von uns technisch zu verwendende Ausdruck mit allen Seinesgleichen, sofern sie dem Sprachschätze des täglichen Lebens entnommen sind, den Übelstand teilt, seinem überkommenen Anwendungs- gebiete nach nicht völlig mit dem zusammenzustimmen, was er nun im theoretischen Gebrauche zu bezeichnen haben soll. Dafs er dies oder jenes „annehme“, sagt man 1 auch von dem, der urteilt, aber 'seine Überzeugung oder Meinung bewufst und daher einiger- mafsen willkürlich aus unzureichenden Gründen schöpft. In diesem Sinne kann einer „annehmen“, dafs der Gewährsmann, auf den er zu seiner Orientierung praktisch angewiesen ist, sich ausreichend genau wird unterrichtet haben; ähnlich mag der Kaufmann sich oft genug begnügen müssen, „anzunehmen“, dafs der neue Kunde, dem er eine ivertvolle Ansichtssendung ins Haus stellt, ihn nicht zu schaden kommen lassen werde u. dgl. Zwar wird sich zeigen, dafs das Moment der willkürlichen Beeinflufs- barkeit, das sonst gerade dem Urteile besonders fern steht, den „Annahmen“ in diesem zweiten Sinne eine gewisse V erwandtschaft mit dem sichert, wofür im folgenden das Wort ausschliefslich Vorbehalten bleiben soll. Übrigens aber sind diese „Annahmen“ im zweiten Sinne eben Urteile, und es hiefse die hier vertretene


' Von der übertragungsfreien Grundbedeutung des Wortes, der gemäfs man Geschenke, Wohltaten „annimmt“ u. dgl., hier natürlich ganz abge- sehen.


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Erstes Kapitel.


technische Bedeutung des Wortes um einen ihrer charakteristi- schesten Züge bringen, ja die ganze hier vertretene theoretische Konzeption verwischen, wenn man den Ausdruck weit genug gebrauchen wollte, um auch Fälle dieser zweiten Art einzube- greifen . 1 Durch ausdrücklichen Ausschlufs dieser Fälle wird die Theorie von dem ihr zustehenden Rechte, die verfügbaren Aus- drucksmittel ihren Bedürfnissen unterzuordnen , wohl keinen unerlaubten Gebrauch machen.

§ 2.

Das Negative gegenüber dem „blofs Vorgestellten”.

Dafs man in dem oben vorgeführten ersten Beispiel einer „Annahme“ kein Urteil vor sich habe, darüber ist sich, wie berührt, wohl jedermann ohne weiteres klar. Nicht dasselbe dürfte von der zweiten oben aufgestellten Behauptung gelten, dafs hier auch der Fall des blofsen Vorstellens ausgeschlossen sei. Vielmehr wird es, wenn ich nach mir selbst urteilen darf, kaum irgend jemanden geben, der einigermafsen gewöhnt ist, seine inneren Erlebnisse unter psychologischen Gesichtspunkten zu betrachten, und der nicht schon den verschiedensten solcher Annahmen gegenüber ohne sonderliche Überlegung zu der Meinung gelangt wäre, dafs es sich da um nichts w T eiter als eben um Vorstellungen handle. Ich stelle mir eben vor, die Buren hätten nicht blofs Worte zu hören, sondern auch Taten zu sehen bekommen, ganz ebenso, wie ich mir vorstellen kann, ich wäre um zwanzig Jahre jünger, oder die Psychologie hätte von ihren aufserphilosophischen Nachbarwissenschaften ausnahmslos fördern- des Entgegenkommen zu erwarten, oder wer weifs was Unglaub- liches sonst. Nun meine ich jetzt freilich, wie bereits bemerkt, durch direkte Wahrnehmung zur Erkenntnis zu gelangen, dafs hier mehr vorliege als blofses Vorstellen ; ich würde erforderlichen Falles auch keinen Anstand nehmen, die hier eingenommene Position auf das Zeugnis direkter Empirie allein zu stützen. Aber es ist mir eine erwünschte Sicherung, zugleich für den-

1 Diesen anderen Wortsinn auch wirklich ganz aus dem Spiele zu lassen, ist vielleicht schwerer, als man auf den ersten Blick glauben möchte. Irre ich nicht, so ist an D. H. Kerlers Opposition der Umstand nicht ganz unbeteiligt, dafs ihm das nicht immer gelungen ist (vgl. a. a. 0. S. Ulf., 161 , 17 , 25 , 27 ).


Erste Aufstellungen.


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jenigen, der den Annahmen zum ersten Male seine Aufmerk- samkeit zuwendet, ein besonders nachdrücklicher Hinweis auf die Eigenart der hier gegebenen Sachlage, dal's es einen Gesichts- punkt gibt, unter dem sich die Unzulänglichkeit „blofsen Vor- stellens“ für dieselbe mit voller Stringenz erweisen läfst.

Dieser Gesichtspunkt kommt zur Geltung, wenn Annahmen negativ sind. Unser Ausgangsbeispiel, das ja näher besehen nicht nur eine Annahme ausmacht, enthält eine Illustration hierfür, und im allgemeinen ist es natürlich ebenso leicht, negative als affirmative Annahmen zu bilden. Denn die Negation ist niemals Sache des Vorstellens, obwohl sie natürlich niemals ohne Vorstellung auftreten wird; wo immer sich daher eine Negation vorfindet, dort ist der Bereich blofsen Vorstellens ganz gewifs überschritten. Auch dies wird vielleicht manchem schon auf den ersten Blick einleuchten. Bei der Wichtigkeit der Sache scheint mir hier aber doch eine nähere Erwägung am Platze, auf die Gefahr hin, damit Überflüssiges zu tun, und ungeachtet des Umstandes, dafs damit in eine Art Voruntersuchung ein- getreten wird, die uns vorübergehend vom eigentlichen Gegen- stände dieser Darlegungen abzieht . 1

Es scheint nämlich die eben als nahezu selbstverständlich angesprochene Behauptung, dafs die Negation aufserhalb des Vorstellens stehe, eine ebenso umfassende als bekannte Gruppe von Vorstellungstatsachen gegen sich zu haben. Man redet doch ganz ungezwungen von negativen Vorstellungen oder noch lieber „negativen Begriffen“, und die Logik hat von alters her viel Sorgfalt auf deren Bearbeitung gewendet. Kann ich aber „Nicht-Rot“, „Unausgedehnt“, „Unendlich“ kurzweg vorstellen, dann wird man billig fragen dürfen, warum die Annahme, dafs es etwa nicht regnet, oder dafs es Menschen ohne Fehler gebe, nicht ebenfalls durch blofses Vorstellen zustande gebracht werden könnte. Was haben wir also von solchen „negativen Vor- stellungen“ zu halten? Dals es sich da um Tatsachen handelt, die mit den oben als „Annahmen“ bezeichneten recht wenig gemein haben, mag manchem bis zur Handgreiflichkeit selbst- verständlich erscheinen. Ob dieser Schein nicht trügt, soll sich


Kh mag mit Rücksicht hierauf den Bedürfnissen manches Lesers angemessener sein, den Rest des gegenwärtigen Paragraphen (aufser etwa die Schlufsbemerkungen) zu übergehen.


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Erstes Kapitel.


später zeigen 1 ; für jetzt wäre der Sache der Annahmen aus- reichend gedient, wenn sich zeigen liefse, dafs selbst dort, wo die Sachlage sich dem Beschauer in besonderem Mafse als sozu- sagen vorstellungsmäfsig präsentieren mag, jedes erfafste Nega- tivum auf etwas anderes als eine Vorstellung hinweist.

Dabei kann eine Vorfrage nicht ganz übergangen werden. Wo liegt in den mancherlei Fällen, in denen man, gleichviel ob mehr oder weniger korrekt resp. genau von „negativen Vor- stellungen“ reden mag, wo also liegt da eigentlich das „Negative“? Jedesmal erfasse ich hier in irgend einem Sinne 2 Non-M, während ich sonst A erfasse. Es handelt sich also um einen Unterschied in betreff dessen , was erfafst wird , dessen also, was jedem intellektuellen Erlebnisse als sein Gegenstand, das Wort im weitesten Sinne verstanden 3 , gegenübersteht. In diesem Sinne sind Unendlichkeit, Unsterblichkeit ohne Zweifel Gegenstände, nicht minder Grenze, Loch, sogar das vielberufene Nichts. Zum A kommt also im Non-M noch ein weiteres gegenständliches Moment, das „Non“ sozusagen hinzu: es soll hier ganz vorübergehend als der Gegenstand N bezeichnet werden, dem gegenüber nun die Frage zu beantworten ist, ob diesen Gegenstand zu erfassen in ähnlicher Weise Sache des Vorstellens heifsen darf, wie dies hinsichtlich des A ja mit gutem Recht der Fall sein mag.

Die Frage wird unschwer zu beantworten sein, wenn wir uns zuvor daran erinnern, dafs unsere Vorstellungen nach der Weise, in der sie gleichsam in unseren intellektuellen Besitz gelangen, in zwei grofse Gruppen zerfallen. Was Blau oder Grün ist, erfahren wir: Ähnlichkeit oder Verschiedenheit können wir nicht ebenso mit Augen sehen oder mit Ohren hören. Aber wenn wir etwa Gesehenes vergleichen, so erzeugen, produzieren wir vermöge dieser Tätigkeit Vorstellungen, durch die wir Ähn- lichkeit oder Verschiedenheit ebenso erfassen wie Blau oder Rot durch Empfindungen. Den Wahrnehmungsvorstellungen treten


1 Unten Kap. VIII.

2 Die in dieser Hinsicht sich geltend machenden Verschiedenheiten, die Sigwaht mit Recht betont hat (Logik 2. Aull., I, S. 161 ff.) können hier unberücksichtigt bleiben.

3 Dem Sinne, in dem sich die Gegenstandstheorie damit beschäftigt; vgl. die von mir herausgegebenen „Untersuchungen zur Gegenstandstheorie und Psychologie“, Leipzig 1904, S. 1 ff. — sowie unten Kap. III, § 8.


Erste Aufstellungen.


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so produzierte oder Produktionsvorstellungen an die Seite 1 ; die Reproduktion bemächtigt sich eventuell der einen wie der anderen Vorstellungen, die übrigens hinsichtlich der durch sie natur- gemäfs erfafsten Gegenstände so charakteristisch verschieden sind, dafs, da die Gegenstände durch die Reproduktion sozusagen un- berührt bleiben, es sehr wohl angeht, auch bei den reproduzierten Vorstellungen die in ihrer Provenienz liegende Gegensätzlichkeit im Auge zu behalten. Der Fall der Reproduktion kann also ohne weiteres für einbegriffen gelten, wenn wir nun auch be- züglich einer allfälligen, unser gegenständliches Moment N er- fassenden Vorstellung davon ausgehen, dafs dieselbe entweder der Analogie der Wahrnehmungs- oder der der Produktions- vorstellungen folgen müfste. Die Disjunktion ist so gut wie unser psychologisches Wissen, dafs es Vorstellungen, die weder Wahr- nehmungs- noch Produktionsvorstellungen, und auch nicht Repro- duktionen derselben sind, nicht gibt.

Auf Grund dieser Disjunktion ist nun vor allem die Frage zu erheben: kann das Erfassen unseres Negativums N irgendwie einer Wahrnehmungsvorstellung zugeschrieben und so in irgend einer Weise auf Wahrnehmung zurückgeführt werden? Das klare Wesen der Wahrnehmung gestattet keinen Zweifel daran, dafs hierauf nur mit Nein zu antworten ist. Eine übrigens nichts weniger als erhebliche Gefahr, dies zu verkennen, liegt darin, dafs es möglich ist, auch nicht allzu selten vorkommt, dafs man auf gehörte Worte von zunächst negativer Bedeutung mit positiven Vorstellungen, genauer Vorstellungen mit positiven Gegenständen reagiert, und zwar nicht nur bei festgewordenen Zusammensetzungen wie „unklug" oder gar sprachlich unzu- sammengesetzten Ausdrücken wie „blind“ oder „taub“, sondern auch sonst. Soll ich mir ein „Messer ohne Klinge“ vorstellen, so kann die Vorstellung eines Messerheftes hierfür einen ganz positiven Repräsentanten abgeben. Statt „nicht starken Ton“ stellt man leicht „schwachen Ton“ vor usf. Das ist ein Aus- kunftsmittel, das in vielen Fällen sicher ausreicht , manchmal

.Begrifi und Terminus „Vorstellungsproduktion“ ist zuerst fixiert in der ersten Auflage dieser Schrift, S. 8f. Näheres über die Sache findet man bei R. Ameseder, „Über Vorstellungsproduktion“ in den Grazer „Unter- suchungen zur Gegenstandstheorie und Psychologie“, S. 481 ff., — leichter Zugängliches jetzt in St. Witaseks „Grundlinien der Psychologie“ Leinzi" 1908, S. 99 f. und sonst.


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sogar geradezu Vorteil bietet: aber den vorgegebenen Worten gegenüber läfst man sich damit eine zweifellose Ungenauigkeit zu schulden kommen, allerdings eine, wie sie im Verhalten zum sprachlichen Ausdrucke auch sonst nichts weniger als selten ist. Es ist daher auch nicht statthaft, im Hinblicke auf solche Tat- sachen von der Wahrnehmung negativer Gegenstände zu reden.

Nicht ganz so einfach gestaltet sich die Entscheidung hin- sichtlich der zweiten noch übrigen Eventualität, wir könnten zur Vorstellung des Gegenstandes N vielleicht durch Produktion gelangen. Diese zweite Möglichkeit ebenso a limine abzulehnen wie die erste, verbietet schon der Umstand, dafs von der charakte- ristischen Beschaffenheit, die, wie eben berührt, den Gegen- ständen produzierter Vorstellungen eignet, an unserem N einiges sofort wiederzufinden ist, wenn man den natürlichen Sinn des Ausdruckes Non-A in Betracht zieht. Denke ich an Nicht-Rot, so ist das freilich etwas anderes als wenn ich an Rot denke: aber fast ebenso selbstverständlich ist es, dafs ich an Nicht-Rot so wenig denken kann, ohne an Rot zu denken, wie ich etwa im- stande wäre, den Gedanken „ähnlich einer Glocke“ zu bilden ohne den Gedanken an die Glocke. Mit Bezugnahme auf meine einschlägigen Ausführungen an anderem Orte 1 kann ich hier sogleich kurz sagen: negative Gegenstände (von der Form Non-A) sind stets auf positive Gegenstände (von der Form A) als auf ihre Inferiora gebaut, sie sind selbst Gegenstände höherer Ordnung.

Nun führt aber die Analogie des Beispieles von der Ähnlich- keit noch weiter. Zwar verlangt ein Gegenstand höherer Ordnung normalerweise eine Mehrheit von Inferioren: von Ähnlichkeit könnte nicht die Rede sein, wenn aufser der Glocke unseres Bei- spiels nicht noch etwas anderes in Frage käme. Aber hierin ist die Formel „Non-A“ um nichts ungünstiger gestellt wie etwa die Formel „dem A ähnlich“ und so wenig ich den Ähnlichkeits- gedanken nur mit Hilfe des A allein konzipieren könnte, so wenig brauchte ich imstande zu sein, den Gedanken des Nega- tivums blofs mit Hilfe dessen zu bilden, was negiert wird. Im Gedanken des Non-A steckt ja nicht nur das A, sondern auch,


1 „Über Gegenstände höherer Ordnung und deren Verhältnis zur inneren Wahrnehmung“, Zeitschrift für Psychologie u. Physiologie <1. Sinnesorgane 21, S. 189 ff.


Erste Aufstellungen.


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ja im Grunde zunächst, eben das, was das A nicht ist. Der Sachverhalt würde sich also näher so darstellen: der Gedanke an das Negativunr erwächst von Haus aus nicht aus dem A allein, sondern es ist auch noch ein X gegeben, von dem be- hauptet werden kann oder doch wird, es sei nicht A, ganz ebenso, wie die Ähnlichkeit zunächst zwischen dem A und noch einem zweiten Gegenstände, etwa Y, statuiert werden mufs. Und wie dann an dem durch Vergleichung gebildeten eigenartigen Kom- plexe A Y die Abstraktion angreift, und so aus dem Gedanken „ A ähnlich Y u den Gedanken „Ähnlichkeit mit A il oder „ähnlich dem A“ bildet, ebenso könnte aus dem wieder andersartigen Komplexe A X resp. dem Gedanken „ X ist nicht A“ eine ab- strakte Vorstellung „etwas, das A nicht ist“ oder kurzweg Non-A zustande kommen. Mit der ursprünglichen Zweiheit der Funda- mente ist dann zugleich auch die produzierende Tätigkeit ins reine gebracht: was dort die Vergleichung, leistet hier das Urteil, näher natürlich das negative Urteil. Man kann dann sagen : das Negativum, genauer der negative Gegenstand ist zunächst mit Hilfe des Urteils erfafst, selbst aber zuletzt kein blofser Urteils- sondern ein Vorstellungsgegenstand, der erforderlichen Falles auch ohne Urteil erfafst werden kann. Man kann dann den Schein der Übereinstimmung noch weiter treiben, indem man statt der Ähnlichkeit die Verschiedenheit zum Vergleich heran- zieht, Die Gedanken „Non-A“ und „von A verschieden“ geben sich nicht nur der Form, sondern sozusagen auch der Sache nach so verwandt, dafs man hier geradezu versuchen kann, das eine für das andere zu nehmen.

Inzwischen tritt gerade in der letzten Stufe dieser Klimax deren Unannehmbarkeit auch schon besonders deutlich zutage. Der Versuch zwar, Verschiedenheit und Negation für wesens- gleich zu nehmen, möchte schon mehr als einem reduktions- lustigen Theoretiker nahe gelegen haben, aber immerhin doch nur in der Intention, Verschiedenheit auf Negation, nicht aber Negation auf Verschiedenheit zurückzuführen. Und ein Unter- nehmen letzterer Art täte den Tatsachen in so unverkennbarer Weise Gewalt an, dafs der ausdrückliche Hinweis auf diese Tat- sachen dem Vorwurfe der Überflüssigkeit kaum entgehen wird. Gleichwohl soll der Beziehungen zwischen Verschiedenheit und Negation hier wenigstens mit einigen Worten gedacht sein.


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Wer dem Gedanken nachgeht, ob das Urteil „Ä ist ver- schieden von B “ nicht durch das Urteil „A ist nicht B“ zu er- setzen wäre, stöfst sofort auf das Hindernis, dafs es bei der Verschiedenheit Grade gibt, bei der Negation hingegen nicht, die ja ihrem Wesen nach völlig steigerungsunfähig ist . 1 Nun kann man sich aber leicht davon überzeugen, dafs es aufser dieser J steigerungsfähigen 2 auch noch eine steigerungsunfähige Relation gibt, zu deren Bezeichnung das Wort „Verschiedenheit“ sprachgebräuchlich ganz wohl anwendbar ist : den Gegensatz zur Identität, jene Nicht-Identität, die zwischen Gelb und Orange ebenso besteht wie zwischen Gelb und Rot, ja selbst Gelb und Blau, obwohl die Verschiedenheiten zwischen diesen drei Farben- paaren, das Wort „Verschiedenheit“ in steigerungsfähigem Sinne verstanden, keineswegs gleich sind. Vielleicht sollte die Relations- theorie die Verwendung des Wortes „Verschiedenheit“ im zweiten, steigerungsunfähigen Sinne 3 als ungenau und irreführend besser vermeiden : ohne Zweifel ist es aber eben nur diese steigerungs- unfähige Verschiedenheit, deren Eigenartigkeit gegenüber der Negation in Frage kommen kann.

In der Tat hat es auch ziemlich viel für sich, zu vermuten, diese „Verschiedenheit“ möchte der Negation im kategorischen Urteile analog gegenüberstehen wie der Affirmation die Identität. Wie aber, wenn man daraus nicht zu schliefsen versuchte, dafs eine solche Verschiedenheit in gewissem Sinne auf Verneinung zurückgehe, sondern dafs umgekehrt das Verneinen im Grunde nur das Vorstellen (und natürlich Affirmieren) einer solchen „Ver- schiedenheit“ sei? Man braucht demgegenüber nur an eine Existentialnegation zu denken, um über die völlige Unhaltbarkeit dieser Auffassung im klaren zu sein: wer möchte sich auch ver- sucht fühlen, etwa in der Behauptung, dafs es kein Perpetuum mobile gebe, ein Verschiedenheitsurteil ausfindig zu machen ? 4 Förderlicher, weil sogleich auf den uns hier nächststehenden Fall


1 Sollte dies jemand, Avas an dieser Stelle freilich kaum zu gewärtigen ist, mit Rücksicht auf die Möglichkeitsgrade (vgl. unten Kap. III, § 131 in Zweifel ziehen, so genügt hier wohl, darauf aufmerksam zu sein, dafs derlei Möglichkeitsgrade mit Verschiedenheitsgraden, also diese Steigerungs- fälle mit den Steigerungen der Verschiedenheit nicht das Geringste zu schaffen haben. Dafs Schwarz A r on Weifs mehr verschieden ist als von Grau, besagt sicher nicht, es sei für das Schwarz leichter möglich oder etwa auch wahrscheinlicher, nicht Weifs als nicht Grau zu sein.

2 Von ihr, aber eben nur von ihr, gilt die Positivität des Verschieden- heitsgedankens, auf die B. Russell hinweist („Meinong’s theory of complexes and assumptions“ II, Mind, N. S., XIII, S. 338).

3 Vgl. auch Hus8erl, „Philosophie der Arithmetik“, Halle a. S. 1891, Bd. 1, S. 57 f., wo freilich im einzelnen manches recht angreifbar sein möchte.

1 Gegen eine so unnatürliche Interpretation wie etwa: „Alles, was existiert, ist vom Perpetuum mobile verschieden“ braucht wohl nicht aus- drücklich Stellung genommen zu werden. Immerhin hatte ich Anlafs, einem verwandten Gedanken an anderem Orte („Über die Stellung der Gegenstands- theorie im System der Wissenschaften“, Leipzig 1907, S. 381.) entgegenzu- treten.


Erste Aufstellungen.


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des kategorischen Urteils anwendbar, ist aber noch ein anderer Gesichtspunkt. Gesetzt, jemand spreche, indem er erst an Eisen, dann an Nickel denkt, hintereinander die beiden Sätze aus: ...Das Metall, an das ich jetzt denke, rostet“, und dann : „Das Metall, an das ich jetzt denke, rostet nicht“. Der Hörende, der keinen Anlafs hat, an der Richtigkeit der beiden ihm vorge- sprochenen Urteile zu zweifeln, der sie demnach gläubig mit- urteilt, verbindet in seinen beiden Urteilen die Gegenstände „Metall“ und „Rosten“. Wer vermöchte nun, wenn er die Urteile auch noch so sorgsam miteinander vergleicht, im zweiten Falle normalerweise noch das Hinzutreten eines weiteren Gegenstandes ..Verschiedenheit“ zu erkennen, der dem Metalle hier in ähnlicher Weise zugesprochen würde, wie dem Metalle des ersten Urteils das Rosten? So bleibt es eine handgreiflich aussichtslose Sache, aus einem sozusagen lebendigen negativen Urteile die Negation gleichsam herausinterpretieren zu wollen. Möchte es dann aber wesentlich aussichtsvoller sein, Ähnliches dort zu versuchen, wa uns die Negation in der immerhin etwas erstarrteren Form eines „Non-H“ entgegen tritt ? Dafs gleichwohl allenthalben „Non-M“ durch „von A verschieden“ oder eventuell „ein von A Ver- schiedenes“ ersetzt werden kann, bleibt nach wie vor verständ- lich, wenn man hier eine „Verschiedenheit“ vor sich hat, clie selbst, wie oben angedeutet, auf die Negation zurückführt.

Es geht also in keiner Weise an, in unserem Negativum N einen Fall von Verschiedenheit zu sehen. Darum könnte aber immer noch das Erfassen hier wie dort auf Vorstellungsproduktion zurückgehen : der Zusammenhang von Produktion und Fundierung' ist geeignet, hierüber Aufschlufs zu geben. Er besteht darin, dafs, wo unter Verwendung zweier oder mehrerer Vorstellungen vermöge einer bestimmten Operation eine neue Vorstellung pro- duziert wird, die Gegenstände der sozusagen produzierenden Vor- stellungen die Fundamente abgeben für den Gegenstand der produzierten Vorstellung, der stets ein Gegenstand höherer Ord- nung ist von der Beschaffenheit derjenigen, für die sich die Be- nennung „fundierte Gegenstände “ * 1 ausreichend bewährt haben dürfte . 2 Wir finden uns also vor die Frage gestellt, ob unser

1 Vgl- «Über Gegenstände höherer Ordnung usw.“ a. a. 0. S. 200f.

1 Dafs das dem Terminus „Fundierung“ zugrunde liegende Gleichnis aucli noch zur sprachlichen Fixierung anderer Begriffe hätte verwendet werden können, versteht sich. Dem Ziele weitestgehender Klarheit und

Übereinstimmung in der Terminologie war aber dadurch kein Dienst ge- leistet, dafs E. Hussehl (Log. Unters. Bd. II, S. 254 ff.), dem von mil- dem wissenschaftlichen Gebrauche zugewendeten Worte nachträglich eine andere Bedeutung zu geben versucht hat, von der er nicht mitteilt, was sie


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Negativura N als Fundierungsgegenstand angesehen werden kann, der dann natürlich immerhin auch die Eventualität ins Auge zu fassen gestattet, er möchte, nachdem seine Vorstellung erst einmal produziert worden ist, nun auch ohne einen neuen Produktions- vorgang, also eben reproduktiv erfafst werden, wie man auch an Gleichheit oder Ähnlichkeit denken mag, obwohl man zurzeit gerade nicht vergleicht. Nun steht uns aber, diese Frage zu beantworten, eine eben so einfache als entscheidende Erwägung zu Gebote. Fundierte Gegenstände sind mit ihren Fundamenten durch Notwendigkeit verknüpft * 1 : Rot und Grün sind nicht nur verschieden, sondern sie müssen es auch sein ; ebenso ist 3 nicht nur tatsächlich, sondern auch notwendig gröfser als 2 usf. Nun gibt es gewifs auch Negationen, die mit Notwendigkeit gelten: zwischen Rot und Grün ist gewifs die Gleichheit ganz ebenso notwendig zu negieren, als die Verschiedenheit zu af firmieren ist. Aber ganz ebenso gewifs gibt es Negationen, an denen Not- wendigkeit keinen Anteil hat: dafs der losgelassene Stein sich gegen die Erde bewegt und nicht von ihr weg, das ist eine Er- kenntnis, die, wenigstens vor dem Forum menschlichen Wissens, ihrer affirmativen wie ihrer negativen Seite nach gleich wenig Anspruch auf notwendige Geltung erheben dürfte. An dem Non-A als solchem haftet also noch keine Notwendigkeit, und dann hat man darin auch keinen fundierten Gegenstand vor sich.

Damit scheint mir der Nachweis erbracht, dafs eine Vor- stellung, die unser Negativum N zum Gegenstand hätte, auch nicht im Gebiete der produzierten V orstellungen und ihrer Repro- duktionen anzutreffen ist. Dafs es dann aber eine Vorstellung dieses Gegenstandes überhaupt nicht gibt, das ist freilich nicht besser, aber doch sicher ebensogut beglaubigt als die Vollständig- keit der Disjunktion zwischen Wahrnehmungs- und Produktions- vorstellungen resp. ihren Reproduktionen. 2 Übrigens hat dieses


vor der von mir angeregten voraus habe. Vgl. übrigens schon ß. Ameseder in den Grazer „Unters, zur Gegenstandsth. u. Psychol.“ S. 72 Anm. 2.

1 „Über Gegenstände höherer Ordnung usw.“ a. a. O. S. 202. — B. Rüssels („Meinong’s theory of complexes and assuiuptions“ I, Mind, N. S., IS, S. 208 f.) prinzipiellen Bedenken habe ich entgegnet in „Über die Stellung der Gegenstandstheorie im System der Wissenschaften“, S. 55f. Vgl. auch unten Kap. III, § 13.

2 Damit erledigen sich, wie ich glaube, die Ausführungen D. H. Kehlers auf S. 4 ff. seiner Streitschrift „Über Annahmen“, denen gegenüber jedoch


Erste Aufstellungen.


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Ergebnis, wenn ich nicht sehr irre, auch schon den Erkenntnis- instinkt des Naiven durchaus auf seiner Seite. Ein solcher spürt eben ohne sonderliches Nachdenken, wie toto genere verschieden dieser Gegenstand X allem gegenübersteht, was uns Vorstellung unbeschadet der unerschöpflichen Mannigfaltigkeit ihrer Gegen- stände zu bieten vermag. Es ist dies ein vortheoretischer Ein- druck, dessen sich theoretisch zu bemächtigen weiter unten 1 unsere Aufgabe sein wird.

Ein Vorbehalt freilich darf dabei nicht unerwähnt bleiben. Wird an der Vorstellung des A und der eines X irgend etwas gemeinsam vorgenommen, was immer es sei, so begründet dies natürlich eine Relation zwischen den beiden Vorstellungen und damit auch zwischen den Gegenständen A und X zunächst als Pseudoexistenzen . 2 So unter anderem auch, wenn ich das X vom A oder das A vom X affirmiere oder negiere; und ist dieses 'Urteil berechtigt, so hat es auch einen ganz guten Sinn, darauf hin von einer Relation zwischen dem A und dem X zu reden, die eben im Stattfinden oder in der Geltung jenes Urteils besteht. Insofern liegt also auch darin, dafs X nicht A ist, eine Art Relation zwischen X und A, die sich cum grano salis vorstellen lassen mag, und dadurch ist dann auch ein Weg gefunden, durch Abstraktion .zu etwas wie einer Vorstellung des Non-M zu ge- fangen. Nun erwäge man aber, was für einen Apparat, wenn man so sagen darf, eine derartige Vorstellung voraussetzt. Um an „ein Nicht-Rundes“ zu denken, hätte ich den Gedanken zu konzipieren: „Etwas, von dem das Urteil gilt, es sei nicht rund“. Während hier jeder Unvoreingenommene meinen wird, sich mit seinem Vorstellen im Gebiete der Gestalten zu bewegen, hätte man in Wahrheit aufser an Rund auch noch an etwas von Ge- stalten ganz Verschiedenes, nämlich an das negative Urteil und dessen Verhältnis zu dem, wovon es „gilt“, zu denken. Das ist


(vgl. auch ebenda S. 18 f.) allerdings die Darstellung der ersten Auflage gegenwärtiger Schrift wirklich nicht in allen Punkten aufrecht bleiben kann. Weder meiner Ansicht, noch der Sache scheint mir dagegen S. 5 ff. hinsichtlich „Gegenstand und Inhalt“ gerecht zu werden (vgl. unten bes. § 13, § 45). Kerler bemerkt übrigens selbst (S. 9 f.), „der Gegenstand der Vorstellung wäre ... in Meinongs Terminologie das, was ich das , Ansich 1 nenne“ nur drückt er das dann auch so aus, dafs „Gegenstand“ von mir „meist mit dem Ansich verwechselt“ werde (S. 11), was zu ähnlichen Bemerkungen wie oben S. 8 Anm. und S. 6 Anlafs böte. Übrigens ist aber Kereers „Ansich“ gar nicht mein „Gegenstand“, wie seine Ausführungen S. 21 ff. ergeben. Nur sind auch da Unfertigkeiten meiner ersten Darstellung beteiligt, die jetzt Kap. VII zu beseitigen versuchen wird.

1 Vgl. unten Kap. III.

„Über Gegenstände höherer Ordnung usw.“, a. a. 0. S. 186 f.

Meinong, Über Annahmen, 2. Aufl. 2


18


Erstes Kapitel.


natürlich möglich; aber das Hereinziehen psychologischer und logischer Dinge in das in der Regel ganz anderen Interessen zugewandte Denken ist eine so auffallende Sache, dafs derlei, wo es sich zuträgt, auch schon flüchtiger Beobachtung nicht wohl entgehen kann. Nun vermag aber bei den sogenannten negativen Vorstellungen, vielleicht ganz seltene Ausnahmen ab- gerechnet, auch die gespannteste Aufmerksamkeit von einem Um- wege eben beschriebener Art nichts zu entdecken. Praktisch kommt also die Möglichkeit dieses Umweges völlig aufser Be- tracht und soll auch im folgenden aufser Betracht bleiben.

Dagegen mufs hier noch die Möglichkeit berücksichtigt sein, die geschilderte Komplikation herabzusetzen, indem man sich sozusagen der psychologischen Komponente entledigt und so nur noch die logische zurückbehält. Es ist im Grunde eine Antizi- pation späterer Untersuchungen *, aber jedem Praktiker des Er- kennens ohne weiteres klar, dafs wer sagt (und denkt), „es ist wahr, dafs X nicht A ist“, dabei durchaus an kein Urteilserlebnis- denken mufs. Was dann eigentlich dasjenige ist, woran er zu denken hat, bleibe jetzt noch dahingestellt; sicher ist jedoch, dafs er ebensowenig an das Urteilen denken mufs, wenn er sagt: „es ist falsch, dafs X A ist“, und in diesem Gedanken an Falschheit wäre dann das Mittel gefunden, den Gegenstand A r , das Non-X, ohne Verwendung einer Negation zu erfassen . 1 2 Nun trifft dies aber doch nur unter der einen Voraussetzung zu, dafs der Gedanke der Falschheit nicht etwa selbst negativen Charakter habe. Dies ist aber, wie noch zu berühren sein wird 3 , tatsächlich der Fall, und so auch dieser Weg ungangbar. Aufserdem wird, übrigens das Zeugnis der direkten Empirie doch wohl auch hier nicht ganz unbeachtet bleiben sollen. Der Gedanke an Falschheit oder Unrichtigkeit dürfte jedem ungefähr ebenso geläufig sein wie der an Wahrheit. Eben darum wird er aber auch darüber recht sicheren Bescheid wissen, wie oft er wohl schon beim Worte „Nichtraucher“ oder „alkoholfreies Getränk“ an Falschheit ge- dacht hat. Gäbe es also selbst diese „Reduktion“, so würde sie in der Regel tatsächlich nicht angewendet und müfste durch etwas anderes ersetzt sein, was dann mutmafslich das sein wird, von dem im gegenwärtigen Buche die Rede ist.

Nebenbei sei, was an dieser Stelle freilich noch keinen Beweis- wert hat, darauf aufmerksam gemacht, dafs durch diese Auf- fassung jedenfalls eingeräumt wäre, dafs beim Erfassen eines- Negati vums etwas in Mitleidenschaft gezogen ist, worauf die Attribute „ivahr“ und „falsch“ anwendbar sind. Wer das Gebiet dieses Gegensatzes für die Domäne des Urteils zu halten sich


1 Des dritten Kapitels.

2 So B Kussell, „Meinong's theory of complexes and assumptions ‘ IL, a. a. 0. S. 338, neuerlich wohl aucli A. Marty, „Untersuchungen zur Grundlegung der allgemeinen Grammatik und Sprachphilosophie“, Halle a. S.. 1908, S. 481.

3 Unten § 13.


Erste Aufstellungen.


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gewöhnt hat, wird so vor die Frage gestellt, was es mit dem Er- fassen des Gedankens der Falschheit dort auf sich haben möchte, wo, wie beim „vorgestellten“ Negativum, das Urteil fehlt und insofern ein ausreichend Urteilsähnliches wohl am besten würde Dienste leisten können.

Kehren wir aber für jetzt zum Normalfall dessen zurück, was man herkömmlich als „negative Vorstellungen“ behandelt, so dürfen wir nun wohl als ausgemacht betrachten, dafs dieselben keineswegs Vorstellungen sind. Natürlich erwächst daraus die Frage nach ihrer wirklichen Beschaffenheit; und es wird sich später Gelegenheit bieten, die Beantwortung dieser Frage zu versuchen . 1 Vorerst soll aus dem Dargelegten nur das Recht abgeleitet werden, überall dort, wo der Gegensatz von Ja und Nein zur Geltung kommt, daraus zu schliefsen, dafs es sich da um mehr als um blofses Vorstellen handeln müsse. Unter diesem Prinzipe findet es nicht nur seine neuerliche und nachträgliche Rechtfertigung, dafs oben dem, wofür die technische Bezeichnung „Annahme“ sich uns angemessen erwiesen hat, eine Stellung zwischen Vorstellen und Urteilen angewiesen wurde: dieses Prinzip wird sich vielmehr auch als einer der greifbarsten Anhaltspunkte bewähren, wenn wir nunmehr darüber ins klare zu kommen versuchen, ob und wo innerhalb der psychischen Erfahrung solcher Zwischenerlebnisse noch mehr anzutreffen sein möchten, die dann gleichfalls auf die Bezeichnung „Annahmen“ billigen An- spruch hätten. Es dürfte nicht allzusehr überraschen, wenn eine diesbezügliche Untersuchung sich gerade dort als besonders dankbar erweisen sollte, wo die theoretische Bearbeitung mit Hilfe der ihr bisher geläufigen Konzeptionen nicht recht hat zustande kommen können: jedenfalls würde der Begriff der Annahme seine theo- retische Bedeutung in besonders günstiger Weise bewähren, wenn er sich alten psychologischen resp. erkenntnistheoretischen .Schwierigkeiten gegenüber fähig erwiese, zu deren Entwirrung beizutragen.

Natürlich wird es angemessen sein, die uns sozusagen eben erst bekannt gewordene Tatsache der Annahme vor allem dort aufzusuchen, wo sie sich der Betrachtung gleichsam am willigsten darbietet. Dann gibt es aber, wie bei anderen Erlebnissen, so auch bei den Annahmen Fälle, wo sich diese der direkten Wahr-

1 Vgl. unten Kap. VIII, § 45.

2 *


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Erstes Kapitel.


nehmung nicht, oder doch nicht deutlich und sicher genug auf- drängen, so dafs ihr Vorhandensein leichter auf einem Umwege feststellbar ist. Dieser Umwog führt oft, wie auch sonst so häufig, über sprachliche Ausdrücke, durch die sich Annahmen verraten, oft auch über Gegenstände, die hinsichtlich ihres Erfafst- werdens vermöge ihrer Natur auf Annahmen angewiesen sind. Deshalb müssen, ehe wir das Auftreten der Annahmen etwas mehr ins Einzelne verfolgen, einige vielleicht nebenbei auch um ihrer selbst willen nicht nutzlose Voruntersuchungen erledigt werden, die einerseits Sprachliches, andererseits eine bislang in ihrer Eigenart nicht ausreichend gewürdigte Klasse von Gegen- ständen betreffen müssen. Die beiden nächsten Kapitel sollen diesen Voruntersuchungen gewidmet sein.


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Zweites Kapitel.

Zur Frage nach den charakteristischen Leistungen des Satzes.


§ 3 .

Vom Zeichen und seiner Bedeutung.

Dem Herkommen, die Funktionen der Sprache zunächst unter dem Gesichtspunkte des Zeichens zu betrachten, sei hier vorerst dadurch Rechnung getragen, dafs ich an E. Martixaks „Psychologische Untersuchungen zur Bedeutungslehre“ * 1 an- knüpfend, versuche, die von dem genannten Forscher vorge- nommene Präzisierung der Relation zwischen Zeichen und Be- zeichnetem oder, was mit letzterem doch wohl ohne weiteres zusammenfällt, der Bedeutung des Zeichens 2 noch um einen Schritt weiter zu führen. Will man nämlich bei der Bestimmung dieser Relation der Allgemeinheit nicht alles Charakteristische zum Opfer bringen, so ist, wenn ich recht sehe, der blofse Hin- weis auf die Zuordnung der Bedeutung zum Zeichen 3 denn doch zu farblos, und man wird nicht umhin können, zunächst einfach zu sagen 4 * : kann ich aus dem Gegebensein des A auf das des R schliefsen 6 , dann ist A ein Zeichen von R, und R, genauer freilich das Sein, zunächst die Existenz des R 0 die Bedeutung des Zeichens.


1 Leipzig 1901. 2 A. a. 0. S. 1 ff. 2 Vgl. a. a. 0. S. 12.

1 Wohl in Übereinstimmung mit R. Gaetschenberger, „Grundzüge einer Psychologie des Zeichens“, Würzburger Inaug. - Diss., Regensburg 1901, S. 45ff., sowie E. Hussere, „Logische Untersuchungen“ Bd. II, Halle 1901, S. 25 ff.

u E. Hüsskre betont a. a. 0. auch noch die Uneinsichtigkeit dieses

Schlusses, — wohl mit Recht, sofern damit speziell apriorische Einsicht

gemeint ist. Aposteriorische Einsicht (Vermutungsevidenz) schiene mir jedoch kein Hindernis.

" Noch genauer wäre auch der Fall des Nicht-Seins des B einzubeziehen,

für das es ja auch Zeichen geben kann. Vorgreifend sei darauf hingewiesen,.


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Zweites Kapitel.


Dafs es hier in der Tat die Relation des Erkenntnisgrundes zur Erkenntnisfolge ist, auf die zuletzt alles ankommt, zeigt sich natürlich am deutlichsten, wo diese Relation durch keinerlei komplizierende Umstände verdunkelt zu werden droht, also dort, wo das Zeichen sozusagen von selbst, ohne dafs absichtliche, auf Zeichengebung gerichtete Veranstaltungen vorangegangen wären, als Zeichen fungiert: Martina k spricht in solchen Fällen von „realen Zeichen“. Aber auch das von ihm „final“ genannte Zeichen * 1 2 ist ja von Haus aus nichts anderes als etwas durch Absicht zum realen Zeichen Gemachtes, das sich also zum realen Zeichen im gewöhnlichen Sinne etwa so verhält wie das Experi- ment zu der sich der theoretischen Bearbeitung von selbst dar- bietenden Tatsache. Nur führt hier natürlich der in der Ab- sichtlichkeit gelegene Anteil subjektiver Momente eine gewisse Störungschance mit sich, die z. B. in der Weise realisiert sein kann, dafs der Zeichengeber ein Zeichen wählt, dem die Eignung, den ex definitione erforderlichen Erkenntnisgrund abzugeben, tatsächlich nicht zukommt. Immerhin dürfte man aber auch so der Störungen nicht allzu viele zu verzeichnen haben, gar keine natürlich, sofern man sich auf das Minimum dessen beschränkt, was man durch ein Zeichen zu erkennen zu geben sich vorsetzen kann, nämlich auf die Absicht, etwas „mitzuteilen“. Es wird sich dann ohne Zweifel aus mehr als einem Grunde empfehlen, in dem Spezialfalle, wo das, was der Zeichengeber mitzuteilen beabsichtigt, sein Wunsch, wohl auch sein Wille, also allgemein ein Begehren ist, so dafs eben dieses aus dem Zeichen er- schlossen werden kann, von „begehrendem“ Zeichen zu reden, und alle Fälle, wo er etwas anderes mitzuteilen hat, unter dem Namen der „mitteilenden Zeichen“ in einigermafsen engerem Sinne den „begehrenden Zeichen“ entgegenzusetzen.’ Streng genommen aber ist sonach jedes finale Zeichen zugleich mit- teilendes Zeichen wenigstens in einem weiteren Sinne, und hierin liegt zu nicht geringem Teile der Keim zu einer wichtigen Er

dafs hierin nur der Umstand zutage tritt, dafs die Relation von Grund und Folge streng genommen nicht Sache des Objektes, sondern speziell die des Objektivs ist, ein Gegensatz, der in Kapitel III deutlich gemacht werden soll.

1 über den Gegensatz von realem und finalem Bedeuten vgl. Martinak a. a. O. S. 12.

2 Vgl. auch über diesen Gegensatz Martinak a. a. 0. S. 19 ff.


Zur Frage nach den charakteristischen Leistungen des Satzes.


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Weiterung des Zeichen- resp. Bedeutungsbegriffes, der wir im Hinblick auf die uns in den gegenwärtigen Untersuchungen be- schäftigenden Aufgaben unsere Aufmerksamkeit im besonderen zu wen den müssen.

Ist nämlich im eben Dargelegten der Sachverhalt beim finalen Zeichen richtig aufgefafst, so steht diesem als Bezeichnetes, also als „Bedeutung“ zunächst jedesmal eine psychische Tatsache gegenüber, was übrigens natürlich unter günstigen Umständen auch bei realen Zeichen der Fall sein kann , und dann zu dem- selben Erfolge führt. Dieser Erfolg besteht in einer zweiten Zuordnung, die darauf zurückgeht, dafs die psychische Tatsache ihren Inhalt und daher auch ihren Gegenstand hat. Ist A das Zeichen, das eine psychische Tatsache B — am besten ein Vor- stellen, Urteilen oder Begehren — zu seiner „Bedeutung“ hat, und hat B den Gegenstand C, so ist dadurch A nicht nur mit B , sondern in neuer Weise auch mit C verknüpft, ohne dafs man darum ein Recht hätte, A in derselben W eise als Erkenntnisgrund für C zu nehmen wie es es definitione den für B abgibt . 1 Viel- leicht verdient es nun gar nicht mehr den Namen einer Erweiterung des Bedeutungsbegriffes und ist eher eine neue Anwendungsweise des Wortes „Bedeutung“, wenn man dem A auch das C als dessen „Bedeutung“ gegenüberstellt; jedenfalls aber dürfte man das B und das C dem A gegenüber nicht auf gleichem Fufse behandeln.

Die Wichtigkeit dieser Erwägung wird sofort jedem klar sein, der bemerkt, dafs der hier vorerst ganz allgemein dargelegte Tatbestand in der Sprache, zunächst in den einzelnen Wörtern derselben realisiert ist. Weil die Wörter ihre „Bedeutung“ haben, hat man sich daran gewöhnt, sie als „Zeichen“ zu behandeln, zumal das Wort in der Regel von einem psychischen Tatbestände begleitet auftritt, auf dessen Gegebensein man im Sinn unserer obigen Zeichenbestimmung aus dem Gegebensein des Wortes schliefsen darf. Man hat infolgedessen oft unbeachtet gelassen, dafs das, worauf man aus dem Vorhandensein eines Wortes schliefsen kann, mit dem, was das Wort „bedeutet“, durchaus nicht zusammenfällt, — aufserdem freilich auch, dafs Wort und


‘ Was man aus A erschliefsen darf, ist ja nur die Pseudoexistenz des C, dieses Wort wieder in dem schon einmal gebrauchten Sinne ver- standen, den ich ihm in der Abhandlung „Über Gegenstände höherer Ord- nung ubw. , Zeitsclir . f. Psycliol. 2t, S. 186 f. gegeben habe.


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Zweites Kapitel.


Bedeutung keineswegs immer durch jene eigentliche Zeichen- relation des Wortes zu einer psychischen Tatsache zusammen- gehalten werden. Vielleicht stellt der ersterwähnte Umstand einen der vielen Fälle dar, in denen die unzureichende Unter- scheidung zwischen Inhalt und Gegenstand 1 vom Übel war : gleichwohl bleibt das mangelhafte Auseinanderhalten hier be- sonders auffallend, da in diesem Falle die Sprache selbst für deutlich auseinanderhaltende Termini gesorgt hat. Für unsere Zwecke ist es von besonderem Werte, den Sinn dieser Termini und die in ihnen gegebene Unterscheidung uns klar zu machen : sie soll uns daher vorerst noch etwas näher beschäftigen. Auf die eben erwähnte zweite Verbindung zwischen Wort und Be- deutung kommen wir weiter unten zurück, wenn auf das Ver- stehen der Wörter und Sätze kurz einzugehen sein wird.

§ 4.

Ausdruck und Bedeutung beim Worte. Sekundärer Ausdruck und sekundäre Bedeutung.

Es ist ebenso herkömmlich als berechtigt, der Sprache in besonderem Mafse die Eignung zuzuerkennen, unsere Gedanken „auszudrücken“. Ob der Redende seine Gedanken auch aus- drücken will, ob er sie ohne oder gar wider seinen Willen verrät, ob schliefslich wirklich jemand da ist, der von dem, was die Worte erkennen lassen, auch wirklich Kenntnis nimmt, das sind Details, die hier ohne Schaden aufser Betracht bleiben können. Nicht minder vorerst der Umstand, dafs in dem Worte „Gedanken- ausdruck“ eine einseitige Beschränkung auf das intellektuelle Gebiet hervortritt, indes doch die Sprache keineswegs darauf verzichtet, auch Gefühle oder Begehrungen zum Ausdruck zu bringen. Vielmehr kommt diese Einseitigkeit unseren nächsten Bedürfnissen insofern sogar noch besonders entgegen, als an den intellektuellen Betätigungen sich von dem, was ein Wort „aus- drückt“, besonders deutlich das abhebt, was es „bedeutet“ 2 : der Gegenstand des betreffenden intellektuellen Geschehnisses, zunächst der dasselbe ausmachenden oder doch ihm zugrunde


1 Vgl. „Über Gegenstände höherer Ordnung usv.‘‘ a. a. 0. S. 185ff., auch unten § 13 f.

2 „Über Gegenstände höherer Ordnung usw.“ a. a. 0. S. 188 f.


Zur Frage nach (len charakteristischen Leistungen des Satzes.


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liegenden Vorstellung. Wer also etwa das Wort „Sonne“ aus- spricht, bringt dadurch normalerweise, gleichviel ob er es auch will oder nicht, zum Ausdruck, dafs sich eine bestimmte \ or- stellung, es kann natürlich so gut Wahrnehmung^- wie Ein- bildungsvorstellung sein, in ihm zuträgt. Was für eine Vor- stellung das ist, bestimmt sich zunächst nach dem, was durch sie vorgestellt wird, also ihrem Gegenstände, und dieser Gegen- stand ist eben das, was das Wort „Sonne“ bedeutet. Aller- dings hat man, wenn von der Bedeutung eines Wortes die Rede ist, nicht leicht dieses eben jetzt von diesem Individuum aus- gesprochene Wort, sondern „das Wort“ im allgemeinen im Auge, versteht also unter der Bedeutung eines Wortes nicht das, was gerade dieser oder jener damit meint, sondern was die Gesamtheit oder Mehrzahl der Redenden meint und sonach der einzelne vernünftigerweise meinen „sollte“. Aber für den natürlichen Sinn des Gegensatzes von Ausdruck und Bedeutung hat das weiter keinen Belang. Niemand nimmt Anstand, einzuräumen, dafs ein und dasselbe Wort zu verschiedenen Zeiten, an ver- schiedenen Orten, für verschiedene Gesellschaftsklassen, für ver- schiedene Familien und am Ende auch für verschiedene Indi- viduen Verschiedenes „bedeuten“ kann, und so wird man wohl ganz allgemein sagen dürfen, ein Wort „bedeutet“ allemal den Gegenstand der Vorstellung, die es „ausdrückt“, und drückt um- gekehrt die Vorstellung von dem Gegenstände aus, den es be- deutet . 1

Es dient der Klärung des Verhältnisses zwischen Ausdruck und Bedeutung, der Tatsachen zu gedenken, auf die es zurück-


1 Gegen Husserl, „Logische Untersuchungen“ Bd. II, S. 46 ff. Der Dissens geht wohl darauf zurück, dafs Husserl den Begriff des Gegenstandes enger fafst, als mir natürlich erscheinen möchte; vgl. hierüber einstweilen „Über Gegenstände höherer Ordnung usw.“ a. a. O. S. 188 Anmerkung. Den Ausführungen im Texte dürfte im wesentlichen die Auffassung A. Martys entsprechen („Untersuchungen zur Grundlegung usw.“ S. 285 ff., vgl. S. 491 Anm.), nur dafs dieser, worauf noch zurückzukommen ist (vgl. unten § 14), „Inhalt“ statt „Gegenstand“ sagt und überdies von „Be- deutung“ auch noch in einem „weiteren Sinne“ spricht (vgl. z. B. a. a. 0. S. 291, 384), für den, wenn nötig, ein anderes Wort zu wählen mir ange- messener schiene. Der Autor wird nicht müde darauf hinzuweisen (vgl. S. 284 Anm. 2, 286, 291, 490 u. ö.), dafs dies (und einiges andere) eine von ihm in seinen Artikeln in der „Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie“ insbesondere aus dem Jahre 1884 „vorgetragene Lehre“ sei.


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Zweites Kapitel.


geht. „Bedeutung“ ist, was bei einem Worte auf ,,-ung“ besonders bemerkt zu werden verdient, nicht soviel als „bedeuten“, geht vielmehr auf dieses zurück, indem „Bedeutung“ dasjenige hat, was „bedeutet“. Das ist innerhalb unseres nächsten Betrachtungs- kreises das Wort, und man darf fragen, worin das Bedeuten beim Wort eigentlich besteht. Man kann bei der Beantwortung der Frage nicht beim Worte stehen bleiben, sondern mufs sich an den halten, der es sinnvoll ausspricht. Das lebendige Bedeuten ist ja doch stets ein Bedeuten für jemanden. Dieses Bedeuten nun hängt, wie aus obigem ohne weiteres ersichtlich ist, an der Eigenschaft des Wortes, Ausdruck zu sein, — nicht als dessen Folgetatsache, wohl aber in der Weise, dafs ein Wort nur be- deutet, sofern es ausdrückt, genauer, insofern es ein intellektuelles Erlebnis ausdrückt, dessen Gegenstand dann die Bedeutung des Wortes ausmacht. Verdunkelt wird dieser Sachverhalt nur einigermafsen durch den Umstand, dafs dieser sozusagen aktuellen Bedeutung des Wortes eine sozusagen potentielle an die Seite tritt, die vom aktuellen Bedeuten und Ausdrücken unabhängig, gleichsam am Worte haftet und mit diesem im Wörterbuch Auf- nahme findet, wobei aber natürlich die Besonderheit der Einzel- fälle, aus denen sie hervorgegangen ist, nach Möglichkeit abge- streift wird.

Immerhin könnte man dann auch von Ausdruck in poten- tiellem Sinne reden, und jedenfalls gilt, ausreichend vorsichtig verstanden, der Satz: Was Bedeutung hat, ist zugleich auch Aus- druck und zwar, wie man hinzufügen mag, primärer Ausdruck, im Gegensätze zu einer Art sekundärer Ausdrucksfähigkeit, die einem Worte unter Umständen vermöge seiner Bedeutung eignen kann. Dies ist nicht selten der Fall, wenn der die Bedeutung ausmachende Gegenstand dem Gebiete innerer Wahrnehmung angehört. Klagt jemand über Schmerzen, so ist das, was das Wort „Schmerz“ zunächst, also primär ausdrückt, mindestens nach gewöhnlicher Auffassung die Vorstellung 1 des Schmerzes. Aber diesmal ist aus dem Worte zugleich zu entnehmen, dafs der Redende den Schmerz wirklich hat; insofern drückt das Wort auch ein Gefühl aus, aber gleichsam auf einem Umwege und in diesem Sinne sekundär. Hat die Bedeutung, wie wir sahen, den primären Ausdruck gewissermafsen zur A oraussetzung,


1 Genaueres hierüber soll sogleich unten (S. 28) zur Sprache kommen.


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Zur Frage nach den charakteristischen Leistungen des Satzes.

so erweist sich sonach der sekundäre Ausdruck gleichsam au! eine Bedeutungstatsache gebaut : kein sekundärer Ausdruck ohne Bedeutung.

Nun läfst sich aber dieser Satz nicht etwa zu einer Um- kehrung des obigen Prinzips erweitern. Durften wir oben sagen, ..keine Bedeutung ohne Ausdruck“, so gilt hier vielmehr im Gegenteile: Was Ausdruck ist, mufs darum noch durchaus nicht Bedeutung haben. Das zeigt sich deutlich an Ausdrücken für zu- nächst emotionale Ei’lebnisse, z. B. „ach“, „pfui“, „hailoh u. dgl., dann aber auch an solchen für intellektuelle: Wörter wie „ja“ und „nein“ drücken sicher etwas aus ; es möchte aber schwer zu sagen sein, was sie für den bedeuten, der sie ausspricht, solange man von Bedeuten immer nur im nämlichen Sinne redet, wie bisher. Viel häufiger noch funktionieren in dieser Weise Wörter, denen es von Plans aus an einer Bedeutung keineswegs fehlt, die vielmehr durch diese in der oben berührten Weise zu sekun- dären Ausdrücken werden konnten , vermöge ausschliefslicher Verwendung als solche aber, praktisch wenigstens, ihre Bedeutung verloren haben, falls nicht etwa, was die Sprachwissenschaft zu entscheiden hat, die Bedeutungen umgekehrt aus der Verwendung dieser Wörter als ursprünglich bedeutungslose Ausdrücke er- wachsen sind. Jedenfalls denkt bei Interjektionen wie „wehe“, oder bei formelhaft gewordenen Plöflichkeitsbezeigungen wie „ich habe die Ehre“ u. dgl. niemand an den „Sinn“ dieser Worte. Nur darf man natürlich, wenn man sonach einräumt, dafs es aueh bedeutungslose Ausdrücke in der Sprache gibt, nicht ver- gessen, dafs hier von „Bedeutung“ in einem eingeschränkten technischen Sinne geredet wird, womit schon gesagt ist, dafs dem Ausdrucke, der in diesem engeren Sinne keine „Bedeutung“ hat, doch dadurch, dafs er eben Ausdruck ist, ganz wohl eine Be- deutung im weiteren Sinne, wie sie dem Zeichen als solchem zukommt, und damit eine gewisse Wichtigkeit, Beachtenswiirdig- keit oder wie man sonst sagen mag, eignen kann. Wirklich liegt es den Traditionen der Grammatik durchaus fern, Wörtern von der in Rede stehenden Art „Bedeutung“ schlechthin abzusprechen: aber daraus folgt, so viel ich sehe, nur dies, dafs die Grammatik den soeben als technisch bezeichneten Sinn des Wortes „Be- deutung“ nicht unter allen Umständen aufrecht erhält.

Im Plinblick auf solche Fälle von Ausdruck ohne Bedeutung; kann man dem Wesen des Bedeutens nun noch etwas näher


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Zweites Kapitel.


treten. Dafs das Bedeuten nicht nur Ausdrücken für emotionale Erlebnisse fehlt, sondern auch solchen für intellektuelle wie „ja“ und „nein“, führt auf die Meinung zurück, die manchem ohne- hin von Anfang an für selbstverständlich gegolten haben wird, die Meinung, dafs Bedeuten nur dort vorkommt, wo das Aus- gedrückte Vorstellungen sind. Sagt aber einer etwa im Falle des oben charakterisierten sekundären Ausdruckes, „ich habe Kopfschmerz“, so wird niemand dem Worte „Kopfschmerz“ Be- deutung absprechen, obwohl es gar nicht selbstverständlich ist, dafs, wer um seinen Kopfschmerz weifs, ihn deshalb auch vor- stellen müfste. Ich habe an anderem Orte darzutun versucht 1 , dafs sich in solchen Fällen das Erlebnis selbst dem Erfassen (liier der Einwärtswendung) darbietet. Ohne zu verkennen, wie viel an dieser Auffassung noch ungeklärt und unerledigt sein mag 2 , trage ich ihr sowie Bedürfnissen, die sich im Laufe der folgenden Untersuchungen einstellen werden, Rechnung, indem ich die Bedeutungen nicht speziell als vorgestellte, sondern als wie immer erfafste Gegenstände charakterisiere. Das Bedeuten aber knüpft sich dann an ein Wort nicht nur, sofern es eine Vorstellung, sondern ganz allgemein, sofern es ein Erlebnis aus- drückt, das dem Denken einen Gegenstand darbietet, ihn dem Denken, wie ich technisch sagen will, präsentiert, — den Fall einbegriffen, wo das präsentierende Erlebnis mit dem prä- sentierten zusammenfällt. Man kann dann auch zusammenfassend sagen: ein Wort bedeutet etwas, sofern es ein präsentierendes Erlebnis ausdrückt, und der durch dieses präsentierte Gegenstand ist die Bedeutung.

Unter dem eben eingeführten Gesichtspunkt der Präsentation fällt sofort auf, dafs es einerseits Erlebnisse gibt, in deren Natur es liegt, dem Denken, wenn es nur irgendwie funktioniert, Gegen- stände zu präsentieren, andererseits solche, bei denen dies nicht der Fall ist. Erlebnisse ersterer Art sind wohl jederzeit Vor- stellungen; zu den Erlebnissen letzterer Art kann man z. B. die Gefühle rechnen. Auch diese können, wie wir sahen, dahin gebracht werden, zu präsentieren; aber es bedarf dazu eines im allgemeinen künstlicheren Verfahrens, wie die Einwärtswendung

1 „Über die Erfahrungsgrundlagen unseres Wissens“, Berlin 1906,. 8. 72 ff.

2 Ich komme darauf unten § 20 noch einmal zurück.


Zar Frage nach clen charakteristischen Leistungen des Satzes.


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eines ist. Durch dasselbe gewinnen Ausdrücke, die von Haus aus bedeutungslos waren, sozusagen nachträglich auch Bedeutung, und sofern sie dem sonach erst hinzugekommenen Bedeuten ferner stehen als Ausdrücke für Vorstellungen, bei denen das Bedeuten kaum je fehlen wird, liefsen sich ganz wohl diese letzteren als Fälle primären Bedeutens allen übrigen als Fällen sekundären Bedeutens gegenüberstellen 1 , sofern es in dieser Sache überhaupt der Prägung besonderer Termini bedürfen sollte. Keinesfalls aber dürfte man die Analogie dieses Gegensatzes zu dem zwischen primärem und sekundärem Ausdruck allzu hoch anschlagen.

Mit Rücksicht auf den Fortgang dieser Untersuchungen sei schon hier auf eine Tatsache hingewiesen, auf die erst im folgenden näher einzugehen sein wird. Neben den Erlebnissen, in deren Natur es vorzugsweise liegt, einen Gegenstand zu präsen- tieren, den Vorstellungen, sowie neben jenen Erlebnissen, denen ein eigener Gegenstand überhaupt nicht zugeordnet ist 2 , so dafs sie höchstens sich selbst präsentieren können, wie jedes Erlebnis, gibt es solche, denen eine gewisse Zugehörigkeit zu einem be- stimmten Gegenstände zwar nicht fehlt, die diesen aber von Natur nicht präsentieren. Werden sie dann doch zum Präsen- tieren gleichsam herangezogen , so vollzieht sich , sofern sie sprachlich ausgedrückt sind, an den betreffenden Ausdrucks- mitteln wieder der Übergang von der Bedeutungslosigkeit zum Bedeuten, und die Bedeutung kann verschieden sein, je nachdem die Erlebnisse sich selbst präsentieren oder ihren Gegenstand. Wir werden sehen, dafs die oben als bedeutungslos bezeichneten Wörter „ja“ und „nein“ hierher gehören. Schon jetzt erkennt man, dafs von „dem Ja“ oder „dem Nein“, nicht minder übrigens von „dem Wenn“, „dem Aber“, „dem Warum“ und von vielem anderen dieser Art in durchaus bedeutungsvoller Weise geredet werden kann.


1 Wie ich in der ersten Auflage dieser Schrift S. 21 ff. getan habe auf Grund von Gedanken, die obiges zu vereinfachen und zu berichtigen versucht.

2 W as man z. B. den Gegenstand der Gefühle neunt, ist ja eigentlich der Gegenstand von Vorstellungen, die ihnen zugrunde liegen. Ob ihnen aufserdem am Ende doch noch etwas eignet, das nur auf ihre Natur als Gefühle zurückgeht und in einem besonders weiten Wortgebrauch vielleicht doch noch Gegenstand heifsen könnte, bleibe hier dahingestellt.


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Zweites Kapitel.


§ 5.

Der Satz als Urteilsausdruck.

Die bisherigen Aufstellungen haben sich naturgemäfs zu- nächst auf einzelne Wörter bezogen. Aber auch bei Wort- komplexen hat natürlich der Gegensatz von Bedeutung und Ausdruck seine Geltung, und man wird vermuten dürfen, dafs, was solche Komplexe bereits vor dem Forum der Grammatik zu einheitlichen Ganzen macht, in der Regel entweder eine Einheit der Bedeutung oder wenigstens eine Einheit des Ausdruckes sein wird, falls nicht beides zusammentrifft. Es versteht sich, dafs man es dabei vorwiegend mit Gegenständen höherer Ordnung und den auf deren Konzeption gerichteten Operationen zu tun haben wird. Nun hat es aber die Grammatik von alters her ange- messen gefunden, unter den sonst beliebig mannigfaltig geformten Wortkomplexen einem eine ganz auffallende Ausnahmestellung gegenüber allen anderen einzuräumen. Und in der Tat mag sich auch schon der laienhaftesten Betrachtung nichts überzeugender darstellen als die völlig eigenartige Beschaffenheit des Satzes gegenüber dem, was man im weitesten Sinne als blofse Wort- zusammensetzung fassen könnte, und was trotz beliebig weit- gehender Komplexität immer noch dem einfachen, d. h. unzu- sammengesetzten Worte wesensverwandt zu bleiben scheint. Es wird sich dem diesen Darlegungen gesteckten Ziele förderlich erw r eisen, wenn wir versuchen, den Gründen für die offenbar für jedermann so einleuchtende Sonderstellung des Satzes nach- zugehen.

Vorerst steht nun freilich zu erwarten, dafs die Sprach- wissenschaft die Subsumtion des Satzes unter den Begriff des Wortkomplexes allzu äufserlich, ja in den Tatsachen nicht ein- mal ausreichend begründet finden wird, da es doch auch Sätze gibt, die nur aus einem Worte bestehen. Wirklich hat ein ver- bum finitum wie „credo“ allen Anspruch, für einen Satz zu gelten, und läfst auch im Vergleich mit seinem Infinitiv „credere“ sofort jenen eigentümlichen Tatbestand erkennen, den man im Satze zum Unterschied vom „einzelnen Worte“ vor sich zu haben ge- wöhnt ist. Immerhin aber befinden sich Sätze dieser Art in einer ausreichend deutlichen Ausnahmestellung , dafs man sie hier ohne Schaden unter den Gesichtspunkt des Grenzf alles


Zur Frage nach den charakteristischen Leistungen des Satzes.


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bringen kann; überdies bleibt die hier nur vorübergehend voll- zogene Subsumtion, indem aus ihr keine theoretischen Konse- quenzen gezogen werden sollen, jedenfalls unschädlich. Vor allem wichtig für unsere Zwecke ist aber dies, dafs die Frage nach dem Wesen des Satzes sozusagen nur noch dringender wird, wenn nicht einmal das Zusammengesetztsein aus einer Mehrheit von Wörtern herangezogen werden kann, um die sich immerhin zunächst aufdrängende Gegensätzlichkeit von Satz gegenüber Wort verständlich zu machen.

Da es nun weiter kaum angehen wird, das Charakteristische des Satzes anderswo als auf der psychischen Seite zu suchen x , so findet man sich nun unmittelbar vor die Wahl gestellt zwischen dem, was der Satz etwa bedeutet und dem, was er ausdrückt. Aber das erste Glied dieses Dilemmas verspricht schon auf den ersten Blick wenig Ausbeute. An Bedeutungen zwar fehlt es normalerweise nirgends wo ein Satz vorliegt: dieselben scheinen ausgemacht zu werden durch die Bedeutungen der im Satze zu einem Komplexe vereinigten Wörter und die Gegenstände höherer Ordnung, welche auf die diese letztere Bedeutung konstituierenden Inferiora aufgebaut sind ; über die Anzahl solcher Superiora kann im gegenwärtigen Zusammenhänge eine genauere Bestimmung ent- behrt werden. Aber der unbeschränkten Mannigfaltigkeit solcher Bedeutungen steht nichts Gemeinsames gegenüber, das zugleich an den Satz sich gebunden zeigte; zudem ist es möglich, jeden Satz in einen Wortkomplex umzuwandeln, der kein Satz mehr ist, aber noch alles enthält, was an Gegenständlichem nach her- kömmlicher Auffassung im Satze anzutreffen war. Sage ich statt „dieses Metall ist leicht“ einfach „dieses leichte Metall“, so scheint alles Gegenständliche herübergenommen, obwohl die Satzform und mit ihr auch die eigenartige Funktion des Satzes aufgegeben ist. Diese scheint mithin eine gegenständliche Charakteristik nicht zu gestatten: mit der Gegenständlichkeit ist dann aber auch die Bedeutung im eben festgelegten Wortsinne ausge- schlossen.

So findet man sich auf das zweite Glied des Dilemmas hin- gewiesen und wird diesem Hinweise um so leichter folgen, je


1 Genauer auf der Seite dessen, was entweder selbst psychisch oder doch durch Psychisches mit der physischen Komponente der Sprach- geschehnisse verknüpft ist.


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Zweites Kapitel.


kräftiger demjenigen, der nunmehr das Charakteristische des Satzes in dem zu suchen unternimmt, was er ausdrückt, eine Art Vormeinung entgegenkommt, die nicht ansteht, dem Satze in betreff dessen, was er auszudrücken hat, sofort eine ganz bestimmte Aufgabe zuzuweisen. Die täglichste Erfahrung scheint hierin aber auch ungewöhnlich deutliche Aufschlüsse zu erteilen. Sage ich „der Himmel ist blau“, so drücke ich damit eine Meinung, ein Urteil aus, das den Worten „der blaue Himmel“ in keiner Weise entnommen werden kann. Man mag also über die psychologische Natur des Urteils wie immer denken: in jedem Falle scheint es geradezu selbstverständlich, dafs, wo es gilt, ein Urteil auszudrücken, allemal ein Satz wird in Anwendung kommen müssen, und dafs eine andere Weise, der Überzeugung in betreff eines bestimmten Gegenstandes Ausdruck zu geben, überhaupt nicht zur Verfügung steht . 1 Auf die Frage nach dem Wesen des Satzes scheint damit in einfachster Weise die Antwort ge- funden: der Satz wäre demnach dadurch charakterisiert, dafs w r ir in ihm gleichsam die Vorkehrung vor uns haben, die von der Sprache ganz speziell zum Ausdrucke des Urteiles ge- troffen ist . 2

Man wird einer solchen Bestimmung gegenüber schwerlich den Vorwurf erheben, dafs sie den Eindruck des Künstlichen mache, oder der auffallenden Sonderstellung des Satzes nicht durch Heranziehung eines ausreichend wichtigen und greifbaren Momentes Rechnung zu tragen versuche. Sie bietet sich viel- mehr als etwas so Natürliches dar, es scheint, um sie zu erfassen, ein auf sie«; ausdrücklich gerichtetes Nachdenken so wenig er- forderlich, dafs sie mancher fast unbewufst festgehalten haben wird, auch nachdem ihm mehr als eine Erfahrung begegnet ist, die sich mit dieser Bestimmung nicht in Einklang bringen läfst. Bei etw r as Aufmerksamkeit aber kann man solcher Erfahrungen eine ganz unerschöpfliche Menge gewahr werden und kann sich der Aufgabe nicht entschlagen, zu einem Überblick über die wichtigsten der hierher gehörigen Fälle zu gelangen.


1 Wenn man etwa von den bereits erwähnten Wörtern „ja“ und „nein“ sowie ihresgleichen absieht, die freilich die Eignung haben, Ausdrücke für Urteile abzugeben, dafür aber unbestimmt lassen, worüber geurteilt wird.

2 Vgl. z. B. auch Sigwaut, Logik Bd. I, 2. Aull., S. 25 Anfang.


Zur Frage nach den charakteristischen Leistungen des Satzes.


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§ 6.

Unabhängige und abhängige Sätze, die nicht Urteile

ausdrücken.

Zunächst erkennt man leicht, dafs die grofse Überzahl der Sätze, die wirklich Urteile ausdrücken, so beschaffen sind, dafs die Grammatik sie als unabhängige Sätze bezeichnen darf. Man wäre aber bereits sehr erheblich im Irrtume, wollte man daraus schliefsen, dafs mindestens alle unabhängigen Sätze unter die oben versuchsweise in Erwägung gezogene Bestimmung passen. Das beweisen aufs deutlichste alle Fragesätze in möglichst natürlicher Form, also nicht solche, bei denen der Gegenstand der Frage in einem abhängigen Satze auftritt, wie etwa: „ich frage, ob man sich auf diese Aussage verlassen kann“. Hier hat man ein Bei- spiel für das vor sich , was ich oben „sekundären Ausdruck“ genannt habe ; den primären Ausdruck aber bietet der unab- hängige Satz: „Kann man sich auf diese Aussage verlassen?“ Und was hier ausgedrückt wird, ist normalerweise ein Begehren, vielleicht nur ein Wunsch, eventuell aber auch ein Befehl. Dafs es aber sicher kein Urteil ist, kann gerade hier für besonders handgreiflich gelten, da dasjenige, was der Fragende unter gewöhn- lichen Umständen erst begehrt, sonach eben noch nicht „hat“ (ge- nauer erlebt) und daher noch weniger ausdrücken kann, ein Wissen, eine Überzeugung, also eben ein Urteil über den im Satze be- zeichneten Gegenstand ist. Und sowie es in der Sprache inter- rogative Formen gibt, die, wenn sonst in’ nichts, wenigstens in der Satzmelodie und dann wieder im Schriftzeichen zum Vor- schein kommen, so gibt es noch viel deutlichere Optative und Imperative, die darauf aufmerksam machen, dafs unabhängige Sätze eventuell auch noch anderes Begehren als das des Fragenden auszudrücken fähig sind. Natürlich ist auch hier nicht von den vielen Fällen sekundären Ausdruckes die Rede, wo das, was einer wünscht oder befiehlt, wieder in abhängigen Sätzen — abhängig etwa von „ich bitte“, „ich wünsche“ u. dgl. — mitgeteilt wird. Wo aber primärer Ausdruck unter Anwendung eines unab- hängigen Satzes vorliegt, ist der Ausschlufs eines Urteiles als eines möglicherweise Ausgedrückten zwar nicht ganz so äufser- lich erkennbar, wie bei der Frage, übrigens aber kaum weniger unzweifelhaft. Denn was einer erst begehrt, kann er doch eben auch hier nicht für bereits verwirklicht beurteilen. In der Auf-

Meinong, Über Annahmen, 2. Aull. 3


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Zweites Kapitel.


Forderung' „Komm zu mir“ etwa könnte also höchstens ein nega- tives Urteil ausgedrückt sein sollen, die Überzeugung, dafs der Angeredete nicht bei mir ist, eine Auffassung, die durch den Mangel jeden Negationszeichens praktisch ausreichend widerlegt wird.

Noch wesentlich ungünstiger für die versuchte Charakteristik des Satzes durch das Urteil steht es nun aber bei den abhängigen Sätzen. Zwar fehlt es auch an abhängigen Sätzen nicht, die als Ausdruck für ein Urteil genommen werden können. Sage ich etwa: „die Hitze war so grofs, dafs mittags niemand das Haus verlassen mochte“, so ist aus dem Nebensatze unbedenklich das Urteil zu entnehmen: „niemand mochte mittags das Haus ver- lassen“. Es ist nicht anders, wenn ich etwa berichte : „während die Glocken der nahen Kirche zusammenklangen, war ein ihnen gemeinsamer Oberton mit aufdringlicher Deutlichkeit zu ver- nehmen“. Auch hier kommt nebst anderem das Urteil über das Zusammentönen der Glocken zum Ausdruck. Ganz anders steht es aber schon, wenn man etwa von einer gefährlichen Stelle eines Gebirgspfades sagt: „wer da das Gleichgewicht verliert, ist des Todes“. Damit will ja sicher nicht behauptet sein, dafs wirklich an dieser Stelle schon jemand das Gleichgewicht verloren hat. Wie es aber speziell mit Relativsätzen bewandt ist, sieht man noch deutlicher, wo diese zu negativen Hauptsätzen gehören.. Sage ich: „es gibt keinen fehlerfreien Menschen“, so denkt sicher niemand daran, hierdurch den Gegenstand „fehlerfreier Mensch“ affirmiert zu finden, drückt ja doch der Satz gerade das Gegenteil einer solchen Affirmation aus. Ist dem aber so, dann geht es natürlich auch nicht an, die ganz unwesentliche Abänderung „es gibt keine Menschen, die frei von Fehlern wären“ anders zu verstehen. Und sagt jemand: „man findet innerhalb der gesamten psychologischen Erfahrung keinen einzigen Fall, wo Urteilen nicht mit Vorstellen verknüpft wäre“, so denkt auch hier 1 niemand daran, im Nebensatze das Urteil zu suchen, dafs es Urteilen ohne Vorstellen gebe. Zugleich wird man bereits hier auf die Bedeutung des Konjunktivs aufmerksam, der sich augenscheinlich gern einstellt, wo zwischen dem, was der be-


1 Mag die Behauptung selbst ein wurfsfrei sein oder nicht. Ich habe den letzteren Standpunkt eingenommen in „Über die Erfahrungsgrundlageiv. unseres Wissens“, S. 72 ff.


Zur Frage nach den charakteristischen Leistungen des Satzes.


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treffende Nebensatz als Urteilsausdruck zu besagen haben miifste und dem, was er nach der Intention des Redenden wirklich be- sagt, ein Dissens besteht.

Besondere Beachtung aber dürften hier die mit „dafs“ ein- geleiteten Sätze verdienen. Zwar könnte man gerade bezüglich solcher Sätze versuchen, etwa Wendungen wie „ich bin über- zeugt, behaupte, glaube, vermute, dafs . . unter die Instanzen einzuordnen, die der Auffassung des Satzes als Urteilsausdruck günstig sind. Nur mufs es sogleich einigermafsen auffallen, dafs hier das Urteil zweimal zum Ausdrucke gelangen soll, einmal sekundär im Hauptsatze, speziell in dessen Verbum, und dann noch einmal primär im Nebensatze. Ferner scheint dann ge- legentlich der Nebensatz in dieser Hinsicht mehr zu sagen, als der Hauptsatz eigentlich gestattet. Man halte, um das zu er- kennen, etwa die beiden Aussagen zusammen: „ich bin überzeugt, dafs es heute noch regnen wird“ und „ich vermute, dafs es heute noch regnen wird“. Ist im ersten Falle der Nebensatz Ausdruck des Urteils „es wird heute noch regnen“, so analogerweise auch im zweiten Falle; und ist er im ersten Falle Ausdruck eines mit Gewifsheit gefällten Urteiles, so natürlich ebenso im zweiten, wie ja auch sonst ein Satz, wenn er ein Urteil ausdrückt und über die Gewifsheit darin nichts bemerkt erscheint, für den Ausdruck eines gewissen Urteils gilt. Nun hegt aber in unserem zweiten Falle in Wahrheit keine Gewifsheit, sondern nur eine Vermutung vor, wie der Hauptsatz erkennen läfst: als Urteilsausdruck be- trachtet würde hier also der Nebensatz sozusagen den Hauptsatz Lügen strafen. Aber der Dissens zwischen Haupt- und Neben- satz, diesen letzteren nämlich als Urteilsausdruck genommen, kann noch weit beträchtlicher werden; ich kann ja auch sagen: „ich glaube nicht, dafs es heute regnen wird“, und das bedeutet bekanntlich, obwohl man dabei manchmal ein leises Gefühl von Inexaktheit im Sprechen haben mag in der Regel so viel als „ich glaube, dafs es heute nicht regnen wird“, also das genaue Gegenteil dessen, was der Nebensatz angeblich ausdrücken sollte. Aber auch Wendungen wie „ich bezweifle, dafs . . .“, „ich weifs


1 Es geht darauf zurück, dafs auch hier das Glauben keineswegs fehlt, sondern nur sozusagen negatives Vorzeichen hat, ähnlich wie derjenige, der sagt, „ich will nicht“, meist nichts weniger als den Mangel an einem Wollungserlebnis zu verzeichnen hat. Vgl. auch unten § 21.


3 *


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Ziveitcs Kapitel.


nicht, lasse es dahingestellt, zweifle ob . . u. dgl. stehen der fraglichen Interpretation des Nebensatzes deutlich genug entgegen. Dem obigen „ich behaupte“ aber wäre mit vollster Strenge im Ausdruck ein „ich bestreite, dafs . . gegenüberzustellen, und sollte der Nebensatz hier neben dem Bestrittenen auch noch ein- mal das Bestreiten mitteilen, so müfste der abhängige Satz un- fehlbar für unser Regenbeispiel negativen Charakter haben. Ich schliefse daraus, dafs in keinem der hier aufgeführten Fälle sekundären Urteilsausdruckes im Hauptsatze, also auch nicht in denen, wo die in Rede stehende Auffassung vermöge der be- sonderen Sachlage nicht vorgängig bereits ausgeschlossen ist, im betreffenden Nebensatze ein Urteil aufser etwa sozusagen per accidens zum Ausdrucke gelangt.

Eine Art Verifikation hierfür bieten die Fälle, die sich von den eben besprochenen nur dadurch unterscheiden, dafs statt von den Ansichten des Redenden von denen anderer gesprochen wird. Wenn jemand sagt: „mein Freund X ist der Meinung, dafs das Problem des Determinismus und Indeterminismus un- lösbar sei“, so kann der Redende darum noch ganz wohl über- zeugter Determinist sein. Das einzige, was er hier an eigenem Urteil auszudrücken hat, betrifft die Meinung des Freundes, nicht aber die Frage des Determinismus. Das Urteil über diesen und seine Unbeweisbarkeit fällt der Redende gar nicht: der Neben- satz seiner Rede kann es daher so wenig ausdriicken wie der Hauptsatz.

Es gibt übrigens noch einen anderen Gesichtspunkt, unter dem es leicht ist, einzusehen, wie wenig die in Rede stehenden abhängigen Sätze mit „dafs“ und ihresgleichen eigentlich mit dem Urteil zu tun haben. Sie bleiben verständlich, auch wenn sie gar nicht selbst an einen Satz, sondern blofs an ein Wort angegliedert sind, das selbst unmöglich als Urteilszeichen betrachtet werden kann. Die Worte: „die Meinung, dafs die Wahrheit durch Gewaltmittel unterdrückt werden könnte“ sind durchaus verständlich, aber sie stellen dem Verstehen offenbar keine charakteristisch andere Aufgabe als etwa die Worte „die wich- tigste Entdeckung des 19. Jahrhunderts“; geurteilt wird im einen Falle so wenig wie im anderen, es mülste denn der Redende im Konjunktiv „könnte“ etwas von seinen Ansichten verraten, was aber keineswegs unerläfslich ist. Völlig analog zu dem eben betrachteten Beispiele rangieren nun aber auch viele Relativsätze.


Zur Frage nach den charakteristisch eil Leistungen des Satzes. ;>7

Wer vom Bäumlein redet, „das andere Blätter hat gewollt“, läfst sich auf Behauptung der Existenz dieses Bäumleins sicher nicht ein, und auch für den Ausdruck einer Negation wird den frag- lichen Relativsatz niemand nehmen wollen.

Nun bedarf es wohl keiner besonderen Begründung, dafs, was oben von unabhängigen Frage- und sonstigen Begehrungs- sätzen in betreff ihres Verhältnisses zum Urteile dargelegt worden ist, auch auf diejenigen Nebensätze übertragen werden kann, die sich an Hauptsätze von der Form „ich frage, bitte“ usw. an- schliefsen, sobald diese als sekundäre Ausdrucksmittel für die betreffenden Begehrungen die oben besprochenen primären er- setzen. Dagegen mufs hier noch auf gewisse satzförmige Aus- sagen hingewiesen werden, die unter den Gesichtspunkt des „abhängigen Satzes“ nicht mehr durchaus passen, so dafs auch die Grammatik hier lieber von „zusammengesetzten Sätzen“ besonderer Form spricht. Ich meine die Ausdrücke für das vielbesprochene sogenannte hypothetische und disjunktive Urteil. Namentlich in bezug auf das erstere ist ja schon oft genug betont Avorden, dafs A\ r eder der Vordersatz noch der Nachsatz wirklich geurteilt zu werden braucht, ja dafs der Kern des hypothetischen Urteils aufrecht bleiben kann auch für den, der den Vordersatz und den Nach- satz geradezu für falsch hält. In der oben berührten Ven\ 7 endung des Konjunktivs hat man hier sogar ein ganz gebräuchliches Zeichen für diesen Sachverhalt vor sich: „wenn es schön wäre, so liefse sich heute ein Ausflug unternehmen“ sagt man bei Regenwetter. Dafs nun aber auch das sogenannte disjunktive Urteil in den Rahmen der gegenwärtigen Untersuchung gehört, bedarf wohl keiner Rechtfertigung. Wer sagt: „entweder die Luft kühlt sich ab oder das Regenwetter dauert fort“, der be- hauptet ja so wenig das eine wie das andere.

Wie nahe hypothetische Urteile von der eben besprochenen Beschaffenheit jenen Schlüssen stehen, die man sozusagen nur ihrer Form nach zieht, ohne sich für die Richtigkeit der „Materie“ irgendwie zu engagieren, ist bekannt. Schon in der rein formel- haften Gestalt „A ist B, B ist C, daher ist A C’ 1 erfasse ich die Richtigkeit des Syllogismus nach dem Modus „Barbara“, ohne mich irgendwie näher auf die A, B und C einzulassen. Und was da in mir vorgeht, findet dann sicher auch im hypothetischen Urteile „wenn A B und B C ist, dann ist auch A (7“ einen


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Zweites Kapitel.


ziemlich adäquaten Ausdruck . 1 Damit ist aufser Frage gestellt, dals auch die drei Sätze, durch die der obige Syllogismus aus- gesprochen wurde, in keiner Weise Urteile ausdrücken können.

§ 7 .

Das Verstehen bei Wort und Satz.

Wie man sieht, steht man vor einer ansehnlichen Reihe von Tatsachen, die es aufs eindeutigste verbieten, dem Satze die Funktion beizumessen, als hätte er ein für allemal die Aufgabe, die Urteile dessen auszudrücken, der ihn ausspricht. Will man aber nicht an sozusagen zwecklose V eranstaltungen in der Sprache glauben, so involviert dieses negative Ergebnis die Frage, was denn also in Sätzen wie den eben geprüften eigentlich zum Ausdrucke gelangt. Auf eine ganz analoge Frage findet man sich geführt, wenn man den Satz statt vom Standpunkte des Redenden nun auch vom Standpunkte des Hörenden aus be- trachtet. Die Sprache wird ja zum Verständigungsmittel nicht nur dadurch , dafs etwas ausgedrückt , sondern nicht minder dadurch, dafs das Ausgedrückte resp. die es ausdrückende Rede verstanden wird.

Versucht man vor allem, sich das Wesen solchen „Ver- stehens“ klar zu machen, so liegt natürlich nichts näher als dabei die zu Anfang dieses Kapitels berührte Auffassung der Wörter als Zeichen zugrunde zu legen. Ist nämlich ein Zeichen, wie wir oben gesehen haben 2 , ein Tatbestand, der als Erkenntnisgrund zu funktionieren vermag, so besteht das, was man natürlicher- weise als „Verstehen“ des Zeichens zu benennen berechtigt sein wird, im Erleben des betreffenden Erkenntnisaktes: derjenige versteht das Zeichen, der aus dessen Gegebensein auf das Be- zeichnete wirklich schliefst. Sind also die Wörter Zeichen für psychische Vorgänge im Redenden, so wird der Hörer die Rede verstehen, sofern er auf Grund des Gehörten von den psychischen Vorgängen Kenntnis nimmt, die zum sprachlichen Ausdruck ge- langt sind. Speziell für den Satz, sofern er ein Urteil ausdrückt, hat dies dann zu bedeuten, dafs das Verstehen des Hörers darin


1 Vgl. auch meine Hume-Studien 2, Sitzungsberichte der k. Akademie d. Wiseensch. philos. hist. Kl. Bd. CI., 1882, S. 108 ff.

2 Vgl. § 3.


Zur Frage nach den charakteristischen Leistungen des Satzes.


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besteht, zur Überzeugung zu gelangen, dafs der Redende und worüber er urteilt.

Und manchmal trägt es sich in der Tat zu, dafs, wenn der X dem Y gegenüber eine Meinung äufsert, dieser daraufhin urteilt: „X ist der Meinung, dafs . . — oder genauer: „es liegt ein Urteil des Subjektes X vor mit so und so beschaffenem Gegenstände“. Allein diesen Gedanken wirklich auszudenken, vor allem den psychischen Tatbestand im X nach Akt und Gegenstand in ausreichender Klarheit sich zu vergegenwärtigen und zu beurteilen, ist doch eine weitaus zu schwierige Aufgabe, als dafs deren Lösung dem psychologisch Ungeübten als eine noch dazu mit Leichtigkeit zu bewältigende Alltagsleistung zu- gemutet werden könnte. Auch ist auffallend, wie sehr die Person des Redenden zumeist in den Hintergrund zu treten pflegt, wenn man Mitteilungen mit Verständnis entgegennimmt, und zwar auch dann, wenn man das Gehörte durchaus noch nicht zu „glauben“ geneigt ist. Noch auffälliger ist dies, wo die Person des Redenden schon von vornherein gar nicht zur Geltung kommt, wenigstens äufserlich nicht: so in der Regel beim Autor eines Druckwerkes, insbesondere eines solchen, das zunächst als Kunstwerk zu wirken hat, also etwa eines Romans oder eines gelesenen Dramas. Die Frage, wie das Verstehen des ge- sprochenen Dramas vor sich gehe, schliefst sich hier unabweis- lich an.

Man ersieht aus Tatsachen dieser Art, dafs es, auch wo es sich um das Verstehen handelt, eben doch nicht angeht, die Leistungen der Sprache dem allgemeinen Begriffe der Funktion des Zeichens kurzweg zu subsumieren. Anstandslos ist dies, so viel ich sehe, nur dort möglich, wo die Sprache emotionale Ge- schehnisse auszudrücken hat: äufsert der Redende Gefühle oder Begehrungen, dann besteht das Verstehen wirklich nur darin, seine Aufserung als Zeichen zu behandeln, d. h. aus ihr das heraus zu erkennen, wenn man so sagen darf, was der Redende ausdrückt. Dasselbe kann sich auch auf intellektuellem Gebiete zutragen, sofern der Hörende aus einem Worte oder Satze, den er hört, erkennen mag, dafs der Redende diese Vorstellung, jenes Urteil realisiert hat: aber es mufs nicht geschehen, und ist für das (sozusagen) intellektuelle Verstehen nicht einmal die Regel. Als solche Regel scheint sich hier vielmehr eine Gesetz- mäßigkeit geltend zu machen, die darin besteht, dafs das Wort


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Ziveites Kapitel.


oder der Wortkomplex im Hörer denjenigen psychischen Tat- bestand wachruft, den es resp. den er ausdrückt. Insofern stünde dann der in den vorangehenden Paragraphen erwogenen Position, dafs der Satz seinem Wesen nach das Urteil auszudrücken habe, ebenso natürlich die Parallelthese zur Seite, dafs der Hörende, indem er den Satz versteht, das darin ausgedrückte Urteil nun auch seinerseits fällt.

Auch dieser Position ist manche Erfahrung günstig: wenn mir jemand etwas erzählt, ist meine normale Reaktionsweise darauf die, dafs ich das Erzählte glaube, d. h. das Urteil, genauer die Urteile fälle, die in der Erzählung zum Ausdrucke gelangt sind. Aber die Parallelposition fällt natürlich mit der Position, deren Parallele sie ausmacht: haben wir Sätze angetroffen, die gar kein Urteil ausdrticken, so wird auch derjenige, der solche Sätze versteht, dazu bereits im Sinne der eben angesprochenen Gesetzmäfsigkeit kein Urteil nötig haben. Die selbstverständliche Konsequenz daraus ist dann weiter natürlich die, dafs genau dasselbe Problem, das sich uns oben in betreff dessen ergeben hat, was in solchen Fällen der Satz eigentlich ausdrückt, nun sich auch bezüglich der Weise einstellt, wie der Verstehende als solcher auf einen derartigen Satz reagiert.

Inzwischen erweitert sich der Umfang des in diese Frage Einzubeziehenden noch beträchtlich, sobald man gewahr wird, dafs die in Rede stehende Gesetzmäfsigkeit selbst zw^ar zwischen einzelnen Wörtern und Vorstellungen annähernd Geltung hat, bei den Sätzen aber oft genug auch da versagt, wo diese wirklich Urteile auszudrücken haben. Ich verstehe den in gutem Glauben abgestatteten Bericht eines notorisch Leichtgläubigen oder Aber- gläubigen, auch wenn ich mich durch ihn keineswegs überzeugen lasse. Auch Zeitungsberichte versteht man, obwohl man sich für deren Zuverlässigkeit nur in den seltensten Fällen würde verbürgen wollen; und dieses Beispiel hat nebenbei noch den Wert, dafs hier auch das oben zuerst besprochene Verstehen als Urteilen über das Urteil des Redenden, hier etwa des Zeitungs- reporters, wieder aufserordentlich fern gerückt ist. So stellt sich im ganzen heraus, dafs in betreff dessen, was der Satz eigentlich dem Verstehenden leistet, noch mehr Bedürfnis nach einer einigermafsen bündigen Antwort besteht als in betreff seinei

Funktion für den Sprechenden.

Genau in demselben Mafse ungelöst ist aber natürlich auch


Zur Frage nach den charakteristischen Leistungen des Satzes. 41

die Aufgabe, die Relation zwischen Sprechen und Denken in einigermafsen befriedigender Allgemeinheit zu bestimmen, soweit dies nicht durch Subsumtion unter den ganz allgemeinen Zeichen- begriff geleistet ist, der, wie wir sahen, der Hauptsache nach gerade auf intellektuellem Gebiete versagt, also da, wo so sehr die grofse Überzahl aller sprachlichen Leistungen liegt, dafs man bekanntlich leicht Gefahr läuft, die aufserintellektuellen Leistungen ganz zu übersehen. Sollte dieser Mangel nicht am Ende darin seine Wurzel haben, dafs man der Lösung der in Rede stehenden Aufgabe jenen Begriff der „Bedeutung“ noch nicht recht dienstbar gemacht hat, die wir oben von „Bedeutung“ im Sinne des Korrelates zu „Zeichen“ sorgfältig unterscheiden und insbesondere dem „Ausdrucke“ gegenüberstellen mufsten ? 1 Fürs erste scheint dieser Begriff freilich für solche Zwecke ein allzu enges Anwendungsgebiet aufzuweisen : „Bedeutung“ in diesem Sinne fanden wir zwar bei Wörtern, aber gerade bei Sätzen, auf die es uns doch nach dem obigen besonders an- kommen müfste, scheint sie zu fehlen. Wie aber, wenn sich zeigen liefse, dafs genauer besehen doch auch den Sätzen so gut „Bedeutung“ zukommen kann wie in der Regel den Wörtern? Die nachfolgenden Untersuchungen werden uns ganz von selbst auf die Beantwortung dieser Frage führen.


1 Vgl. oben § 4.


Drittes Kapitel.

Das Objektiv.


§ 8 .

Geurteilte Objektive.

Bedeutungen, sahen wir, sind Gegenstände. So führt das Interesse an jenen zu einer Untersuchung dieser und so in eine Wissenschaft, deren Eigenart und Eigenberechtigung als „Gegen- standstheorie“ ich an anderem Orte 1 dargelegt habe. Es ent- spricht jedoch den wesentlich psychologischen Intentionen der gegenwärtigen Schrift, zum Zwecke der Darlegung dessen, was ich hier über gewisse von der Forschung bisher zumeist ziemlich vernachlässigte Gegenstände zu sagen habe, von den sie erfassen- den Erlebnissen meinen Ausgang zu nehmen, wenigstens von den bekannten und anerkannten.

Betrachten wir also, um der Eigenartigkeit der Tatsache näher zu treten, auf die ich hier aufmerksam zu machen habe, einen ganz alltäglichen Fall negativen Erkennens. Sagt man z. B. in bezug auf eine Parlamentswahl, der eine heftige Agitation vorangegangen ist, es sei keine Ruhestörung vorgefallen, so wird fürs erste sicher niemand in Abrede stellen, dafs, falls es mit dem vorliegenden Urteile seine Richtigkeit hat, durch dasselbe „etwas“ erkannt ist. Aber immerhin könnte man zunächst meinen, dieses „etwas“ werde nichts anderes sein als der Gegenstand, an den derjenige eben naturgemäfs denkt, der das in Rede stehende Urteil sinnvoll ausspricht, also der Gegenstand „Ruhestörung“. In Ermangelung einer besseren Ausdrucksweise könnte es seitens

1 Zuerst in Nr. I der Grazer „Untersuchungen zur Gegenstandstheorie und Psychologie“ (vgl. auch die als Nr. II u. III in derselben Sammlung veröffentlichten Ausführungen von II. Amesedeh und E. Mally), dann in der Schrift „Über die Stellung der Gegenstandstheorie im System der Wissenschaften“, Leipzig 1907.


Bas Objektiv.


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eines Theoretikers einmal vielleicht wirklich auch so gemeint sein. Wird aber ein natürlich Redender sagen, eine Ruhestörung sei erkannt worden, wenn es sich gerade um die Erkenntnis der Tat- sache handelt, dafs eben nichts Derartiges geschehen ist? Und doch hat auch der natürlich Redende in unserem Falle ein „etwas“ zu verzeichnen, das erkannt wurde, oder eigentlich, er kann es in natürlicherer Weise tun, als jener Theoretiker: nicht ein Beurteiltes hat er dabei im Auge, sondern, wenn man so sagen darf, Erurteiltes, das in seiner Weise den Charakter der Tatsächlichkeit hat trotz der negativen Qualität des in Frage kommenden Urteils. Versucht man, dieses „etwas“ näher anzu- geben, so fällt sofort auf, dafs unter gewöhnlichen Umständen, wenn man künstliche Wortbildungen vermeiden will, ein ein- zelnes Wort hierzu nicht leicht zu Gebote steht, dagegen ein Satz mit „dafs“ sich als ganz ungezwungenes Ausdrucksmittel darbietet. Was ich etwa im Falle unseres Beispieles erkenne, ist eben dies, „dafs keine Ruhestörungen vorgefallen sind“. Das ist freilich nicht etwa ein Stück Wirklichkeit, wie es zu erfassen eine affirmative Existential-Erkenntnis ihrer Natur nach geeignet ist, aber immer noch etwas, das Gegenstand eines affirmativen Urteils werden kann. Ich habe ja gutes Recht zu sagen : „dafs keine Ruhestörung vorgefallen ist, das ist Tatsache“ oder auch, obwohl minder sprachgebräuchlich : „dafs keine Ruhestörung vorgefallen ist, das ist“. Damit ist also doch wohl gesagt, dafs das in Rede stehende „etwas“, das durch unser negatives Urteil erkannt wird, nichts anderes ist als ein Gegenstand : nur als Gegenstand eben dieses negativen Urteils kann es nicht wohl bezeichnet werden, sofern man, was doch bislang die Regel war mit dem Gegenstände eines Urteiles dasjenige meint, worüber im betreffenden Urteile geurteilt wird.

Es erwächst so das Bedürfnis, den Sinn des Terminus „Urteilsgegenstand" mindestens derart zu erweitern, dafs darin auch Gegenstände der eben betrachteten Art einbegriffen sind , 1 andererseits aber auch diese letzteren Gegenstände selbst durch einen besonderen Namen demgegenüber zu kennzeichnen, was man sonst allein als Urteilsgegenstand ins Auge gefafst hat und was mit dem Gegenstände zusammenfällt, den das Vorstellen


Dafs gerade sie eigentlich den bestbegründeten Anspruch darauf naben, I rteilsgegenstände zu heifsen, wird sich sogleich unten heraussteilen.


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Drittes Kapitel.


dem Urteilen gleichsam zur Bearbeitung präsentiert, eben dem Vorstellungsgegenstande. Es hat mir am geeignetsten geschienen, die im Sinne der obigen Darlegungen neu hinzukommende Klasse von Urteilsgegenständen als „Objektive“ zu benennen , 1 2 und ihnen nach dem Vorgänge R. Ameskdebs 2 Gegenstände, die sozusagen erst auf dem Umwege über das Vorstellen vor das Forum des Urteiles gelangen , 3 unter dem Namen „Objekte“ entgegenzustellen, der, obwohl an sich nichts weiter als die lateinische Übersetzung des Wortes „Gegenstand“, vermöge ausdrücklicher Konvention 4 in dieser Weise eingeengt verstanden werden soll. Vom Stand- punkte des Urteiles aus kann man sich in natürlicher und oft ganz vorteilhafter Weise auch so ausdrticken: in unserem Bei- spiele finden wir neben einem Gegenstände, über den geurteilt oder der beurteilt wird 5 , noch einen anderen, der „geurteilt wird“, wenn es statthaft ist, diese nicht herkömmliche Wendung dem Gebrauche nachzubilden, demgemäfs man unbedenklich sagt : „ich erkenne etwas von der, oder über die Ruhestörung“, nämlich eben das, dafs sie nicht stattgefunden hat. Objekt fällt also hier mit dem zusammen, was beurteilt, Objektiv mit dem, was geurteilt wird. Insofern hat das Urteil also nicht einen Gegenstand, sondern deren zwei, von denen sonach jeder An- spruch hätte, „Urteilsgegenstand“ zu heifsen. Zieht man da- gegen vor, was sich in der Tat vielfach empfiehlt, zunächst nur dasjenige Urteilsgegenstand zu neunen, was dem Urteil in ähn- licher Weise eigen ist wie der Vorstellung der Vorstellungsgegen- stand, dann kann unter „Urteilsgegenstand“ ausschliefslich das Objektiv verstanden werden.“

1 Einiges zur Rechtfertigung des Terminus vgl. unten § 14.

2 In den Grazer „Untersuchungen zur Gegenstandsth. u. Psychol.“ S. 54 und sonst.

l Nur freilich nicht nur sie: Gefühle z. B. sind Objekte, auch wenn sie

nicht durch Vorstellen, sondern durch Selbstpräsentation (vgl. oben S. 28 f.) oder durch Phantasie unserem Intellekt gleichsam zugänglich werden.

4 Von der ich mich durch jahrelange Erfahrung überzeugt habe, dafs sie praktisch zu erheblichen Unzukömmlichkeiten nicht führt.

» Eine Ausdrucksweise, die ohnehin, wenn auch zunächst in etwas speziellerer Bedeutung, in der modernen Logik ein immer gröfseres An- wendungsgebiet zu gewinnen scheint, vgl. z. B. B. Erdmann, Logik, Bd. I, 2. Au fl., S. 475 u. ö.

0 Die Darstellung der ersten Auflage hat in dieser Hinsicht begründete Einwendungen zur Folge gehabt, vgl. insbesondere B. Russkul, „Meinongs theory of complexes and assumptions“, II, Mind, N. S. XIII S. 345.


Das Objektiv.


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Vor allem ist nun nötig, darüber im klaren zu sein, dals die Eigenschaft, ein Objektiv zu haben, nicht etwa nur Sache des negativen Erkennens ist. Schaue ich auf die beschneite Stralse und urteile darauf hin : „es gibt Schnee draufsen“, so ist ..Schnee“ der Vorstellungsgegenstand, das Objekt dieser Er- kenntnis, daneben aber „dafs es Schnee gibt“ deren Objektiv, das diesmal dem Objekte freilich nicht in jener eigentümlichen Gegensätzlichkeit gegenübersteht, die uns das Objektiv bei der negativen Erkenntnis besonders auffällig machte. Man mag also auf den ersten Blick bei der Affirmation weit mehr als bei der Negation den Eindruck haben, es möchte wohl überflüssig sein, das Objektiv hier dem Objekte ausdrücklich entgegenzustellen. Man wird in betreff dieser scheinbaren Überflüssigkeit im Ver- laufe dieser Darlegungen vielleicht bald anderer Ansicht werden : für jetzt sei nur die Möglichkeit dieser Gegenüberstellung auch für die affirmative Erkenntnis betont, die garantiert ist, sobald man die Gedanken „Schnee“ und „dafs es Schnee gibt“ nicht für kurzweg identisch zu halten genötigt ist. Dies ist aber sicher nicht der Fall und so läfst sich allgemein sagen: die affirmative Erkenntnis hat so gut wie die negative nicht nur ihr Objekt, sondern auch ihr Objektiv.

Gibt es sonach keine Erkenntnis, keine wahre Affirmation und auch keine wahre Negation, der das Objektiv fehlte, so ist nun leicht zu ersehen, dafs es in dieser Hinsicht auch mit falschen Urteilen nicht anders bewandt ist. Wer einst glaubte, es gebe den Stein der Weisen, und wohl gar, er habe ihn gefunden, dessen Glaube bestand in Urteilen, die das, was er sich unter diesem Stein und dem Finden desselben dachte, zu Objekten, die Existenz des Steines und, dafs er ihn gefunden habe, zu Objektiven hatten. So wenig das Vorstellen darum eines Gegen- standes ermangelt, weil in diesem Falle das Vorgestellte nicht existiert, ebensowenig fehlt dem betreffenden Urteile sein Objektiv deshalb, weil dieses nicht tatsächlich ist . 1 Und dem affirmativen Irrtum, den unser Beispiel zunächst illustriert, steht natürlich auch der negative als von ihm hinsichtlich der Unentbehrlichkeit eines Objektivs völlig Ununterschieden zur Seite. Es läfst sich


1 Gegen A. Marty, „Untersuchungen“ S. 481, natürlich ebenso gegen die von Marty gegen mich verwertete Stelle aus der ersten Auflage dieser Schrift.


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Drittes Kapitel.


daher ganz allgemein sagen, so wenig eine Vorstellung ohne Objekt, so wenig ein Urteil ohne Objektiv; wir werden weiter unten 1 auf einen Gesichtspunkt geführt werden, unter dem sich die Verbindung zwischen Objektiv und Urteil sogar noch als die innigere darstellt.

Man kann den im Urteile vorliegenden Tatbestand nun auch so beschreiben: Das Urteil ist jederzeit insofern ein unselbstän- diges Erlebnis, als ihm stets durch ein anderes Erlebnis ein Gegenstand präsentiert werden mufs, an den es gleichsam heran- tritt, um ihn zu bearbeiten, ihn zu bedenken, wie man auch sagen könnte. Das präsentierende Erlebnis ist, wie oben 2 schon gelegentlich berührt, nicht immer eine Vorstellung: es ist eine solche aber immerhin häufig genug, dafs die erste Betrachtung von diesem Fall als Typus ausgehen mag. Dann ist der präsentierte Gegenstand ein Objekt, das, indem das Urteil sich damit be- schäftigt, auch Urteilsgegenstand wird, in gewissem Sinne sogar Hauptgegenstand des Urteils, insofern es das Urteil sozusagen zunächst auf ihn abgesehen hat als auf dasjenige, mit dem es gleichsam ins Reine zu kommen gilt. Der nicht ganz gefahrlose Tropus, der zu der oft gebrauchten Bezeichnung „intentionaler Gegenstand“ geführt hat, könnte beim Urteil nirgends zwang- losere Anwendung finden als gerade in bezug auf sein Objekt. Und doch ist dieses nur von aufsen her dem Urteil dargeboten worden, und diesem insofern nicht in dem Mafse eigen wie das Objektiv, dem das Urteil in gleicher Weise vermöge seiner Natur zugewendet ist wie die Vorstellung dem Objekt. Das Urteil erfafst das Objekt im Grunde durch das Objektiv hindurch, so dafs man in diesem trotz der das Interesse deutlich beherrschen- den Stellung des Objektes den eigentlichen Urteilsgegenstand vor sich hat. Hält man es aber für angemessen, nur von dem Urteilsgegenstande zu reden, wie man unbedenklich von dem Vorstellungsgegenstande sprechen kann, so kann, wie berührt als solcher nur das Objektiv in Betracht kommen und nicht das, was man bisher gewöhnlich Gegenstand eines Urteils genannt hat. Auf die Analogie zwischen dem Verhältnis des Urteils zum Objektiv und dem der Vorstellung zum Objekt werden wir noch zurückzukommen haben.


1 Vgl. Kap. VII 8 38, Mitte.

2 Vgl. S. 28 f.


Das Objektiv.


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Es könnte befremden, clafs hier für jedes Urteil sonach zwei Gegenstände in Anspruch genommen werden, obwohl unser urteilendes Denken nach dem Zeugnis alltäglichster Erfahrung doch immer nur mit einem Gegenstände zu tun hat und von einer Zweiheit nichts merken läfst. Man wird aber vor allem in Rechnung ziehen müssen, dafs eine Zweiheit im Sinne eines un- abhängigen oder getrennten Nebeneinander hier gar nicht gemeint ist. Das Objektiv steht nicht gesondert neben dem Objekt, son- dern das Objekt steht jederzeit, sofern das Urteil es erfafst, in einem Objektiv, an dem jenes eine Art integrierenden Bestand- stückes ausmacht. „Zu tun“ aber hat das Urteilen wirklich in- sofern nur mit dem Objekt, als das natürliche Interesse eben zunächst auf dieses gerichtet ist, um es in dem ihm zukommen- den Objektiv zu erfassen. So ist durch das Beurteilte das Ge- urteilte allenthalben trotz seiner Unentbehrlichkeit in den Hinter- grund gedrängt und taucht aus diesem Hintergründe zumeist erst auf, wenn es selbst in die Position des Beurteilten gelangt.

§ 9 .

Beurteilte Objektive.

Dafs es solche gibt, hat sich uns eben bereits an dem ersten Beispiele gezeigt, an dem wir dem Wesen des Objektivs näher getreten sind. Darauf hier ausdrücklich zurückzukommen, hat vor allem den Wert einer neuen Bekräftigung für das eben über Objektive Behauptete. Zwar scheint mir die im Objektiv sich darstellende Paralleltatsache zur Vorstellungsgegenständlichkeit aus der direkten Betrachtung dessen, was das Urteil bietet, sich mit voller Deutlichkeit als ein charakteristisches Moment am Urteil zu ergeben, das man, falls es sich nicht weiter sollte zu- rückführen lassen, so gut als letztes Datum wird hinnehmen müssen wie den Vorstellungsgegenstand. Aber ich kann mir andererseits doch auch nicht verhehlen, dafs, wer sich zum ersten Male vor die Zumutung gestellt findet, der altbekannten Tatsache des Urteilens eine wenigstens anscheinend ganz neue Seite zuzu- erkennen, eine Sachlage vorfindet, die nicht in jeder Hinsicht geeignet ist, ihn für die neue Position einzunehmen. Insbesondere mufs ihn die Ausdrucksform befremden, mit deren Hilfe allein im Obigen dem Objektiv näher zu treten versucht worden ist. Fällt jemand das Urteil „Harmonisch Reines kann melodisch unrein


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Drittes Kapitel.


sein“, und ich mache nun geltend, dafs dieses Urteil ein Objektiv habe, nämlich die Tatsache, „dafs harmonisch Reines melodisch un- rein sein kann“, so gehört wahrlich nicht viel übler Wille dazu, um .zu meinen, meine Aufstellung sei nichts weiter als eine völlig leere Tautologie, und das als etwas Besonderes in Anspruch genommene „Objektiv“ nichts weiter als das Urteil selbst sozusagen noch einmal. Solche Vormeinung findet zudem noch in einer etymo- logischen Erwägung eine Stütze. So viel mir bekannt, sind die Linguisten darüber einig, dafs unsere Konjunktion „dafs“ von Haus aus nichts anderes als ein Demonstrativ-Pronomen ist. W er also etwa sagt, „ich glaube, dafs harmonisch Reines melodisch unrein sein kann“, der sagt wenigstens etymologisch im Grunde gar nichts anderes als: „ich glaube dieses: harmonisch Reines kann melodisch unrein sein“. Damit scheint dem „dafs“-Satze alle Eigenartigkeit genommen: er ist ein Satz wie jeder andere, und was er zu besagen haben mag, ist allenfalls ein Urteil, aber nichts, was unter dem Namen des Objektivs eine besondere Be- achtung verdiente.

Unter solchen Umständen wird insbesondere für denjenigen, der der Anerkennung solcher letzter Tatsachen berechtigte Zu- rückhaltung entgegenbringt, der Umstand nicht ohne über- zeugende Kraft sein, dafs es Urteile gibt, denen ohne Heran- ziehung des Objektivs gar kein deutlicher gegenständlicher Sinn beizumessen ist. Wie sollte man etwa ein so alltägliches Urteil verstehen wie dieses: „es steht fest, dafs die Akten noch nicht geschlossen sind“? Es wird darin behauptet, dafs etwas fest- stehe; aber was? Offenbar natürlich das, was der abhängige Satz besagt. Er kann in diesem besonderen Falle wenigstens, — dafs es nicht immer so ist, haben wir bereits früher gesehen , 1 — für den Ausdruck eines Urteils genommen werden: ist also das Urteil dasjenige, was „feststeht“? Diese Interpretation ist in diesem Spezialfalle auch nicht gerade sinnlos ; doch genügt es, das Zeugnis der direkten Empirie anzurufen, um festzustellen, ob der Urteilende hier an das Urteil und nicht vielmehr ganz ausschliefs- lich an die Akten und deren Geschlossensein denkt. Ohne Zweifel ist Letzteres der Fall: wir finden uns sonach zum Zwecke der Präzisierung dessen, was „feststeht“, auf das Objekt oder die Objekte des im „dafs“-Satze ausgedrückten Urteiles hingewiesen.


1 Vgl. oben Kap. II, § 6.


Das Objektiv.


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Es handelt sieh, wie berührt, um den Aktenschlufs : aber gerade er steht nichts weniger als fest nach der Meinung des Urteilenden, der ja eben das Gegenteil davon behauptet. So findet man sieh unmittelbar auf das Objektiv als das „Feststehende“ hingewiesen, und ich kann nicht absehen, wie der Weg beschaffen sein sollte, auf dem man hier und in allen analogen Fällen um dieses herum- käme. Denn wäre etwa in unserem Beispiele das „Feststehende“ statt durch einen negativen durch einen affirmativen Satz zum Ausdrucke gelangt, so wäre die obige Erwägung vielleicht nicht ganz so handgreiflich ausgefallen, indem man eher hätte geneigt sein können, dann das grammatische Subjekt des „dafs“-Satzes für das „Feststehende“ zu nehmen. Aber einmal würde sich zeigen, dafs auf den Gegenstand „Aktenschlufs“, soweit darin nicht wieder ein Objektiv steckt, der im Bilde vom Feststehen be- schlossene Sinn gar nicht anwendbar wäre, — vor allem aber möchte es doch nicht wohl angehen, den affirmativen „dafs“- Satz ceteris paribus ganz anders zu deuten als den negativen.

Was hiermit zugunsten der oben nur durch Hinweis auf die direkte Empirie gestützten Behauptung, dafs jedes Urteil ein Objektiv habe, an Beweis noch hinzugekommen ist, läfst sich vielleicht am durchsichtigsten an einem Formelbeispiel darlegen, das als Schema für die einfachste hier in Frage kommende Sach- lage gelten darf. Ist das Urteil „A existiert nicht“ zu Recht bestehend, dann darf ich, wie oben schon berührt, auch urteilen : „Es ist, dafs A nicht existiert“. Hier ist „dafs A nicht existiert“, ohne Frage das, was „ist“, also der durch das hinzugekommene Urteil affirmierte Gegenstand. Dabei mufs ein besonders nahe- liegendes Mifsverständnis sogleich ganz ausdrücklich ausgeschlossen werden. Der Gegenstand, der sonach durch den „dafs“-Satz repräsentiert ist, ist sicher nicht etwa das Ausgangsurteil „A existiert nicht“, ich meine das Urteilserlebnis, das in diesem Satze seinen natürlichen Ausdruck zu finden pflegt : darüber läfst die direkte Betrachtung der hier gegebenen Sachlage keinen Zweifel aufkommen. Das Präsens „es ist“ könnte freilich den Schein erwecken, es handle sich hier jedenfalls zum mindesten um die Zeit, in der geurteilt wird; aber nicht einmal das ist richtig. Oder sollte der Urteilende normalerweise meinen, es stünde anders um das A, wenn er jetzt nicht urteilte ? Zu allem Uberflufs braucht man dann nur noch das Beispiel so abzuändern, dafs man es auch im Hauptsatz nicht mit einer Affirmation,

ileinong, Über Annahmen, 2 . Aufl. 4


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sondern mit einer Negation zu tun hat. Wenn ich sage: ,.es ist nicht, dafs A nicht existiert“, so kann das Nicht-Existierende doch ganz gewifs nicht das Urteilserlebnis sein, das eben durch diesen negativen Satz zum Ausdrucke gelangt. Nun kann man aber noch weiter gehen und behaupten, dafs auch nicht etwa das A unserer Beispiele den Gegenstand des im Hauptsatze aus- gesprochenen Urteils ausmache: denn abgesehen davon, dafs dann die Einkleidung in den „dafs“-Satz mindestens unmotiviert heifsen müfste, wird ja eben gar nicht geurteilt, dafs A existiere, sondern vielmehr das Gegenteil. Der „dafs“-Satz hat also seinen besonderen gegenständlichen Sinn.

Darf sonach für sichergestellt gelten, dafs Objektive nicht nur geurteilt, sondern auch beurteilt werden können 1 , so verdient die Tatsache dieser Beurteilung nun hinsichtlich ihrer psychologischen Voraussetzungen noch unser besonderes Interesse. Wie eben zuvor erinnert wurde 2 , kann nichts beurteilt werden, was dem Urteile nicht präsentiert würde. Das präsentierende Erlebnis ist häufig eine Vorstellung, nach verbreiteter Meinung sogar immer ; es wurde aber schon darauf hingewiesen, dafs auch das beurteilte Erlebnis selbst zugleich als präsentierendes fungieren kann. Auch bei beurteilten Objektiven kann das präsentierende Erlebnis natürlich nicht fehlen und es erhebt sich hier die für die Unter- suchungen dieser Schrift grundlegend wichtige Frage nach der Beschaffenheit dieses Erlebnisses.

Von den beiden eben wieder erwähnten Eventualfällen, dem Vorstellen und dem Erleben des Beurteilten selbst entfällt der zweite Fall ohne weiteres: Erlebnisse sind stets Objekte, niemals Objektive und darum kann ein Objektiv niemals sich selbst zur Beurteilung präsentieren. Es bliebe sonach nur das Vorstellen übrig; kann man aber ein Objektiv vorstellen? Die Antwort


1 A. Marty freut sich dieser Position als eines ihm in meinem Auf- sätze „In Sachen der Annahmen“ gemachten „Zugeständnisses“ („Unter- suchungen zur Grundlegung usw.“ S. 483) anläfslich einer Polemik, auf die ich unten (§ 20) zurückkomme. Er mufs übersehen haben, dafs das Meritorische dieser Aufstellung vom § 36 der ersten Aufläge dieser Schrift an ausführlich behandelt worden ist. Was ich a. a. 0. wirklich „zugestanden“ habe, war die unzureichende Berücksichtigung des Objektivs bei der in der ersten Auflage durchgeführten Untersuchung des hypothetischen Urteils. Ich werde das Versäumte unten § 31 nachzuholen versuchen.

  • Oben S. 44.


Das Objektiv.


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auf diese Frage ergibt sich unmittelbar aus einer im ersten Kapitel 1 bereits durchgeführten Voruntersuchung. Vielleicht ist das Verhältnis dessen, was wir dort als „Negativa“ behandelten, zum Objektiv demjenigen, der durch gegenwärtige Darlegungen vom Objektiv erst Kenntnis nimmt, noch nicht ganz durchsichtig 2 ; aber dafs es jedenfalls auch unter den Objektiven Negativa gibt, konnte schon deshalb niemandem entgehen, weil gerade an diesen die Eigenart des Objektivs oben zuerst exponiert worden ist. Finden wir also ein Objektiv beurteilt, das etwa die Form hat: „A ist nicht B“, wie wenn man z. B. sagt, „es ist wahr, dafs Schiller nicht in der Schweiz gewesen ist“, so mag zwar A und B durch Vorstellen präsentiert sein, das Objektiv, „dafs A nicht B ist“, ist es aber gewifs nicht. Ist dem aber so, dann wird man in betreff des sonst ganz analog beschaffenen Objektivs von der Form „A ist“ oder „A ist B“, das wir ja nun von den darin enthaltenen Objekten A und B wohl zu unterscheiden wissen, auch hinsichtlich der Präsentation nur Analoges erwarten können. Speziell der Gedanke an Fundierung und Vorstellungs- produktion läfst sich hier mit genau den nämlichen Mitteln ab- lehnen wie es oben hinsichtlich der Negation geschehen mufste. Damit ist dargetan 3 , dafs auch die andere der eben in Aussicht genommenen Präsentationseventualitäten beim Objektiv ihren Dienst versagt.

Dafür bieten die obigen Ausführungen über beurteilte Ob- jektive nun zwanglos eine dritte Eventualität dar, von der zu- gleich einleuchtet, dafs sie der Beachtung so lange entgehen mufste, als man diese dem Objektiv selbst nicht zuwandte. Wie es eine natürliche Eigenschaft jeder Vorstellung ist, ein Objekt vorzustellen, so fanden wir es in der Natur jedes Urteils gelegen, ein Objektiv zu urteilen. Kommt also der Vorstellung die Punktion zu, dem Urteil das Objekt zu präsentieren, so wird als präsentierendes Erlebnis hinsichtlich der Objektive das Urteil betrachtet werden dürfen, nur natürlich niemals dasjenige Urteil, dem das Objektiv präsentiert wird und das es darauf hin be- urteilt. Das wird denn auch durch die Erfahrung aufs beste

1 Vgl. oben § 2.

2 Das etwa noch Fehlende wird sich unten Kap. VIII von selbst er- geben.

8 Einiges Nähere soll noch unten im § 20 des fünften Kapitels zur Sprache kommen.


4 *


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belegt. Sagt einer „ich finde, dafs das Wetter heute bereits Herbstcharakter hat“, so beurteilt er das bezeichnete Objektiv, indem er konstatiert, dafs er das „findet“. Aber um das tun zu können, mufs er eben erst wirklich finden resp. gefunden haben, und das Finden besteht natürlich darin, dafs er das Objektiv urteilt. Die Beurteilung des nämlichen Objektivs ist dann sicher- lich kein wichtiger Gedankenschritt, doch jedenfalls einer, bei dem man darüber nicht im Zweifel sein kann, dafs er als zweiter das Urteilen des Objektivs als ersten ebenso voraussetzt, wie das Beurteilen einer Farbe, eines Tones oder sonst eines Objektes das Vorstellen dieses Objektes zur Voraussetzung hat.

So kann ein Zweifel darüber, dafs ein Objektiv durch ein Urteil einem anderen Urteil präsentiert werden kann, nicht wohl aufkommen. Eine ganz andere Frage ist es aber, ob jedes Ob- jektiv, das beurteilt wird, eines präsentierenden Urteils bedarf, ob die Präsentation nicht vielmehr auch durch andere Erlebnisse als Urteile ins Werk gesetzt sein kann. Diese Möglichkeit ist so wenig a limine abzuweisen, dafs sie vielmehr ein Hauptmotiv dafür abgegeben hat, in der vorliegenden Schrift von den Ob- jektiven zu handeln. Doch wollen wir im gegenwärtigen Zu- sammenhänge auf diese Eventualität noch nicht eingehen, viel- mehr (vielleicht eben darum nicht ohne Einseitigkeit) das Urteil einfach als das die Objektive zur Beurteilung präsentierende Erlebnis betrachten und vor allem die eigentümliche Komplikation charakterisieren, die aus einer solchen Präsentation für Urteile und Objektive resultiert.

Gehen wir noch einmal von einem schematischen Beispiele von der Form „A ist“ aus. Ist damit ein Urteil ausgedrückt, so wissen wir, dafs dessen Hauptgegenstand zwar das „beurteilte“ A ist, dem Urteile selbst aber das darin „geurteilte“ Objektiv, „dafs A ist“, sozusagen näher steht. Dieses Objektiv kann mit Rücksicht hierauf der unmittelbare, das Objekt A dagegen trotz seiner herrschenden Position der mittelbare Gegenstand des im obigen Satze ausgedrückten Urteiles heifsen. Das gilt natürlich von jedem beliebigen Objekte 0 und kann nicht anders werden, wenn nun einmal nicht ein 0, sondern ein Objektiv 0' beurteilt wird, nur ist diesmal nicht blofs der unmittelbare, sondern auch der mittelbare Gegenstand des beurteilenden Urteils ein Objektiv, und man kann diesem Urteile darauf hin neben seinem unmittel- baren noch ein mittelbares Objektiv zuschreiben, dem dieses


Das Objektiv.


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unter der eben gemachten Voraussetzung durch ein anderes Urteil präsentiert ist, dessen unmittelbares Objektiv es zugleich aus- macht. Ist 0\ das präsentierte und beurteilte Objektiv, TJ X das es präsentierende Urteil, so kann das beurteilende Urteil von dem wir ausgegangen sind, U 2 , sein unmittelbares Objektiv 0\ heifsen. Sowie dann U 2 zwei Objektive hat, das unmittelbare 0' 2 und das mittelbare 0\, so gehören umgekehrt zum Objektiv 0\ sozusagen zwei Urteile, von denen U 1 das unmittelbare und U 2 das mittelbare heifsen kann. Würde dann etwa auch 0' 2 durch sein unmittelbares Urteil U 2 einem weiteren Urteil U 3 auch seiner- seits zur Beurteilung präsentiert, so wäre dieses das mittelbare Urteil zum Objektiv 0' 2 und theoretisch stünde nichts im Wege, in dieser Weise immer wieder Urteil auf Urteil zu stellen und so Objektive zu erfassen, die deutlich als Objektive immer höherer Ordnung sich zu erkennen gäben. Praktisch würde sowohl Inter- esse als intellektuelle Leistungsfähigkeit solchem Weiterschreiten bald genug Grenzen setzen. 1


§ io.

Das Objektiv und die Sprache.

Objektive sind, wie schon zu erwähnen war, niemals Erleb- nisse. Hat gleichwohl, wie das Bisherige von selbst ergeben hat, das Objektiv zur Sprache ebenso enge als feste Beziehungen, so können sich diese keinesfalls darauf gründen, dafs die Sprache etwa Objektive ausdrückte. Ein Objektiv ist so wenig auszu- drücken als ein Dreieck oder ein Erdbeben oder auch ein Erlebnis, das in einem anderen als dem Redenden sich zuträgt. Aber alle diese Dinge können in der Sprache dadurch zur Geltung kommen, dafs diese ein Erlebnis ausdrückt, das eines von ihnen zum Gegenstände hat. Solche Gegenstände kennen wir als Be- deutungen, und es drängt sich sofort die Vermutung auf, dafs, gleichwie den Wörtern normalerweise die Eigenschaft zukommt, Objekte zu bedeuten, es Sprachgebilde geben wird, die zu ihren Bedeutungen Objektive haben. Wir wollen vor allem die Be-


1 Statt „unmittelbar“ und „mittelbar“ werden in der ersten Auflage dieser Schrift S. 164 ff. die Termini „vor- und nachgegeben“ verwendet. Ich hoffe im Obigen zu korrekter präzisierten Begriffen handlichere Ausdrücke gefügt zu haben.


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schaffenheit jener Sprachgebilde festzustellen versuchen, die sich mit den Objektiven besonders eng verknüpft zeigen, um dann auf Grund dieser Feststellungen die Bedeutungsfrage zu beant- worten.

Als natürlichstes Verständigungsmittel über Objektive hat sich uns in den bisherigen Darlegungen ganz von selbst der Satz bewährt, und zwar bei geurteilten Objektiven der unab- hängige, bei beurteilten der abhängige Satz , insbesondere der „dafs“-Satz. Dafs in dieser Hinsicht auch Relativsätze Dienste leisten können, bedarf weiter keines Nachweises. Was nun aber noch besonders erwogen werden mufs, ist dies, ob dem Ob- jektiv im sprachlichen Ausdrucke nicht statt Sätzen auch blofs Worte gegenüberstehen können, was so viel besagt als die Frage, ob es in den eben aufgezählten Anwendungsfällen der „dafs“- Sätze für letztere auch Ausdrucksäquivalente in anderer als der Satzform gibt.

Versucht man also, die „dafs“-Sätze sozusagen ihrer Satz- form zu entkleiden, so bietet sich zunächst eine Umwandlungs- weise dar, von der man nicht sagen kann, dafs sie jedesmal geradezu auf einen Fehlschlag führt. Statt: „ich vermute, dafs es ein Unglück gibt“, kann ich ganz wohl sagen: „ich vermute ein Unglück“, — statt: „ich erinnere mich daran, dafs er an- wesend war“ auch: „ich erinnere mich an seine Anwesenheit", — statt : „ich berichtete, dafs er gerettet ist“ auch : „ich berichtete seine Rettung“, — statt: „ich weifs, dafs er Fehler hat“ auch: „ich weifs um seine Fehler“ u. dgl. Mag man indes bereits hier der vollen Adäquatheit des Transformationsergebnisses nicht jedesmal ganz sicher sein, so ist doch etwa eine Aussage über „Glauben“ schon merklich schwerer in dieser Weise zu bearbeiten. Man sagt zwar noch ganz natürlich: „ich glaube an Gott, an mein gutes Recht“ u. dgl. statt : „ich glaube, dafs Gott ist, dafs ich ein gutes Recht habe“ usw. Dagegen wird statt „ich glaube, dafs im Zimmer ein Tisch steht“ niemand sagen : „ich glaube


an den Tisch im Zimmer“ und es ist zum mindesten sehr fraglich, ob daran eine Verschiebung im Sinne des Wortes „glauben die Schuld trägt. Vielleicht noch weniger zwanglos stellt sich bei Wendungen wie „ich urteile, meine (denke), behaupte, sage, dafs . . .“ und ähnlichen eine das „dafs“ eliminierende Um- formung ein. Sagt z. B. die Versuchsperson beim Anstellen von psychologischen Gewichtsversuchen : „ich urteile, dafs das erst-


Das Objektiv.


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gehobene Gewicht schwerer ist, so läfst sich dem ohne Änderung des Sinnes eine Aussage von der Form „ich urteile über das Schwerersein des erstgehobenen Gewichtes“ oder dgl. nicht zur Seite stellen . 1

Mehr oder minder ungenau freilich wird man in solcher Weise das gegebenen Falles Beurteilte vermutlich jedesmal be- zeichnen können. Aber auch wenn man dabei das, worüber man etwas „meint, urteilt“ usw. genau zu bestimmen in der Lage jst, so fehlt immer noch die Bestimmung, ob das vorhegende Urteil affirmativ oder negativ ausfällt, eine Bestimmung, welche im Satze mit „dafs“ ganz naturgemäfs nicht fehlen kann, die sich dagegen in das Transformationsergebnis hier nicht mit aufnehmen läfst. Nachträglich fällt nun vielleicht auch auf, dafs bereits bei den oben als statthaft aufgezählten Transformationen die Unbe- stimmtheit der Urteilsqualität sozusagen nur durch eine Art will- kürlicher Einschränkung beseitigt war. Denn besagt etwa die Wendung: „ich vermute ein Unglück“ nichts weiter, als dafs das Unglück eben Gegenstand meiner Vermutung ist, so fehlt an solchem Ausdrucke tatsächlich eine eigentliche Angabe darüber, ob die Vermutung affirmativen oder negativen Charakter hat und es kann streng genommen für nicht mehr als konventionell gelten, dafs hier jedermann ohne weiteres eine affirmative Ver- mutung versteht.

Aber was sich so im wesentlichen als undurchführbar heraus- stellt, ist vorerst doch nur der Versuch, das Objektiv einfach zu- gunsten des Objektes, allgemeiner den unmittelbaren Gegenstand des ausgedrückten Urteiles zugunsten seines mittelbaren Gegen- standes zu vernachlässigen. Ob dagegen das Objektiv nicht auch noch anders als durch den Satz sprachlich zur Geltung kommen kann, das ist eine ganz andere Frage und zwar eine, die, soweit ich sehe, innerhalb gewisser Grenzen sehr wohl eine affirmative Antwort gestattet. Sage ich, um noch einmal an die zu Anfang der


1 Allerdings kann man aber hier, zwar etwas hart, doch ganz im Sinne der von mir oben § 8 angewandten Ausdrucksweise, sagen : „ich urteile das Schwerersein des erstgehobenen Gewichtes“. Das Wort „Schwerersein“ bedeutet eben, wie sich unten sogleich herausstellen wird, schon selbst ein Objektiv. Und wie oft der „dafs“-Satz nicht ein Beurteiltes, sondern ein Geurteiltes betrifft, darein wird unten § 21 etwas näheren Einblick zu bieten versuchen. An gegenwärtiger Stelle dürfte sich empfehlen, diese immerhin etwas verwickelten Dinge noch unberücksichtigt zu lassen.


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obigen Darlegungen gebrauchte Formel existentialer Aussageweise anzuknüpfen, statt „dafs A existiert, ist“ etwa „die Existenz des A ist“, so besagt dies freilich nicht mehr, aber auch nicht weniger ; und statt „ich bestreite, bezweifle, behaupte, dafs es ein Vakuum gibt“, kann ich auch sagen: „ich bestreite, bezweifle, behaupte die Existehz des leeren Raumes“. Ist dagegen das dem Objektiv unmittelbare Urteil in kategorischer Aussageweise aufgetreten, also in der Formel „dafs A B ist“, so bietet hierfür die Form „das R-sein des A “ vielfach einen ganz befriedigenden Ersatz. Statt „ich bestreite nicht, dafs der Eisenbahnzug herankommt, dafs die Tafel schwarz, dafs Gelb von Grün verschieden ist“, läfst sich unbedenklich sagen: „ich bestreite nicht das Heran- kommen des Eisenbahnzuges, das Schwarz-sein (oder die Schwärze) der Tafel, die Verschiedenheit zwischen Gelb und Grün“. Dabei ist der Unterschied zwischen den hier so brauchbaren Verbal- substantiven und dem Infinitiv freilich kaum ein sehr erheblicher : im ganzen aber soll an dieser Stelle weder die Eigenartigkeit noch die Verwendbarkeit dieser Weisen, das Objektiv zu be- zeichnen, in Abrede gestellt werden. Dafs ich auf sie bei den bisherigen Darlegungen zunächst keine Rücksicht genommen habe, ist in dem Umstande begründet, dafs sie als Äquivalente der „dafs“-Sätze nur unter besonderen Voraussetzungen brauchbar scheinen, deren Natur erst genauerer Feststellung bedarf. „Dafs Frostwetter herrscht“, kann ich „wahr \ selbstverständlich, ein- leuchtend“ finden u. dgl., „das Herrschen des Frostwetters“ dagegen nicht. Es steht zu vermuten, dafs hier eingehendere Untersuchung über Wesen und Bedingungen der bei diesen Äquivalenten auftretenden Gebrauchseinschränkungen auch die Einsicht in das Wesen des Objektivs nicht unbeträchtlich fördern wird : indes mufs im gegenwärtigen Zusammenhänge von einer Weiterführung dieser Untersuchungen Abstand genommen werden.

Für die Theorie des Objektivs sind derlei Ausdrücke, in denen die Satzform aufgegeben ist, dadurch besonders lehr- reich, dafs hier Objektive mit Objekten auch äufserlich sozu-


1 „Übereinstimmung“, sagt B. Bolzano, Wissenschaftslehre Bd. I, S. 96, „oder Nichtübereinstimmung an und für sich kann man doch weder wahr noch falsch nennen ; sondern wahr oder falsch kann nur die Aussage sein, dafs eine solche Übereinstimmung oder ihr Gegenteil . . . vorhanden sei . Nur die beiden Wörter „die Aussage“ hütten hier nach meiner Auffassung zu entfallen.


Das Objektiv.


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sagen auf gleichem Fufs behandelt auftreten. Und vor allem ist beachtenswert, dafs die auf den ersten Blick so wohl abge- grenzte Gegensätzlichkeit zwischen Objekt und Objektiv sich dabei in ganz erstaunlicherWeise zu verwischen droht. Zwischen „Tisch“ freilich und „Existenz des Tisches“ stellt sich die Kluft immer noch recht unüberbrückbar dar. Wie aber unterscheidet sich eigentlich „Verschiedensein “ von Verschiedenheit, wie „Schwarz-sein“ von Schwärze? Und sind Verschiedenheit und Schwärze nicht zweifellos Vorstellungsgegenstände, näher jene ein Fundierungs-, diese ein Erfahrungsgegenstand ? 1 Falls sie es aber etwa nicht sind, haben wir dann folgerichtig nicht in allen Relationen, ja allen durch die sogenannten Abstrakta der Grammatik auszusprechenden Attributen eigentlich Objektive vor uns?

Vor allem mufs hier nun die im gegenwärtigen Zusammen- hänge gewifs nicht unwichtige Tatsache konstatiert werden, dafs „Schwärze“ genau genommen sicher nichts anderes bedeuten kann als „Schwarzsein“, ebenso „Verschiedenheit“ nichts anderes als „Verschiedensein“. „Die Schwärze“ ist eben doch etwas anderes als „das Schwarz“, und analog „die Verschiedenheit“ etwas anderes als „das Verschieden“, wenn auch speziell diese letztere Wortbildung kaum gebräuchlich sein wird. Und fragt man weiter, wodurch sich „die Schwärze“ von „dem Schwarz“ unterscheide, so läfst sich darauf nur antworten, dafs „Schwärze“ gewissermafsen mehr besagt als „das Schwarz“, nämlich nicht nur diese Eigenschaft, sondern auch sozusagen die Position, die ihr an einem Schwarzen zukommt, also die Position an einem Gegenstände, den diese Eigenschaft zu einem Schwarzen bestimmt. Ist das Schwarz die Eigenschaft, so die Schwärze, was E. Mally die „Bestimmung“ genannt hat . 2 Das Bestimmen aber ist sozu- sagen eine interne Angelegenheit des Objektivs, das Schwarze ist eben das Schwarzseiende. Da es in der Natur der Eigenschaft liegt, Eigenschaft von etwas zu sein, so ist es nicht erstaunlich, dafs die Sprache bei der Bildung dessen , was man in der Grammatik gern speziell als „Abstraktum“ bezeichnet, zur Eigen- schaft gewissermafsen deren bestimmende Funktion sogleich

1 Vgl. „Über Gegenstände höherer Ordnung usw.“ Zeitschr. f. Psychol. 21, S. 200 ff.

2 „Untersuchungen zur Gegenstandstheorie des Messens“, in den Grazer „Untersuchungen zur Gegenstandstheorie und Psychologie“ S. 131 f.


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hinzugenommen hat. Bei cler Unbekanntschaft mit dem Objektiv ist es aber ebenso verständlich, dafs man dasselbe aus diesen „Abstraktis“ nicht herausspürte, und es so mit der blofsen Eigen- schaft, also mit dem Objekt zu tun zu haben meinte. Das gilt natürlich auch von Terminis, die Relationen bedeuten; auf die Bedeutung des Objektivs für sie werden wir später noch besonders zurückzukommen haben. 1

Immerhin wird aber natürlich niemand die Bürgschaft dafür übernehmen können, dafs, wer ein solches „Abstraktum“ anwendet, dabei nicht einmal auch die objektivfreie, in diesem Sinne reine Eigenschaft meinen mag. Das ist eine Unsicherheit, die bei Interpretation von Wortbedeutungen, die in ihrer vollen Schärfe zu erfassen dem Alltagsleben fernliegt, auch sonst nicht vermieden werden kann. Davon abgesehen aber lehren uns die eben dar- gelegten Tatsachen keineswegs, dafs Objekt und Objektiv in diesen substantivischen und adjektivischen Ausdrücken ineinander ver- schwimmen, sondern nur dafs das Gebiet der Objektive erheblich weiter reicht, als man auf die blofse Berücksichtigung der „dafs“- Sätze hin glauben könnte.

Hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Wort und Satz aber erkennt man nun jedenfalls, dafs es damit nicht so einfach steht als es auf den ersten Blick scheinen könnte. Denn man kann nicht etwa kurzweg sagen, dafs man es beim Worte und Wort- komplex (mit Ausschlufs des Satzes) jedesmal mit Objekten, beim Satze mit Objektiven zu tun haben müsse: vielmehr werden Wortbedeutungen nicht nur durch Objekte, sondern oft genug auch durch Objektive ausgemacht. Treten aber weiter solche Wörter, wie wir gesehen haben, als Satzäquivalente auf, so wird, falls einem solchen Worte Bedeutung zukommt, dem äquivalenten Satze eine solche nicht wohl abzusprechen sein, und wir kommen so auf das am Ende des vorigen Kapitels fallen gelassene 1 hema der Satzbedeutung zurück. Auch Sätze, so können wir jetzt sagen, haben Bedeutung in jenem seinerzeit präzisierten - engeren Sinne, und zwar sind diese Satzbedeutungen Objektive.

Haben wir damit aber zugleich auch die Antwort gefunden auf die im vorigen Kapitel aufgeworfene b rage nach dem Momente, das Sätze gegenüber anderen Wortkomplexen in eine ausgezeicli-


1 Vgl. unten Kap. VIII, § 42 ff.

  • Vgl. oben Kap. II, § 4, S. 28.


Das Objektiv.


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nete Position rückt? Können wir also einfach sagen: Sätze sind Wortkomplexe, die dadurch charakterisiert sind, dafs sie Objektive bedeuten? Das würde dem eben wieder herangezogenen strengen Bedeutungsbegriffe doch nicht gemäfs sein. Bedeutung, sagten wir ja, komme dem Ausdrucke eines Erlebnisses zu, sofern es seinen Gegenstand, der dann die Bedeutung ausmacht, dem Denken präsentiert. Nun wissen wir aber, dafs dies keineswegs bei jedem Satze zutrifft. Ein Objektiv zwar steht jedem Satze gegenüber, ein präsentiertes aber nur, soviel uns bisher an Tat- sachen begegnet ist dort, wo das betreffende Objektiv beurteilt, nicht blofs geurteilt wird. Typisch hierfür ist der „dafs“-Satz, sofern dieser vom Ausdrucke eines Urteils grammatisch abhängig ist, das das fragliche Objektiv zum mittelbaren Gegenstände hat. Das ist dagegen beim unabhängigen Satze unter normalen Um- ständen nicht der Fall, und insofern eignet einem solchen Satze auch keine Bedeutung im strengen Sinne. Immerhin ergibt viel- leicht die ganze Sachlage einen Impuls, den Bedeutungsbegriff in der Weise zu erweitern, dafs man auch einem solchen unabhängigen Satze sein Objektiv als Quasibedeutung zuerkennt. In dem Ob- jektiv, das dann natürlich keinem sinnvoll ausgesprochenen Satze als Bedeutung fehlte, könnte aber auch dann nicht die Charak- teristik des Satzes gesucht werden, da ja, wie berührt, auch Wörter Objektive zu Bedeutungen haben können, und obendrein zu Bedeutungen im strengen Wortsinne.

§ 11 .

Allgemeines über die Beschaffenheit der Objektive.

Aus Anlafs des mehr der Kürze als theoretischer Strenge dienenden Sprachgebrauches, von Gegenständen zu reden, die „in meiner Vorstellung“ oder natürlich auch „in meinem Urteile“ existieren u. dgl., habe ich bei anderer Gelegenheit den Begriff: der Pseudoexistenz von Gegenständen gebildet . 1 Dafs er auf Objek- tive anwendbar ist, ergibt sich schon aus dem Umstande, dafs Ob- jektive beurteilt, übrigens aber natürlich auch bereits daraus, dafs sie geurteilt werden können, und ich darf nunmehr von dem bisher über Objektive Dargelegten zusammenfassend sagen, dafs dieselben ausschliefslich unter dem Gesichtspunkte der Pseudo-


Vgl. „Über Gegenstände höherer Ordnung usw.“ a. a. O. S. 186 f.


1


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Drittes Kapitel.


existenz behandelt worden sind, d. h. dafs bisher von den ver- schiedenen psychischen Tatsachen die Rede war, sofern sie Objektive „haben“. Es hiefse aber in betreff einer auch heute noch bei weitem nicht ausreichend gekannten und beachteten Sache zu Mifsverständnissen Anlafs geben, würde der bisherigen psychologischen Behandlung des Objektivs nicht eine wenn auch noch so fragmentarische apsychologische 1 an die Seite gesetzt. So mögen denn hier noch einige, ihrem Wesen nach gegenstands- theoretische Aufstellungen über das Objektiv, seine Eigenschaften und Hauptarten ihre Stelle finden, wobei der Umstand, dafs in ihnen der Bereich der eigentlichen Intentionen der gegenwärtigen Schrift bereits überschritten wird, es rechtfertigen mag, wenn hier anscheinend dogmatischer, als es sonst meinen Gewohnheiten entsprechen dürfte, zusammengestellt auftritt, was anderweitige Untersuchungen 2 ergeben haben, oder wohl gar erst bevorstehende Ausführungen in eingehenderer Weise werden rechtfertigen müssen.

Da verdient denn vor allem die Tatsache noch ausdrücklich betont zu werden, dafs das Objektiv gleich jedem anderen Gegen- stand die apsychologische Betrachtungsweise überhaupt gestattet und daher verlangt. Näher richtet sich diese Betonung gegen zwei, wie mir scheint, durchaus irrige Auffassungen. "V or allem gegen die dem „Vorurteil zugunsten des Wirklichen“ 3 gemäfse


1 Über den Terminus „apsychologisch“ vgl. meinen Aufsatz „Über Urteilsgefühle, was sie sind und was sie nicht sind“, Archiv f. d. gesamte Psychol., 6, 1905, S. 34.

2 Zu genauerer Orientierung sei insbesondere auf R. Ajieseders „Bei- träge zur Grundlegung der Gegenstandstheorie“ (Nr. II der Grazer „I nter- suchungen zur Gegenstandstheorie und Psychologie“) verwiesen, ferner auf E. Mallys Untersuchungen „Zur Gegenstandstheorie des Messens (Nr. III derselben Sammlung), — sowie auf die einschlägigen Kapitel meiner eben angeführten Schriften „Über Urteilsgefühle“ S. 30 ff., „Über die Erfahrungs- grundlagen unseres Wissens“ S. 18 ff., „Über die Stellung der Gegenstands- theorie usw.“ s. 20 ff. Spezielleres behandeln: W. Frankl, „Gegenstands- theoretische Beiträge zur Lehre vom sogenannten logischen Quadrat“, Archiv f. systemat. Philos. 13, 1907, S. 346 ff. - sowie die beiden Vorträge E. Mallys: „Grundgesetze der Determination“, Verhandlungen des III. internationalen Kongresses für Philosophie. Heidelberg 1908, S. 862 ff., und „Gegenstandstheorie und Mathematik“, ebenda, S. 881 ff.

3 Vgl. meine Ausführungen „Über Gegenstandstheorie“, Nr. I der Grazer „Untersuchungen zur Gegenstandstheorie und Psychologie“, S. 3 ff.


Das Objektiv.


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Meinung, unser Wissen oder wenigstens unser Interesse könne nur Wirkliches betreffen; gehörten daher die Objektive nicht zur Wirklichkeit, so könnten höchstens die sie erfassenden Erlebnisse die Wissenschaft beschäftigen. Dann aber auch gegen jene rela- tivistische Deutung des Gegenstandsbegriffes, die, indem sie sich nicht ohne etymologische Stütze auf das „Gegenstehen“ beruft, nur von einem „Objekt für das Subjekt“ wissen will und so auch das Objektiv jener Selbständigkeit gegenüber dem erfassenden Erlebnisse entkleidet, die jenem nach meiner Überzeugung nicht minder wesentlich eignet als irgend einem Stück Wirklichkeit „aufser uns“. Dafs darum dem Objektiv noch in keiner Weise Dasein oder Existenz, ja nicht einmal immer in jedem Sinne Sein zugeschrieben werden soll, mufs sogleich noch besonders zur Sprache kommen.

Ohne jede Rücksicht also auf ein erfassendes Subjekt und dessen Erlebnisse läfst sich konstatieren, dafs jedem Gegenstände seine allgemeine und besondere Natur eignet; und dieser natür- lichen Beschaffenheit nach zerfallen die Gegenstände in die beiden grofsen Gruppen der Objekte und der Objektive, wobei die Differenzierbarkeit innerhalb jeder Gruppe zwischen den beiden Klassen selbst (resp. den Angehörigen derselben als solchen) Verschiedenheiten bestehen lassen dürfte, die die Verschieden- heiten innerhalb jeder der Klassen erheblich übertreffen. Dafs die Disjunktion aller Gegenstände in Objekte und Objektive eine vollständige sei, dafür ist eine rationale Evidenz zurzeit nicht zu erzielen.

Eine definitorische „Zurückführung“ so letzter Dinge auf sozusagen noch frühere wird billigerweise niemand verlangen. Dagegen dient der beschreibenden Präzisierung des in Objekt und Objektiv gegebenen Tatbestandes in vorzüglicher Weise der von R. Ameseder, eingeschlagene Umweg, unter dessen Benutzung sich etwa sagen läfst: Jeder Gegenstand hat Sein (oder Nichtsein). Es gibt aber Gegenstände, die nicht nur Sein (in diesem weitesten Sinne) haben, sondern auch Sein sind, und diese Gegenstände sind die Objektive, während was Sein hat, ohne Sein zu sein, dadurch als Objekt charakterisiert ist. Der Umstand, dafs so jedes Objektiv Sein (im weitesten Wortsinne) und umgekehrt alles Sein Objektiv ist, könnte die Aussicht, das Objektiv nun doch definitorisch zu bestimmen, demjenigen eröffnen, der das Sein definieren zu können meint. Dies ist in der Tat durch folgende


(32


Drittes Kapitel.


Aufstellung 1 versucht: „Da wir das Sein oder Existieren nur in und mit einem (anerkennenden) Urteilen, dessen Richtigkeit sich uns kundgibt, erfassen, so kann auch der Begriff des Seienden nicht anders als durch Reflexion auf ein solches Urteilen ge- wonnen werden. Seiend und existierend heifst, . . . was mit Recht anerkannt werden kann .* 4 * * * Aber mit einer solchen Definition wäre es besten Falles nicht anders bewandt, als wenn jemand „Grün“ als die Farbe definieren wollte, die man empfinden kann, wenn Licht zwischen der E- und FLinie des Sonnenspektrums auf das Auge einwirkt. Sowenig das Wesen der Farbe in physikalischen oder psychophysischen Vorgängen oder deren Verknüpfung, so wenig liegt das Wesen des Seins im Anerkanntwerden oder An- erkanntwerdenkönnen. Das ist gerade für die letztere Fassung besonders auffallend, durch die ja im Grunde alles Sein in Möglichkeit aufgelöst würde, ein hinsichtlich „äufserer Existenz“ freilich schon oft herangezogener Gedanke, dessen Unhaltba 3 rkeit 2 im Falle der Anwendung auf das Sein ganz im allgemeinen nur noch besonders deutlich zutage tritt. Wie bei der Farbe auf das, was man empfindet, so kommt es beim Sein zuletzt eben doch auf das hinaus, was man urteilt . 8

Die dem Objektiv mit dem Objekt gemeinsame Eigenschaft, Sein (einschliefslich Nichtsein) zu haben, involviert zugleich die uns schon von ihrer psychologischen Seite her bekannte Tat- sache, dafs jedem Objektiv unendlich viele Objektive höherer Ord- nung zukommen, alle diejenigen nämlich, die durch solche Ur- teile 4 unmittelbar erfafst werden können, die das Ausgangsobjektiv mittelbar erfassen. Dagegen kann man natürlich nicht urnge-


1 A. Martys in den „Untersuchungen zur Grundlegung usw.“ S. 314 (vgl. auch S. 293 u. ö.).

2 Vgl. meine Ausführungen „Über die Erfahrungsgrundlagen unseres Wissens“ S. 85 ff.

3 Ich glaube nicht, dafs es in der Intention des eben genannten Autors liegt, Sein in Möglichkeit aufzulösen; soviel ich sehe, gibt es aber keinen Weg, dieser Konsequenz auszuweichen. Es kommt übrigens hinzu, dafs

wer an Sein denkt, nach meiner Erfahrung in den seltensten Fällen auch ans Urteilen denkt. Dafs die ganze Aufstellung durch Einschränkung auf das berechtigte Urteilen von der Anwendung auf alle nicht-tatsächlichen

Objektive ausgeschlossen ist, wird sich aus dem Folgenden von selbst er-

geben.

  • Freilich wieder nicht nur durch Urteile, wie sich zeigen wild, vgl*

unten Kap. V, § 20.


Das Objektiv.


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kehrt sagen : jedes Urteil, das, wie es mufs, ein Objektiv urteilt, müsse auch ein Objektiv beurteilen ; das Beurteilte kann ja auch ein Objekt sein. Demgemäfs kann nicht von jedem Objektiv behauptet werden, dal's es ebenso stets Objektive niederer Ord- nung unter, wie solche höherer Ordnung über sich haben mufs. Gewifs mufs es im eben angegebenen Sinne einen Gegenstand ..unter sich“ haben: dieser Gegenstand kann aber auch ein Objekt sein. Geht man aber von einem gegebenen Objektive aus nach „abwärts“ im eben berührten Sinne, so mag man auf diesem Wege bald eine längere, bald eine kürzere Reihe von Objektiven immer niedrigerer Ordnung antreffen; jedenfalls aber wird die so zu passierende Reihe, falls man sich innerhalb der Grenzen des Möglichen hält, mit einem Objekte enden. Jedem Ob- jektive kommt also insofern die Position eines Gegenstandes höherer Ordnung 1 zu. Den Gegenstand oder die Gegenstände, worauf es sozusagen gestellt ist, könnte man, einen an anderem Orte für das Urteil vorgeschlagenen Terminus 2 übertragend, als das Material des Objektivs bezeichnen.

Nicht gerade allen, wohl aber den bisher meistbeachteten Gegenständen höherer Ordnung analog ist nun auch die Stellung, die den Objektiven innerhalb der alles Seiende umfassenden Gegensätzlichkeit von Dasein und Bestand 3 zukommt. „Dafs A existiert“ oder auch „dafs es nicht existiert“, das „besteht“, falls das es unmittelbar erfassende Urteil mit Recht gefällt werden durfte, aber es existiert nicht sozusagen noch einmal. Ganz das Nämliche wäre natürlich vollends von Objektiven zu sagen, die selbst schon Bestehendes zum Material haben: „dafs 3 gröfser als 2“ oder auch „dafs Krumm nicht Gerade ist“, das kann gleichfalls nur „be- stehen“, nicht aber existieren. In gleicher Weise wird dann natürlich auch von Objektiven falscher Urteile nicht etwa zu- nächst Existenz, sondern stets nur Bestand zu negieren sein, was dann freilich das Recht zur Existenznegation jedesmal mit impliziert, immerhin zu einer insofern nichtssagenden, als sie von allem gilt, das von Natur aus höchstens bestehen kann, nicht aber existieren, weil es eben ein idealer Gegenstand ist.. Es wäre nichts als ein Seitenstück zu einer Behauptung wie der,

1 Vgl. „Über Gegenstände höherer Ordnung usw.“ Zeitschr. f. Psychol. 21, S. 189 ff.

2 „Über die Stellung der Gegcnstandstli. üsw.“ S. 29 u. ö.

3 Vgl. „Über Gegenstände höherer Ordnung usw.“ a. a. 0. S. 186.


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Drittes Kapitel.


dafs Gleichheit zwischen 2 und 3 nicht existiere, was ohne Zweifel richtig, aber darum gar nicht charakteristisch ist, weil die Verschiedenheit zwischen 2 und 3 oder etwa auch die Gleich- heit zwischen 2 und 2 1 ebensowenig „existiert“, da sie eben nur bestehen kann.

Eines scheint an der hiermit gegebenen Bestimmung auf- fallend. Die Verschiedenheit, die zwischen Grün uud Gelb be- steht, besteht notwendig; die Gleichheit, die zwischen Grün und Gelb nicht besteht, besteht notwendig nicht: ebenso verhält es sich auch sonst ausnahmslos auf dem Gebiete des Idealen. Kann ich aber ebenso sagen: „dafs jetzt die Sonne scheint, oder dafs es jetzt nicht regnet, ist notwendig“? Es unterliegt keinem Zweifel, dafs ich das nicht kann 2 : aber was daraus folgt, ist eben nur dies, dafs Fälle von Bestand oder Nicht-Bestand zwar häufig, doch keineswegs immer auch Fälle von Notwendigkeit sind. Notwendigkeit ist, wie noch zu zeigen sein wird, eine Eigenschaft, die sich streng genommen überhaupt nur an Ob- jektiven vorfindet: dafs auch Gleichheit und Verschiedenheit in den angeführten Beispielen in gewissem Sinne Objektive sind, ist wie eben zuvor berührt uns bereits in früherem Zusammen- hänge klar geworden. Notwendigkeit eignet aber nicht allen Objektiven, die vielmehr auch dem Gegenteil der Notwendigkeit, der Zufälligkeit, Raum bieten, ohne dafs darum Fälle letzterer Art mit weniger Recht als Fälle von Bestand oder Nicht-Bestand in Anspruch zu nehmen wären.

Bestände unterscheiden sich von Existenzen unter anderem auch darin, dafs sie an keine Zeitbestimmung gebunden, in diesem Sinne ewig oder besser zeitlos sind. Das gilt natürlich auch vom Objektiv. Mein Schreibtisch ist ein zu bestimmter Zeit existierendes Ding: dafs er aber zu dieser Zeit existiert, das besteht jetzt wie in alle Zukunft und Vergangenheit, obgleich


1 Dafs im Grunde auch in Fällen dieser Art Objektive mitbeteiligt sind, hat sich oben ergeben (vgl. § 10). Hier aber handelt es sich nicht so sehr um „Verschiedensein“ und „Gleichsein“, als um jenes A erschieden und „Gleich“, das noch deutlich Objektcharakter hat, jedoch seiner idealen Natur wegen nicht existieren, sondern nur bestehen kann.

2 An Notwendigkeit fehlt es freilich auch hier nicht, sofern jedes Existierende seine Ursache hat; aber diese Notwendigkeit kommt dem Existierenden nur zu im Hinblick eben auf seine Ursache und nicht für sich allein.


Das Objektiv.


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es dem Wissen der vergangenen Zeiten unzugänglich war und dem der künftigen entschwunden sein wird. Es ist nicht weniger zeitlos, als dafs etwa der rechte Winkel gröfser ist als der spitze. Immerhin fehlt es nicht an sprachgebräuchlichen Wendungen, die diesen Sachverhalt verdunkeln, wenn nicht etwa gar in Frage stehen. „Das Donnern hat aufgehört“, oder auch „unser unge- störtes Beisammensein hatte ein Ende“ — sagt man ganz unge- zwungen: das Donnern, das Beisammensein aber sind Objektive, die hier als Vergangenes behandelt werden. In besonders nach- drücklicher Rede sagt man sogar: „dafs wir als Freunde mit- einander verkehrten, das ist gewesen“. Dennoch ist, genau ge- nommen, die Ausdrucksweise des letzten Beispieles sicher in- korrekt, da dabei normalerweise kaum von einer Vergangenheit geredet sein will, in der die Freundschaft bereits vergangen war. In den beiden anderen Beispielen könnten die Verbalsubstantive Gelegenheiten zu ungenauem Gebrauche mit sich führen. Wie eben schon anerkannt, bedeuten sie, gleich den Infinitiven, zu- nächst sicher noch Objektive. Aber wie man im Sinne der im vorigen Paragraphen besprochenen grammatischen Abstrakta Verschiedenheit und Schwärze die Fälle „Verschiedensein“ und „Verschieden“, resp. „Schwarzsein“ und „Schwarz“ im Denken nicht eben deutlich auseinander zu halten pflegt, so könnte mit „Donnern“ und „Beisammensein“ leicht genug auch nur „Donner“ und „Beisammen“ gemeint sein, also Objekte, denen die Zeit- bestimmung dann natürlich anstandslos anhaftet.

Welches Recht hat man überhaupt, derlei sprachliche Wen- dungen einer Präzisierung bedürftig zu finden? Sollte nicht vielmehr die obige Behauptung von der Zeitlosigkeit des Ob- jektivs eine Korrektur verlangen? Wirklich ist dieser Behaup- tung etwas bis zur Selbstverständlichkeit plausibel Scheinendes polemisch entgegengehalten worden . 1 „Wenn die Dinge wechseln, kann die Wahrheit über sie nicht dieselbe bleiben“ ; und Wahr- heiten sind ja jedenfalls Objektive, die sich sonach an bestimmte Zeiten gebunden erweisen. Aber betrachten wir die Sachlage näher an einem beliebig einfachen Beispiele. Ich habe etwa eines Sonntagabends vergessen, meine Taschenuhr aufzuziehen; im Laufe dieses Sonntags durfte ich noch mit Recht sagen: „heute geht meine Uhr“ oder auch: „dafs meine Uhr heute geht, das ist“. Hätte ich aber dasselbe auch noch Montags gemeint, so wäre ich im Irrtum gewesen; was an diesem Tage vielmehr


1 Von A. Maiity, „Untersuchungen“. S. 329. Mcinong, Über Annahmen, 2. Aufl.


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Drittes Kapitel.


mit Grund behauptet werden durfte, ist: „dafs meine Uhr heute geht, das ist nicht“. Dasselbe Objektiv hätte also am Sonntag Bestand gehabt, am Montag nicht mehr. Aber ist das Objektiv, um das es sich an jedem der beiden Tage handelte, wirklich ebenso gewifs dasselbe, als jedesmal dieselben Worte zur An- wendung gelangen konnten? Man merkt leicht, dafs das „heute“ Sonntags etwas anderes besagt als Montags. Das Wort „heute“ gehört ja zu der keineswegs selten vorkommenden Art von Aus- drücken, deren Bedeutung von den Umständen, unter denen sie gebraucht werden, durchaus nicht unabhängig sind. Hinsichtlich solcher Umstände mögen die beiden Objektive, die unser Beispiel also in Wahrheit enthält, Übereinstimmungen aufweisen: aber ihrer zwei bleiben sie darum doch, und es kann hier also streng genommen nicht behauptet werden, dafs dasselbe Objektiv an einem Tag Bestand hatte, am anderen aber nicht. Dafs Sonn- tags die Uhr ging, wäre auch Montags, dafs sie Montags nicht ging, auch Sonntags unangreifbar richtig gewesen. Und soviel ich sehe, ist dieses Beispiel paradigmatisch für alle anscheinend veränderlichen Wahrheiten: jedesmals sind diese in einer Weise formuliert, die sie an die Zeit, da sie gedacht resp. ausgesprochen werden, bindet. Blofs Sache der Wörter ist dies so wenig, dafs, wie bald noch auszuführen sein wird \ sogar der Existential- gedanke darunter sozusagen leidet. Aber mit den Objektiven selbst haben auf alle Fälle die Umstände, unter denen man sie erfafst oder bespricht, nichts zu tun; und auch ihre Wahrheit oder Falschheit, ihr Bestand oder Nichtbestand müssen von diesen Umständen unabhängig sein. Allgemein darf man sagen: der Schein veränderlicher Wahrheit kann bei Objektiven dadurch entstehen, dafs man solche, obwohl ihr Material beziehungsweise verschiedene Zeitbestimmungen aufweist, ungeachtet dessen für identisch nimmt, weil diese verschiedenen Zeitbestimmungen in derselben Relation zum jeweilig erfassenden Subjekte stehen. Von den beiden so mit Unrecht für identisch genommenen Ob- jektiven mag dann leicht das eine tatsächlich resp. wahr, das andere untatsächlich resp. falsch sein. Streng genommen gibt es keine veränderlichen Wahrheiten, und was man durch den Ausdruck „ewige Wahrheiten“ auszuzeichnen sich gewöhnt hat, sind nur solche, deren Objekte durch den Wechsel der Zeiten nicht betroffen sind.

Gegen mein obiges Schreibtisch - Beispiel ist eingewendet worden, der Schein der Un Veränderlichkeit komme darin durch unstatthafte Vernachlässigung eben der zeitlichen Verschieden- heiten zustande. Denn vom Standpunkte eines und desselben Jetzt „besteht die Existenz des Schreibtisches jetzt als etwas Gegenwärtiges, sie bestand vor hundert Jahren als etwas Zu- künftiges und wird in hundert Jahren als etwas Vergangenes bestehen, oder mit anderen Worten: es war wahr, dafs der


1 Vgl. unten § 12.


Das Objektiv.


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Schreibtisch . . . existieren werde, es ist . . . wahr, dafs er jetzt existiere, und es wird wahr sein, dafs er zu dieser Zeit existiert hat. Ganz wie auch von dem Tische selbst gilt, dals er jetzt . . . ein gegenwärtiges ist, und zur Zeit Casars, dafs er ein zukünf- tiger war, und im Jahre 2500 n. Chr., dafs er ein gewesener sein wird.“ 1 Es lägen sonach zweierlei zeitliche Veränderungen vor: die Existenz des Tisches besteht freilich, aber sie besteht be- ziehungsweise als etwas Künftiges, Gegenwärtiges und Ver- gangenes, und dieser Bestand selbst ist beziehungsweise ver- gangen, gegenwärtig oder künftig. Aber geht es vor allem wirk- lich an, die Existenz des Tisches, wie es an der angeführten Stelle ausdrücklich geschieht, mit dem Tische auf gleichem Fufse zu behandeln? Wenn ja, so ist eine Konsequenz nicht wohl abzuweisen: Wer vom Tische sagte, er habe zu einer Zeit „als etwas Zukünftiges“ existiert, der drückte sich doch ziemlich un- genau aus, und richtiger wäre jedenfalls zu sagen, der Tisch existiere zur betreffenden Zeit gar nicht — und mit der Existenz „als etwas Vergangenes“ wäre es auch nicht besser bestellt. Das auf die Existenz übertragen, besagt: genau genommen bestand auch diese weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft. Das widerspricht aber den Tatsachen; denn das Objektiv, dafs es römische Cäsaren gegeben hat, besteht und ist wahr, obwohl zurzeit weder Augustus, noch Tiberius noch sonst einer jener Cäsaren existiert. Die Existenz, die vor hundert Jahren bestand, war eben nicht eine künftige Existenz, sondern genau genommen nur die Existenz eines Künftigen, was um so mehr konstatiert zu werden verdient, als es sich ja um eine Existenz handelt, die „bestand“ und daraufhin für ebenso vergangen genommen werden könnte, wie ein Tisch, der war. Der Umstand, dafs das Verbum ein „Zeitwort“ ist, d. h. dafs die Zeitbestimmungen in der Regel am Verbum, sei es durch dessen Flexionsformen, sei es adverbial, zur Geltung kommt, erzeugt freilich einigermafsen den Schein, als gehörte diese Zeitbestimmung zum Objektiv. Gibt man sich aber nur erst die Mühe, den Objektivgedanken recht deutlich auszudenken, dann stellt sich, wie mir scheint, auch die deutliche Evidenz dafür ein, dafs Zeitdaten durchaus Objekt- und nicht Objektivcharakter haben, und so ihrer Natur nach dem Objektiv gar nicht zugesprochen werden können. Übrigens gibt es auch Adverbien von räumlicher Bedeutung, und doch wird kaum irgend jemand darüber im Zweifel sein, dafs Dasein oder Bestand nicht irgend einen Ort haben kann — eine Einsicht, die für unsere Frage deshalb noch besonderen Wert hat, weil man nicht nur sprachgebräuchlich sagen kann „es war im Jahre 1648, dals der westfälische Friede geschlossen wurde“, sondern auch : „es geschah in England, dafs der Parlamentaris- mus zuerst zu bedeutsamen politischen Erfolgen führte“. Wird man hier das Zeugnis des Sprachgebrauches nicht zugunsten


Marty a. a. 0. S. 329.


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Drittes Kapitel.


einer Räumlichkeit der Objektive anrufen wollen, so werden analoge Konstruktionen auch nicht für dessen Zeitlichkeit Be- weisgründe abgeben können.

Nur darf sich, wer meiner Auffassung bis hierher folgt, darüber keiner 1 äuschung hingeben, dafs er nun mit dem sprach- lichen Ausdruck sozusagen noch einmal in Konflikt gerät. Wer mir also zugibt, dafs man eigentlich nicht sagen sollte, das was in unserem Beispiele das „Bestehende“ ist, sei die künftige, gegen- wärtige resp. vergangene Existenz des Tisches, sondern, es sei die (zeitlose) Existenz des künftigen, gegenwärtigen resp. ver- gangenen Tisches — also auch wer so urteilt, findet sich durch die oben angewandten Zeitwörter „bestand“, „besteht“, „wird be- stehen“ neuerlich vor den Anschein zeitlich bestimmter Objektive gestellt, und während hinsichtlich der Existenz leicht darauf hin- zuweisen war, dafs die grammatisch zu „existieren“ gehörige Zeitbestimmung zum Objekt Tisch zu schlagen sei, fehlt diesmal das unmittelbare Objekt zum Objektiv „bestand“, das hier viel- mehr unmittelbar nur ein Objektiv, eben „Existenz“ unter sich hat. Ist es die Existenz, die „bestand“, „besteht“ oder „bestehen wird“, dann darf man billig fragen, wohin die Zeitbestimmung eigentlich gehören soll, wenn weder Existenz noch Bestand sie sozusagen verträgt. Man wird indes bedenken müssen, dafs die Sprache Verba finita ohne Tempus nicht kennt 1 , und nur in etwas wie einem zeitlosen Präsens (z. B. „es gibt Jahre zu 366 Tagen“, „es gibt keinen Menschen ohne Fehler“) einen recht unvollkommenen Ersatz gebildet hat. Andererseits fehlt es ja nicht an einer ganz natürlichen Weise, ein Objektiv unbeschadet seiner Zeitlosigkeit mit irgend einer Zeitbestimmung zu ver- binden: dies ist geschehen, sobald man von dem Objektiv als von einem in irgend einer Weise Erfafsten redet. Wir werden bald darauf zurückzukommen haben 2 , wie häufig dies der Fall ist und wie es z. B. speziell dem Walirheitsbegriffe seinen besonderen Charakter verleiht. Es ist nun sicher kein erheblicher Gedanken- schritt, das „bestand“ und „wird bestehen“ in unserem Beispiele etwa durch „es war wahr“ und „es wird wahr sein“ zu ersetzen, d. h. auch die obige Ausdrucksweise schon als eine Bezugnahme auf die Zeit berechtigten Urteilens zu verstehen. Dann hat aber natürlich die Veränderung im Tempus mit dem Objektiv an und für sich, sowie mit seiner Zeitlosigkeit nichts zu tun.

Nicht unerwähnt bleiben darf übrigens der Umstand, dafs die beiden an meinem Schreibtischbeispiel gegen mich in An- spruch genommenen Zeitveränderungen schon deshalb nicht dem Objektiv zur Last fallen, weil es, wie oben im Falle der Taschen- uhr, nur die zeitliche Stellung des urteilenden Subjektes ist, die in den Gedanken an Vergangenheit, Gegenwärtigkeit und Künftig-


1 Was aus dem Umstande heraus zu verstehen ist, dafs Objektive, die nicht Objekte, sondern Objektive zu Inferioren haben, doch stets Aus- nahmen darstellen.

2 Vgl. unten § 13.


Das Objektiv.


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keit zur Geltung kommt. Daraus allein wäre freilich nur die Unverändertheit des betreffenden Objektivs zu entnehmen, die von seiner Zeitlosigkeit zu unterscheiden 1 gewifs korrekt ist. Das Prinzip aber „was wir als seiend denken, denken wir zeit- lich“ 2 , falls es sich etwa auf berechtigtes Denken bezieht, scheint mir eben durch die zeitlose Natur des Objektivs, dann übrigens auch durch die alles Bestehenden, worauf noch zurückzukommen ist 3 , in evidenter Weise widerlegt.

Ein Objektiv, das besteht, wird auch als „Tatsache“ be- zeichnet. Mein Schreibtisch, von dem eben die Rede war, ist ohne Künstlichkeit nicht gut selbst als Tatsache namhaft zu machen : dafs er aber vor mir steht, das ist Tatsache. Auch wer es als Tatsache bezeichnet, dafs 2 kleiner als 3 ist, drückt sich nicht sprachwidrig aus; wohl aber gerät er mit der ohne Zweifel sich geltend machenden Tendenz in Konflikt, den Geltungs- bereich des Wortes „Tatsächlichkeit“ auf ausschliefslich oder doch zunächst empirisch Erkennbares zu beschränken. So kräftig ist diese Tendenz, dafs sie gelegentlich sogar die Kluft zwischen Objektiv und Objekt überspringt, indem sie etwa Muskel- kontraktion eine physische, Wollen eine psychische Tatsache zu nennen gestattet. Es empfiehlt sich im Interesse gegenstands- theoretischer Brauchbarkeit des Terminus „Tatsächlichkeit“, ein solches Übergreifen ins Gebiet der Objekte, wenn nötig kon- ventionell, auszuschliefsen 4 , andererseits aber die Einschränkung auf den engeren Sinn, der das Tatsächliche dem „Assertorischen“ unter Ausschlufs des „Apodiktischen“ gleichstellt, fallen zu lassen: es bleibt ja am Ende doch auch sprachgebräuchlich immer un- natürlich, etwa dem, was die Geometrie lehrt, die Tatsächlichkeit abzusprechen. Wichtiger als das Anwendungsgebiet ist aber natürlich der dieses Gebiet bestimmende Sinn des Terminus, und hinsichtlich dieses Sinnes wird man leicht gewahr, dafs die eben schon mit dem Scheine gröfster Selbstverständlichkeit uns entgegengetretene Bestimmung: „Tatsächlich ist ein Objektiv, sdfern es besteht“ oder allgemeiner, sofern es „ist“, etwas ganz Unzureichendes darbietet. Denn ist 0 ' unser Objektiv, so kann das Objektiv höherer Ordnung von der Form „ 0 ’ ist“, oder wie


1 Marty a. a. 0. S. 328.

2 A. a. 0.

3 Vgl. unten S. 75 ff.

  • Vgl. R. Ameseder in Nr. II der Grazer „Untersuchungen“, S. 66f*


70


Drittes Kapitel.


wir dafür kürzer sagen wollen, 0" nur dann die Tatsächlichkeit von 0' gewährleisten, wenn es selbst tatsächlich ist. Wäre dem nicht so, wäre, „dafs 0' ist“, nicht Tatsache, dann wäre auch 0' nicht Tatsache. Weiter gilt nun aber auch für 0" dasselbe, was eben hinsichtlich der Tatsächlichkeit des 0 ausgeführt worden ist. Auch die Tatsächlichkeit des 0" kann durch ein Objektiv 0'" von der Form „0" ist“ nur gesichert sein, sofern O" tat- sächlich ist usf. in infinitum, so dafs man allgemein sagen kann : Bestände die Tatsächlichkeit eines Objektivs im Sein dieses Ob- jektivs, so hätte man, da dieses Sein selbst wieder tatsächlich sein miifste usf. stets eine unabgeschlossene Reihe vor sich, deren jedes spätere, noch nicht berücksichtigte Glied die Gesamt- heit der vorhergehenden Glieder illusorisch machen könnte. Die Tatsächlichkeit kann nicht durch eine in dieser Weise stets un- vollendet bleibende Reihe ausgemacht werden.

Gelänge es aber selbst, die in der Unabgeschlossenheit ge- legene Schwierigkeit etwa durch eine begriffliche Fassung zu besiegen wie diese: „Tatsächlich ist ein Objektiv, das nur be- stehende Objektive über sich hat“ \ so wäre am Ende doch auch damit nichts gewonnen. Gesetzt etwa, das 0\ um dessen Tat- sächlichkeit es sich handelt, wäre dies, „dafs 2 gröfser ist als 5“, so ist diesem ohne Zweifel (zwar nicht nur, sicher aber auch) das Objektiv überzuordnen: „es ist (oder es besteht), dafs 2 gröfser als 5 ist“, und diesem 0" wäre ein 0'" überzuordnen, das sich im Satze aussprechen liefse: „es ist, dafs dieses 0" ist“ usf. Es fehlt also gewifs nicht an einer unendlichen Reihe von Seins- objektiven, die unserem Ausgangsobjektive in der • eben ver- langten W eise übergeordnet sind ; und doch wird niemand daran denken, 2 für tatsächlich gröfser als 5 zu halten. Es fehlt in der in Betracht gezogenen unendlichen Reihe eben jedem Gliede die Tatsächlichkeit. Mögen sich noch so viele untatsächliche Objek- tive übereinander bauen, sie kommen der Tatsächlichkeit auf diese Weise doch um nichts näher.

Kein Objektiv wird eben tatsächlich durch, oder ist tatsäch- lich vermöge übergeordneter Objektive : es mufs die Tatsächlich- keit in sich selbst tragen, und zwar, soviel ich sehe, als eine Grundeigenschaft, für die es keine Definition und, mindestens


1 Die Ungenauigkoit, die in diesem „über sich“ noch liegt, wird im gegenwärtigen Zusammenhänge unschädlich sein.


Das Objektiv.


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zurzeit, auch keine Beschreibung gibt. Diese Eigenschaft ist nicht nur sozusagen in sich komplett, an welchem Objektiv immer sie auftreten mag, sondern sie schliefst zugleich auch die Tatsächlichkeit aller ihr in beliebiger Ordnungshöhe über- geordneten Seinsobjektive positiver Qualität in sich. Ist A tat- sächlich B , dann ist auch das Sein dieses Objektivs, nicht minder das Sein dieses Seins tatsächlich usf. ins Unendliche, wobei das Ausgangsobjektiv vermöge seiner Tatsächlichkeit nicht nur das Inferius, sondern den idealen Objekten höherer Ordnung noch näher kommend auch den Grund für die Tatsächlichkeit der Objektive höherer Ordnung abgibt. Eine gewisse, wohl erst tiefer zu ergründende Gegensätzlichkeit zum untatsächlichen Sein oder Sein schlechthin, das, wie wir sahen, einigermafsen auf die Komplettierung durch das übergeordnete Sein angewiesen scheint, springt sofort in die Augen. Ich kann nicht versuchen, dieser Sache hier noch näher zu treten. Die Frage aber, wie wir zur Kenntnis dieser Grund ei gen Schaft gelangen, kann auch einer apsychologisch intentionierten Darlegung nicht ganz erspart bleiben; wir werden sogleich unten 1 darauf zurückkommen.

Übrigens aber sind wir durch die gegenwärtigen, wenn auch noch so skizzenhaften Ausführungen zum Thema „Tatsächlich- keit'* über die auf das Allgemeine an den Objektiven gerichtete Fragestellung des gegenwärtigen Paragraphen jedenfalls bereits hinausgegangen, da ja Tatsächlichkeit wenigstens denjenigen Objektiven nicht mehr zuzuschreiben ist, die den (mittelbaren) Gegenstand einer berechtigten Seinsnegation abgeben können. Das Objektiv, „dafs es ein Perpetuum mobile gibt“, ist eben keine Tatsache. Es wird sich empfehlen, den im obigen in der Tat bereits betretenen Weg ins speziellere nun noch ein paar Schritte weit zu verfolgen.


§ 12.

Über die Arten der Objektive.

Wer im allgemeinen weifs, was ein Objekt ist, mag sich leicht vor die Frage gestellt finden, welcher Art und näheren Beschaffenheit derlei Gegenstände wohl sein möchten, um sich dann freilich durch die grofse Mannigfaltigkeit des hier Anzu- treffenden vielleicht vom Versuche einer Aufzählung absehrecken


1 Vgl. § 13.


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Drittes Kapitel.


zu lassen. Bei den Objektiven ist die analoge Frage nicht minder statthaft, und deren Beantwortung durch die relativ grolse Einförmigkeit dessen, was da in Betracht kommt, jeden- falls erheblich erleichtert. In dieser Einförmigkeit verrät sich neuerlich die eben erst berührte Wesensverwandtschaft der Ob- jektive mit dem, was uns sonst an Gegenständen höherer Ordnung bekannt ist.

Darf jedes Objektiv Sein im -weitesten Wortsinne heifsen, so gliedert sich die Gesamtheit der Objektive nach drei Gegensätz- lichkeiten: Sein im engeren Sinne und Sosein, Positivität und Negativität, Existenz und Bestand. Die erste dieser Disjunktionen ist ausreichend charakterisiert durch formelhafte Paradigmen wie „ A ist“ für Sein, „A ist jB“ für Sosein . 1 Der Versuch, eines auf das andere „zurückzuführen“, mifsglückt, soviel ich sehe, in jeder Form. Man kann sich darüber täuschen, wenn man blofs äqui- valente Objektive für identisch nimmt. Die Evidenz dafür, dafs es neben Sein und Sosein nichts Drittes gibt, ist seltsamerweise a priori so wenig zugänglich als die zugunsten der Einteilung sämtlicher Gegenstände in Objekte und Objektive.

Hinsichtlich des Gegensatzes von Positiv und Negativ ist selbst das Paradigma entbehrlich. Nur gegenüber dem Her- kommen namentlich der Logik, ihn als Sache der „Urteils- qualität“ zu behandeln, verdient betont zu werden, dafs dem Gegensätze der Objektive ohne Zweifel ein Gegensatz der er- fassenden Urteile zur Seite steht, dafs man sich aber dadurch nicht daran irre machen lassen darf, dem Objektiv zuzuerkennen, was des Objektivs ist. Erleichtert wird das Auseinanderhalten durch die terminologische Sonderung wenigstens in betreff des bezüglich ersten Gliedes der beiden Disjunktionen: man wird sich kaum versucht fühlen, bei einiger Sorgfalt im Ausdruck ein Urteil positiv, ein Objektiv affirmativ zu nennen. Affirmativ ist eben eventuell nur das Urteil, positiv das Objektiv. Für die zweiten Glieder freilich steht etwas anderes als das Wort „nega- tiv“ nicht zu geböte . 2

1 Die Wahl dieses Terminus dürfte für mich auf Chr. Sigwart zu- rückgehem Vgl. aber schon Schopenhauer, „Über die vierfache Wurzel des

Satzes vom zureichenden Grunde“ § 15.

2 Im Deutschen folgt „verneinend“ der Analogie von „bejahend“ und „affirmativ“, so dafs ein die Objektive als negativ charakterisierendes deutsches Adjektiv überhaupt nicht verfügbar scheint.


Das Objektiv.


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Dagegen schliefst die Gegenüberstellung von Existenz oder Dasein und Bestand noch viel der Klärung Bedürftiges in sich, zu dessen Bearbeitung hier nur ganz fragmentarische Beiträge geliefert werden können. Die Grundtatsache selbst habe ich vor Jahren 1 so zu charakterisieren versucht: „Gleichheit zwischen 3 und 3, Verschiedenheit zwischen Rot und Grün kann schon dem Sprachgebrauche nach zwar bestehen, aber nicht in der Weise existieren wie etwa ein Haus oder ein Baum“.

Dies hat zu dem Vorwurf 2 Anlafs gegeben, ich hätte mich durch Launen des Sprachgebrauches irre führen lassen. Als Be- gründung hierfür finde ich 3 nur den Hinweis auf das Dilemma: was ich als Existenz und Bestand voneinander unterscheide , kann nur in den Erlebnissen oder in den Objekten verschieden sein; Verschiedenheiten letzterer Art betreffen das Objektiv nicht, Ver- schiedenheiten ersterer Art aber sind nicht auffindbar. So ein- fach das ist, es soll in diesem Punkte für mich „kein Entrinnen“ geben. 4 Ich will vor allem nicht verschweigen, dafs ich das „Entrinnen“ bisher noch in keiner Lebenslage als Auskunfts- mittel ins Auge gefafst hatte. Was aber die Sache selbst an- langt, so bestreite ich die Vollständigkeit der im obigen Dilemma etwa in Anspruch genommenen Disjunktion. Es ist ja doch gerade der Sinn meiner Behauptung, dafs es da aufser Objekt und Erlebnis noch etwas Drittes gibt, und dafs gerade dieses die fraglichen Verschiedenheiten aufweist: eben das Objektiv. Viel- leicht meint aber die Einwendung nur, diese Verschiedenheit sei nicht erkennbar ohne zugeordnete Verschiedenheiten in den erfassenden Erlebnissen. Dem könnte ich nur beipflichten, mufs aber zugleich bestreiten, dafs solche Verschiedenheiten fehlen, — nicht minder, dafs aus diesen Verschiedenheiten die an den Objektiven etwa erst erschlossen werden. Auch wer Blau von Gelb soll unterscheiden können, bedarf dazu zweier voneinander (inhaltlich) verschiedener Vorstellungen; aber das Unterscheiden von Blau und Gelb geht nicht so zu, dafs man erst die Ver- schiedenheit der Vorstellungen erkennt und daraus auf die der Farben schliefst: unserem Erfassen liegen die Farben näher, und weit eher schliefsen wir aus der Verschiedenheit des Erfafsten auf die der Erfassungsmittel als umgekehrt. So auch beim Unter- schied von Existenz und Bestand : man erfafst ihn an Beispielen der obigen Art ähnlich unmittelbar wie den zwischen Blau und Gelb 5 ; soweit zum Erfassen der Objektive aber Urteile erforderlich


1 „Über Gegenstände höherer Ordnung usw.“ S. 186.

  • A. Martyb in dessen „Untersuchungen zur Grundlegung usw.“, S. 323 ff.

3 Obwohl die Polemik mehr als 4 Druckseiten füllt.

4 a. a. 0. S. 326.

6 ln wunderlicher Rhetorik, mit der er nur leider Schule gemacht hat (vgl. unten S. 90 Anm. 1) fordert mich Mabty in die Schranken: „Wenn also der Unterschied von , Bestand von etwas* und , Existenz von


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Drittes Kapitel.


sind, wird man aus der Erkenntnis dieses Unterschiedes auch abnehmen dürfen, dafs an den erfassenden Urteilen etwas ver- schieden sein mufs. Ich werde auf das Moment, an dem die Verschiedenheit zu suchen sein dürfte, unten noch kurz zurück- kommen . 1

Der Berufung auf die Evidenz des unmittelbar Gegebenen empfiehlt es sich indes allenthalben, und insbesondere wo sie Zweifeln begegnet, auch noch einiges an mittelbareren Veri- fikationen an die Seite zu setzen. Vor allem dürfte es leicht gelingen, den Verdacht auszuschliefsen, es könnte sich hier nur um AVrschiedenheiten der Objekte handeln. Zwar ist Existenz ohne Zweifel insofern an eine gewisse Eigenart der Objekte ge- bunden, als Objekte, denen diese Eigenart fehlt, überhaupt nicht existieren können; in dieser Eigenart hat man das vor sich, wofür meines Erachtens am zweckmäfsigsten der Terminus „Realität“ aufgespart bleibt . 2 Diesen realen Objekten, wie Tisch, Sessel, aber auch Vorstellen oder Begehren, stehen ideale Gegen- stände gegenüber, deren Sein, falls ihnen überhaupt eines zu- kommt, kein anderes als Bestand sein kann: hierher gehören Zahlen, Gestalten, die Relationen von Grund und Folge und vieles andere, darunter sämtliche Objektive. Aber was existieren kann, mufs sozusagen vor allem bestehen; und nimmt man etwas zu einer Zeit t Existierendes, heute etwa das lenkbare Luftschiff, in Gedanken vor, um es mit einem anderen Zeitdatum, etwa einem ausreichend vergangenen t’ zu versehen, so hat man in einfacher Weise einen Gegenstand erfafst, dem zwar Existenz nicht aber Bestand abzusprechen sein wird. Bezeichnet A den betreffenden Gegenstand abgesehen von der Zeitbestimmung, so hat man im Objekte At einen existierenden, im Objekte At' einen blofs bestehenden Gegenstand vor sich. Da nun aber weder Bestand noch Existenz durch die besondere Beschaffenheit einer Zeitbestimmung charakterisiert sein kann, also jeder Ver- dacht ausgeschlossen ist, der Übergang von Existenz in Bestand

etwas' darin“ (im psychischen Verhalten) „und nicht im Objekte liegt, so gebe Meinong ihn an. Welcher Art ist der Unterschied im Modus psy- chischen Verhaltens, der hier und dort vorliegt?“ (a. a. 0. S. 327). Es wird entbehrlich sein, dieser Auf- oder Herausforderung Folge zu geben, ehe Mabty den Unterschied von Gelb und Blau durch die Aufzeigung des Unter- schiedes im „Modus psychischen Verhaltens“ beim Vorstellen dieser karben legitimiert hat.

1 Vgl. § 13.

2 Vgl. „Über Gegenstunde höherer Ordnung usw.“, S. 198 ff.


Das Objektiv.


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könnte im Übergange von t in t' bestehen, so ist durch unser Beispiel auch jede Aussicht, die fragliche Verschiedenheit der Objektive auf eine ihrer Objekte zurückzuführen, ausgeschlossen.

Tieferen Einblick in die Wesensverschiedenheit der beiden in Rede stehenden Seinsarten scheint deren V erhältnis zurzeit zu ergeben, von dem in seiner Anwendung auf die Objektive bereits oben 1 die Rede war. Was existiert, mufs zu bestimmter Zeit existieren ; Existenz hängt an der Zeit. Das ist bei Bestand so wenig der Fall, dafs, was von Natur nur bestehen, nicht existieren kann, das Ideale also, Zeitbestimmungen gar nicht verträgt. Der Verschiedenheit zwischen Rot und Grün eine Zeit zuzusprechen, hätte kaum mehr Sinn, als einen Ton etwa weifs oder schwarz zu nennen. Die Verschiedenheit und ebenso schon „das Verschieden“ 2 istzeitlos. Nicht minder sind es alle anderen Gegenstände, die bestehen, ohne mit der Wirklichkeit irgend etwas zu tun zu haben und die man mit Rücksicht hierauf als „reine Bestände“ den „gemischten Beständen“ gegenüberstellen könnte als denjenigen, die, in sogleich zu erwähnender Weise mit Daten der Wirklichkeit verknüpft, zunächst auch an deren Zeitbestimmungen zu partizipieren scheinen könnten. Drückt man jedoch, was sich so ergibt, etwa in der Form aus: „Existenzen sind zeitlich, reine Bestände zeitlos“, so scheint man dadurch mit dem oben vertretenen Prinzip von der Zeitlosigkeit der Objektive in Konflikt zu geraten, da ja auch Existenz ein Objektiv ist. In- zwischen liegt das nur an der Ungenauigkeit der obigen, immerhin ziemlich gebräuchlichen Ausdrucksweise: was wir eben als Exi- stenzen und reine Bestände bezeichneten, hätte besser das Exi- stierende und rein Bestehende heifsen sollen. Von Existenz und reinem Bestand im genauen Wortsinn dagegen ist zu sagen, dafs jene nur bei zeitlichem, diese nur bei zeitlosem Material tatsäch- lich sein kann, indes Existenz selbst so zeitlos ist wie Bestand.

Noch seien der Klärung des Gegensatzes zwischen zeitlicher Existenz und zeitlosem Bestand einige Bemerkungen gewidmet. Wie eng Zeitlosigkeit und Bestandnatur Zusammenhängen, erhellt unter anderem aus der sehr bemerkenswerten Tatsache, dafs es auf dem Bestandgebiete keine Kausalbetrachtung gibt , indem sich diese von Existenz nicht trennen läfst. Durch den Sprach-


1 Vgl. s. 85 ff.

2 In dem oben S. 56 angegebenen Sinne.


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Drittes Kapitel.


gebrauch wird ferner die Zeitlosigkeit des Bestehenden oft ver- schleiert, auch wo dieses ein Objektiv ist. Es handelt sich da um jene „gemischten Bestände“, von denen eben schon die Rede war. Von Menschen, die lange Zusammenleben oder den nämlichen Beruf ausüben, sagt man wohl, sie würden einander ähnlicher : hier erscheint die Ähnlichkeit und ihre Grade ganz direkt auf Zeiten bezogen, obwohl sie doch ein idealer Gegenstand ist. Indes hat man es eben hier, wie man leicht sieht, durchaus nicht nur mit Idealem, sondern mit Wirklichkeiten zu tun, die sich ver- ändern und dadurch die Fundamente zu verschiedenen Relationen realisieren. Hier ist nicht die ideale Ähnlichkeit in der Zeit : in der Zeit sind die realen Fundamente, deren Existenz der zwischen ihnen ohne alle Rücksicht auf Existenz und Zeit bestehenden Ähnlichkeit höchstens eine Art Quasizeitlichkeit verleihen mag.

Was andererseits den für alle Existenz charakteristischen Anteil der Zeit am Existierenden anlangt, so verdient hervor- gehoben zu werden, dafs für denselben jenes Moment, das als Tempus unserer Verba so auffällig ist, gerade nicht in Betracht kommt. Alle Existenz, das ist ja zunächst selbstverständlich, ge- hört entweder der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft an: es war, es ist oder es wird sein. Und so nahe greift das an den Existentialgedanken , dafs man genauer sagen mufs : nur das Gegenwärtige existiert im eigentlichen Sinne, indes, was war oder sein wird, eigentlich gar nicht existiert. Nun wird aber hier das Objektiv „Existenz“ von subjektiven, zunächst das Erfassen be- treffenden Bestimmungen in einer Weise abhängig gemacht, die für die Psychologie unserer Zeitvorstellung gewifs aufserordentlich charakteristisch ist, mit dem Objektiv selbst aber streng genommen nicht mehr zu tun hat als etwa die Farben- oder Tontüchtigkeit eines bestimmten sehenden oder hörenden Individuums mit den Farben oder Tönen. Gegenwärtigkeit haftet doch nicht der Existenz oder dem Existierenden für sich allein an ; sie besagt vielmehr nur, dafs das Erfafste und das Erfassen zeitlich Zusammentreffen, und mit Vergangenheit und Zukunft steht es mutatis mutandis nicht anders. Für eine bestimmte astronomische Konstellation z. B. ist es aber natürlich ganz einerlei, ob sie jemand erfalst, ob dies gleichzeitig, vorher oder nachher geschieht. Wie kommt sie dazu, so könnte man fragen, dadurch von der Existenz in die Nicht- existenz überzugehen, dafs sie einmal zur Zeit ihrer Existenz, ein andermal zu einer anderen Zeit erfafst wird? Gewils existiert


Das Objektiv.


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sie in einer bestimmten Zeit t, in einer anderen Zeit t existieit sie nicht; von diesen Zeiten ist aber keine etwas wie Gegenwart, keine etwas wie V ergangenlieit oder Zukunft, sondern die eine ist eben t, die andere t', gleichviel wie leicht oder schwer es für uns sein mag, sie in ihrer absoluten Eigenbestimmtheit zu erfassen. Andersausgedrückt: das grammatische Tempus hat eigentlich im Existenzgedanken gar nichts Berechtigtes zu tun; und ist es sprach- lich nicht recht angängig, dem Terminus „Existenz“ seine ihm gewissermafsen von jeher eignende Bedeutung durch Konvention zu nehmen, so empfiehlt sich für Zwecke besonderer gegenstands- theoretischer Präzision die Anwendung eines modifizierten Aus- druckes. Für meinen Privat- (und Vorlesungs-) gebrauch hat sich schon seit vielen Jahren * 1 der Terminus „Persistenz“ bewährt, den ich nun auch hier zur Bezeichnung der von der Subjektivität des Erfassenden gleichsam gereinigten Existenz in \ 01’schla.g bringe, selbstverständlich nur für Anwendungen, bei denen diese Subjektivität störend ins Gewicht fiele. Dies ist, wie wir sahen 2 , in der Tat der Fall, wo das grammatische Tempus den Charakter der Zeitlosigkeit an Objektiven zu verwischen droht: mein Schreib- tisch persistiert zu der absoluten, objektiven Zeit t, diese Persistenz aber bleibt unveränderlich, von welchem Zeitstandpunkte immer sie betrachtet werden mag.

Vielleicht gibt es keinen Gesichtspunkt, unter dem die fundamentale Verschiedenheit von Existenz und Bestand, auf die ich nun noch einmal mit einigen Worten zurückgreife, auf- fälliger zur Geltung kommt, als die diesen beiden Seinsarten natürlich zugeordneten Erkenntnisweisen. Es handelt sich dabei um keinen minder tiefgreifenden Gegensatz als den des Empiri- schen und Rationalen, des Aposteriorischen und Apriorischen, auf den wir übrigens weiter unten sogleich zurückzukommen haben werden. Existenz wird im Prinzip empirisch, Bestand im Prinzip apriorisch erkannt. Zwar kann man sich der Existenz, freilich nur sofern sie negativ ist, unter Umständen auch a priori gleichsam bemächtigen, und die Gewähr für einen Bestand kann auch empirisch im Hinblick auf die Existenz des betreffenden Gegenstandes festgestellt werden. Es kommt hinzu, was man


1 Bereits vor den einschlägigen Ausführungen „Über Gegenstände höherer Ordnung usw.“, S. 260 f.

1 Vgl. oben S. 66 f.


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Drittes Kapitel.


die Anwendung des rational Erkannten auf die Wirklichkeit nennt und auf dessen nähere Charakteristik hier nicht einzu- gehen ist. Aber das alles kann die natürliche Zusammengehörig- keit nicht verdunkeln, vermöge deren Existenz für empirisches, Bestand für apriorisches Erfassen sozusagen das natürlich adäquate Erkenntnisgebiet ausmacht. Der Gedanke an die „Launen“ der Sprache möchte beim Hereinreichen der weitestgehenden Gegen- sätze der Erkenntnistheorie wohl für ausreichend ausgeschlossen gelten.

Darf man sonach, indem man der Existenz den Bestand an die Seite setzt, der Übereinstimmung mit den Tatsachen sicher sein, so scheint es dagegen zurzeit nicht tunlich, hinsichtlich der Vollständigkeit der hiermit gegebenen Disjunktion zu einem ebenso abschliefsenden Ergebnis zu gelangen. Die hier vor- liegende Schwierigkeit verspürt man wohl am leichtesten, we nn man in den Kreis der Betrachtung das Sosein einbezieht und nachsieht, inwieweit dieses ein Sein jederzeit zu seiner Voraus- setzung hat. Was sich dabei ergibt, das von E. Mally formu- lierte Prinzip einer gewissen Unabhängigkeit des Soseins vom Sein, habe ich an anderem Orte 1 in einige seiner Konsequenzen verfolgt. Es ist, zunächst auf Grund der Vertretung, die es durch mich erfahren hat, heftig angegriffen worden . 2 Aber ohne auf die Einzelheiten der Frage einzugehen, die uns hier zu weit führen würden, dürfte für unsere nächsten Zwecke der Hinweis auf irgend ein, namentlich ein berechtigtes Seinsurteil von nega- tiver Qualität genügen, um deutlich zu machen, worauf es jetzt ankommt.


1 In der Abhandlung „Über Gegenstandstheorie“ in den Grazer „Unter- suchungen zur Gegenstandstheorie und Psychologie“ S. 7 ff. — Zur Geschichte des Prinzips vgl. S. 5 von H. Pichlers auch sonst sehr beachtenswerten Untersuchungen „Über Christian Wolffs Ontologie“, Leipzig 1910, in denen man die erste ebenso gründliche als scharfsinnige Monographie zur Ge- schichte der Gegenstandstheorie begrüfsen darf.

2 Durch A. Marty, der auf S. 340 seiner „Untersuchungen zur Grund- legung usw.“ wohlwollend zusammenfafst: ,, ... alles was Meinong neuestens dafür vorbringt zerfliefst bei näherer Betrachtung iu nichts und dient nur unfreiwillig dazu, die These völlig in Mifskredit zu bringen“. (\ gl. auch die an Descartes anknüpfende Polemik in A. Kastils „Studien zur neueren Erkenntnistheorie“, 1, Halle a. S. 1909, S. 63 ff.) Die „nähere Betrachtung , die eine stattliche Anzahl von Seiten füllt, näher zu würdigen, mufs einer anderen Gelegenheit Vorbehalten bleiben.


Das Objektiv.


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Urteilt jemand z. B. „ein perpetumn mobile existiert nicht“, so ist doch wohl klar, dafs der Gegenstand, dem hier das Dasein abgesprochen wird , Eigenschaften und zwar charakteristische Eigenschaften haben mufs, ohne die die Überzeugung von der Nichtexistenz weder Sinn noch Berechtigung haben könnte 1 ; Eigenschaften haben besagt natürlich soviel als „sosein“. Dieses Sosein hat aber dann keine Existenz zur Voraussetzung, die ja vielmehr gerade, und zwar mit Recht, in Abrede gestellt wird. Analoges wäre an Bestanderkenntnissen zu zeigen. Hält man allgemein, was sich als vielfach nützlich erweist, beim Erkennen resp. Erkennen wollen hinsichtlich der Weise, wie der betreffende Gegenstand erfafst wird , zwei Stadien auseinander 2 , das Er- greifen eines Gegenstandes und das Beurteilen desselben, so leuchtet sofort ein, dafs man sagen darf : man ergreift die Gegen- stände sozusagen an ihrem Sosein; was dann geurteilt, eventuell erkannt wird, ist das Sein oder ein weiteres Sosein des an jenem Sosein Ergriffenen. Jenes Sosein und durch dasselbe hindurch das Soseiende ist, wie die Eventualität negativer Erkenntnisse beweist, ergreif bar ohne Seinsschranken; unser Ergreifen aber findet insofern an den Gegenständen etwas vorgegeben ohne Rücksicht darauf, wie sich die Frage nach Sein oder Nichtsein entscheidet. In • diesem Sinne „gibt es“ auch die Gegenstände, die nicht sind, und ich habe dies mit einer allerdings, wie ich fürchte, etwas barbarischen aber schwer zu verbessernden Wort- bildung, als das „Aufsersein des reinen Gegenstandes“ bezeichnet . 3

Der Terminus ist dem Bemühen entsprungen, bei der Deutung jenes seltsamen „es gibt“, das den seinsfremdesten Gegenständen nicht genommen werden zu können scheint, ohne den Rekurs auf eine neue, dritte Seinsart neben Existenz und Bestand aus- zukommen. Ich habe aber seither mehr als einmal das lebhafte Gefühl gehabt, dafs dieses Bemühen der eigentümlichen Posi-


1 Daran änderte sich auch dann nichts, wenn einer die Interpretation natürlich fände: mit einem perpetuum mobile ist etwas gemeint, das, falls es existierte, die Eigenschaften hätte, die man dem perpetuum mobile zu- zuschreiben pflegt. Dann hätte ja dieses „etwas“ natürlich immer noch mindestens die Eigenschaft, die auf dem Umweg über das hypothetische Urteil ihre Charakteristik fände.

Die in praxi natürlich auch zeitlich zusammenfallen können. Wir kommen auf Einschlägiges in Kap. VII f. zurück.

3 „Über Gegenstandstheorie“, a. a. 0 . S. Off.


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Drittes Kapitel.


tivität \ die in der Vorgegebenheit jedes ergreifbaren, d. i. (im Prinzip) jedes Gegenstandes zu liegen scheint, nicht Herr werden könne, und mufs mit Rücksicht hierauf der Eventualität, dafs es aufser dem Existieren und Bestehen noch ein Drittes geben könnte, das niemand mehr Sein nennt, und das schliefslich doch nur als etwas in besonders weitem Sinn Seinsartiges charakteri- siert werden müfste, hier ausdrücklich Erwähnung tun. Was entschieden werden mufs, ist eben das, ob das Aufsersein selbst eine Seinsbestimmung oder nur den Mangel an einer solchen ausmacht. An letzterem festzuhalten, dazu drängt nicht nur die lex parsimoniae, sondern noch mehr der aufser alle Analogie fallende prinzipielle Mangel eines Negativums zu dem präsumtiven Positivum. Und vielleicht weist noch etwas nach derselben Richtung. Man kann den Gegensatz des rationalen und empirischen Erkennens mit Vernachlässigung unschädlicher Ungenauigkeiten auch so charakterisieren : a priori erkennt man aus dem Sosehr ein Sein oder anderweitiges Sosein, wie man a posteriori aus dem Dasein (natürlich eines Soseienden) Sosein oder anderes Dasein erkennt. Könnte nicht in der Analogie, in die so unter Umständen das Sosein zum Dasein tritt, ein Stück jenes rätselhaften „es gibt“ auch beim Nichtseienden liegen?

Bei der grofsen Unvollkommenheit dessen, was ich in dieser so wichtigen Sache zurzeit ins reine zu bringen vermag, scheint mir das Wort „Aufsersein“ vermöge seiner natürlichen Un- bestimmtheit mindestens das geeignete Mittel, die Frage für weitere gegenstandstheoretische Untersuchung gleichsam bereit zu erhalten. In diesem Sinne empfiehlt es sich jedenfalls, der Existenz und dem Bestände das Aufsersein als Drittes an die Seite zu setzen.


§ 13 .


Die modalen Eigenschaften


der Objektive.


Indem ich mich nun noch einer kurzen Betrachtung gewisser besonders wichtiger Eigenschaften an den Objektiven zuwende, knüpfe ich am natürlichsten an die uns schon aus dem zweiten Kapitel wohlbekannte Tatsache des sekundären Urteilsausdruckes


i N ach dieser tendieren wohl auch die scharfsinnigen Ausführungen B. Russklls in Nr. III seiner Abhandlung über „Meinong’s theory of com- plexes and a’ssumptions“, Mind, N. S., 13 , vgl. bes. S. 521 ff.


Das Objektiv.


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an unter Berücksichtigung des bereits an vielen voranstehenden Beispielen zutage tretenden Umstandes, dal's ein solcher sekundärer Ausdruck durch die zumeist in einem „dafs“-Satze liegende An- gabe seines Objektivs eine genauere Bestimmung erfährt. So gut ich nun sagen kann, „ich affirmiere, negiere, bezweifle, dafs . . u. dgl., so gut kann, indem im Hauptsatze gewisser- mafsen an Stelle des ganzen Urteils eine Eigenschaft desselben tritt, gesagt werden : „es ist mir einleuchtend, dafs...“, was sich aber natürlich auch mit Bezug auf eine andere Person als die des Redenden, dann auch ohne Bezugnahme auf irgend eine Person sagen läfst, also etwa: „es leuchtet ihm ein, dafs . . .“ und kurzweg: „es leuchtet ein, dafs . . .“. An einer solchen unpersön- lichen Form wird besonders auffallend, was freilich eigentlich schon auch an jeder der persönlichen Formulierungen zu be- merken gewesen wäre, dafs hier etwas, das sich zunächst als eine Eigenschaft eines Urteils darstellt, nun geradezu als Attribut des im „dafs“-Satze zur Geltung kommenden Objektivs erscheint. Evidenz ist doch sicher so gut Sache des Urteils wie etwa Gewifs- heit ; gleichwohl ist es, wenn nicht dem Theoretiker, so doch ge- wifs dem Laien natürlicher zu sagen: „es leuchtet ein, dafs 3 gröfser als 2 ist“ als etwa „das Urteil hierüber ist einleuchtend“. Noch deutlicher wird dies an den gegensätzlichen Terminis „wahr“ und „falsch“. Man kann bekanntlich durchaus nicht sagen, dafs dieselben einer Anwendung in übertragener Bedeutung sonderlich widerstreben: „wahrer Freund“, „falsche Zähne“, „wahre Rede“, „falsche Vorstellung“ sind ja geradezu Schulbeispiele für Mehr- deutigkeit. Bezeichnet man nun ein Urteil als wahr oder falsch, so hat man dabei immerhin nicht mehr das Gefühl einer geradezu uneigentlichen Wortanwendung. Dennoch kann es, wie mir scheint, keinen Augenblick zweifelhaft sein, dafs genau besehen die Wendung: „es ist wahr, dafs A existiert“, „es ist falsch, dafs . . .“ eine um vieles natürlichere, ja im Grunde die einzige wirklich naturgemäfse Redeweise ist. Schwerer als „wahr“ ist ein Urteil „wahrscheinlich“, noch schwerer ist es „möglich“, „notwendig“, „zufällig“ zu nennen, während jedes dieser Adjektive sich völlig zwanglos als Attribut des Objektivs anwenden läfst. Wendungen wie |„es ist wahrscheinlich, möglich, zufällig, not- wendig, dafs . . .“ gebrauchen diese Adjektive sicher in der ihnen eigentlich zukommenden Weise.

Es mag nun fürs erste als ein ziemlich äufserliclies Vorgehen

Meinong, Über Annahmen, 2. Aufl. 6


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Drittes Kapitel.


erscheinen, wenn im folgenden eine Gruppe von Eigenschaften der Objektive mit Rücksicht darauf als zusammengehörig be- handelt wird, dafs sich bei ihnen eine gewisse Unsicherheit geltend gemacht hat, oh man in ihnen nicht vielmehr Eigenschaften von Urteilen zu sehen hätte. Aber es gibt eine gute Tradition für diese Zusammengehörigkeit, die im Begriff der „Modalität“ des Urteils gelegen ist, so dals man die fraglichen Eigenschaften in Ermangelung eines Besseren auch ganz verständlich als modale Eigenschaften der Objektive benennen darf. Von Objektiven w T eifs die Tradition, wenigstens soweit es sich um den Namen handelt, freilich nichts : aber es bleibt zum mindesten in vielen Fällen mehr als zweifelhaft, inwieweit, wer „Urteil“ sagte und wohl auch sagt, damit nicht etwa bereits „Objektiv“ meinte oder meint . 1 Was die Liste der in diesem Sinne modal zu nennenden Eigenschaften von Objektiven anlangt, so wird sie in den eben beigebrachten Beispielen nahezu vollständig enthalten sein. Legt man etwa die IvAXTsche Trias „problematisch, assertorisch, apo- diktisch“ zugrunde, so findet man sich auf Möglichkeit, Tat- sächlichkeit (allerdings zunächst im oben erwähnten, besonders engen Wortsinne ) 2 und Notwendigkeit nebst den bezüglichen Gegenteilen geführt. Wahrheit und Wahrscheinlichkeit mit ihren Gegenteilen kommen dann wohl hinzu, und vielleicht wird man auch noch etwa Gewifsheit und Evidenz nicht missen wollen, ohne für die natürliche Vollständigkeit der so zustande kommen- den Aufzählung Bürgschaft übernehmen zu können. Die hohe Bedeutsamkeit dieser Eigenschaften oder wenigstens einiger davon steht aufser jedem Zweifel: und da es am Ende doch die Be- deutung des Objektivs ist, die in dieser Bedeutsamkeit seiner Eigenschaften zur Geltung kommt, so werden hier noch ein paar Bemerkungen zu diesem Thema kaum unangebracht sein. Es handelt sich mir dabei hauptsächlich um die Berechtigung jenes, man könnte fast sagen, populär gewordenen Gesichtspunktes, unter dem die modalen Eigenschaften auch hier eingeführt worden sind, ich meine die Bestimmung derselben vom Urteile her. Die Frage, wie wir diese Eigenschaften eigentlich erfassen, ist zwar psychologischer, als der doch zunächst noch gegenstands-


1 Vgl. „Über die Stellung der Gegenstandstheorie usw.“, S. 125 f., — auch unten § 14.

2 Vgl. S. 69.


Das Objektiv.


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theoretischen Intention dieses Paragraphen angemessen scheinen könnte. Aber unser Wissen von der Natur eines Gegenstandes ist ja oft genug mitbestimmt durch unser Wissen von der Er- fassungsweise desselben.

Was ich eben die Bestimmung der modalen Eigenschaften „vom Urteile her“ genannt habe, ist an sich nichts Auffallendes. Es wurde schon erwähnt, dais bereits der „Gegenstand“ etymo- logisch die Bezugnahme auf ein gleichsam gegenüberstehendes Erfassen in sich trägt und davon theoretisch erst befreit werden mufs. Es gibt auch speziell unter den Objekten derart determi- nierte, dafs sie von dieser Beziehung gar nicht befreit werden können : das beweist der Begriff der Erscheinung, der sich durch Charakterisierung des erscheinenden Objektes für sich niemals gewinnen läfst.

Nicht minder naturgemäfs ist diese Bezugnahme für den spezielleren Fall des Objektivs zunächst dort, wo dieses mit einem bestimmten erfassenden Erlebnis verknüpft auftritt, dann aber auch, wenn zwar kein wirkliches Erlebnis vorliegt, dieses aber, falls es vorläge, durch seine Beschaffenheit die des Objektivs mitcharakterisierte. In der Tat, wenn heute jemand behauptet, es sei sicher, dafs man von Frankreich nach England fliegen könne, so ist damit ohne Zweifel etwas zur Sache gesagt, obwohl Gewifsheit und ein andermal etwa Ungewifsheit in keiner Weise das Objektiv betreffen. Und will man sich weiter davon Rechen- schaft geben, was denn eigentlich auf diese Weise dem Objektive nachgesagt sei, so findet man sich eben nur auf die Beziehung zur Gewifsheit möglichen oder statthaften Erfassens hingewiesen : das Objektiv ist eben so beschaffen, dafs es mit Recht durch ein gewisses Urteil erfafst werden kann. Ähnliches liefse sich hinsichtlich der Evidenz ausführen. Auch in bezug auf Not- wendigkeit, Möglichkeit u. a. hat man sich die Sache nicht anders gedacht 1 , und eigentlich war es dieselbe Bestimmungsweise, die hinsichtlich des Seinsbegriffes bereits abgelehnt werden mufste 2 und auf die hier schon deshalb neuerlich hinzuweisen ist, weil das in dieser Weise als „Sein“ oder „Existenz“ Definierte im wesentlichen mit dem zusammenfallen wird, was ich unter dem Namen der Tatsächlichkeit (diesmal im weitesten Wortsinne) zu den modalen Eigenschaften der Objektive zähle.

1 Vgl. A. MartY, „Untersuchungen zur Grundlegung usw.“, S. 295 ff.

2 Vgl. oben S. 61 f. ,


6 *


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Drittes Kapitel.


Aber auch deshalb habe ich mich hier auf jene Ablehnung gewissermafsen als Präzedens zu berufen, weil mir die Gezwungen- heit jener Charakteristik durch „Reflexion“ auf das Urteil auch bei den übrigen modalen Eigenschaften längst sich fühlbar ge- macht hat, und ich nunmehr einen Weg gefunden zu haben hoffe, ihrer zu entraten. Das Motiv zu dem hier kurz darzu- legenden Versuche formuliere ich vor allem in der Behauptung: dafs für den Gedanken der Tatsächlichkeit, Notwendigkeit usf. der in Ermangelung eines Besseren bisher auch von mir meist eingeschlagene Umweg über das Urteil konstitutiv wäre, das widerspricht dem deutlichen Zeugnis der Erfahrung, die mir von durchaus positiven und objektiven aber in keiner Weise auf das Urteilen rekurrierenden Modalitätsgedanken Kunde gibt. Nur handelt es sich dabei, wenn ich recht sehe, mindestens teilweise um ebenso letzte Daten, als wir sie in Existenz oder Sosein usw. angetroffen haben, so dafs es nicht auf irgendwie reduzierende Definitionen, sondern auf den Nachweis der Gelegenheiten an- kommen mufs, bei denen oder besser durch die diese letzten Daten zu unserer Kenntnis gelangen. Nicht dahin also geht meine Meinung, als ob es unstatthaft wäre, Begriffe von den modalen Eigenschaften der Objektive auf dem Umweg über Eigenschaften des Urteils zu bilden. Das kann vielmehr in ganz korrekter und auch ganz nützlicher Weise geschehen. Wichtig scheint mir aber, dafs wir auf diesen Umweg nicht jedesmal an- gewiesen sind, dafs vielmehr auch hier letzte fundamentale Mo- mente an den Objektiven unter günstigen Umständen unserem Erfassen offen stehen.

Die Darlegung gerät am einfachsten, wenn ich mit dem Be- griffe der Tatsächlichkeit beginne, aber, wie eben schon ange- deutet, nicht der Tatsächlichkeit in jenem engsten Sinne, dem man das „assertorische Urteil“ gegenüberzustellen pflegt, sondern in jener weitesten Wortbedeutung, in der wir oben 1 die Tat- sächlichkeit an allem Erkennen fundamental beteiligt fanden . 2

1 Vgl. S. 69 ff.

2 Eine interessante Notiz Lessings über das Aufkommen dieses Wortes zitiert G. Spengler in dem zum Hauptthema dieses Buches in vielfachen Beziehungen stehenden Aufsatze „Zwei Termini der Grammatik, insbe- sondere der lateinischen, und ihre Verwendung“ [Zeitschrift f. östen eichische Gymnasien, Jahrgang 1896 S. 1058) nach Grimms Wörterbuch. Theoretisch ist das Wort bisher noch wenig verwendet und daher besonders geeignet, den Sinn anzunehmen, in dem es im folgenden gebraucht wird.


Das Objektiv.


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Die nächste Direktive gibt uns hier ja ohne Zweifel die Charakte- ristik durch das Urteil hindurch. Tatsächlich ist ein Objektiv, das unter ausreichend günstigen Umständen mit Evidenz 1 und, was manchem vorerst ohnehin für selbstverständlich gelten mag, mit Gewifsheit erfafst werden kann. Die Frage ist nun, ob wir, so oft wir an Tatsächlichkeit eines Objektivs denken, auch an Evidenz und Gewifsheit eines erfassenden Urteils denken müssen. Die Erfahrung zwingt uns, wie ich glaube, hierauf mit Nein zu antworten; aber man entschliefst sich schwer, dem Zeugnis der Erfahrung stattzugeben, solange man nicht absehen kann, auf welchem anderen Wege man noch dieser für unsere Erkenntnis- intentionen so grundlegend wichtigen Eigenschaft gewisser Objek- tive intellektuell näher zu kommen imstande wäre. Um die Aufzeigung eines solchen Weges ist es mir hier zunächst zu tun.

Ich greife zu diesem Ende auf einen in dieser Schrift schon wiederholt berührten Gegensatz zurück 2 , durch dessen Festlegung ich bereits vor Jahren versucht habe, zunächst an den Vor- stellungserlebnissen eine ihren Gegenständen sozusagen in be- sonderem Mafse zugewandte Seite unter dem Namen des Vor- stellungsinhaltes herauszuarbeiten, dem gegenüber dann für alles übrige am Vorstellungserlebnis die Bezeichnung als Vorstellungs- akt Vorbehalten bleiben sollte . 3 Die Empfindung eines Tones


1 In betreff ihrer Unentbehrlichkeit vgl. „Über die Erfahrungsgrundl. unseres Wissens“ S. 31 ff. Zu L. Nelsons beachtenswerter Polemik („Das sogenannte Erkenntnisproblem“ in den „Untersuchungen der FaiESSchen Schule, Bd. II, S. 479 ff.) vgl. einstweilen A. Höflek, „Erkenntnisprobleme und Erkenntnistheorie“ in der Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 187, 1910, S. 1 ff.

2 Resp. vor ; vgl. unten Kap. VII f. bes. § 38, 43, 45.

3 Vgl. „Über Gegenstände höherer Ordnung usw.“ a. a. 0. S. 185 ff. Blofs dafs ich je den Gegenstand für einen Teil des Vorstellungserlebnisses oder auch nur (als solchen) für psychisch gehalten hätte, ist (wie übrigens a. a. 0. S. 187 zu ersehen) ein immerhin vielleicht durch mich verschuldetes Mifsverständnis (z. B. B. Rüssels, vgl. „Meinongs tlieory of complexes and assumptions“, Mind, N. S., 13, S. 214 f., 218), möglicherweise dadurch veran- lafst, dafs ich den alten Terminus „immanentes Objekt“ nicht aufser Ge- brauch setzte. Dieses Objekt aber habe ich mir nie anders als „pseudo- existent“ gedacht. Darüber bin ich inzwischen deutlich genug gewesen, so dafs selbst A. Marty seinen Feldzug gegen das „immanente Objekt“ nicht an meine Adresse gerichtet haben kann (vgl. „Untersuchungen“ S. 761). Nur A. Kastil zieht vor, mir das nicht zu glauben („Studien zur neueren Erkenntnistheorie“, Halle a. S. 1909, S. 208 f.) und zu finden, es gehe aus


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Drittes Kapitel.


ist demgemäfs von der einer Farbe nicht nur gegenständlich, sondern eben darum auch inhaltlich verschieden, indes die Empfindung eines Tones mit der Einbildungsvorstellung des- selben Tones nicht nur den Gegenstand, sondern eben darum auch den Inhalt gemein hat, sich aber immer noch dem Akte nach von ihr unterscheidet. Sobald nun festgestellt war, dafs nicht nur Vorstellungen, sondern auch Urteile ihre Gegenstände haben, konnte es nicht schwer fallen, einzusehen, dafs wie ver- schiedenen Objekten im allgemeinen 1 verschiedene Vorstellungs-, so verschiedenen Objektiven verschiedene Urteilsinhalte gegen- überstehen müssen, indes wie dort der Vorstellungs- so hier der Urteilsakt noch ganz wohl der gleiche sein kann . 2 Um einmal Sein, das andere Mal Nichtsein, einmal Bestand, das andere Mal Sosein zu urteilen, dazu müssen Urteile verschiedenen Inhaltes dienen, indes Verschiedenheiten im Akte dabei keine charakte- ristische Rolle zu spielen scheinen . 3 Und sowie man sich über den intellektuellen Besitz, wenn man so sagen darf, eines Ob- jektes ausreichend legitimiert hat, wenn man sich auf den Besitz einer Vorstellung geeigneten Inhaltes berufen kann, so ist hin- sichtlich unserer Bekanntschaft mit letzten Daten an Objektiven alles Erforderliche geleistet, wenn man über Urteilserlebnisse ge- eigneten Inhaltes verfügt. Was Existenz und Bestand, was posi- tives und negatives Sein ist, das erfasse ich durch die betreffen- den affirmativen resp. negativen Urteile, und zwar so unmittelbar wie die Farbe durch die Farbenempfindung: so wenig hier eine „Reflexion“ auf das Empfinden, so wenig ist dabei dort eine Reflexion auf das Urteilen im Spiele. Das Nämliche würde nun aber auch in bezug auf die Tatsächlichkeit in Anspruch zu nehmen sein, wenn man ein inhaltliches Moment am Urteile namhaft machen könnte, das der Tatsächlichkeit als deien natür- liches Erfassungsmittel zugeordnet ist.

Das ist eine Forderung, die an sich gar nicht leicht erfüllbar


meinen Darlegungen „nicht hervor, . . . dafs“ ich „die Schwierigkeiten die zur Fiktion eines vom wirklichen verschiedenen, intentionalen oder objek- tiven Seins gedrängt haben, im Kerne erfafst hätte“.

1 Dafs die Regel wichtige Ausnahmen hat, kann liier vernachlässigt

werden; vgl. übrigens unten § 38 und 45.

  • Vgl. meinen Aufsatz „Über Urteilsgefühle, was sie sind und was sie

nicht sind“ im Bd. VI des Archiv f. d. ges. Psychologie , S. 39 f.

3 Einen Vorbehalt vgl. unten Kap. X § 59.


Das Objektiv.


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scheint, wenn man wieder nach der Analogie zum Vorstellen sich eine Meinung darüber bilden darf. Grün- und Rotvorstellung sind sicher inhaltlich verschieden; aber es hält, wie ich an anderem Orte dargelegt habe \ recht schwer, diese Inhalte den uns so wohlbekannten Objekten gegenüberzustellen. In gewissem Sinne steht es damit bei der Tatsächlichkeit günstiger: wir können hier leicht Momente am Urteil namhaft machen, die mit der Tatsächlichkeit des geurteilten Objektivs Hand in Hand gehen, — dieselben natürlich, auf die uns eben zuvor die den Umweg über das Urteil einschlagende Charakteristik der Tatsächlichkeit geführt hat, Evidenz und Gewifsheit. Aber eine ganz andere Schwierigkeit kommt hier zum Vorschein: wird man Evidenz und Gewifsheit für Bestimmungen am Urteilsinhalte nehmen dürfen, obwohl es auf den ersten Blick um so viel natürlicher erscheint, sie dem Urteilsakte zuzuschreiben?

Und damit hat es zunächst bei der Gewifsheit auch ohne Zw r eifei seine Richtigkeit. An einem intellektuellen Erlebnis wird ja naturgemäfs dasjenige für aufserinhaltlich, also dem Akte zugehörig zu vermuten sein, das Änderungen unterwarfen sein kann, ohne dafs die Beschaffenheit des zu erfassenden Gegen- standes dadurch berührt wird. Das ist nun beim Wechsel des Gewifsheitsgrades in der Tat der Fall: an dieselbe Sache 1 2 kann sich einer, wde man sagt, sehr gut, der andere sehr schlecht er- innern; die Sache bleibt dieselbe und das, was in dieser Weise mit so verschiedenem Gewifsheitsgrade urteilend erfafst ward, braucht sich dabei gar nicht wirklich zugetragen zu haben.

Dagegen steht es mit der Evidenz doch wesentlich anders: das verrät sich vielleicht schon darin, dafs es ein Urteil ohne irgend einen Gewdfsheitsgrad nicht geben kann, indes Urteile ohne Evidenz nicht nur möglich, sondern nichts weniger als selten sind, so dafs das Evidenzmoment eine Art Beweglichkeit zeigt, die man eher an Inhalts- als an Aktmomenten zu suchen geneigt sein möchte. Nur sieht es doch so aus, als würde Vor- handensein resp. Fehlen der Evidenz das erfafste Objektiv so wenig tangieren, wie die Verschiedenheit der Gewifsheitsgrade es


1 „Über die Erfahrungsgrundlagen Unseres Wissens“, S. 57.

2 Es braucht wohl kaum bemerkt zu werden, dafs eine solche „Sache“ streng genommen gar keine Sache im genauen Sinne, sondern ein Ob- jektiv ist.


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Drittes Kapitel.


berührt. Ob einer einsieht, dafs jeder Winkel im Halbkreis ein rechter ist, ob er es blofs auf Hörensagen oder ohne jeden Neben- gedanken glaubt, sein Urteilen erfafst doch jedesmal das Be- stehen der in Rede stehenden geometrischen Relation. Indes zeigt sich die Sache doch in etwas anderem Licht, sobald man bedenkt, dafs das evidenzlose Urteil unter Umständen auch das Objektiv, dafs der Winkel im Halbkreise 60 oder 100 Grade betrage, treffen könnte. Das evidenzlose Urteil kann also auch Tatsäch- liches erfassen, aber ebensogut Untatsächliches, und jenes nur sozusagen per accidens, indes das evidente Urteil dem Tatsäch- lichen von Natur zugewandt ist als dessen adäquates und in dieser Hinsicht durch nichts zu ersetzendes 1 Erfassungsmittel.

Nun kann man aber freilich immer noch fragen : erfafst das evidente Urteil etwas anderes als das evidenzlose oder erfafst es das Nämliche nur in anderer Weise? Und dafs man das kann, liegt daran, dafs, auch wer den Satz von der Gröfse des Winkels im Halbkreise einsieht, zwar an diesen Sachverhalt, nicht aber an dessen Tatsächlichkeit zu denken scheint. Dafs dies indes nur Schein sein kann, ergibt sich deutlich, wenn man vom blofsen Urteilen unseres Objektivs zum Beurteilen desselben übergeht. Indem man etwa sagt: „dafs der Winkel im Halbkreis ein Rechter ist, ist Tatsache“, drängt sich die Tatsächlichkeit als Eigenschaft des bereits vorher geurteilten Objektivs mit einer Unmittelbarkeit auf, die einen Zweifel daran, dafs diese Eigen- schaft des Objektivs schon von Anfang miterfafst worden sein mufs, nicht wohl aufkommen läfst. Die „Reflexion auf das Ur- teil“ kann bei einer solchen Beurteilung freilich ebenfalls zur Geltung kommen; sie findet ihren korrekten Ausdruck etwa in der Aussage: „dafs der Winkel im Halbkreise ein rechter ist, ist evident“. Aber damit ist deutlich etwas anderes gesagt, das sich nur in der Praxis als etwas der Aussage über die Tatsächlichkeit Nahestehendes dadurch erweist, dafs die beiden Aussagen für- einander ohne Fehler substituiert werden können, und überdies infolgedessen dort oft „evident“ gesagt werden dürfte, wo es sich gar nicht um das Erlebnis, sondern nur um das Objektiv handelt, also im Grunde gar nicht an Evidenz, sondern nur an Tatsächlichkeit gedacht wird.

So steht also in Wahrheit die Evidenz doch einem Momente


1 hierüber vgl. unten Kap. \ I, § 26.


Das Objektiv.


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am Objektiv als dessen adäquates Erfassungsmittel gegenüber und macht so ein Stück inhaltlicher Bestimmung am Urteile aus. Warum es erst bei der Beurteilung und nicht schon beim Urteilen des Objektivs, — vielleicht könnte man analog zu „Be- urteilung“ auch sagen: bei der „Urteilung“ desselben — explizite in Funktion tritt, dafür fehlt mir zurzeit eine Erklärung. Keines- falls wird man sich darüber zu wundern haben, wenn in Regionen, wo man den letzten Dingen des Erkennens und der Erkenntnis- theorie so nahe steht wie in Sachen der Evidenz, manches sich anders anläfst als anderswo. Und so viel wäre dann mindestens leicht zu verstehen, warum unter solchen Umständen die Neigung entstehen kann, in der Evidenz gleich der Gewifsheit eine Be- stimmung am Urteilsakte zu sehen. Registrieren könnte man das Besondere, was sich uns da ergeben hat, etwa in dem Satze : Evidenz fungiert nicht als Urteilungs-, wohl aber als Beurteilungs- inhalt. Als solcher aber erfafst sie die Tatsächlichkeit eines Ob- jektivs nicht anders, als etwa die affirmative Qualität eines Ur- teils die Positivität des Objektivs erfafst. In keiner Weise aber braucht dann noch das Wesen der Tatsächlichkeit in der Erfafs- barkeit durch das evidente Urteil gesucht zu werden.

Die hier notgedrungen nur in wenigen dürftigen Strichen umrissene, der Vervollkommnung sicher noch in hohem Grade bedürftige, hoffentlich aber auch fähige Auffassung findet eine Festigung in der Tatsache, dafs sie sich nun auch auf die übrigen modalen Eigenschaften des Objektivs anwenden läfst. Um dies noch in möglichster Kürze ersichtlich zu machen, sei vor allem darauf hingewiesen x , dafs Tatsächlichkeit ihrer Natur nach am Ende einer Gröfsenlinie steht, als deren Punkte man sich alle Grade der Möglichkeit abgebildet denken mag, das Wort „Mög- lichkeit“ in jenem steigerungsfähigen Sinne verstanden, in dem man dieses Objektiv „sehr möglich“, jenes „kaum möglich“ nennt und sich unter besonderen Umständen, wie sie z. B. die Zufalls- spiele darbieten, auf numerische Bestimmungen der Möglichkeits- grade einläfst . 1 2 Ist sonach alle Möglichkeit herabgesetzte Tat-


1 Was näher auszuführen ich einer nächsten Veröffentlichung Vorbe- halten mufs.

2 Vgl. insbesondere J. v. Kries, „Die Prinzipien der Wahrscheinlich- keitsrechnung“, Freiburg i. B. 1886, dessen verdienstvoller Herausarbeitung insbesondere der Konzeption der „objektiven Möglichkeit“ (auch in seinen einschlägigen Artikeln in Bd. XII der Vierteljahrsschrift f. wissenschaftliche


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Sachlichkeit, lehit feiner die Erfahrung, dafs auch die Möglichkeit gewisser Objektne unter günstigen Umständen unmittelbar er- fafst wird, so liegt die krage nahe, ob das uns vertraute Erlebnis des evident gewissen Urteils durch geeignete Abänderungen gleichsam in das Erfassen einer Möglichkeit übergeführt werden kann. Dies ist nun in der l at der Fall, sobald die Gewifsheit sich in Ungewifsheit oder Vermutung umwandelt, ohne dafs darum das Evidenzmoment verloren geht. Habe ich das auf Evidenz gegründete Recht zu vermuten * 1 , dafs etwa ein gewisses Spielergebnis eintreten werde, dann besteht natürlich nicht die Tatsächlichkeit, wohl aber die Möglichkeit dieses Ergebnisses, und diese Möglichkeit ist um so giöfser, je stärker die berechtigte Vermutung. Aber wer so vermutet, erfafst die Möglichkeit hier genau so wenig explizite, als oben durch Urteilen des tatsäch- lichen Objektivs dessen Tatsächlichkeit explizite erfafst war; und ■wie dort, so leistet auch hier die Beurteilung das Erforderliche. Man urteilt eben: dafs das Ergebnis eintreten wird, ist in dem und dem Grade möglich.

Dennoch birgt gerade diese Analogie des Verhaltens zunächst noch eine Schwierigkeit. Wodurch unterscheidet sich das eben gekennzeichnete Urteil über Mögliches von dem über Tatsäch- liches, das uns früher beschäftigt hat? Zunächst nur dadurch, dafs darin Ungewifsheit an Stelle der Gewifsheit getreten ist. Ist nun Gewifsheit Sache des Urteilsaktes, so wird es Ungewifs- heit in ihren mancherlei Graden natürlich auch sein. Oben aber war es nicht die Gewifsheit, sondern die Evidenz, die wir der Tatsächlichkeit zugeordnet fanden; diese fehlt freilich auch jetzt nicht, sollte sie nun aber auch dem Gegenstände Möglichkeit als der ihm zugeordnete Inhalt gegenüberstehen? Sie kann es in der Tat, wenn nur die Evidenz für Gewifsheit sich von der Evidenz für Vermutung unterscheidet, — nämlich nicht blofs darin, dafs das eine evidente Urteil Gewifsheits- das andere Ver-


Philosophie ) die liier vertretene Auffassung der Möglichkeit als einer Eigen- schaft der Objektive nachdrückliche Impulse zu verdanken haben dürfte.

1 Über Vermutungsevidenz vgl. einstweilen die Ausführungen „Über die Erfahrungsgrundlagen unseres Wissens“, S. 69 f. — A. Kastils („Studien zur neueren Erkenntnistheorie“, I, Halle a. S. 1909, S. 134 Anm. 2) in dieser Sache an mich (wohl nach Mahtys Muster, vgl. oben S. 73) gerichtete, nicht gerade bedeutsame Frage werde ich mich zu beantworten „ent- schließen“, wenn sie in minder — ungewöhnlicher Form gestellt sein wird.


Das Objektiv.


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mutungseharakter hat. Eine solche Verschiedenheit der Evidenz aber, obwohl der direkten Empirie kaum mehr zu entnehmen, ist etwas aufserordentlich Wahrscheinliches: am nächsten liegt wohl, auch bei der Evidenz graduelle Abstufbarkeit zu vermuten. Jedenfalls ist es mindestens sehr plausibel, dafs es eine Reihe von Evidenzzuständen gibt, deren jeder Vermutungen nur bis zu einer Maximalstärke legitimiert. Geht diese Maximalstärke mit der Gröfse der durch die Vermutung zu treffenden Möglich- keit zusammen, dann auch der betreffende Evidenzzustand, und dieser kann ebenso als adäquates Erfassungsmittel der betreffenden Möglichkeit angesehen werden, wie dies oben in bezug auf Tat- sächlichkeit und jenen Evidenzzustand dargelegt wurde, von dem nun ersichtlich geworden ist, warum er korrekterweise nicht ein- fach als Evidenz, sondern sogleich als Evidenz für Gewdfsheit zu bezeichnen war. Es ist damit auch für die Möglichkeiten der Weg gezeigt, auf dem sie (obwohl letzte Daten eigener Art) in direkter Weise zu unserer Kenntnis gelangen können, die durch keine umschreibende Definition zu ersetzen ist. Die Tradition insbesondere, Möglichkeit zu etwas Negativem zu machen, wird dadurch ganz entbehrlich, und es wird nun um so leichter, zu erkennen, wie sehr sie, falls es sich nicht um einen unten zu erwähnenden 1 Determinationsfall handelt, dem durchaus positiven Charakter unseres Möglichkeitsgedankens widerstrebt.

Kommt es sonach bei der Möglichkeit auf eine Art direkt immerhin noch nicht sichergestellter Deter m ination des Evidenz- momentes hinaus, so ist es eine sogar der aufserwissenschaftlichen Erfahrung ganz geläufige andere Determination dieses Momentes, auf die die analoge Behandlung der Notwendigkeit sich gründen läfst. Oder eigentlich : es handelt sich hier um das, was das tägliche Leben mit dem Worte „Einsicht“ allein zu meinen pflegt, und dem gegenüber der Sprachgebrauch der Theorie im Grunde eine Erweiterung darstellt. Etwas einsehen und etwas verstehen 2 ist aufserwissenschaftlich dasselbe. Es ist nun zwar trotzdem ganz unvermeidlich, etwa bei innerer Wahrnehmung von Evidenz zu reden, die dann eben einen Fall von Einsicht ohne Verständnis repräsentiert . 3 Aber der Fall des Einsehens mit Verständnis

1 Vgl. S. 93.

  • An das „Verstehen“ von Zeichen oder Wörtern und Sätzen darf man

dabei natürlich nicht denken.

3 Vgl. „Über die Stellung der Gegenstandstlieprie usw.“, S. 31 f.


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bleibt darum doch ein in sich deutlich charakterisiertes Erkennt- niserlebnis, es ist eben das, was man in sehr mifsverständlicher und wirklich oft genug mifsverstandener Wortanwendung 1 , der man nur heute gleichwohl kaum mehr entraten kann, als Er- kennen a priori zu bezeichnen sich gewöhnt hat. Durften wir nun oben die Evidenz für Gewifsheit ohne nähere Bestimmung als ein inhaltliches Moment am Urteil in Anspruch nehmen, so jetzt natürlich nicht minder die als apriorisch oder rational determinierte Evidenz. Und ist, was die Gewifsheitsevidenz im allgemeinen am Objektiv erfafst, dessen Tatsächlichkeit, so ist das, was der rationalen Evidenz in derselben Weise als ihr Gegenstand zugeordnet ist, die Notwendigkeit . 2 Notwendig ist ein Objektiv, sofern es sich a priori einsehen läfst: über das Wesen der Notwendigkeit aber belehrt uns diese Einsicht selbst, nicht eine Reflexion über sie. Sie stellt sich dabei als etwas durchaus Positives dar, so dafs die altherkömmliche Bestimmung der Notwendigkeit als Unmöglichkeit des Gegenteils 3 schon durch direkte Empirie verboten erscheint.

Aufserdem ist es aber deutlich einfacher, statt die Notwendig-

1 Vgl. Ueberweg, Logik, 4. Auf., S. 181 ff., auch desselben Autors Über- setzung von Berkeleys „Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis“, Berlin 1869, S. 120.

2 Vgl. „Über die Stellung der Gegenstandstheorie“, S. 51 ff., wo auch auf B. Bussells prinzipielle Ablehnung des Notwendigkeitsgedankens ein- gegangen ist. Den Begriff des Grundes, wie dort noch geschehen ist, heranzuziehen, läfst obige Darstellung als überflüssige Komplikation er- kennen. Doch ist dies eine relativ unwesentliche Auffassungssache dem Versuche gegenüber, die ganze Notwendigkeit aus der Welt (natürlich zu- nächst aus der Welt der Gegenstandstheorie) hinaus zu reduzieren. Viel- leicht dient es logistisch praktischen Zwecken, nach Äquivalenten für die Notwendigkeit zu suchen. Aber dafs es notwendige Objektive gibt, bleibt auch dann eine Fundamentaltatsache ersten Ranges und soviel ich sehe, unmittelbarster Erkennbarkeit. Sie womöglich entgültig gegen Zweifel zu sichern, wird nicht die unwichtigste der Gelegenheiten sein, bei denen die Gegenstandstheorie der Zukunft das, was ich die Achtung vor den Tat- sachen genannt habe („Über die Stellung der Gegenstandstheorie usw.“, S. 140 ff.) zu betätigen haben wird.

3 Gegen mich geltend gemacht von A. Marty, „Untersuchungen zur Grundlegung usw.“, S. 313 Anm. Nur warum dieser Autor auch die Objek- tivität der Notwendigkeit gegen mich behauptet, a. a. 0. S. 295 ff., obwohl ich die Notwendigkeit doch schon in der ersten Auflage dieser Schrift (S. 174, 193 f.) unter den Eigenschaften der Objektive aufzählte, habe ich mir nicht klar machen können.


Das Objektiv.


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keit als Spezialfall der Unmöglichkeit (nämlich der eines ganz anderen, eben des entgegengesetzten Objektivs), umgekehrt die Unmöglichkeit als Spezialfall der Notwendigkeit zu betrachten. Das Ausgangsobjektiv wird zwar auch da verlassen: ein Objektiv ist unmöglich, sofern notwendig ist, dafs es nicht besteht. Aber der Schritt zum nächsthöheren Seinsobjektiv, der Übergang von der Evidenz der Urteilung zu der einer Beurteilung ist ungleich leichter auszuführen , als der zum kontradiktorisch entgegen- gesetzten Objektiv, das mit dem Ausgangsobjektiv zwar durch wichtige logische Relationen zusammenhängt, diesem Objektiv übrigens aber ganz selbständig gegenübersteht. Der Unmöglich- keit als Notwendigkeit des Nichtseins kann dann übrigens auch Notwendigkeit in einem engeren Sinne als Notwendigkeit des Seins an die Seite gestellt werden, die sonach ebenfalls das nächsthöhere Seinsobjektiv in die Betrachtung einbezieht. — Man kann sich bei Präzisierung des Unmöglichkeitsgedankens auch strikt an die negative Form des Wortes anschliefsen. Demnach ist unmöglich, was nicht möglich ist oder auf den Nullpunkt der Möglichkeitslinie zu stehen kommt. In dieser Bedeutung ist Unmöglichkeit wie Möglichkeit nicht an Apriorität gebunden ; demgegenüber pflegt man die rationale Unmöglichkeit und die von ihr durch Negation abgeleitete rationale Möglichkeit als logische Unmöglichkeit resp. Möglichkeit auszuzeichnen. — Ob- jektive, die durch ihre Natur der rationalen Erkenntnisweise ent- zogen sind, pflegt man den notwendigen als zufällige entgegen- zustellen.

Dafs im Beginn dieses Paragraphen auch Wahr und Falsch den modalen Eigenschaften zugezählt wurde, entsprach weniger dem Herkommen als der Natur der Sache: wo von Tatsächlich- keit und Notwendigkeit gehandelt wird, scheint wegen natürlicher Zusammengehörigkeit auch von Wahrheit die Rede sein zu müssen. Der Tatsächlichkeit gegenüber kann diese Zusammen- gehörigkeit als völlige Übereinstimmung erscheinen, die zu der Frage führt: wenn man, dafs A B sei, einmal tatsächlich, ein andermal wahr nennt, welcher Unterschied kommt da eigentlich zur Geltung? Offenbar der, dafs die Bezugnahme auf ein er- fassendes Urteil, die bei „tatsächlich“ doch nur anscheinend eine Rolle spielt, bei „wahr“ nun wirklich eine wesentliche Bedeutung hat. Aber ich dürfte (mit anderen) im Irrtum gewesen sein, als


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ich sie in der Beschaffenheit dieses erfassenden Urteils suchte \ indes sie in der Tatsache des Erfafstwerdens selbst gelegen sein dürfte. Nicht von jedem Objektiv sagt man gleich natürlich, es sei wahr resp. falsch : solche Bezeichnungen scheinen vielmehr aufzutreten, wo das Objektiv sich als wirkliche oder fiktive An- sicht oder Behauptung eines bestimmten oder unbestimmten In- dividuums oder Kollektivs darstellt und darauf hin einer Art Kritik unterzogen werden kann . 1 2 Was aber hat das unter diesen Umständen eventuell angewendete Epitheton „Wahrheit“ zu be- deuten ? Man bleibt mit dem gesunden Menschenverstand nicht minder als mit altehrwürdiger Tradition in bestem Einklang, wenn man antwortet: was einer behauptet, ist wahr, wenn es mit dem übereinstimmt, was ist, oder, wie nach früherem deut- licher gesagt sein wird, mit dem, was tatsächlich ist. Im wesent- lichen wird hier also das irgendwie als pseudoexistierend voraus- gesetzte Objektiv mit dem sozusagen reinen Objektiv auf seine Tatsächlichkeit hin konfrontiert. Der Wert des so eingeschlagenen Umweges kann leicht darin erkannt werden, dafs dadurch jene enge Beziehung zur Evidenz abgestreift wird, die der Tatsäch- lichkeit, wie wir sahen, anhaftet, den Bedürfnissen aber, denen unser Wissen so häufig zu dienen bestimmt ist, fremd bleibt. Die Praxis verlangt von uns, dafs wir in einer bestimmten Situation wissen, was ist und wie es ist, — natürlich tatsächlich ist. Dazu mufs die Tatsächlichkeit keineswegs an den erfassenden Erlebnissen durch ihr subjektives Korrelat, die Evidenz, reprä- sentiert sein; in dieser kann sogar eine überflüssige Belastung liegen, der gegenüber das Erfordernis der Wahrheit das praktische Minimum darstellt.

Das sozusagen natürliche Negativum zu „wahr“ ist „falsch“. Falsch nennt man ein Objektiv einfachst, sofern es nicht wahr


1 So noch in der Schrift „Über die Stellung der Gegenstandstheorie usw. u , S. 53.

2 So wie es spracligebräuchlich unsicher sein mag, ob man besser das Urteil oder das Geurteilte als das zu Kritisierende bezeichnet, so schwankt der Sprachgebrauch auch hinsichtlich des Wortes Wahrheit. Zwar halte ich im Sinne der oben S. 81 aus der ersten Auflage herübergenommenen Aufstellung die Behauptung, dafs „wahr“ natürlicher vom Objektiv als \om Urteil auszusagen sei, auch gegen A. Martys Widerspruch („Untersuchungen S. 312) aufrecht; doch ist dieser Dissens für das hier Darzulegende un- wesentlich.


Das Objektiv.


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ist, also auch, sofern es mit keinem tatsächlichen Objektiv zu- sammenstimmt, oder endlich aueh, sofern es nicht tatsächlich ist. Das Falsche dem Wahren als ein zweites Positives entgegenzu- stellen wie die weifse der roten Rose 1 , dafür scheint mir jedes Recht zu fehlen, deshalb auch jeder Versuch illusorisch, ein Negativum durch Anwendung des Falschheitsbegriffs positiv zu machen . 2 Eher hätte noch oben eine analoge Auffassung in bezug auf das Gegenteil der Tatsächlichkeit diskutierbar er- scheinen können, wie man in der Tat statt „nicht-evidentes Urteil wohl auch „blindes“ sagt. Besteht indes das Blindsein doch eben im Nichtsehenkönnen, so auch das Untatsächlichsein im „nicht tatsächlich sein“. Immerhin kenne ich die Gefahr, Positiva mit Hilfe negativer Äquivalente aus der Welt zu reduzieren. Auch ist mir wohl bewufst, dafs die lex parsimoniae zwar die Theorie bindet, nicht aber die Empirie und ebensowenig ihr gegenstands- theoretisches Analogon. So mag eine gewisse Zurückhaltung in dieser Sache immer noch am Platze bleiben.

Hat es mit dem eben über Wahr und Falsch Ausgeführten seine Richtigkeit, so erwächst daraus die Konsequenz, dafs Wahr- heit eine neue eigenartige modale Eigenschaft des Objektivs streng genommen gar nicht ausmacht, am allerwenigsten eine von jener fundamentalen erkenntnistheoretischen Bedeutung, die man dem Wahrheitsmoment zuzuschreiben pflegt . 3 Befremdlich ist aber diese Behauptung weit eher den Worten als der Sache nach. Denn zu jener erkenntnistheoretischen Fundamentalstellung ist der Wahrheitsbegriff doch nur dadurch gelangt, dafs man die Beschränkung auf pseudoexistierende Objektive abstreifen zu dürfen gemeint hat, infolgedessen aber wohl unversehens in das Gebiet einer wirklich fundamentalen modalen Eigenschaft, nämlich der Tatsächlichkeit geraten ist.

Wie die Wahrheit der Tatsächlichkeit, so steht der Möglich- keit als der Tatsächlichkeit sozusagen niedrigeren Grades die Wahr-


1 Ein Bild B. Russells, „Meinong’s theory of complexes und assumptions“ III, a. a. 0. S. 523.

2 So oben S. 81 f.

3 So augenscheinlich auch B. Russell (a. a. 0.), der mir nun freilich entgegenhalten könnte, es sei leicht, Wahrheitsprobleme zu lösen, wenn man erst alle Schwierigkeiten im Begriffe der Tatsächlichkeit aufgehäuft hat. Vielleicht darf ich aber doch hoffen, damit dem Wesen dieser „letzten Dinge“ der Erkenntnistheorie etwas näher gekommen zu sein.


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scheinlichkeit gegenüber. Ausgesagt wird sie zunächst von einem Objektiv, sofern eine Vermutung darauf gerichtet ist; und was das Epitheton „wahrscheinlich“ besagt, ist natürlich zwar nicht die Übereinstimmung mit einem tatsächlichen Objektiv, wohl aber die Möglichkeit dieser Übereinstimmung, die Aussicht, wahr zu sein . 1 Insofern könnte man Wahrscheinlichkeit auch als Wahr- heitsmöglichkeit bestimmen. Man mag sich natürlich die Frage vorlegen, welchen Zweck es habe, unter solcher neuerlichen An- wendung des Möglichkeitsgedankens der simplen Möglichkeit diese Wahrheitsmöglichkeit an die Seite zu setzten. Die Legiti- mation liegt in der Funktion der Vermutung als Ersatz für unzu- längliche Gewifsheit: sie erfüllt diese Funktion nach Mafsgabe der Chance, die sie involviert, das Wahre oder Richtige zu treffen. Sieht man nachträglich auch hier, wie hinsichtlich der Wahrheit, von der vorausgesetzten Pseudoexistenz des Objektivs ab, dann verschwimmt die Wahrscheinlichkeit mit der Möglichkeit. Sie von dieser auseinanderzuhalten, kann man sich dann immerhin noch in anderer Weise des sozusagen subjektiven Aspektes der Möglichkeit bedienen, indem man ein Objektiv wahrscheinlich nennt, sofern es den Gegenstand berechtigten Vermutens aus- macht, und indem man die Gröfse der Wahrscheinlichkeit mit dem Grade dieser berechtigten Vermutung Zusammengehen läfst. Vom Standpunkte der Theorie des Objektivs besehen ist natürlich auch diesen Bestimmungen ein charakteristischer Wert nicht mehr zuzusprechen.

Dafs Gewifsheit und Evidenz streng genommen niemals selbst Eigenschaften von Objektiven, sondern nur solche von Urteilen sind, bedarf nach dem Dargelegten wohl kaum mehr besonderer Erwähnung. Sie werden freilich oft genug grammatisch von Ob- jektiven ausgesagt, aber das hat wohl nur darin seinen Grund, dafs sie sich ungenauerer Betrachtung leicht als Stellvertreter für Tatsächlichkeit oder Notwendigkeit darbieten mögen. Jedenfalls scheint es, streng genommen, neben Tatsächlichkeit resp. Möglich- keit, sowie Notwendigkeit und deren Gegenteilen weiter keine eigenartigen modalen Eigenschaften an den Objektiven zu geben.

Wo die Begriffe der Tatsächlichkeit und Wahrheit zur Sprache kommen, kann der Begriff der Erkenntnis nicht ganz unberührt


» Vgl. auch E. Mally in Nr. II der Grazer „Untersuchungen zur Gegenstandstheorie und Psychologie“, S. 201.


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bleiben. Denn Erkenntnis ist ja nicht das Erkennen, sondern das Erkannte, das ja natürlich stets ein Objektiv ist, — und auch nicht das Objektiv, auch nicht das tatsächliche, kurzweg, sondern das Objektiv als Erfafstes, genauer als ein durch das Erkennen Erfafstes. Insofern bietet das, was die Erkenntnis charakterisiert, gegenüber dem oben Betrachteten nichts Eigenartiges. Aber zum Abschlufs der gegenwärtigen Ausführungen über das Objektiv möchte sich wohl mindestens ein Hinweis auf die Beziehungen des Objektivs zur Erkenntnistheorie empfehlen, die sich gerade bei Betrachtung der modalen Eigenschaften schon von selbst aufgedrängt haben werden und die im Erkenntnisbegriffe selber in besonderer Deutlichkeit zutage liegen. Erkenntnistheorie ist schon ihrem Namen nach Theorie nicht so sehr des Erkennens als der Erkenntnis; Erkenntnisse aber sind Objektive von der eben angegebenen Beschaffenheit. So kann die Erkenntnis- theorie gar nicht anders, als einer wesentlichsten Seite nach Theorie solcher Objektive sein, wobei aber freilich der Um- stand, dafs diese Objektive durch ihre Beziehung zum Er- kennen determiniert sind, auch der theoretischen Bearbeitung des Erkennens einen unverlierbaren Platz in ihr sichert. Gewifs liegt es nicht zum wenigsten an der Eigentümlichkeit dieser Sachlage, dafs sich das Verhältnis der Erkenntnistheorie (resp. Logik) zur Psychologie so schwer hat durchsichtig machen lassen. Ist man erst einmal darauf aufmerksam geworden, wie die sogenannten „logischen“ Gesetze, sei es des Urteilens, sei es des Schliefsens in erster Linie von Objektiven handeln, dann hat man dem „Psychologismus“ gegenüber bereits eine uneinnehm- bare Stellung bezogen , der es immerhin zustatten kommen mag, die Lehre vom Objektiv noch selbst in ihrem natürlichen Zusammenhänge mit den übrigen Gebieten der Wissenschaft von den Gegenständen, der Gegenstandstheorie 1 zu erfassen. Natür- lich würde es aber zu weit führen, in diesem Zusammenhänge auch noch auf diese Seite der Sache einzugehen.

§ 14 .

Zum Terminus „Objektiv“.

Wo das theoretische Bedürfnis zum Versuche hindrängt, neue Termini zu prägen, da ist sorgsam erwogenes Vorgehen sicher

1 Vgl. „Über die Stellung der Gegenstandstheorie im System der Wissenschaften“, S. 114 ff.

Meinong, Über Annahmen, 2. Aufl.


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eine sehr wichtige Sache. Dennoch würde ich die durch die Darlegungen dieses Kapitels vielleicht ohnehin mehr als billig hinausgeschobene Rückkehr zum eigentlichen Vorwurfe der gegen- wärtigen Schrift nicht auch noch durch Bemerkungen über das Wort „Objektiv“ verzögern, schienen mir nicht ein paar Worte unvermeidlich gewordener Abwehr noch am besten an der gegen- wärtigen Stelle anzubringen.

Abfälliger Kritik bieten neue Veröffentlichungen bekanntlich zwei längstbewährte Hauptgesichtspunkte dar; entweder das Abzu- lehnende ist neu aber nicht gut, oder es ist gut aber nicht neu. Weil nun Neuheit nirgends weniger Selbstzweck sein könnte als in der Wissenschaft, so darf ich es nicht ohne jede Befriedigung kon- statieren, dafs gegen die sachliche Richtigkeit der das Objektiv betreffenden Ausführungen, die die erste Auflage gegenwärtiger Schrift enthält, Einwendungen von Belang kaum erhoben worden sein dürften. Dagegen haben die Antezedentien dieser — übrigens nicht nur dieser — Aufstellungen mehrseitiges Interesse auf sich gezogen, und zwar kaum blofs historisches. Dasselbe führte 1. auf Bolzanos „Satz an sich“, 2. auf Stumpfs „Sachverhalt“, 3. und hauptsächlich auf Brentanos und Martys „Urteilsinhalt“. 1 Da es aber nur Vertrauenssache wäre, den Hinweis hierauf ausschliefs- lich unpersönlich zu verstehen, so sehe ich mich genötigt, ihm vor allem eine Erklärung entgegenzusetzen, die der mit Recht nur sachlich interessierte Leser der besonderen Lage zugute halten wolle, in die jener Hinweis mich versetzt hat:

Zur Zeit der Abfassung der ersten Auflage gegenwärtiger Schrift war Bolzanos Lehre vom „Satze an sich“ mir so wenig bekannt wie den meisten Fachgenossen. Dafs ich ferner an Vor- lesungen Brentanos teilgenommen hätte , die unter welchem Namen immer das Objektiv anders betrafen als in Logik und Psychologie jederzeit unvermeidlich war, ist mir in keiner Weise erinnerlich. Martys jetzt von ihm so vielberufene Artikelserie „Über subjektlose Sätze usw.“ begann im Jahre 1884, durfte also, soweit sie mir bekannt war und in Betracht kam, um 1900 meinem Gedächtnis doch wohl entschwunden sein. Dafs aber endlich Stumpf in einem gefühlspsychologischen Zeitschriftartikel ge- legentlich „Sachverhalt“ im Sinne von „Objektiv“ gebraucht, ist mir anläfslich gefühlspsychologischer Untersuchungen ganz zu- fällig im Jahre 1905 aufgefallen 2 ; die technische Intention dieses Gebrauches konnte ich erst einer Veröffentlichung Stumpfs aus dem Jahre 1907 entnehmen. 3

So sind meine Aufstellungen über das Objektiv jedenfalls Ergebnis meiner und zwar keineswegs müheloser Forschungs- arbeit. Soweit ist also der literarische Berichterstatter, der von

1 Vgl. A. Mabty, „Untersuchungen“, S. 292 f.

2 Übrigens, was Marty nicht verbucht hat, von mir auch sogleich

konstatiert worden, vgl. „Über Urteilsgefühle, was sie sind und vas sie nicht sind“ im Archiv f. u. ges. Psychol. 0, S. 33. ,

3 Der Berliner Akademie- Abhandlung über „Erscheinungen und

psychische Funktionen“, S. 30.


Das Objektiv.


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der Entdeckung des Objektivs durch mich gesprochen hat 1 , im Kechte trotz Martys Unwillen darüber. 2 Ob dies Urteil einst auch Recht behalten wird vor dem Forum der Geschichte der Philosophie, darüber zu urteilen, steht nicht bei mir. Ist es ihr wichtig genug, so wird sie jedenfalls das zeitliche Zusammentreffen verbuchen können, das darin liegt, dafs so bald, nachdem die erste Auflage des gegenwärtigen Buches dem „Objektiv“ zum ersten Male eingehendere Untersuchungen gewidmet hatte, das literarisch betätigte Interesse an „Sachverhalten“ und (innerhalb eines engeren Kreises auch an) „Urteilsinhalten“ einen nicht wohl zu verkennenden Aufschwung genommen hat. Man braucht, diesen zu konstatieren, nur etwa das Register zu A. Martys „Untersuchungen“ zu Rate zu ziehen, das zum Stichworte „Urteils- inhalt“ 25 Bezugstellen namhaft macht, indes die Artikel „über subjektlose Sätze“, aus denen ich alles Wissenswerte darüber soll entnommen haben können, der „Urteilsinhalte“, flüchtige Erwähnungen abgerechnet bei weitem kein halbes Dutzendmal gedenken dürften.

Natürlich fehlt mir für mein Teil jeder Grund, darin, dafs andere vor mir ähnlich gedacht haben könnten wie ich selbst, etwas anderes zu sehen als eine willkommene Steigerung der Zuversicht, mich auf dem rechten Wege zu befinden. Je an- gemessener es aber in diesem Falle sein wird, lieber bei dem zu verweilen, was verbindet, als bei dem, was trennt, desto deut- licher gewinnt für mich die Frage, die ich mir beim gegen- wärtigen Stande der Ansichten über das Objektiv vorzulegen habe, einen in erster Linie terminologischen Charakter und kann etwa so formuliert werden : Das oder ungefähr das, was von mir und nun auch bereits von anderen unter dem Namen des Ob- jektivs untersucht worden ist, hat wieder andere unter anderen Namen beschäftigt. Verdient einer dieser Namen dem von mir in Ermangelung eines Besseren gewählten Namen „Objektiv“ vorgezogen zu werden? Dieser Frage sind hier noch ein paar kurze Bemerkungen zu widmen.

Dafs vor allem Bolzanos „Satz an sich“ dem Objektiv sehr nahe kommt, wenn nicht kurzweg damit zusammenfällt, scheint mir im ganzen aufser Zweifel 3 und findet in den neuesten Dar-


1 A. Höfler in den Gott. Gel. Anz. 1906.

2 Vgl. „Untersuchungen“, S. 304, 307 (zweimal), 308.

1 Im einzelnen werde ich ab und zu unsicher; so, wenn Bolzano seine Position mit der folgenden (Mehmels) zu identifizieren scheint: ,,Das Urteil objektiv, das ist, mit Abstraktion von dem Geiste, dessen Handlung es ist, betrachtet, heilst ein Satz. Es mufs notwendig so viel Arten von Sätzen geben, als dem Geiste Handlungsweisen des Setzens zukommen.“ Ein „Urteil“, eine „Handlung“ ist ja das Objektiv keineswegs. — Viel wichtiger wäre ein anderes Bedenken: Sind die „Sätze an sich“ meine Objektive, dann wohl die „Vorstellungen an sich“ meine Objekte. Nun setzt aber Bolzano den „Vorstellungen an sich“ (und wohl auch den „Sätzen an sich“) ausdrücklich die „Gegenstände“ entgegen (vgl. G. Gotthardt, „Bolzanos Lehre vom ,Satz an sich' in ihrer methodologischen Bedeutung“' Berlin 1909, S. 40 ff., — ob wohl E. Hüssekls Auffassung der Gegenständ-

7 *


100


Drittes Kapitel.


Stellungen der Lehre Bolzanos 1 seine Bestätigung. Wäre ihm die so sehr verdiente Beachtung und Anerkennung zuteil ge- worden, so hätte also eine Tradition zugunsten des Wortes „Satz“ für das, was ich mit „Objektiv“ meine, entstehen können, der dann auch ich nicht würde entgegentreten mögen. Jene Anerkennung scheint sich aber erst jetzt Bahn brechen zu wollen; und das hat wenigstens den einen V orteil, dafs man zurzeit noch durch nichts an den Ausdruck „Satz“ gebunden ist, den man sich viel zu eindeutig auf Sprachliches zu beziehen gewöhnt hat * 1 2 , als dafs eine Umdeutung auf den vom Sprechen wie vom Denken im Prinzip unabhängigen „Sinn“ nicht bald zur Subjektivierung, bald gar zur nominahstischen Veräufserlichung dieses Sinnes führen müfste. Nur auf einem beschränkten Gebiete besteht die Tra- dition schon von sehr langer Hand her, auf dem sie vielleicht auch zu konservieren sein wird. Man redet ja natürlichst vom „Satz“ des Widerspruches, vom CAKNOTschen „Satz“ und noch von zahllosen Grund- und Lehr -„Sätzen“. Das sind selbst- verständlich ausnahmslos Objektive, aber solche mit obligatorischer Differentiation. Gewöhnlich pflegt man von ihnen zu verlangen, dafs sie tatsächlich seien; dafs man sie aber noch natürlicher „wahr“ als „tatsächlich“ nennen wird, führt, falls oben 3 der Sinn des Wortes „wahr“ richtig präzisiert wurde, auf die hier in erster Linie charakteristische Bestimmung: „Satz“ ist ein erfafstes, womöglich sogar ausgesprochenes, mindestens sozusagen in Worten formuliert vorliegendes Objektiv. Dieses Moment ist sogar wichtiger als die Wahrheit oder Tatsächlichkeit; „Sätze“ können auch falsch sein. In dieser Bedeutung, wo es sich also um das formulierte Objektiv handelt, könnte sich auch die Lehre vom Objektiv des Terminus „Satz“ in aufsersprachlicher Anwendung ganz wohl bedienen, wie es das tägliche Leben und die Wissenschaft ja auch tut.

Anschliefsend an das Wort „Satz“ sei wenigstens berührt, dafs auch das Wort „Urteil“ schon unübersehbar oft statt „Ob- jektiv“ angewendet worden ist und angewendet wird, und keines- wegs nur von solchen, die für die besondere Natur des Objektivs keinen Blick haben. Beisätze wie „logisches“ Urteil gegenüber „psychologischem“ machen manchmal darauf aufmerksam. Die Gefahr der Veräufserlichung wie bei „Satz“ entfällt hier natür- lich; dafür ist die Gefahr ungehöriger Verinnerlichung im Sinne


lichkeit mit Bolzano zusammenhängt?), indes mir Objekt und Objektiv mit der Gesamtheit der uns bekannten Gegenstände zusammenzufallen scheinen (vgl. oben S. 61).

1 Über einschlägige Divergenzen vgl. H. Bergmann, „Das philosophische Werk Bkrnard Bolzanos“, Halle a. S. 1909, S. 17 f. Anmerkung S. 41. Gröfsere Schwierigkeiten könnte immerhin die sogleich unten (S. lOlff.) zu berührende Auffassung bieten.

2 Über weitgehende Abstraktionen, die Bolzano selbst verlangen muls, vgl. G. Gotthardt, „Bolzanos Lehre vom ,Satz an sich in ihrer metho- dologischen Bedeutung“, S. 7f. — über damit zusammenhängende Mifs- verständnisse, ebenda S. 17.

3 Vgl. S. 93 f.


Das Objektiv.


101


der Subjekti vierung eine um so gröfsere. Vielleicht ist durch keinen Wortgebrauch dem unstatthaften Psychologismus mehr Vorschub geleistet worden als durch diesen.

Was der Terminus „Sachverhalt“ vor „Objektiv“ voraus hat, habe ich bereits an anderem Orte 1 anerkannt. Zum Ersätze schien er mir nicht geeignet, weil sein natürliches Anwendungs- gebiet zu eng ist. Fällt es schon nicht leicht, etwa zu sagen, dafs es jetzt nicht schneit, sei ein Sachverhalt, so scheint mir die Anwendbarkeit für untatsächliche Objektive ganz und gar zu versagen. Dafs die Diagonalen im Quadrat ungleich oder die Haifische Säugetiere seien, wird man doch kaum Sachverhalte nennen können. Immerhin glaube ich nicht, dafs dieser Mangel schlechterdings verhindert, durch Konvention über ihn hinweg- zusehen, so dafs ich den Terminus keineswegs als unbrauchbar bezeichnen möchte . 2 3 Nur meine ich, nachdem im „Objektiv“ nunmehr ein Ausdruck ohne entgegenstehenden Sprachgebrauch bereits in Anwendung ist, bei diesem bleiben zu sollen. Vielleicht aber wäre es förderlich, das Wort „Sachverhalt“ für den so wichtigen Spezialfall der tatsächlichen Objektive in Verwendung zu nehmen.

Voranstehendes war bereits niedergeschrieben, als ich in der vorjüngsten Bearbeitung der Lehren Bolzanos 3 einige Aus- führungen antraf, die den „Satz an sich“ dem „Sachverhalt“ gegenüberstellen und dadurch gerade für die hier besprochenen Dinge so instruktiv sind, dafs ich sie in extenso wiedergeben zu sollen meine. „Das dem , Urteil 1 entsprechende psychische Ge- bilde“, heifst es da, „sofern wir es begrifflich erfassen, bezeichnen wir als , Sachverhalt 4 (Stumpf). Auf Grund dieser deskriptiv psychologischen Analyse bedeutet es nun ein Hysteron Proteron, wenn man den Sachverhalt bzw. den sich auf ihn stützenden ,Satz an sich 4 von dem zugrunde liegenden Urteilsakt realiter glaubt trennen zu können.“ In der Note wird dann fortgefahren: „Uber die Unterscheidung der Begriffe ,Satz an sich 4 und Sach- verhalt 4 sei folgende kurze Bemerkung gestattet. Ein Sach- verhalt 4 tritt im Bewufstsein selten rein, sondern fast immer in gewisser Weise modifiziert auf, d. h. psychologisch gesprochen: das , Urteil 4 wird meist nur verwoben mit den verschiedensten anderen psychischen Funktionen aktuell, mit Funktionen bei- spielsweise des Vergleichens, des Aufeinanderbeziehens, Abstra- hierens, des Apperzipierens ; vielleicht auch verwoben mit emo-


1 „Über Urteilsgefühle usw.“, a. a. 0. S. 33.

2 Oats er auch in E. LIusserls „Logischen Untersuchungen“ umfassende Anwendung findet, wird niemandem entgehen, der einmal auf den tech- nischen Gebrauch des Wortes aufmerksam geworden ist. Man ersieht daraus vielleicht noch besser als aus der schon in der ersten Auflage dieser ochnft (S. 19o, 197 Anmerkung) berührten Anwendung des Wortes „Satz“ V ie J? diesem Autor, obwohl er keine Prioritätsansprüche erhoben hat* die Probleme des Objektivs stehen.

3 G. Gotthardt, „Bolzanos Lehre vom ,Satz an sich' in deren metho-

dologischen Bedeutung“, S. 27 f.


102


Drittes Kapitel.


tionellen Akten, Willensakten, Akten des Hervorhebens, des Wünschens, des Begehrens usw. Alle diese Akte üben auf die Art und Weise, in welcher der Sachverhalt im Bewufstsein erlebt wird, eine Einwirkung aus, modifizieren den Sinn des Erlebten und ermöglichen damit zu einem und demselben Sachverhalt die Bildung der verschiedensten Sätze an sich. Sage ich z. B., um ein einfaches Beispiel zu nehmen, ,ich gehe heute abend ins Theater * 1 , so ist der Sachverhalt dieses Satzes doch nur die Tat- sache, dafs ich heute abend ins Theater gehe; der Sinn des Satzes dagegen kann noch ein sehr verschiedener sein, er ändert sich beispielsweise, so oft ich statt irgend eines der darin ent- haltenen Worte ein anderes betone. Auf diese Weise erhalte ich zu demselben Sachverhalt fünf verschiedene Sätze an sich. Aufser der Funktion des Hervorhebens (ganz abgesehen von den synthetischen Einheitsfunktionen und den anderen intellektuellen Funktionen) kann aber auch beispielsweise ein Wünschen oder auch ein Akt der Freude mit im Spiele sein: wieder ändert sich der Sinn des Satzes. Kurz, schon dieses einfache Beispiel zeigt, wievielen Sätzen an sich derselbe Sachverhalt zugrunde liegen kann.“

Wie man vor allem sieht, fällt nach dieser Darstellung Bolzanos „Satz an sich“ und Stumpfs „Sachverhalt“ durchaus nicht zusammen: jener ist sozusagen noch subjektiver, ob-

wohl auch dieser als „psychisches Gebilde“ schon subjektiv genug wäre. Was ferner die hierin liegende BoLZANO-Interpre- tation anlangt, so verkenne ich zwar keineswegs das Wagnis, das darin liegt, in dieser Hinsicht einem Autor zu opponieren, der durch seine Publikation eine so vertrauenerweckende Sach- kenntnis betätigt hat. Aber bekennen mufs ich doch, dafs ich diese Auffassung weder mit Gotthardts vorhergehender Dar- stellung noch mit dem, was ich selbst aus Bolzano herausgelesen habe, in Einklang zu bringen vermag. Und soviel scheint mir jedenfalls festzustehen: hat Gotthardt hier Recht, dann ist Bolzanos „Satz an sich“ ganz und gar nicht das, was ich mit „Objektiv“ meine.

Aber auch Stumpfs „Sachverhalt“ ist dann, entgegen meinen obigen Darlegungen, etwas anderes als mein Objektiv, falls unser Autor nicht etwa Stumpf irrig interpretiert, was aber durch die Provenienz seiner Publikation 1 so gut wie ausgeschlossen ist. Die „Sachverhalte“ sind, wie wir hörten, „psychische Gebilde“ : dagegen ist das Objektiv so wenig psychisch als es physisch ist, und keine Psychologie vermag darüber „authentische Auskunft zu erteilen, auch nicht die „deskriptive“, obwohl man sie jetzt manchmal als etwas ganz Besonderes hervorheben hört, wie sie denn auch unser Autor nicht etwa zur „erklärenden , son< ein zur „Allgemeinen Psychologie“ in einen einigermafsen betremd-


1 Sie ist ihrem ersten Teile nach, dem das obige Zitat entnommen wurde, eine Berliner Doktor-Dissertation.

1 A. a. O. S. 26.


Das Objektiv.


103


liehen Gegensatz stellt, als handelte es sich bei der ganzen Sache um mehr als darum, dafs auch die Psychologie, wie Jede Wissen- schaft, von den beiden altherkömmlich als Beschreiben und Er- klären formulierten Aufgaben jene in dem Mafse mehr bevor- zugt, in dem ihr diese weniger erfüllbar ist. Was ich mir also unter dem „Objektiv“ denke, gehört nicht in die Psychologie: und den Namen „Objektiv“ zugunsten von „Sachverhalt“ oder „Satz an sich“ aufzugeben, hätte ich um so weniger Veranlassung, je weniger ich sicher sein kann, dafs ich nicht auch diese Ter- mini uminterpretieren müfste, um ihnen die Bedeutung zu er- teilen, die mir durch die Tatsachen gefordert scheint.

Stünde das gute Recht einer Sache in geradem Verhältnisse zur Gröfse der Ansprüche, die dafür erhoben werden, dann wäre dem letzten der noch zu besprechenden Termini, dem Worte „Urteilsinhalt“ ohne weiteres das Übergewicht gesichert. Wurde mir doch zuerst kurzweg vorgehalten, ich hätte den neuen Namen „Objektiv“ für etwas erfunden, was „man sonst“ Urteils- inhalt genannt hat . * 1 Später hat A. Marty dieses „man sonst“ aufser durch sich selbst und Brentanos Vorlesungen noch durch fünf Autoren resp. vier Bezugsstellen 2 belegt 3 , induziert daraus aber nur noch, „dafs der nach Meinong angeblich unerhörte Name in den weitesten Kreisen bekannt war und ist “. 4 Die „Unerhörtheit“ habe ich nirgends behauptet 5 , und auch die „Bekanntheit“ namentlich des Wortes „Inhalt“ möchte ich so wenig bestreiten, dafs ich mich vielmehr eben auf die Geläufig- keit und die damit verbundene Unklarheit der in diesem Worte liegenden Metapher zum Beweise dafür berufen mufs, dafs ge- legentliche Anwendungen des Terminus „Urteilsinhalt“, wie sie Marty „gerade zur Hand“ waren, weder einen technischen Wort- gebrauch noch eine einigermafsen ausgearbeitete Konzeption des Objektivgedankens zu verraten brauchen. Jedenfalls überrascht nach Feststellung der „Bekanntheit“ die darauf gegründete Mit- teilung Martys, dafs er „keinen triftigen Grund zu sehen ver- mag, warum man von diesem Namen (oder dem gleich- bedeutenden des Sachverhalts, den z. B. Stumpf gebraucht) ab- gehen sollte “. 5 Man darf vielleicht fragen, warum wohl „Objek- tiv“ so verwerflich sein mag, wenn „Sachverhalt“ doch immer noch toleriert werden kann.

Wichtiger natürlich als diese Gebrauchsfrage ist es indes, ob das, wofür Marty mit so viel Eifer den Terminus „Urteils- inhalt“ propagiert, auch wirklich das Objektiv ist. Gelegentlich wird es mir zweifelhaft. „Schon“ in einem der Artikel „Über


‘ A. Marty, „Über , Annahmen““, Zeitschr. f. Psychol. 40, S. 19 Anm.

Eine der Stellen hat zwei Autoren auf einmal.

" „Untersuchungen“ S. 292 f.

1 A. a. 0. S. 293.


6 Zumal der Ausdruck von mir selbst angewendet worden ist, freilich in anderen Bedeutungen, vgl. „Über Urteilsgeftthle : was sie sind und was sie nicht sind“. Arch. /'. d. ges. Psychol. 0, S. 40 f.


sie nicht sind“ 0 A. a. 0.


104


Drittes Kapitel.


subjektlose bätze usw .“ 1 2 heilst es: „Vom Inhalt des Urteils sagen wir dann allerdings auch, er sei eine Anerkennung oder Ver- werfung“ ; vom Objektiv in dem im obigen stets vorausgesetzten Wortsinne könnte ich das natürlich in keiner Weise gelten lassen. In den „Untersuchungen“ aber wird dem Namen „ Ürteilsinhalt“ nachgerühmt, er sei ..gegenüber einem ,Apsychologismus‘, der verkennen will, dafs der Gedanke der , Objektive 4 nicht möglich ist ohne den an ein Urteilen, besonders zweckmäfsig und mar- kant“. - Es wäre doch eine arge Verstocktheit von seiten des „Apsychologismus“, wenn er sogar etwas „verkennen wollte“: vielleicht ist also zwar der „Urteilsinhalt“ etwas im eben an- gegebenen Sinne an das Urteilen Gebundenes 3 , eben darum aber nicht das Objektiv, von dem wir wissen, dafs ihm eine solche Abhängigkeit nicht zukommt. Auch dafs es nur unter be- stimmten Umständen ein Gegenstand ist 4 , vermöchte ich vom Objektiv in meinem Sinne nicht zuzugeben. Übrigens ist, Marty zu interpretieren, natürlich meine Aufgabe nicht; ich darf mich begnügen, hier nur noch kurz darzulegen, warum ich den Ter- minus „Urteilsinhalt“ für ganz besonders ungeeignet halte, das zum Ausdruck zu bringen, was nach meiner Auffassung dem Objektivgedanken wesentlich ist.

Das liegt in erster Linie am Worte „Inhalt“, falls es mir gelungen ist, dessen Sinn seinerzeit 5 auch nur einigermafsen sprach- und sachgemäfs zu bestimmen. Es handelt sieh dabei im wesentlichen um das Verhältnis zwischen Inhalt und Gegen- stand, dessen Durchsichtigkeit ich damals freilich überschätzt haben dürfte. Die vielen Mifs Verständnisse, denen ich es in- zwischen ausgesetzt fand, haben in mir das Bedürfnis wach- gerufen, darüber recht bald einmal ausführlicher zu sein. Dies würde aber hier viel zu weit führen; ich mufs mich daher für jetzt begnügen, dem in vorangegangenen Darlegungen bereits Implizierten nur noch wenige Bemerkungen beizufügen.

Dafs die Metapher, aus der heraus man sich bei psychischen Erlebnissen von Inhalten zu reden gewöhnt hat, verschiedene Deutungen gestattet, versteht sich. Ganz unnatürlich schiene mir aber, dabei so weit zu gehen, dafs man ein Stück Wirklich- keit, etwa so ansehnlich wie die Sonne, oder auch wieder ein ganz Unwirkliches, etwa das runde Viereck, in einem Erlebnis deshalb wollte „enthalten“ sein lassen, weil es durch dieses er- fafst wird. Das Erfafste ist vielmehr der Gegenstand des er- fassenden Erlebnisses, dessen „Inhalt“ dem Erfafsten nur in der Weise möglichst nahe zu bringen ist, dafs man darunter das- jenige am erfassenden Erlebnis versteht, was den Veränderungen


1 Viertel jahrsschr. f. ivissensch. Philos. 18, S. 461 Anm.

2 A. a. Ö.

8 Vgl. auch a. a. 0. S. 306 unten und vielleicht noch öfter.

  • A. a. 0. S. 309 Anmerkung 1. , , oi c

r> „Über Gegenstände höherer Ordnung . Zcitschv, f. Psychol» 21, k

— Vgl. oben S. 85 f.


185 ff.


Das Objektiv.


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am Erfafsten, d. i. am Gegenstand möglichst eng zngeordnet ist. In diesem Sinne tritt natürlich ohne weiteres das präsentierende Erlebnis als dasjenige in den Vordergrund, dessen gegenständlich relevante Veränderungen als inhaltlich zu bezeichnen sein werden; und da man behn präsentierenden Erlebnis stets zunächst und meist auch ausschliefslich an die Vorstellungen gedacht hat, so sind es denn auch die Vorstellungen (im weitesten Sinne), auf die sich der eben charakterisierte Inhaltsgedanke am leichtesten anwenden läfst. 1 Findet man aberweiter, dafs in gleicherweise das Urteil unbeschadet sonstiger Funktionen auch die aufweist, selbst Gegenstände zu präsentieren, nämlich die Objektive, so ist damit ohne weiteres nahe gelegt, nicht minder von Urteils- wie von Vorstellungsinhalten zu reden, und diese Betrachtungsweise hat tatsächlich im Vorhergehenden ihre Anwendung und wohl auch Bewährung gefunden. Dann ist jedoch klar, wie ganz be- sonders unangemessen es wäre, die in diesen Fällen erfafsten Gegenstände selbst Urteilsinhalte zu nennen. Objektive können nicht Urteilsinhalte heifsen, weil sie nicht Inhalte heifsen können.

Antizipierend darf ich wohl beifügen, dafs es dann auch noch einen besonderen Grund gibt, um deswillen sie nicht Urteilsinhalte genannt werden dürfen. Die Objektive sind ja zuletzt doch nur darum in die Darlegungen gegenwärtiger Schrift einbezogen worden, weil ausgeführt werden soll, dafs sie aufser durch Urteilsinhalte noch durch die Inhalte eben jener Erlebnisse erfafst werden können, deren Untersuchung den eigentlichen Vorwurf dieses Buches ausmacht, und denen sich nach Er- ledigung der wichtigsten vorbereitenden Feststellungen die folgen- den Kapitel nun wieder ausschliefslich zuwenden sollen.


1 Vgl. auch St. Witasek, „Grundlinien der Psychologie“, S. 73 ff.


\ ^


106


Viertes Kapitel.

Die uäclistliegenden Annahmefälle.


§ 15 .

Explizite Annahmen.

Aus der Feststellung, dafs es Annahmen gibt, ist uns die Frage erwachsen, wo dieselben im psychischen Leben zu suchen sein werden, und wir haben als selbstverständlich erkannt, dafs diese Frage vor allem durch Hinweis auf dasjenige an ein- schlägigen Tatsachen zu beantworten ist, was sich der psycho- logischen Empirie in besonderem Mafse aufdrängt. Doch möchte ich für das, was ich davon im gegenwärtigen Paragraphen zu- sammenstelle, die ihm überschriebene Bezeichnungsweise nicht gerade als technischen Ausdruck empfehlen: über die Meinung jedoch, in der ich diesen Terminus an die Spitze dieses Para- graphen setze, wird ein Zweifel schwerlich aufkommen. Es ist eben Tatsache, dafs es Annahmen gibt, die ihren Charakter gleichsam an der Stirne tragen, wohl gar vom annehmenden Subjekte noch ganz exprefs als Annahmen erklärt werden, und so das eine Extrem einer Reihe bilden, an deren anderem Ende Fälle stehen, an denen Annahmen als beteiligt zu erweisen, wie sich später zeigen wird, sehr sorgfältiger Analyse und wohl auch verwickelterer Untersuchungsweisen bedarf.

Beispiele solcher „offener“ Annahmen, wie man im Gegen- sätze zu den erwähnten Fällen mehr oder minder „versteckten“ Annehmens auch ganz wohl sagen könnte, sind uns bereits oben 1 begegnet: es mufsten ja zu Anfang Fälle ausgewählt werden, die in besonderem Mafse geeignet waren, die Aufmerksamkeit des Beobachters den kennzeichnenden Eigentümlichkeiten der neu zu untersuchenden Tatsachengattung zuzuwenden. Im gegen-


Vgl. § 1.


Die nächstliegenden Annahme fülle.


107


wärtigen Zusammenhänge wollen wir uns nun nur noch fragen, einmal, in welchem sprachlichen Gewände man dieser Art An- nahmen in der Regel begegnet, dann aber, was sie unter normalen Umständen zu leisten bestimmt sind.

Was zuvörderst den ersten Punkt anlangt, so versteht sich, dafs eine Annahme nirgends leichter als eine solche zu erkennen sein wird, als wo das Subjekt selbst sein Erlebnis als Annahme ausdrücklich ankündigt. Dies wird natürlich dort geschehen, wo die vorliegende Annahme sekundär ausgedrückt auftritt, also in Aussagen wie : „Ich nehme an, dafs . . .“ u. dgl. Natürlich tritt dann der primäre Ausdruck der betreffenden Annahme in Gestalt eines abhängigen Satzes auf, und so kommt ein Gegen- satz zustande gegenüber Fällen ausschliefslich primären Aus- druckes von Annahmen in unabhängigen Sätzen, die dann nicht selten durch einen Konjunktiv charakterisiert sind. „Es sei ein rechtwinkliges Dreieck gegeben, dessen eine Kathete die halbe Länge der anderen hat“, — das ist eine Wendung, die nur als Ausdruck einer Annahme zu verstehen ist. Dafs endlich An- nahmen auch in unabhängigen Sätzen ausgesprochen werden können ohne durch den Konjunktiv besonders gekennzeichnet zu sein, darauf kommen wir sogleich unten zurück ; doch möchte in solchen Fällen jene besonders aufdringliche Deutlichkeit in der Regel zu vermissen sein, die uns für die Einordnung in diese erste Gruppe mafsgebend bleiben soll.

Das Recht zu der zweiten der beiden oben aufgeworfenen Fragen leuchtet im Grunde gar nicht ohne weiteres ein. Sie verlangt einen Bescheid darüber, zu welchem Ende sich das Subjekt auf Annahmen sozusagen einlasse, und da könnte es gar wohl sein, dafs derlei sich zuträgt ohne allen weiteren Zweck, so dafs es seine Legitimation, wenn ja eine solche erforderlich sein sollte, einfach darin findet, dafs es dem Annehmenden eben natürlich ist, ihn etwa auch befriedigt. Und letzteres ist in der Tat unter Umständen der Fall: Luftschlösser zu bauen u. dgl. ist bisweilen gewifs ein ganz erfreuliches Geschäft, und manches von dem, was sogleich unten unter den Titeln „Spiel“ und „Kunst“ zu berühren sein wird, könnte ganz wohl schon hier zur Sprache kommen. Daneben verdient es aber doch auch schon hier Be- achtung, dafs das Annehmen offenbar gar nicht selten in den Dienst intellektueller Verrichtungen genommen zu werden scheint, die es selbst in letzter Linie durchaus nicht bei blofsen Annahmen


108


Viertes Kapitel.


bewenden lassen wollen, vielmehr ohne Zweifel auf die Gewinnung von Urteilen gerichtet sind.

Der Leser des obigen Beispiels vom rechtwinkligen Dreieck hat sicher bereits daran gedacht, wie häufig sich mathematische Darlegungen ähnlicher Wendungen bedienen, um dann Positionen daran zu knüpfen, die durchaus nicht mehr den Charakter „blofser Annahmen“ an sich tragen. So läfst sich von dem Gegenstände der in Rede stehenden Annahme, dem rechtwink- ligen Dreieck mit den im Verhältnis von 1 : 2 stehenden Katheten, etwas über die relative Länge der Hypotenuse, ebenso etwas über die Gröfse der beiden schiefen Winkel und noch vieles andere nicht etwa blofs annehmen, sondern mit der die mathe- matische Erkenntnis unter normalen Umständen so vorteilhaft auszeichnenden Gewifsheit behaupten. Dafs es dabei zum mindesten besonders naturgemäfs sein rnufs, von einer Annahme auszugehen, dafür bürgt fürs erste die häufige Anwendung der betreffenden Ausdrucksweisen. Mit Recht ist darauf hingewiesen worden 1 , dafs es von jeher zur Tradition eines formgerechten EuKLiDschen Beweises gehört hat, „ihn so zu gliedern : , Annahme, Behauptung , Beweis 4 (worauf dann Diskussion , Determination u. dgl. folgt)“, — dafs andererseits noch „Boltzmann in seiner Mechanik (1897) auch schon äufserlicli sieben , Annahmen 1 an die Spitze gestellt hat und sich ausführlich über die hierdurch er- möglichte deduktive und dennoch der Empirie gerecht werdende Methode äufsert“. Bei dem, was man speziell auf dem Gebiete philosophischer Forschung als „hypothetische Begriffserörterung“ bezeichnet hat, handelt es sich „um die Prüfung einer Annahme, die zur Lösung einer Aufgabe eingeführt wird, durch Entwicklung ihrer Konsequenzen und Vergleichung der Konsequenzen mit dem Gegebenen oder Anerkannten“. 2 * Von hier führt nur ein Schritt zu dem, was man gewöhnlich unter dem Namen „Hypo- these“ zusammenzufassen pflegt. Es wird dabei freilich nicht immer leicht sein, den Punkt genau namhaft zu machen, wo derjenige, der sich mit einer solchen Hypothese beschäftigt und sie etwa an der Wirklichkeit zu verifizieren unternimmt, aus dem Zustande des Annehmens in den des Vermutens übergeht. Dafs


1 Von A. Höfler in den Gütt. Gel. Anz. 1906, S. 212 ff.

2 A. Riehl, „Logik und Erkenntnistheorie“ in P. Hinnebergs „Die

Kultur der Gegenwart“, I, 6, S. 85.


Die ntichstliegenden Annahmefälle.


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es aber ein Erfassen und Verfolgen von Hypothesen vor jeder Stellungnahme und ohne Präjudiz gibt, eines also, wo das Urteil auch als Vermutung unbeteiligt bleibt, sonach die Annahme allein funktionieren kann, ist sofort durchsichtig. Gewissermafsen noch verschärft, weil auf eine Verifikation durch die Tatsachen schon prinzipiell verzichtend, tritt das Annahmemoment dort auf, wo man nicht mehr von Hypothese, sondern von „Fiktion“ spricht : der Schwimmer, von dessen Standpunkte aus man nach der bekannten AMPEREschen Regel den Sinn der Ablenkung der Magnetnadel durch den galvanischen Strom beurteilt, beleuchtet die Anwendung der Fiktion auf wissenschaftlich - didaktischem, die juristische Person mit ihren Rechten und Pflichten die An- wendung auf juristisch-praktischem Gebiete.

Einen noch direkteren Einblick in die Unentbehrlichkeit der Annahmen haben uns bereits die Untersuchungen des ersten Kapitels für den besonderen Fall eröffnet, dafs man von negativen Daten seinen Ausgang nimmt, also sich z. B. mit rechtwinkligen Dreiecken beschäftigen wollte, deren Kathetenverhältnis durch eine ganze Zahl nicht ausdrückbar ist oder dgl. In welchem Mafse und warum auch sonst, also wo es sich nicht um Negativa handelt, Annahmen für die Erkenntnisgewinnung unentbehrlich sind, soll weiter unten darzulegen versucht werden . 1 Für jetzt erhellt die Rolle, die den Annahmen im Dienste der Erkenntnis zukommt, vielleicht noch deutlicher aus der Anwendung der expliziten Annahmen bei minder strengen, ja vielleicht aus- schliefslich praktischen Erwägungen. „Versetze dich in meine Lage und überlege, wie du dich dann verhalten müfstest“ — das ist eine Aufforderung, von deren Erfüllung man nicht selten etwa eine Verständigung erwartet.

Zusammenfassend erkennt man so , dafs die Annahme in ziemlich verschiedenartigen Leistungen eine Art logischer Dignität erweist, deren Würdigung indes nicht im ausschliefsMchen Hin- blick auf diese auffälligsten Annahmefälle versucht werden kann, uns aber, sobald wir wirklich zu einer solchen gelangt sein werden, voraussichtlich eine charakteristische Seite der Annahmetatsache kennen lehren dürfte.


1 Vgl. zunächst Kap. VI.


110


Viertes Kapitel.


§ 16.

Annahmen in Spiel und Kunst.

Es kann sich mir hier natürlich nicht darum handeln, dem Wesen dieser ebenso eigenartigen als bedeutsamen Äufserungen psychischen Lebens näher zu treten. Was hier ausschliefslich versucht werden soll und, wie mir scheint, auch ohne Schwierig- keit durchgeführt werden kann, ist der Nachweis der Berechtigung, dafür, diese beiden grofsen Gebiete als allenthalben durch An- nahmen bestimmt oder wohl gar ausgemacht in Anspruch zu nehmen.

I. Es ist herkömmlich, das intellektuelle Verhalten des Kindes beim Spiele, — und das Kind ist es zunächst, das ich im folgen- den im Auge habe, — unter dem Worte „Phantasie“ zusammen- zufassen; und wenn man dieses Wort in einem Sinne versteht, für den ich weiter unten eintreten werde 1 , so habe ich gegen eine solche Anwendung des in Rede stehenden Terminus auch durchaus nichts einzuwenden. Bisher aber hat es doch zumeist für selbstverständlich gegolten, von Betätigungen der Phantasie nur als Leistungen zu sprechen, in denen über das Vorstellen nicht hinausgegangen wird. Unter dieser Voraussetzung aber ist durch die gewöhnliche Auffassung das intellektuelle Verhalten des Spielenden einfach zur Vorstellungsleistung gemacht, und es darf die Frage aufgeworfen werden, ob eine solche Charakteristik auch wirklich den Tatsachen entspricht.

Doch soll zuvor das dieser Auffassung entgegengesetzte Ex- trem wenigstens nicht ganz unberührt bleiben, obwohl ich zur Zeit der ersten Veröffentlichung dieser Ausführungen 2 der Meinung war, dafs niemand, der nur einigermafsen einen Blick für Tat- sachen hat, sich dabei aufzuhalten Neigung haben wird. Ich meine den Versuch, dem spielenden Kinde zuzutrauen, dafs es sich während des Spieles wirklich im Zustande der Täuschung

1 Vgl. Kap. X, § 23.

2 Einige der liier und im folgenden abgelohnten Positionen haben seither in A. Marty einen Vertreter gefunden, vgl. dessen Aufsatz „Über , Annahmen' “ in Bd. XL der Zeitsehr. f. Psychol. S. 47 ff. und meine Replik „Tn Sachen der Annahmen“ in derselben Zeitschrift 41 , S. 11 ff. Anläfslich des von demselben Autor nun neuerlich in seinen „L ntersuchungen zur Grundlegung usw.“ zu dieser Sache noch Beigebrachten komme ich unten in § 64 auf einige Kontroverspunkte zurück.


Die näclistlieg enden Annahmefälle.


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befinde, d. h. dafs es den Sessel, den es als Pferd vor den Tisch als Wagen spannt, wirklich für ein Pferd, den Tisch wirklich für einen Wagen halte. So viel Erinnerung an seine Kinderzeit hat am Ende doch jeder Erwachsene zurückbehalten, um die Un- natürlichkeit einer solchen Interpretation sofort einzusehen. Wer vollends Gelegenheit hatte, Kinder zu beobachten, wird weit eher Anlafs gehabt haben, über die Sicherheit sich zu wundern, mit der die Kinder bereits in frühen Jahren Spiel und Ernst zu unterscheiden wissen, als sie bei einer Verwechslung solcher Situationen anzutreffen. Das freilich begegnet nichts weniger als selten, dafs das Kind, das etwa seine Spielsachen aufräumen soll, erklärt, dies sei zurzeit untunlich, weil die Puppe eben schlafe, oder die Pferde zu müde seien oder dgl.; und Eltern, die sich solchen Bescheid gefallen lassen, können ihn dann unzählige Male in den unglaublichsten Variationen erhalten. Aber für mehr als für einen Beitrag zu dem schier unerschöpflichen Kapitel von den Kinderausreden wird dies doch niemand nehmen wollen. Seltenen Ausnahmen mag dadurch die Möglichkeit vorsichtsweise nicht abgesprochen sein : ich mufs mich vielmehr damit begnügen, die Versicherung abzugeben, dafs mir selbst ein solcher Aus- nahmefall niemals begegnet, ebensowenig ein glaubwürdiger Be- richt über ein derartiges Geschehnis zur Kenntnis gelangt ist, und dies möchte wohl ausreichen, um den Beweis zu erbringen, dafs das Charakteristische des intellektuellen Zustandes he im Spiele nicht im Urteile, genauer nicht in einer Täuschung des Spielenden gelegen sein kann, die überdies ihren Ursachen nach ganz unverständlich wäre.

Ohne Zweifel ist demgegenüber die erwähnte herkömmliche Berufung auf die „Einbildungskraft“ des Kindes das weitaus Natürlichere, auch wenn man damit die Angelegenheit lediglich ins Gebiet der Vorstellungen hinübergeschoben zu haben meint. Dafs man nun aber mit den „blofsen Vorstellungen“ sein Aus- langen denn doch nicht findet, dafür legen auch hier, wie sonst so häufig, die Verneinungen ein trotz seiner Äufserlichkeit in be- sonderem Mafse unmifsverständliches Zeugnis ab. Es müfste also nur etwa der Versuch gemacht werden, zu bestreiten, dafs beim »Spiele Negationen überhaupt in der uns hier beschäftigen- den Hinsicht in Frage kommen : aber angesichts der Tatsachen wird solches wohl kaum zu gewärtigen sein. Der Knabe, der „Siegfried“ spielt und sich darauf hin für unverwundbar, oder bei


112


Viertes Kapitel.


Gebrauch des Tarnhelms auch wohl für unsichtbar gibt, mufs doch gewils nicht erst von einem Theoretiker erfunden werden. So bietet das Spiel jedenfalls ganz ähnliche Erfahrungen dar, wie diejenigen waren, an denen wir uns oben von der Existenz der Annahmen zuerst überzeugen mufsten, und es würde an ihnen denn auch hier zunächst erwiesen sein, dafs beim Spiele Annahmen überhaupt Vorkommen. Darf man aber weiter behaupten, dafs das intellektuelle Verhalten des Spielenden dort, wo es negativen Charakter aufweist, aufser eben diesem Charakter nichts Eigen- artiges dem affirmativen Verhalten gegenüber an sich trägt, dann ist es wohl aufserordentlich nahe gelegt, allgemein zu be- haupten: das intellektuelle Verhalten des Spielenden ist weniger als Urteilen, es ist aber mehr als Vorstellen, indem es eben Annehmen ist.

Und dies wird denn auch durch die direkte Empirie aufs beste verifiziert 1 , so deutlich, dafs man schwerlich fehlgehen wird, wenn man vermutet, man werde sich bisher nur deshalb so leicht mit der „Vorstellungsansicht“ zufrieden gegeben haben, weil sich die Unbrauchbarkeit einer jeden „Urteilsansicht“ so unverkennbar aufdrängte, und ein Drittes neben diesen beiden Ansichten nicht zu Gebote zu stehen schien. Nun steht aber etwas Drittes zu Gebote : die „Annahmeansicht“, und dieser Mög- lichkeit gegenüber wird es jetzt auch niemandem schwer fallen, sich daran zu erinnern, wie oft er im Grunde bereits selbst für sie Zeugnis abgelegt hat durch Aufserungen wie die, dafs der Spielende an sich und anderen Eigenschaften, Situationen u. dgl. „fingiere“, um dann häufig, solange das Spiel währt, zu tun, als ob er an die Fiktion glaubte, obwohl ihm solches völlig ferne liegt. Die praktische, ich meine dem Handeln zugewendete Be- deutsamkeit, welche die Annahmen hier betätigen, bildet zu- gleich ein natürliches Seitenstück zu der schon oben berührten logischen Bedeutsamkeit derselben, die übrigens auch dem Spiele nicht fehlt, innerhalb dessen Konsequenz und Vernünftigkeit für


1 Dagegen beschreibt D. H. Kerler („Über Annahmen“, S. 13 f.): „Man hält sich nicht für Siegfried selbst, man nimmt auch nicht seine Identität mit Siegfried an; dagegen ist man sich bewufst, den Helden darzustellen, ihn zu repräsentieren“. Welcher Art wäre wohl dieser Gedanke der „Re- präsentation“, der koinem spielenden Kinde fehlen dürfte? „Identität braucht es freilich keine anzunehraen ; wenn nur das Analogon zur „setzen- den Vorstellung“ nicht fehlt.


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mindestens durchaus sinnvolle, wenn auch der Kinderweise nicht über alle Grenzen hinaus gemäfse Anforderungen gelten.

Man kommt damit ganz von selbst von den Spielen der Kinder auf manche Spiele der mehr oder minder Erwachsenen, und auf spielähnliche Betätigungen, die insofern bereits völlig „ernsthaften“ Charakter an sich tragen, als es dabei auf Ein- übung für einen „Ernstfall“ ankommt, die man dadurch ermög- licht, dafs man diesen Ernstfall „fingiert“. Von den Kriegsspielen der Militärschulen und den Sonntagsübungen der Dorffeuerwehren an bis zu den grofsen Manövern ganzer Armeen reicht eine Reihe mehr oder minder komplizierter und planvoll erdachter Gescheh- nisse, die, ohne noch zu Spielen zu zählen, doch gleich diesen auf die Grundlage eines mehr oder minder komplizierten Systems von Annahmen gestellt sind.

II. Dafs es der Kunst nicht an allen Anknüpfungspunkten und an jeder Verwandtschaft mit dem Spiele fehlen kann, er- gibt sieh schon aus der freilich recht äufserlichen Tatsache, dafs es eine Kunstübung gibt, die man kurzweg „Spielen“ nennt. Allerdings weist die Sprache in dieser Weise wohl gleich deut- lich auf das Tun des Instrumentalisten als auf das des Schau- spielers hin , und für unser gegenwärtiges Interesse kommt zunächst vorwiegend das letztere in Frage. Dafür tritt aber hier der Anteil des Annehmens in ganz besonders unverkennbarer Weise ans Licht.

Fürs erste freilich scheint die Situation, in der sich der Schauspieler seiner Rolle gegenüber befindet, eine doppelte Auf- fassung zu gestatten. Dem der naiven Betrachtungsweise allent- halben so natürlichen rationalistischen Zuge, der den Anteil der Absichtlichkeit stets so hoch als möglich anschlägt, entspricht es vielleicht als das anscheinend Natürlichste, zu vermuten , der Schauspieler habe eben die Aufgabe, das Äufserliche in der Ver- haltungsweise der von ihm darzustellenden Personen, das ihm aus Erfahrung ausreichend gut bekannt sein mufs, in überlegter Absichtlichkeit zu kopieren und so den äufseren Schein innerer Vorgänge zu erwecken, die sich in Wahrheit in ihm so wenig zutragen, als er mit der dargestellten Persönlichkeit identisch ist. Und in der lat wird es vielleicht keine schauspielerische Leistung geben, in der dieses oder jenes Detail nicht wirklich durch ab- sichtliches Erlernen erworben wäre: je mehr aber dieses An- gelernte vorwiegt, desto mehr pflegt man die blofse Routine

Meinong, Über Annahmen, 2 . Auti. 8


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Viertes Kapitel.


durchzuspüren, die man für echte schauspielerische Kunst denn doch nicht leicht gelten läfst. In betreff dieser Kunst aber hat man immer gemeint, und die gröfsten Schauspieler haben über Befragen Zeugnis dafür abgelegt, dafs dazu vor allem erforderlich sei, dafs der Darsteller „sich in die Lage des Darzustellenden versetze“ x , und dieser Forderung liegt die zweite der beiden eben als verfügbar bezeichneten Auffassungen des schauspielerischen Tuns zugrunde. Wenn der Darstellende „sich einzubilden“ vermag 1 2 , er sei die darzustellende Person 3 , und befinde sich in der durch die Handlung des Stückes ihm dargebotenen Um- gebung , dann wird er sich , ausreichende Begabung natürlich vorausgesetzt, schon auch äufserlich so verhalten, wie es der Darzustellende voraussichtlich tun müfste; und den schauspiele- rischen Intentionen ist in natürlicherer und harmonischererWeise Genüge geleistet, indem die natürlichen Ausdrucksinstinkte an Stelle einer in der Regel viel zu ärmlichen Empirie oder gar Theorie der Ausdrucksbewegungen treten. Natürlich meine ich nicht, dafs in diesem allerdings sehr einfachen Rezepte das ganze Geheimnis der Schauspielkunst beschlossen liege: für unsere Zwecke genügt, dafs wir auf dieses „Einbilden“, oder „sich in


1 Interessantes Material zu diesem Thema bietet jetzt die auch für viele einigermafsen benachbarte Fragen sehr instruktive Abhandlung von B. Ghoethuysen über „Das Mitgefühl“, Bd. XXXIV der Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorgane, S. 209, namentlich aber 210 ff., nur ist bei Be- nutzung der dort mit vielem Fleifs zusammengetragenen Daten zu berück- sichtigen, dafs es uns im obigen um die intellektuelle Seite zu tun ist, dem Autor dagegen um die emotionale (und speziell die des Mitgefühls). Die Frage insbesondere, „ob die Schauspieler die Gefühle der dargestellten Person fühlen oder nicht“ (ebenda S. 211), hätte ich mit „Ja“ oder mit „Nein“ zu beantworten, je nachdem man die Phantasiegefühle (vgl. unten § 54 ff.) zu den Gefühlen rechnet oder nicht.

2 Das Wort natürlich nicht in dem unvorgreiflichen Sinne verstanden, in dem man in der Psychologie von „Einbildungsvorstellungen“ spricht, sondern in dem populären, zugleich auch besonders engen Sinne, der das „wirklich glauben“ ebenso ausschliefst wie die Berechtigung dazu.

3 Diese Formulierung ist mehr populär als genau empirisch und könnte dadurch gegen die hier vertretene Auffassung einnehmen. Nicht um das Einbilden einer förmlichon Identität („ich bin .Julius Cäsar“, „ich bin Faust“) handelt cs sich, sondern um ein Einbilden der durch die holle vorgegebenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dessen, der die Ilolle darzustellen hat. Vgl. auch B. Ghoethuysen a. a. 0. S. 246.


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die Lage des anderen hinein versetzen“ geführt worden sind als auf ein jedenfalls ganz fundamental wichtiges und charakte- ristisches Moment im Verhalten des darstellenden Künstlers, und dafs wir daraufhin die Frage nach der psychologischen Natur dieses „Hineinversetzens“ aufzuwerfen Anlafs haben.

Die Antwort bedarf keines langen Nachdenkens, wenn man sich erinnert, dafs die in Rede stehende Verhaltungsweise ganz und gar mit dem zusammenfällt, was die Kinder tun, wenn sie Soldaten oder Kunstreiter oder dgl. spielen. Es braucht also weiter auch kein besonderer Beweis mehr dafür angetreten zu werden, dafs im psychischen Leben des seinen Beruf ausübenden Schauspielers den Annahmen eine ganz grundlegende Stellung zukommt. Dafs es mit diesem blofs intellektuellen Verhalten nicht sein Bewenden hat, vielmehr durch diese Annahmen dann auch die emotionale Seite des annehmenden Subjektes in hohem Grade in Mitleidenschaft gezogen zu werden pflegt, belegt neuer- lich die das intellektuelle Gebiet weit überschreitende Bedeutung der Annahmen. Ob es nur sozusagen gewöhnliche Gefühle und Begehrungen sind, die im Gefolge der Annahmen auftreten, ob. nicht vielleicht dabei Gefühls- und Begehrungstatsachen besonderer Art zum Vorschein kommen, die den Annahmen gegenüber eine Art eigentümlicher Verwandtschaft zeigen, darauf wird in späterem Zusammenhänge 1 noch zurückzukommen sein.

Von der vorwiegend redenden, jedenfalls reproduktiven Kunst des Schauspielers vollzieht sich leicht der Übergang zur wesentlich redenden, aber produktiven Kunst des Dichters. Und da leuchtet ein, dafs der Dramatiker unvermeidlich vor die Auf- gabe gestellt sein wird, sich während der Konzeption seines Dramas nicht nur in eine, sondern abwechselnd nahezu in alle Personen seines Dramas zu „versetzen“. Auch der Epiker, mag er übrigens in Versen oder in Prosa reden, wird nur ausnahms- weise wahre Geschichten zu erzählen , ebenso der Lyriker mindestens weitaus nicht immer die ihm eben jetzt gegen- wärtigen Gefühle und Stimmungen zum Ausdruck zu bringen haben. Anerkanntermafsen tritt hier allenthalben die „Fiktion“' in ihre Rechte: Fiktion ist aber eben Annahme.

Verwickelter und darum durch diese nur andeutenden Aus- führungen am besten unerörtert zu lassen ist der Anteil der


1 Vgl. unten Kap. IX, § 54.

8 *


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Annahmen an den übrigen Künsten. Eines aber dürfte auch hier sofort für sich selbst sprechen. In dem Mafse, in dem auch diese Künste über das sinnlich durch sie Gegebene hinausstreben und reichen, in dem Mafse also, in dem auch der büdende Künstler oder Musiker zum Dichter oder doch Nachdichter wird, in dem Mafse zum allerwenigsten wird auch hier für das Ver- halten des Künstlers die Annahme als charakteristisches Moment in ihre Rechte treten.


§ 17 -

Die Lüge.

Man hat ein begreifliches Widerstreben zu überwinden, ehe man sich entschliefst, in unmittelbarem Anschlufs an die der Kunst zugewandten Feststellungen nun die Lüge in Unter- suchung zu ziehen, und dadurch eine gewisse Verwandtschaft zwischen einem so hoch und einem so niedrig stehenden mensch- lichen Verhalten zur Anerkennung gelangen zu lassen. Aber es gehört eben mit zum Geheimnisvollen in der Menschennatur, dafs Hohes und Niedriges darin so nahe beisammenwohnen kann; und übrigens sind Tatsachen eben Tatsachen, und es steht uns nicht frei, das Auge vor dieser oder jener darunter nach Gefallen zu schliefsen. Im gegenwärtigen Zusammenhänge dürften wir dies vollends nicht, da das Verwandte gerade seinem Haupt- gewichte nach in der uns eben hier interessierenden Tatsachen- sphäre liegt.

Übrigens ist die Verwandtschaft, auf die es hier ankommt, eine aller Welt gar wohl bekannte Sache. Es ist ja schon oft genug, vielleicht sogar öfter und nachdrücklicher als billig, darauf hingewiesen worden, wie die Grenze zwischen unschuldiger Be- tätigung kindlicher „Phantasie“ und lügnerischem Verhalten der Kinder gar nicht immer leicht und scharf zu ziehen ist, und bei Erwachsenen, die gut und darum gern und viel erzählen, mag es oft auch nicht viel anders bewandt sein. Was aber die wort- losen Lügen anlangt, so weifs ja auch jeder, dafs schauspiele- rische Talente im Verkehre des täglichen Lebens durchaus nicht immer eine völlig gefahrlose Mitgift bedeuten.

In abstracto ist es nun ferner auch gar nicht schwer, das Moment namhaft zu machen, welches das \ erhalten des Lügners gegenüber dem in Spiel und Kunst kennzeichnet : es ist natiir-


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lieh die Absicht zu täuschen. Ethisch besagt dies, wie sich von selbst versteht, ganz aufserordentlich viel: psychologisch ist es aber zunächst nur ein neu hinzutretendes Bestandstück einer komplexen psychischen Sachlage, das der richtigen Beurteilung der übrigen Bestandstücke dieses Komplexes eventuell sehr förderlich sein könnte. Und wirklich ist dies in der uns hier interessierenden Richtung der Fall. Wer einen anderen täuschen will, unterliegt selbst der betreffenden Täuschung sicher nicht; genauer wäre es nur etwa, da er ja auch selbst getäuscht sein, und daher in der Meinung, zu täuschen, wider seinen Willen etwas Wahres sagen kann, zu behaupten: wer täuschen will, hat jedenfalls eine andere Meinung als die er zu haben vorgibt, fällt mithin das Urteil nicht selbst, das er im anderen hervorrufen will. Was man also in Spiel und Kunst zwar zu vermuten das beste Recht hat, aber doch mehr als einmal nicht wird zur vollen Gewifsheit bringen können, das ist im Falle der Lüge von vorn- herein ausgemacht : der Lügner glaubt nicht selbst, was zu glauben er sich den Anschein gibt, und so erhebt sich hier besonders nachdrücklich die Frage, wie er denn eigentlich das erfafst, was er die anderen glauben machen will.

Man darf sich dabei durch die Redeweise des täglichen Lebens nicht irre führen lassen, in der es oft heifst, dafs der Lügner etwas anderes sage als er denkt. Mit Recht kann man ja eigent- lich nur behaupten, er sage etwas anderes als was er glaubt; diese Modifikation ist aber wichtig, weil man ja bekanntlich vieles denken kann, was man nicht glaubt, und so die Frage, was der Lügende eigentlich beim Lügen denkt, noch ganz offen bleibt. Andererseits ist aber auch die Antwort, die diese letzte Frage erfordert, aufser Zweifel : es sind doch nicht blofs leere, d. h. sub- jektiv sinnlose Worte, die der Lügner ausspricht. Er glaubt also nicht an das, was er sagt, aber er denkt an das, was er sagt, ohne daran zu glauben. Das ist aber genau das, was uns oben bereits in Spiel und Kunst begegnet ist, obwohl das Gesamt- verhalten durch die dem Lügner vorschwebende Absicht einen ganz anderen Charakter erhält. Ist dem aber so, dann sind auch alle wesentlichen Aufstellungen des vorigen Paragraphen mutatis mutandis auf den gegenwärtigen Fall zu übertragen.

Immerhin bietet hier nun die Tatsache der Absichtlichkeit selbst den Angriffspunkt für eine andere, wesentlich kompli- ziertere Betrachtungsweise. Wer sich vorsetzt, die Überzeugung


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Viertes Kapitel.


^ines anderen in bestimmter Weise zu beeinflussen, wird sich zu seinem Vorhaben doch wohl ebenso verhalten müssen wie sonst der Begehrende, insbesondere also auch Wollende zu seiner Ab- sicht, d. h. er wird wohl das, was er will, erfassen müssen. In unserem Falle ist dasjenige, was hervorgebracht werden soll, eine bestimmte Überzeugung in einem anderen: und wer diese ver- wirklichen will, mufs eben diese erfassen, und zwar natürlich nicht nur den Gegenstand „Urteil des anderen“ etwa in abstracto, sondern gerade das Urteil, worauf es ankommt, und das gegen- über anderen Urteilen nach Akt und Inhalt differenziert ist. Wer es nun für selbstverständlich hält, dafs ein solches Erfassen am Ende doch nichts anderes als Vorstellen sein wird, für den könnte der Schein entstehen, als wäre er durch das Hereinziehen des Begehrungszieles in die Betrachtung über den Rekurs auf die Annahmen hinausgekommen. Auch soweit es sich um nega- tive Urteile handelt, scheint es dann entbehrlich die Annahmen zu Hilfe zu rufen, da man ja ein negatives Urteil nicht schwerer müfste vorstellen können wie ein affirmatives.

In einem formelhaften Beispiele wäre diese Auffassung etwa so zu charakterisieren : will einer dem X weifs machen, dafs A nicht B sei, so braucht er nur „Urteil des X, dafs A nicht B ist“ vorzustellen, und indem er seine Lüge in Worte kleidet, braucht er am Ende gar nichts weiter, als darzulegen, wovon das Urteil handeln soll, zu dem den X zu verführen er eben im Be- griffe ist. Ob aber vor allem „Urteil des X“ sich so leicht vor- stellen läfst ? Manches in den Untersuchungen der voran-

gegangenen Kapitel könnte Zweifel hierüber wach gerufen haben . 1 Aber die in dieser Hinsicht sich aufdrängende Frage ist dem Falle der Lüge nicht charakteristisch : nicht nur wer den anderen belügen, sondern auch wer ihn belehren will, hat Gelegenheit, den Überzeugungszustand, also das Urteil des anderen in die Sphäre seiner Absichten einzubeziehen. Es wird daher natürlicher sein, auf diesen Punkt erst weiter unten 2 zurückzukommen. Im gegen- wärtigen Zusammenhänge kann die Entscheidung auch ohne Rücksicht hierauf getroffen werden. Es genügt, sich eine ein- fache Frage vorzulegen. Kann ich überhaupt an das Urteil des . , dafs A nicht B sei, denken, wenn ich nicht fürs erste emma

1 Vgl. inabesondere oben § 4, aber auch Kap. V, § 20.

2 Vgl. § 19.


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denke, dafs A nicht B sei? Die Bestimmung „Urteil des X“ kann ich ge-wifs im Bedarfsfälle mit dem Gedanken an A und b in Verbindung bringen, niemals aber den Gedanken, „dafs A nicht B sei“ als Determination des Gedankens an das Urteil des X in einer Weise bilden, die (höchstens vielleicht von der Mög- lichkeit ganz künstlicher Umwege abgesehen) es entbehrlich machte, das Objektiv, dafs A nicht B sei, ausdrücklich einzu- beziehen. Ganz abgesehen also davon, dafs erfahrungsgemäfs an den X und sein Urteil bei weitem nicht jedesmal gedacht wird, bleibt es auch dann dabei, dafs der Lügner, will er sein Ziel genau erfassen, schon den Gedanken an das A, das nicht B ist, konzipiert haben mufs, eben dem Gedanken, von dem wir oben sahen, dafs er ohne Annahme nicht zustande zu bringen ist.

Und mit diesem Ergebnis steht denn auch die direkte Em- pirie im allerbesten Einklang, was dort besonders auffällig wird, wo es sich nicht um eine vereinzelte lügenhafte Behauptung, sondern um ein Lügengewebe handelt, das etwa der Bedarf des Augenblicks dann noch, vielleicht in recht unvorhergesehener Weise, auszugestalten zwingt. Denn die unvergleichlich einfachste Verhaltungsvorschrift wird hier dieselbe sein wie die beim „Spiel“ im weitesten Sinne: man wird sich möglichst in die Lage ver- setzen, als glaubte man wirklich, was man sagt oder in sonst einer Weise glauben macht, und dieses „in die Lage versetzen“ ist uns ja längst als der Tatbestand der Annahme bekannt.

Was speziell die Ablehnung des Umweges über das Urteil des anderen anlangt, so findet diese noch eine besondere V erifika- tion in der so oft beobachteten Tatsache, dafs, wer andere täuschen will, damit am Ende leicht sich selbst täuscht, indem er zuletzt seine eigene Lüge glaubt. Wäre es für den intellektuellen Zu- stand dessen, der täuschen will, charakteristisch, dafs er bei dem (etwa vorgestellten) Urteil des anderen verweilt, das er dann wohl nach seiner inhaltlichen, nicht nach seiner gegenständlichen Determination erfassen müfste, dann bliebe ganz unverständlich, wie dieser intellektuelle Zustand in ein Urteil übergehen sollte, das mit ihm auch nicht einmal den Gegenstand gemein hat, be- trifft es doch, um auf unser Formelbeispiel zurückzu greifen, das „Nicht 7i-sein des A “, indes es sich vorher um den Gegenstand „Überzeugung des anderen“ gehandelt hat. Dagegen ist die Ähnlichkeit zwischen der Annahme und dem gegenstandsgleichen Urteile grofs genug, dafs man den Übergang der einen in das


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Viertes Kapitel.


andere (nebst der Unvermerktheit dieses Überganges) schon an sich wohl begreiflich finden müfste, auch wenn er nicht durch Erfahrungen noch ganz anderer Art, wie insbesondere durch die vom Übergang der Hypothese in die Vermutung und strikte Behauptung bestens belegt wäre. So wird man nicht fehlgehen, wenn man in jeder Art lügenhaften Verhaltens den Beweis für das Gegebensein einer oder mehrerer Annahmen erblickt.

§ 18 .

Annahmen bei Fragen und sonstigen Begehrungen.

Vielleicht hat es auf den ersten Blick befremdet, dafs bereits im vorigen Kapitel die Frage kurzweg dem Gebiete der Be- gehrungen zugewiesen wurde. Aber es liegt darin wirklich nicht mehr als die Konstatierung einer Selbstverständlichkeit. Sieht man etwa von den sogenannten rhetorischen Fragen ab, die eben streng genommen gar keine Fragen sind, übrigens dem Interessen- kreise dieser Darlegungen insofern nahe stehen, als der rhetorisch Fragende sich leicht in der Lage befinden könnte, den Zustand des wirklich Fragenden zu „fingieren“, — von der rhetorischen Frage also abgesehen, steht doch aufser Zweifel, dafs, wer fragt, eben eine Antwort erhalten möchte. Läfst man überdies auch die leicht zu übersehenden Komplikationen beiseite, die sich speziell bei den mancherlei didaktischen und ihnen verwandten sowie sonstigen uneigentlichen Fragen einstellen, so ist klar, dafs, wer fragt, etwas wissen möchte und dafs er dasjenige, worauf das gewünschte Wissen sich beziehen soll, durch seine Frage zur Mitteilung bringt. Hierzu stellt die Sprache dem Fragenden, wie berührt, Sätze zur Verfügung, die oben bereits in der Liste der Fälle, wo Sätze anderes als Urteile ausdrücken können, Auf- nahme gefunden haben : es scheint eben selbstverständlich, dafs man in einer Sache, in der man sich urteilsunfähig fühlt und darum zur Urteilsfähigkeit eben erst gelangen will, sich nicht gleichwohl zu einem Urteile verstehen wird . 1 Nun mufs aber die Gültigkeit dieser oben schon angewendeten Betrachtungsweise doch dahin eingeschränkt werden, dafs es immerhin Fragen

1 Dem stimmt streng genommen auch derjenige zu, der (wie etwa B. Erdmann, Logik Bd. I, 2. Auf!., S. 389 ff.) das Anwendungsgebiet des Wortes „Urteil“ derart erweitert, dafs darin die Frage neben der „Behaup- tung“ noch Platz findet. Vgl. auch unten § 63.


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gibt, die, wenn sie auch kein Urteil direkt ausdrücken, dieses doch insofern indirekt tun, als sie ein Urteil zur wesentlichen Voraussetzung haben. Wer mich fragt, zu welchen Zeiten Eisen- bahnzüge in der Nähe des von mir bewohnten Hauses halten, behauptet damit, wenn auch nur „implieite“, dafs ich in der Nähe einer Eisenbahn -Haltestelle wohne. Wer fragt, wem die Seefischerei gehöre, setzt durch seine Frage voraus, dafs es in dem See, den er meint, eine Fischerei gebe usf. Fragen solcher Art gehen von einem Wissen aus, das nur in diesem oder jenem Punkte noch nicht bestimmt genug ist : sie zielen auf Ausfüllung der betreffenden Wissenslücke, können daher passend Ergänzungs- fragen 1 , auch wohl Bestimmungsfragen heifsen. Ihnen stellen sich in schon äufserlich auffälliger Deutlichkeit Fragen gegen- über, die in korrekter Weise anders als durch „Ja“ oder „Nein“ nicht beantwortet werden können, und die im Hinblick hierauf als Bestätigungsfragen bezeichnet worden sind .' 2 Genau genommen ist indes durch diese Benennung nur auf die eine der beiden möglichen Antworten, die affirmative nämlich, Rücksicht ge- nommen, und insofern möchte etwa die Bezeichnung dieser Fragen als „Entscheidungsfragen“ 3 vorzuziehen sein. Jedenfalls sind es diese Entscheidungsfragen, welche im Hinblick auf das Thema der gegenwärtigen Untersuchungen von uns ausschliefs- lich in Betracht zu ziehen sind.

Um in betreff des psychischen Zustandes des in dieser Weise Fragenden ins Reine zu kommen, empfiehlt es sich, vor allem festzustellen, was dieser durch seine Frage eigentlich erreichen will. Ohne Zweifel ebensogut eine Erweiterung oder Bereicherung seines Wissens wie bei der Bestimmungsfrage. Dafs es aber diesmal kein gegenständliches Mehr ist, worauf es dem Fragen- den ankommt, das erhellt aus der Beschaffenheit der beiden adäquaten Antworten, deren keine die Sachlage nach der gegen- ständlichen Seite hin zu verändern vermag. Das Einzige, was eine solche Antwort leisten kann, ist dies, dafs sie den Fragen-

1 Nach Delbrück, vgl. K. Groos, „Experimentelle Beiträge zur Psycho- logie des Erkennens“ in der Zeitschrift für Psychologie 26, S. 149.

2 Ibid., wo auch auf die alte Unterscheidung zwischen erotematischen und peistischen Fragen hingewiesen ist.

2 Vgl. hierzu und zum folgenden jetzt auch E. Martinak, „Das Wesen der Frage“ in „Atti del V. congresso internazionale di psicologia“, Rom 1906, S. 333 ff


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Viertes Kapitel.


den, falls er dem Gefragten traut, in die Lage setzt, dem von ihm selbst vorgegebenen Gegenstände gegenüber durch Fällung eines darauf bezüglichen affirmativen oder negativen Urteils gleich- sam Stellung zu nehmen. Damit ist gesagt, dafs der Fragende als solcher in betreff der Sache, auf die seine Frage eigentlich geht, noch nicht urteilt, die Frage also insofern darauf zielt, ihn in die Lage zu setzen, in einer Angelegenheit zu urteilen, in der er zur Zeit der Frage, gleichviel aus welchem Grunde, nicht ur- teilen kann. Kurz also: der Fragende — immer nur den Fall der Entscheidungsfrage im Auge behalten — als solcher urteilt nicht ; was tut er also ?

Nächstliegend, jedenfalls dem Herkommen am besten ent- sprechend, ist der Bescheid : der Fragende bietet dem Gefragten gewissermafsen einen Gegenstand für ein zu fällendes Urteil dar, indem er selbst diesen Gegenstand vorstellt, und zugleich bereit ist, an diese Vorstellung je nach dem Ausfälle der Antwort ein affirmatives oder negatives Urteil zu knüpfen. Nun belehrt uns aber ein Blick auf die gewöhnlichsten der einschlägigen Frage- sätze darüber, dafs diese selbst stets entweder affirmative oder negative Form haben. Der Gegenstand der Entscheidungsfrage ist eben niemals blofs ein Objekt oder ein Komplex von Objekten, sondern jederzeit ein Objektiv, das natürlich entweder positiv oder negativ sein mufs. Der Umstand, dafs die vom Fragenden gewünschte Antwort im Prinzip so gut „Ja“ als „Nein“ lauten kann, kann den Schein erwecken und hat ihn erweckt 1 , als wäre die Frage selbst weder affirmativ noch negativ, sondern etwa ein Drittes neben diesen beiden Fällen. Allerdings hat die Ant- wort sozusagen die Wahl frei zwischen Affirmation und Nega- tion: diese Wahl hat aber nicht erst zu bestimmen, ob das Frageobjektiv positiv oder negativ sein solle, sondern ob es tat- sächlich ist. Was die Antwort bietet, ist eine Beurteilung des Frageobjektivs nach seiner Tatsächlichkeit. Diese Beurteilung kann, wenn sie ungünstig ausfällt, sehr wohl zur Folge haben, dafs der Fragende das durch die Frage gleichsam ins Auge ge- fafste Objektiv zugunsten seines kontradiktorischen Gegenteils fallen läfst. In betreff des Frageobjektivs aber ist es keinesfalls erst Sache der Antwort, dem Gegensätze von Ja und Nein hiei


1 Vgl. dazu H. Rickekt, „Der Gegenstand der Erkenntnis“, 2. Aufl


S. 99 f.


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eine Stelle zu schaffen: dieser Gegensatz liegt vielmehr schon im psychischen Verhalten des Fragenden vor, und wenn unsere bisher durchgeführten Untersuchungen im wesentlichen das Richtige getroffen haben, so mufs sich im Fragenden auch mehr als blofses Vorstellen zugetragen haben.

Bevor hier die Konsequenz gezogen wird, auf die es, wie der Leser ohne Mühe bereits erraten haben mag, abgesehen ist, mufs noch eine Möglichkeit erwogen werden, die in manchen Fällen ohne Zweifel in gut beglaubigte Wirklichkeit umgesetzt erscheint. Könnte die Entscheidungsfrage nicht so aufzufassen sein, dafs der Fragende nicht nur gegenständliches Material, sondern auch zugleich eine Vermutung darüber dem Gefragten darbietet und von diesem nur verlangt, die Vermutung in eine wenigstens praktisch ausreichende Gewifsheit, sei es ihrer selbst, sei es ihres Gegenteiles, umzuwandeln? Wirklich ist diese Charakteristik der Sachlage bereits gelegentlich als eine ganz selbstverständliche ohne besonderen Beweis in Anspruch ge- nommen worden 1 , und es scheint in der Tat bereits aus sich selbst heraus plausibel, dafs derjenige nicht wohl mit „Ja“ fragen werde, der die Antwort „Nein“ erwartet und umgekehrt. Die Erfahrung -wird dem überdies, wie gesagt, gar nicht jedesmal entgegen sein : auch mag die Anforderung, einem gegebenen Objektiv gegenüber sich jeglicher Vermutung zu enthalten, kein in voller Strenge leicht zu erfüllendes Verlangen sein. Inzwischen findet, was ich eben das innerlich plausibel Scheinende an dieser Sache nannte, eine seltsame Beleuchtung durch die Tatsache, dafs die negative Entscheidungsfrage nicht selten eine der Erfahrung sehr wohl vertraute suggestive Kraft nach der Richtung ihres Gegenteils hin betätigt, weil sie eine der Negation entgegen- gesetzte, also affirmative Vormeinung des Fragenden zu verraten pflegt. „Nähern wir uns nicht bereits dem Ziele unserer Wande- rung?“, fragt natürlichst derjenige, der das Ziel schon zu erkennen meint und diese Vermutung bekräftigt hören möchte. Auf eine nähere Untersuchung dieser merkwürdigen Tatsache kann hier nicht eingegangen werden, und für unsere nächsten Zwecke ge- nügt jedenfalls der Hinweis darauf, dafs es Entscheidungsfragen genug gibt, bei deren naturgemäfs zumeist affirmativer Formu- lierung die vielleicht vorliegende, sehr häufig aber die Stärke des


1 Groos, a. a. 0.


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praktisch in Betracht Kommenden keineswegs erreichende Vor- meinung gar keinen Anteil hat. Auch gibt es negative Formu- lierungen solcher Fragen, die nicht intellektuell, sondern emotional motiviert sind, demgemäfs zugleich bald als Ausdruck eines Wunsches, bald als der eines Widerstrebens verstanden werden. Und so bleibt denn für einen guten Teil der in Wirklichkeit anzutreffenden Entscheidungsfragen, ja für die eigentlich normalen Fälle derselben, zunächst für deren Differentiation in affirmative und negative Fragen doch keine andere psychologische Interpre- tation als der Hinweis auf die Annahmen übrig, der die sonst drohenden Schwierigkeiten aufs Ungezwungenste löst. Wer eine Entscheidungsfrage stellt, macht in betreff eines bestimmten Objektivs eine je nach Umständen affirmative oder negative Annahme, von der zu einem entsprechenden oder auch qualitativ entgegengesetzten Urteile zu gelangen, das Ziel der in der Frage ausgedrückten Begehrung ist.

Zugleich legt dieses Ergebnis die Frage nahe, ob die Ent- scheidungsfragen wohl den einzigen Begeh rungsfall darstellen, an dem Annahmen beteiligt sind. Ohne Zw 7 eifel nehmen ja die Fragen anderen Begehrungen gegenüber eine Ausnahmestellung ein, der es wohl in erster Linie zuzuschreiben sein mag, dafs man bei Behandlung der Frage auf alles eher zu achten pflegt als auf ihren Begehrungscharakter. Die Ausnahmestellung kommt hinsichtlich ihres Gegenstandes zur Geltung, indem der Frage- gegenstand nicht zugleich der Gegenstand der Fragebegehrung, wenn man so sagen darf, sein kann, da das in der Frage be- gehrte doch ein Wissen ist, — ferner darin, dafs dieses Wissen beim Fragen keineswegs so deutlich als Begehrungsobjekt hervor- tritt, als bei Begehrungsobjekten sonst der Fall zu sein pflegt. Wer fragt, denkt sicher an den Fragegegenstand; dafs er aber auch an das Wissen um diesen denkt, tritt so wenig deutlich hervor, dafs man gelegentlich geradezu am Begehrungscharakter der Frage irre werden könnte . 1 Man denkt sogleich an die einigermafsen analoge Sachlage bei den Gefühlen, die, von den „Wissenswertgefühlen “ 2 abgesehen, an das Wissen auch nicht als Wertgefühle, sondern in einer besonderen Gestalt herantreten,

1 Ich bin hierauf vor einigen Jahren durch W. Fbankl aufmerksam gemacht worden.

■ Vgl. St. Witaskk, „Grundzüge der allgemeinen Ästhetik“, S. 255 ff.


Die nächstliegenden Annahmefalle.


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die ich Wissensgefühle genannt habe 1 und für die der Gegen- stand des betreffenden Wissens resp. Urteils doch nur einen Quasi-Gegenstand ausmachen zu können scheint, indes sich der bei den Wertgefühlen so deutliche Gegenstand hier empirisch nicht recht will festlegen lassen. Oder sollte dieser letztere Um- stand bei den Wissensgefühlen und dann wohl auch bei den Wissensbegehrungen, die für uns hier durch die Frage repräsen- tiert sind, nur darauf zurückgehen, dafs dort das Gefühls-, hier das Begehrungsobjekt psychisch sein mufs, und beim Erfassen des Psychischen dieses durch seinen Gegenstand leicht ver- dunkelt werden mag?

Doch wie dem auch sei, ganz gewöhnliche Begehrungen, wenn man so sagen darf, sind die Fragen keinesfalls, und dies tritt auch im sprachlichen Ausdruck hervor : was der

Fragesatz an Gegenständlichem darbietet, ist nicht etwa der Begehrungsgegenstand, wie solches bei Begehrungssätzen sonst der Fall ist. Und bei sekundärem Ausdruck einer Frage knüpft der von der Fragebehauptung abhängige Satz an diesen natürlichst mit einem „ob“ an, indes dem sekundären Ausdrucke gewöhnlicher Begehrungen ein „dafs“ zu dienen pflegt. Dem „ich frage, möchte wissen, ob das Wetter beständig bleiben wird“ steht die Wendung gegenüber „ich wünsche, dafs es be- ständig bleibe“ ; und man erkennt zugleich, dafs hier der ab- hängige Satz mit „ob“ als natürlicher Ausdruck der in der Frage liegenden Annahme gelten kann. Trotz sonstiger Verschieden- heiten wird nun aber vielleicht schon jetzt unmittelbar zu er- kennen sein, dafs in der uns hier zunächst interessierenden Beziehung ein solcher „ob“-Satz einem der bei sonstigen Be- gehrungen auftretenden „dafs“-Sätze ganz analog zur Seite steht, indem, um zu begehren, dafs etwas geschehe oder nicht ge- schehe, das „blofse Vorstellen“ schon wegen des auch hier zur Geltung kommenden Gegensatzes von Ja und Nein nicht aus- reicht, sonach das Annehmen zu Hilfe gerufen werden mufs. Doch soll hierauf an dieser Stelle noch nicht eingegangen werden, weil uns spätere Untersuchungen 2 ein abschliefsendes Urteil über diese Sachlage wesentlich erleichtern werden.


1 Vgl. meinen Aufsatz „Über Urteilsgefiihle usw.“ im Archiv f. d. ges. Psychologie 6, S. 36 ff.

2 Vgl. unten Kap. V, § 24 f.


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Viertes Kapitel.


§ 19.

Aufsuggerierte Annahmen.

Wir haben bisher Spiel, Kunst, Frage usf. ausschliefslich vom Standpunkte des dabei zunächst aktiven Subjektes aus be- trachtet und die Annahmen in dessen Verhalten aufgesucht. Nun haben wir es aber da mit Betätigungen zu tun, die teils häufig, teils ausnahmslos über dieses zunächst dabei aktive Sub- jekt auf andere Subjekte gleichsam übergreifen, und es steht zu erwarten, dafs dabei die von uns im obigen agnoszierten An- nahmen die durch sie in Mitleidenschaft gezogenen Subjekte im Sinne der Hervorbringung weiterer Annahmen bestimmen, diesen Subjekten also Annahmen auf suggerieren werden, wie man mit Recht sagen kann, wenn man das Wort „suggerieren“ im weitesten, von jeder pathologischen Nebenbedeutung freien Sinne versteht.

Dem ist denn auch wirklich so. Im Spiele vor allem gibt es ja so häufig Mitspielende, die nicht selten eine ganz unerläss- liche Voraussetzung des betreffenden Spieles sind, und für deren Verhalten in erster Linie wesentlich zu sein pflegt, dafs sie auf die ihnen „mitgeteilten“ Annahmen durch gegenstandsgleiche Annahmen reagieren, um dann immerhin durch das Ziehen praktischer oder logischer Konsequenzen, wohl auch durch das mehr oder minder willkürliche Hinzufügen neuer Annahmen das Spiel weiter zu führen. In gleicher Weise steht dem schaffenden wie dem reproduzierenden Künstler das seine Leistungen auf- nehmende „Publikum“ als mehr oder minder unentbehrliches Komplement gegenüber, und bei dem dieses „Aufnehmen“ aus- machenden Verhalten spielen wieder die aufsuggerierten An- nahmen eine fundamentale Rolle. Natürlich auch diesmal in auffälligster Weise bei den redenden Künsten, denen gegenüber der Unterschied zwischen Floren und Lesen in der uns beschäf- tigenden Richtung kaum etwas Wesentliches zu bedeuten hat. Man steht hier geradezu wieder vor einem der Fälle, bei denen die Ratlosigkeit, in der man sich ohne Rekurs auf die Annahmen befindet, in besonders handgreiflicher Weise zutage tritt.

Um sich hiervon zu überzeugen, braucht man sich nur etwa bei dem einfachsten und bekanntesten Volksmärchen die krage vorzulegen, welche Stellung man, indem man dasselbe erfalst, ihm gegenüber denn eigentlich einnehme. Von der Situation


Die nächstliegenden Annahmefülle.


127


desjenigen, der die „wunderbare Geschichte“ einfach glaubt, kann hier als ebenso seltenem wie psychologisch uninteressantem Aus- nahmefall abgesehen werden. Aber auch auf den Gedanken, man könnte es hier mit „blofsem Vorstellen“ zu tun haben, braucht im Hinblick darauf, dafs in einem solchen Märchen Positives und Negatives bunt durcheinander läuft, nicht mehr zurückgekommen zu werden. Gäbe es aber hier vielleicht doch einen Weg, das Urteil heranzuziehen, obwohl der Zuhörer, wie eben berührt, das, was ihm erzählt wird, nicht glaubt? Ich selbst habe in Zeiten, da mir die. Annahmen unbekannt waren, zwei Wege einzuschlagen versucht, um der Schwierigkeit Herr zu werden. Einmal könnte man sich denken, der Zuhörer stelle sich irgend jemanden, etwa sich selbst oder auch den Erzähler oder sonst jemanden vor, der das Erzählte wirklich glaubte. Das andere Auskunftsmittel bestünde in der Vermutung, der Zu- hörer glaube, d. h. urteile zur Zeit des Hörens wirklich im Sinne der Erzählung, nehme aber dann die so zustande kommenden Urteile sofort wieder zurück, so dafs durch das Zuhören keine ungehörige Änderung in den Stand seines Wissens hineinkäme. Von diesen beiden Hypothesen wird dem natürlichen Erkenntnis- instinkte dessen, der von ihnen zum ersten Male hört, wohl keine sich als sonderlich verlockend darstellen; und so kann ich mich bei der Begründung des Verwerfungsurteils, das auch ich heute über beide fälle, kurz fassen.

Demjenigen, der sich die Geschichte von den sieben Schwaben oder vom Dornröschen erzählen läfst, Vorstellungen von Urteilen zuzumuten, hat in der direkten Empirie keinen Halt und er- scheint auch gegenüber allem, was man sonst weifs, als völlig unnatürlich. Damit ist die erste Hypothese abgelehnt, ganz abgesehen davon, dafs auch dann aus uns bereits wohlbekannten Gründen, zunächst um der immer noch wohl unvermeidlich sich einstellenden Negationen willen, das Einbeziehen von Annahmen nicht zu umgehen sein möchte. Die zweite Hypothese wäre viel- leicht von dem letzterwähnten Mangel leichter frei zu halten; auch kommt sie ihrem unmittelbaren Eindrücke nach gerade dem Märchenbeispiele gegenüber keineswegs zu der Geltung, die ihr unter anderen Umständen gar wohl zukommen könnte. Die Zu- mutung, auch nur vorübergehend ein Märchen zu glauben, wird sich wenigstens der „Gebildete“ nur sehr ungern bieten lassen. Dagegen wird er vielleicht ohne sonderliches Widerstreben ein-


128


Viertes Kapitel.


räumen, dafs er, obwohl er den Roman, den er eben liest, in der Regel auch nicht für eine „wahre Geschichte“ nimmt, sich doch während der Lektüre desselben zu der Handlung und zu den einzelnen Personen recht ähnlich verhält, als wenn sie wirklich wären. So wird der Gedanke, dafs beim Romanlesen mehr vor- geht als blofses Vorstellen, sich manchem als Selbstverständlichkeit aufgedrängt haben, und mancher wird dann auch keinen allzu grofsen Schritt bis zu der Vermutung nötig finden, dafs er das Gelesene zwar nicht dauernd, aber während des Lesens und ehe er sich Zeit nimmt, sich darüber zu besinnen, wirklich glaubt, d. h. urteilt. Gleichwohl wird genaueres Zusehen auch hier höchstens ausnahmsweise die Sachlage richtig charakterisiert finden können : im allgemeinen steht auch diese zweite Hypothese mit dem, was uns innere Empirie über unser Verhalten sagt, in nicht minder bestimmtem Widerspruche wie die erste Hypothese. Zudem wäre der durch sie in Anspruch genommene plötzliche Überzeugungswechsel doch jedenfalls Sache meiner Willkür. Nun ist man aber sonst gewöhnt, die Überzeugung für etwas vom Wollen relativ Unabhängiges zu halten; und was wäre das für eine Unabhängigkeit, wenn es in jedem Augenblicke in meiner Macht stünde, diese oder jene meinen sonstigen Ansichten be- liebig widerstrebende Überzeugung sozusagen mir selbst auf- und im nächsten Augenblicke dann wieder wegzusuggerieren? Es kommt noch hinzu, dafs ein solcher plötzlicher Überzeugungs- wechsel, der zudem auch sonst wieder ohne seinesgleichen wäre, aufmerksamer Selbstbeobachtung und Erinnerung noch viel weniger entgehen könnte als der immerhin in gewissem Sinne minder greifbare Vorgang, den die erste Hypothese in Anspruch zu nehmen versucht . 1

Zu solchen Künstlichkeiten kontrastiert nun auf das Vorteil- hafteste die Position, dafs der Zuhörer eben keine andere Auf- gabe zu erfüllen hat, als das anzunehmen, was, wie wir sahen, der Erzähler, indem er erzählt, ja gleichfalls annimmt. Dafs damit eine gewisse logische Verarbeitung des Angenommenen auch seitens des Hörers in keiner Weise ausgeschlossen ist, bedarf nach Früherem nun gleichfalls keiner besonderen Hervorhebung mehr. Zugleich ist aber das Verhalten dem einfachen Märchen gegenüber paradigmatisch für das Verhalten gegenüber beliebig


1 Vgl. übrigens auch unten § 23.


Die nächstliegenden Annahmefälle.


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komplizierten Dichtungen, mögen diese übrigens unter den Typus des Romans oder unter den des Dramas fallen, und die vielen ästhetischen Schwierigkeiten über künstlerische Täuschungen, bei denen im Grunde normalerweise doch niemand getäuscht wird, sind damit zugleich in eben so einfacher als erfahrungs- gemäfser Weise behoben.

Aufserdem belehrt uns nun das Drama auch darüber, dafs Annahmen nicht nur mit Hilfe des Wortes aufsuggeriert werden können. Es gibt ja auch dramatische Vorführungen ohne Worte, und sollte der Kunstwert derselben auch nicht allzu hoch ein- zuschätzen sein, sie setzen den Zuschauer ohne Zweifel in betreff seines intellektuellen Verhaltens in eine ganz ähnliche Lage, wie die ist, in der sich der Zuhörer einer erdichteten Erzählung be- findet, und lassen so erkennen, dafs auch das gewöhnliche auf Worte gestellte Drama, bei dem man ohnehin herkömmlich nicht von Zuhörern, sondern von Zuschauern redet, diese nicht nur vermöge der Worte, sondern auch vermöge anschaulicher Vor- stellungen aus dem Bereiche des Gesichtssinnes mit Annahmen versorgt. Damit ist zugleich der Übergang von den redenden zu den bildenden Künsten gewonnen und dargetan, dafs der Beschauer auch diesen gegenüber so ziemlich überall dort auf Annahmen angewiesen sein wird, wo das im Kunstwerke sich darbietende Anschauliche auf eine „Bedeutung“ Anspruch macht. Dafs die Rolle der Annahmen aber auch noch über direkte „Dar- stellung“ hinausgehen wird, darauf macht das Verhalten des verständnisvollen Hörers dem musikalischen Kunstwerk gegen- über 1 aufmerksam; spricht doch alles dafür, dafs in diesem Ver- halten den Annahmen mindestens keine unerheblichere Stellung zukommen wird, als die war, die wir ihnen im künstlerischen Erleben des schaffenden Musikers haben beimessen dürfen . 2

Nun müssen wir aber noch einmal auf unser obiges Para- digma vom erzählten Märchen zurückgreifen, weil daran noch

1 Vgl. St. Witasek, „Zur psychologischen Analyse der ästhetischen Einfühlung“, Zeitschr. f. Psychologie 25, S. 37 ff.

2 Reiches einschlägiges Tatsachenmaterial enthalten IC. Langes Aus- führungen über „Illusion“ in der Kunst, vgl. „Das Wesen der Kunst“, 2. Aufl., Berlin 1907, insbesondere S. 65 ff., wo jedoch der Zusammenhang mit den Annahmen nicht in Erwägung gezogen ist. Von diesem handelt A. Möller, „Langes ,bewufste Illusion' und Meinongs .Annahmen', in H. Helbinos Monatsheften über Kunst und Kunstwissenschaft, Jalirg. III, 1903, S. 230 ff. — Vgl. übrigens auch unten § 23.

Jteinong, Über Annahmen, 2. Aufl.


9


130 *


Viertes Kapitel.


eine wichtige Tatsache zu konstatieren ist. Wir sind oben von der Voraussetzung ausgegangen, dafs der Erzähler selbst in seiner Erzählung nur Annahmen auszusprechen habe. Das ist nun aber eine Voraussetzung, die sich in vielen Fällen gar nicht nachkontrollieren läfst, weil der Erzähler sich äufserlich ganz ebenso verhalten könnte, auch wenn er nicht blofs Angenommenes, sondern wirklich für wahr Gehaltenes erzählte. Natürlich ist die suggestive Wirkung auf den Hörer häufig gleichwohl die nämliche, als wenn der Erzähler blofs Annahmen ausspräche, und es erhellt daraus neuerlich die schon im zweiten Kapitel berührte Tat- sache, dafs ein verstandener Ausdruck im Verstehenden durch- aus nicht die psychische Tatsache wachrufen mufs, die gerade ausgedrückt wird. Im besonderen aber erkennen wir daraus, dafs wenn der Redende Überzeugungen ausspricht, der Hörer, indem er versteht , sich diese Überzeugungen gar nicht mufs aufsuggerieren lassen. Wer könnte sich etwa erinnern, die Meinung des theoretischen Gegners, wenn es dessen Beweise zu prüfen galt, auch nur vorübergehend zur seinigen gemacht zu haben? Hätte damit nicht der Hauptimpuls zum Durchprüfen überdies normalerweise verloren gehen müssen? Man geriete , damit, wie man nicht verkennen kann, unversehens in das Fahr- wasser der oben bereits in bezug auf unser Verhalten bei Er- zählungen erwogenen und aus guten Gründen verworfenen Hypo- these vom willkürlichen Überzeugungswechsel. So stehen also auch hier nur die Annahmen als dasjenige zur Verfügung, wo- durch der Hörende auf die Worte, zunächst die Sätze des Redenden reagieren wird. Alle Fälle also, wo der Hörende seine Ansicht in betreff eines ihm mitgeteilten Urteils in suspenso lassen will oder mufs, sind zugleich Fälle von Annahmen.

Mit diesen kurzen Hinweisen will ich die Aufzählung der sich der direkten Empirie in besonders deutlicher Weise auf- drängenden Annahmetatsachen beschliefsen, ohne gerade für die Vollständigkeit dieser Aufzählung mich verbürgen zu wollen. Nun meine ich aber, dafs wir damit zu einem Einblick in die wichtigsten Weisen, in denen die Annahmen in die Operationen des menschlichen Intellekts eingreifen, so wenig gelangt sind, dafs das Grundlegendste in dieser Hinsicht bisher noch gar nicht zur Sprache kommen konnte.


131


Fünftes Kapitel.

Das Objektiv und die Annahmen.


§ 20 .

Vom Erfassen der Objektive.

Bei der Behandlung dessen, was ich im vorigen Kapitel als „nächstliegende Annahmefälle“ meinte zusammenstellen zu dürfen, habe ich die Gelegenheit zu eingehenderer Analyse eher ver- mieden als gesucht. Es war mir ja darum zu tun, an Tatsachen anzuknüpfen, deren Bekanntschaft auf vortheoretische und daher zunächst den Komplexen und nicht den Elementen zugewandte Betrachtungsweise zurückgeht. Obwohl sonach ein Anlafs, von den Aufstellungen des dritten Kapitels mehr als ganz gelegentlichen Gebrauch zu machen, bisher gefehlt hat, wird es dem Leser doch kaum entgangen sein, wie wenig sich für auch nur etwas ein- gehendere Betrachtungsweise die Sache der Annahmen von der des Objektivs möchte trennen lassen, genauer, clafs überall dort, wo wir Annahmen zu konstatieren hatten, Objektive aufs engste mitbeteiligt waren. Natürlich ist auch sofort zu sagen, worauf diese enge Verbindung beruht. Den Annahmen fehlt eben der Gegenstand so wenig wie der Vorstellung und dem Urteil, und liegt es in der Natur des Vorstellens, dafs sein Gegenstand jedes- mal ein Objekt, und ebenso in der Natur des Urteilens, dafs sein Gegenstand jedesmal ein Objektiv ist, so zeigt es sich unverkenn- bar in der Natur des Annehmens gelegen, dafs es auch seiner- seits das Objektiv zum Gegenstände hat. Durften wir schon bei den Eingangsfeststellungen über die Annahmen ihre Bestimmtheit innerhalb des Gegensatzes von Ja und Nein als ein charakteristisches Moment geltend machen, das die Annahmen von den Vorstellungen trennt und mit den Urteilen verbindet, so ist jetzt leicht zu er- kennen, dafs dieses Moment auch durch den Hinweis auf die Beschaffenheit der durch Annahmen zu erfassenden Objektive

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132


Fünftes Kapitel.


zu kennzeichnen ist : die Annahmen sind eben, gleich den Urteilen, affirmativ oder negativ, je nachdem sie positive oder negative Objektive erfassen.

Vom Standpunkte der Objektive ist dieselbe Tatsache nun natürlich auch so auszusprechen: Objektive können nicht nur durch Urteile, sondern auch durch Annahmen erfafst werden, und dafs oben in den Darlegungen des dritten Kapitels zunächst nur die erste dieser beiden Eventualitäten in Betracht gezogen worden ist, war eigentlich eine, vorübergehend übrigens berührte, Einseitigkeit in der Behandlung, nur hoffentlich ausreichend motiviert durch das Bestreben, bei den ersten Aufstellungen über das Objektiv dessen Sache von der der Annahmen möglichst unabhängig zu erhalten. Jetzt aber kommt es ganz im Gegenteil gerade darauf an, die beiden für sich ausreichend sichergestellten Tatsachengebiete, das der Annahmen und das der Objektive, in der ihnen von Natur zukommenden Verbindung ins Auge zu fassen. Wir werden dabei nicht fehlgehen, die Analogie zwischen Urteil und Annahme auch hinsichtlich jener Unmittelbarkeit resp. Mittelbarkeit des Erfassens für bestehend zu erachten, die uns oben 1 als der Gegensatz der geurteilten und beurteilten Objektive entgegengetreten ist. Nur analoge Termini lassen sich vom Worte „annehmen“ nicht anders als mit noch etwas mehr Sprach- gewaltsamkeit bilden, wenn es auch kaum eine prinzipiell falsche Wortbildung sein wird, den „angenommenen“ Objektiven die „beannahmten“ an die Seite zu stellen. Es wird aber auch aus- reichen, im Bedarfsfälle von unmittelbarem gegenüber mittelbarem Annehmen eines Objektivs zu reden. Eventuell wird es Sache des unmittelbaren Annehmens sein, ein Objektiv dem mittelbaren Annehmen zu präsentieren.

Vielleicht fördert es die Klarheit des Einblickes in die Tat- sachen, wenn ich der eben versuchten Schilderung derselben die Auffassung B. Russells 2 gegenüberstelle, der die hier vertretene Position, dafs Objektive durch Annahmen erfafst werden können, zwar den Worten nach teilt, der Sache nach aber bestreitet, indem er zugleich meint, Annahmen seien selbst nichts anderes als Vorstellungen, und ihre Eigenart bestehe nur darin, dafs sie eben


1 Vgl. § 8f.

  • „Meinong’s theory of complexen aiul assumptions“ II, Mind, N. S.,

13, S. 34H, 351 f.


Das Objektiv und die- Annahmen.


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Vorstellungen von Objektiven 1 sind. Das besagt natürlich, dafs es Annahmen in meinem Sinne überhaupt nicht gibt und dafs eben darum solche Annahmen als Erfassungsmittel für die Objek- tive gar nicht in Betracht kommen. Zugleich könnte diese Auf- stellung geeignet scheinen, uns gewissermafsen wieder auf den Standpunkt vor Beginn der in den Kapiteln I und IV nieder- gelegten Untersuchungen zurückzudrängen, stünde nicht vielmehr umgekehrt zu hoffen, dafs die durch diese Untersuchungen ge- wonnene Fühlung mit der Empirie bereits eine ausreichend sichere geworden sein möchte, dafs der Position Russells gegen- über nun nichts weiter nötig sein wird, als sich noch etwas deutlicher zu machen, wo denn eigentlich die oft so unmittelbar zu verspürende Eigenartigkeit der Annahmen sozusagen ihren Sitz hat:

Dazu ist jetzt nur nötig, zunächst das Verhältnis des Urteils zum Objektiv, genauer zu dem von ihm geurteilten Ob- jektiv ins Auge zu fassen. Sind A und B Vorstellungsobjekte, so kann man ja sagen: glaubt einer einmal, dafs A ist, resp. dafs A B ist, ein andermal, dafs A nicht ist, resp. dafs A nicht B ist, so hat sich bei diesem Wechsel an den Vorstellungsgegenständen und darum wohl auch an den Vorstellungen nichts geändert. Das wird man zunächst im Sinne Russells vielleicht bestreiten wollen, da ja auch der Gegensatz des „ist“ und „ist nicht“ zum Vorgestellten gezählt werden könne. Weil ich nicht glaube, dafs diese Ansicht von vielen geteilt werden wird, darf ich den Gegen- beweis wohl ein wenig ad personam führen. Auch Russell selbst hält das, was oben als der Gegensatz von Positiv und Negativ bezeichnet worden ist, von dem auseinander, was im Gegensatz des Affirmativen und Negativen vorliegt 2 ; er unterscheidet die Bestimmungen am Objektiv von denen am Urteil . 3 Ferner wird wohl auch nach Russells Ansicht durch affirmatives und nega- tives Glauben das positive und das negative Objektiv erfafst. Zeigt nun die Erfahrung in den vielen uns bereits bekannten Fällen, dafs man positive und negative Objektive auch erfassen

Russell sagt lieber „Komplexe“, von denen er meint, dafs sie mit den Objektiven zusammenfallen. Ich komme auf diesen Punkt in Kap. VIII § 46 zurück.

2 Vgl. oben § 12.

Dafs er noch den Gegensatz von „wahr“ und „falsch“ diesen beiden Paaren koordiniert, ist (vgl. oben § 13) angreifbar, hier aber unwesentlich.



134 Fünftes Kapitel.

kann ohne Glauben, also ohne Urteil, so wird man das doch nicht wohl so zu beschreiben versuchen, als würde nun plötzlich zum Erfassen dieses positiven und negativen Objektivs das Vor- stellen herangezogen. War vielmehr im Falle des Glaubens diese Gegensätzlichkeit durch das Urteil erfafst, so bedarf es, wo das Glauben fehlt, eines ausreichend Urteilsähnlichen, und das ist eben die Annahme in dem uns bereits so wohlbekannten Sinne. Dieses U rteilsähnliche dann immer noch unter das Anwendungs- gebiet des Terminus „Vorstellung“ einzubegreifen, ist natürlich durch Definition ebenso leicht ins Werk zu setzen als man andererseits „Annahme“ als das definieren kann, was nicht Urteil ist und gleichwohl Objektive erfafst. Aber am Ende wird es doch darauf ankommen, das Nächststehende zusammenzuordnen, und eine Dichotomie wie die des Positiven und Negativen hat im ganzen Bereiche der Vorstellungsobjekte nicht ihresgleichen; da werden die den Gliedern dieser Dichotomie zunächst zuge- ordneten Erfassungsmittel auch nicht wohl den Vorstellungen zuzuweisen sein.

Ohne also den Sinn, in dem wir bisher das Wort „Annahme“ gebraucht haben, zu modifizieren, ohne insbesondere der An- nahme die Eigenschaft, Objektive zu erfassen, blofs ex defini- tione zuzusprechen, können wir festh alten, dafs die Objektive nicht nur den Urteilen, sondern auch den Annahmen sicher zu- gänglich sind. Es drängt sich nun aber weiter die Frage auf, ob Objektive nicht vielleicht auch noch durch andere intellektuelle Erlebnisse erfafsbar sein möchten. Die eben betrachteten Auf- stellungen RusselS haben unsere Aufmerksamkeit bereits den Vorstellungen zugewendet: in der Tat kommen auch nach unserem sonstigen psychologischen Wissen nur noch die Vor- stellungen, diese aber um so nachdrücklicher in Frage, je mehr man sich von alters her daran gewöhnt hat, im Vorstellen das Erfassungsmittel für alles wie immer geartete Gegenständliche, dem wir intellektuell gegenübertreten, anzusehen, und es zugleich als unentbehrliche Grundlage aller intellektuellen Operationen anzuerkennen.

Nun darf vor allem nicht übersehen werden \ dafs von den zwei sehr verschiedenen Eigenschaften, die so durch an sich

1 Was A. Marty im Eifer des Angreifens begegnet zu sein scheint, vgl. „Untersuchungen usw.“ besonders S. 480, Anm.


Das Objektiv und die Annahmen.


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sehr achtbare Tradition dem Vorstellen zugesprochen erscheinen, die zweite ganz und gar nicht in den Kreis unserer gegen- wärtigen Fragestellung gehört. Dies sei sogleich an dem uns hier nächststehenden Anwendungsfall beleuchtet. Es wurde seinerzeit darauf hingewiesen x , dafs kein Objektiv möglich ist, das nicht auf ein gegenständliches Material gestellt wäre, das zunächst sehr wohl wieder ein Objektiv sein kann, aber nicht ohne Ende, indem am Anfänge einer jeden nach wachsender Ordnungshöhe gebildeten Reihe von Objektiven mindestens ein Objekt stehen mufs. Ist A das Symbol für dieses Objekt so untersteht sonach jedes mögliche Objektiv der Bedingung eines Objektivs von der Form „A ist“ oder „A ist R“, d. h. eben, kein Objektiv kann bestehen ohne Objekt. Bin ich nun ferner auch nur imstande, an ein Sein zu denken, ohne an etwas zu denken, das ist? Kann ich also allgemein ein Objektiv erfassen, ohne ein Objekt A mitzuerfassen? Die Verwandtschaft mit der anderen Frage, ob man an Rot denken kann, ohne an Aus- dehnung, und ob etwa an Farbe, ohne an eine bestimmte Farbe zu denken, liegt auf der Hand. Hat uns der Gang der psycho- logischen Forschung in den letzten Jahren gelehrt, mit der Ant- wort auf diese Frage mindestens zurückhaltender zu sein als einst, so wird man auch für die analoge Frage beim Objektiv ein rundes „Nein“ nicht mehr so leicht zur Verfügung haben. Gesetzt aber selbst, man hätte es, so wäre damit, und darin liegt das für uns Entscheidende, noch nicht das Geringste darüber ausgemacht, wie es mit dem Erfassen jenes Plus bewandt ist, durch das sich, etwas summarisch gesprochen, der Gegenstand A vom Gegenstände „A ist“ oder „Sein des A“ unterscheidet. Müfste ich also auch unfehlbar ein A vorstellen, um ein Objektiv zu erfassen, so liegt darin noch durchaus nicht, dafs ich auch den Gegenstand „Sein“ noch einmal durch Vorstellen (das natür- lich ein anderes Vorstellen als das des A zu sein hätte) erfassen müfste, und es bleibt immer noch die Frage, ob ich ihn über- haupt durch Vorstellung erfassen könnte. Gerade das aber ist die krage, auf die jetzt eine Antwort gesucht werden mufs.

Lnd soviel ich sehe, kann diese Antwort nicht anders als verneinend ausfallen. Im Vorstellen sozusagen das Universal- erfassungsmittel zu erblicken, dem kein überhaupt erfafsbarer


Vgl. oben § 11.


136


Fünftes Kapitel.


Gegenstand sich entziehen könnte, das mochte den Anschein des Selbstverständlichen für sich haben, solange man auf die Ob- jektive in ihrer Verschiedenheit von den Objekten nicht aus- reichend aufmerksam war. Hält man aber ' die Gegenstände „Berg“ und „Existenz des Berges“ so gut nebeneinander, als es eben gehen will, so drängt sich, wenn ich nicht irre, neben der fundamentalen Verschiedenheit dieser beiden Gegenstände auch die Verschiedenheit ihrer Erfassungsweisen ganz unmittelbar auf, und ist das Erfassen des Berges (cum grano salis) Vorstellen, so scheint das Erfassen seines Daseins etwas anderes als Vorstellen sein zu müssen. Und jedenfalls wird man fragen dürfen, woher man eigentlich wisse, dafs das Vorstellen die Kluft zwischen A und „Sein des A“ zu überspringen imstande sei. Im Grunde die nämlichen Erwägungen, durch die eben zuvor gegen Russell die Eignung der Annahmen zum Erfassen von Objektiven fest- zustellen war, dienen nun dazu, zu zeigen, dafs eine solche Leistung von Erlebnissen nicht erwartet werden kann, denen die an den Urteilen (übrigens auch den Gefühlen und Begehrungen) so wohlbekannte „Polarität“ fehlt, die zum Erfassen der gegen- ständlichen Gegensätzlichkeit des Positiven und Negativen un- entbehrlich scheint.

Nur gilt das Gesagte vorerst blofs unter einem stillschweigend implizierten Vorbehalt, der, so natürlich er ist, nun doch aus- drücklich namhaft gemacht sein mufs. Die bisherigen Erwägungen sind nur am direkten Erfassen von Objektiven angestellt, das sich dem Erfassen von Objekten vergleichen läfst, wie ein solches etwa beim Empfinden einer Farbe oder beim Reproduzieren dieser Empfindung vorliegt. Ich kann aber eine Farbe, z. B. ein gewisses Grün, auch indirekt vorstellen indem ich etwa „Farbe in der Gegend der jE-Linie des Spektrums“ oder minder genau „Farbenton zwischen Gelb und Blau“ oder dgl. denke . 1 2 Ebenso kann ich nun ein Objektiv indirekt erfassen, und man hat ge- hofft, durch den so einzuschlagenden Umweg auch die Objektive gewissermafsen in den Machtbereich des Vorstellens einbeziehen zu können. Vor allem die Negativa, indem z. B. Nichtrotes etwas


1 Über den Sinn dieses zuerst in meinen „Hume-Studien“ angewendeten Terminus vgl. unten § 46.

2 Ob solch ein Gedanke nur Vorstellungen oder auch Annahmen ent- hält, ist hier nebensächlich. Vgl. indes Kap. VIII, besonders § 45 f.


Das Objektiv und die Annahmen.


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bedeute, „von dem es falsch ist, dafs es rot sei “. 1 Wie häufig oder eigentlich wie selten die Empirie davon Zeugnis gibt, dafs bei solch einem Negativum der Gedanke an Wahr oder Falsch auftritt, ist hier, wo es sich zunächst um die Gangbarkeit des Umweges handelt, unwesentlich. Um so wichtiger, dafs, wie wir sahen, der Gedanke „Falschheit“ ohne Anwendung einer Nega- tion nicht zu bilden sein wird . 2 Ist dem aber so, dann ist das anscheinend Positive, das hier an Stelle des zu erfassenden Negativen treten und so die Schwierigkeit der Negativa ver- meiden helfen sollte, selbst negativ und daher der oben statuierten Unzulänglichkeit des vorstellungsmäfsigen Erfassens ganz ebenso ausgesetzt. Dafs man zu keinem günstigeren Resultate kommt, wenn man sich die sogenannte negative Vorstellung in anderer Weise zurecht zu legen versucht, ist bereits im Eingangskapitel dieses Buches 3 dargetan worden. Man erkennt jetzt leicht, dafs es eben das Objektiv war, das, durch die Negation obligatorisch eingeführt, sich dem Erfassen durch das blofse Vorstellen unzu- gänglich erwies.

Aber läfst sich nicht durch eine etwas allgemeinere Be- stimmung eiu Umweg zustande bringen, der besser zum Ziele führt, überdies nicht nur die negativen, sondern zugleich auch die positiven Objektive mit einbegreift? Es wurde oben 4 des Versuches gedacht, das Wesen des Objektivs als „Urteilsinhaltes“ durch „Reflexion auf das Urteil“ festzulegen, also etwa „Sein“ als „mit Recht anerkannt werden können“ zu bestimmen. Dafs wir, wie oben zu betonen war, dem Sein durch direktes Erfassen noch näher kommen können, ist hier wieder nebensächlich, weil es sich jetzt nicht darum handelt, ob Objektive noch anders als durch Vorstellung, sondern eben nur, ob sie mindestens auch durch V orstellungen zu erfassen sind. Um so wichtiger ist ein anderes: dieses „mit Recht affirmiert werden können“ oder wie immer man es sonst formulieren möchte, ist ja selbst ein Ob- jektiv. Den Zweifel daran, ob Objektive vorgestellt werden können, kann man nicht dadurch beheben, dafs man an die Stelle vieler Objektive wenige oder auch nur ein einziges setzt,


1 Vgl. oben § 2, S. 18f.

2 Vgl. oben Kap. III, § 13.

3 Oben § 2.

4 Vgl. § 11, 14.


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Fünftes Kapitel.


von dem ja dann immer noch zum allermindesten unausgemacht wäre, ob es auch seinerseits noch durch Vorstellen erfafsbar ist oder nicht.

Indes läfst sich dem uns beschäftigenden Gedanken noch eine Wendung geben, durch die man hoffen könnte, über diesen Objektivrest, wenn man so sagen darf, hinwegzukommen. Was mit Recht affirmiert oder negiert werden kann, steht insofern zum affirmativen resp. negativen Urteil in einer bestimmten Relation; wir wollen sie, ohne uns auf Bestimmung ihres Wesens näher einzulassen, etwa die Relation X nennen. Relationen lassen sich ja vorstellen: wäre also etwa U das fragliche Urteil, so mtifste die Bestimmung: ,,in Relation X zu U“ nicht schwerer vorstellbar sein als etwa „menschenähnlich“, „engelsgleich“ und dgl. Durch die Bestimmung „in Relation X zu U“ könnte sonach unser Objektiv rein vorstellungsmäfsig erfafst sein. Man wird hier sogleich instinktiv Verdacht schöpfen, es könnte bei dieser so einfachen Lösung einer eben noch so schwierig scheinen- den Sache doch nicht mit ganz rechten Dingen zugehen. Nehmen wir indes für jetzt an x , dieser Verdacht wäre im allgemeinen unbegründet, so tritt an dieser Umformulierung doch immer noch ein Umstand gewissermafsen isoliert heraus, der, obwohl dem gegenwärtigen Interessenzusammenhange einigermafsen fern- stehend, doch nicht ganz übergangen werden kann. Sollte die Bezugnahme auf die Negation für eine Weise gelten dürfen, Objektive vorzustellen, dann müfste vor allem das negative Ur- teil selbst vorgestellt werden können. Gibt es aber Vorstellungen von Urteilen?

Ich habe, wie schon erwähnt, an anderem Orte 1 2 darzutun versucht, dafs bei innerer Wahrnehmung das Vorstellen der dem Wahrnehmenden gegenwärtigen Erlebnisse, also auch ins- besondere der ihm gegenwärtigen Urteile , eine durch keine Empirie zu legitimierende Komplikation wäre. Man darf viel- mehr den inneren Erlebnissen die Fähigkeit zusprechen, sich der inneren Wahrnehmung sozusagen selbst zu präsentieren. Damit steht in Zusammenhang, dafs die Erinnerung an gegenwärtig gewesene Erlebnisse in dem uns jetzt speziell betreffenden


1 Was sich im Kap. VIII als falsch heraussteilen wird.

2 „Über die JLrfalirungsgrundlagen unseres Wissens“, S. 72 ff., vgl. oben § 4.


Das Objektiv und die Annahmen.


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Falle von Urteilen sachgemnfser als Auswärtswendung gegen- wärtiger Annahmen denn als Vorstellung von Urteilen aufgefafst werden kann, ein Gesichtspunkt, der auch auf das Erfassen fremder Urteilserlebnisse, sowie der Urteilserlebnisse ,,in abstracto“ seine Anwendung findet. Dafs diese Betrachtungsweise nicht nur die Urteile, sondern sämtliche erfafsbaren psychischen Ge- schehnisse (mit Hilfe des erst später 1 zu exponierenden Begriffes der Phantasieerlebnisse) in sich fafst, kann an gegenwärtiger Stelle noch nicht ausgeführt werden, wird aber wohl geeignet sein, der uns hier angehenden These, dafs Urteile zum Erfassen keiner sie präsentierenden Vorstellungen bedürfen, noch festeren Halt zu verleihen. Speziell hinsichtlich der inneren Wahrnehmung ist mir die Frage entgegengehalten worden 2 , ob meine Auffassung aufser für die „Perzeption“ des innerlich Erlebten auch für dessen „Apperzeption“ ausreiche, d. h. also, wie ich sogleich lieber mög- lichst allgemein formulieren möchte, ob der Mangel besonderen Vorstellens die verschiedenen intellektuellen Operationen des Ab- strahierens, Vergleichern usf. auf kommen liefse, die sonst stets an Vorstellungsinhalten angreifen. Und offenbar dem nämlichen Gesichtspunkte untersteht der mir von anderer Seite 3 gemachte Einwand, es sei „nicht möglich, eine Mehrheit von Schmerz- gefühlen unter Beschränkung auf ein gewisses Merkmal in einem einzigen jetzigen Schmerz bewufst zu machen. , Allgemeine 1 Schmerzgefühle gibt es nicht“. Fragen dieser Art sind ohne Zweifel sehr erwägenswert 4 ; aber ihre Beantwortung bietet, soviel ich jetzt sehen kann, keine unüberwindliche Schwierigkeit. Präsentiert sich das wahrgenommene Erlebnis dem Urteil, warum sollte es sich nicht auch anderen psychischen Operationen gleich- sam zugänglich erweisen? Für den spezielleren Fall also: kann ein emotionales Erlebnis unter Umständen dem Urteil gegenüber funktionieren wie ein Vorstellungsinhalt, warum nicht auch den


1 Vgl. unten § 54, 65.

2 Vgl. A. Marty, „Untersuchungen“ S. 487.

3 Von J. Kl. Kreidig, „Die intellektuellen Funktionen“, Wien 1909, S. 59.

4 Um so wunderlicher sind des erstgenannten Autors „schwerwiegende Bedenken“ a. a. 0. S. 487 f. Ersetzt das wahrgenommene Erlebnis selbst, meint er, die Vorstellung, warum nicht auch das Urteil? Antwort natür- lich : weil alle Wahrnehmung Urteil, ein unbeurteiltes Erlebnis daher ein unwahrgenommenes ist. Übrigens habe ich diesen Fall schon in den „Er- fahrungsgrundlagen“ S. 72 f. (als Schema IV) berücksichtigt.


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Fünftes Kapitel.


begriffsbildenden Operationen gegenüber? Dafs „Erneuerungen“ von Erlebnissen, wenn sie nicht Wiederholungen der letzteren sind, deren Vorstellungen sein müfsten \ würde nur zutreffen, falls es keine Phantasieerlebnisse 1 2 gäbe.

Bin ich also mit der Behauptung im Rechte, dafs alles Psychische streng genommen unvorstellbar ist, dann wird, wer ein Objektiv durch „Reflexion auf das Urteil“ erfafst, sich dabei schon deshalb nicht in den Schranken des Vorstellens halten können, weil das hier heranzuziehende Urteil, wenn normaler- weise nicht selbst gefällt, so durch eine (auswärts gewendete) Annahme erfafst ist. Nebenbei eröffnet sich hier, worauf nur an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden kann, die Per- spektive auf ein weites Anwendungsgebiet der Annahmen. In- vielen Fällen, wo nicht gegenwärtige eigene oder fremde, oder auch hinsichtlich ihres Subjektes unbestimmte Urteilserlebnisse in den Bereich unseres intellektuellen Tuns treten, werden sie uns nur durch in besonderer Weise intellektuell verarbeitete An- nahmen gegeben sein können.

Kehren wir aber wieder zur Frage nach dem indirekten Vorstellen der Objektive zurück, so ist nun klar, dafs, soll dieses durch „Reflexion auf das Urteil“ zustande gebracht werden, mindestens da der Bereich des Vorstellens überschritten wird, wo das Urteil in die Sphäre intellektueller Bearbeitung als ein Gegenstand derselben eintritt. Sollte auch die Relation vorstell- bar sein, das Urteil ist nur durch Urteil oder in dessen Er- mangelung durch Annahme zu erfassen. Ob es noch andere Weisen geben wird, Objektiven indirekt beizukommen? Theore- tisch mag die Mannigfaltigkeit dieser Weisen schwer zu er- schöpfen sein : praktisch dürfen sie hier wohl aufser Betracht bleiben, zumal noch das achte Kapitel zu zeigen haben wird, wie wenig sich auch nur das „Vorstellen“ von Relationen auf blofses Vorstellen beschränken möchte. Die obige Behauptung, dafs das Objektiv durch Vorstellen auch nicht indirekt erfafst werden könne, dürfte durch das Dargelegte wenigstens für das Gebiet der empirisch einigermafsen in Frage kommenden Mög- lichkeiten ausreichend gesichert sein.

Noch sei hier kurz zweier Punkte gedacht, von denen be-


1 Kkeibio a. a. 0.

• Vgl. unten § 65.


Das Objektiv und die Annahmen.


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hauptet worden ist, ich hätte bezüglich ihrer die Konsequenz der eben dargelegten Auffassung nicht festzuhalten vermocht . 1 Der eine davon betrifft den Gegensatz zwischen „A existiert“ und r A ist existierend“, dem ich aus einem hier unwichtigen Grunde unter gewissen Umständen besondere Bedeutung beilegen zu sollen gemeint habe. In diesem Satze „A ist existierend“ könne,, wird gesagt, das Prädikat „existierend“ nur vorgestellt sein und nicht, „wie Meinung, wenn er sich konsequent zu bleiben ver- möchte, lehren müfste“ 2 3 , geurteilt oder angenommen. Ich hoffe, dafs meine Fähigkeit, konsequent zu sein, mindestens in diesem besonderen Falle doch unterschätzt worden ist. Der an sich ge- wifs sehr interessante, dem gegenwärtigen Zusammenhänge aber wieder ziemlich fernliegende Fall scheint mir einfachst so zu charakterisieren : Statt „das Papier ist weifs“, kann ich bekannt- lich nicht sehr bedeutsam, aber zweifellos richtig auch sagen: „Das Papier ist weifs-seiend“. Und habe ich Grund zu glauben, ich könne zwar „weifs“ vorstellen, nicht aber, „dafs etwas weifs ist“, so werde ich auch nicht erwarten, das „Weifs-sein“ oder auch „weifs-seiend“ vorstellen zu können, womit natürlich in keiner Weise ausgeschlossen ist, dafs in diesen verschiedenen Ausdrucks- weisen Spuren ganz bestimmter intellektueller Verarbeitungen jener Ausgangsdaten zutage treten, mit deren Hilfe das Objektiv ursprünglich uns zum Bewufstsein kommt. Was vom Soseins-, gilt nun cum grano salis auch vom Seinsobjektiv, — cum grano salis, denn das „Existierend-sein“ ist insofern ein ziemlich unzu- reichendes Äquivalent für das „Existieren“, weil „Existierend- sein“ etwa auch dem Gegenstände „existierender goldener Berg“ und sogar dem Gegenstände „existierendes rundes Viereck“ in gewissem Sinne zugesprochen werden kann, indes „Existenz“ dem einen so wenig zukommen wird wie dem anderen. Aber nicht auf die (übrigens schon durch etwas Vorsicht und Toleranz hinsichtlich der Termini herabzusetzenden) Paradoxien und Schwierigkeiten kommt es hier an , die restlos beseitigen zu können ich mir keineswegs geschmeichelt habe s , sondern auf die

1 A. Marty a. a. 0. S. 482 ff.

2 A. a. 0. S. 483.

3 Vgl. „Über die Stellung der Gegenstandstheorie im System der Wissenschaften“ S. 17. Nur dafs A. Martys Universalmittel, die Brentano- sche Existentialnegation („Untersuchungen“ S. 347) sonderlich weiterführen wird, wo es sich doch gerade um Existentialaffirmationen handelt, bezweifle


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Fünftes Kapitel.


Frage, warum zum Erfassen des Objektivs „existierend“ das Vor- stellen wesentlicher erforderlich sein sollte als zum Erfassen des Objektivs „weifs-seiend“. Ich bestreite beides aus den oben an- gegebenen Gründen: sollte ich damit aber im Irrtum sein, so wüfste ich doch auch dann nicht, was dies mit meiner „Kon- sequenz“ zu tun hätte.

Als zweiter, „noch interessanterer Fall“ wird die uns schon so wohlbekannte Tatsache zur Sprache gebracht, dafs Objektive nicht nur geurteilt, sondern auch beurteilt werden können. Wo- durch sich „A ist“, und „dafs A sei, ist wahr“ voneinander unter- scheiden, soll ohne Inanspruchnahme einer Objektiv Vorstellung nicht klar gemacht werden können . * 1 Ich hoffe, den Leser von Kap. III des gegenwärtigen Buches als Zeugen für das Gegenteil anrufen zu dürfen. Sieht man von der überflüssigen Komplikation durch Hereinziehung des Wahrheitsmomentes ab, so besteht der Unterschied eben darin, dafs einmal vom Sein des A, das anclere- mal vom Sein des Seins von A die Rede ist. Durch welche Mittel der eine und der andere Gegenstand erfafst ist, kommt dabei, soviel ich verstehen kann ‘ 2 , ganz und gar nicht in Betracht.

Wird freilich die Frage aufgeworfen, „wie doch . . . die zwei Urteile ineinander verwoben oder wie eines aufs andere gebaut sei“ 3 , so weifs ich darauf zurzeit nichts Erhebliches zu antworten, bezweifle aber, dafs dies einen billigen Einwurf gegen meine Auffassung begründet. Damit aber auch am unvorgestellten Be- urteilten kein unbilliger Anstofs genommen werde, ist vor allem


ich. Noch weniger freilich wird man mit B. Russell ( Mind , N. S., 16 , 1907, S. 439) das Vorhandensein des Problems selbst in Zweifel ziehen können. Eine Hypothese nach Analogie der Russells a. a. 0. S. 438 (Z. 21 v. u.) schiene mir indes weder durch die Sache geboten noch einer V erstandigung förderlich. Vgl. übrigens auch unten § 31.

1 A. Marty, „Untersuchungen“ S. 483 ff., 488.

2 Martys begründende Ausführungen vermag ich der Förderung des Verständnisses nicht nutzbar zu machen. Nachdem erst meine Hauptthese zugegeben erscheint (a. a. O. S. 484, Z. 21 v. o. ff.), führen sie (wie Ähn- liches von mir schon „In Sachen der Annahmen“, Zcitsclir. f. Fsychol. 41 , S. 8 zu konstatieren war) zu polemischer Ablehnung von Positionen, die niemand aufstellt, und die nicht einmal der Autor mir sämtlich zutraut. Dazu einiges über die „Ausflucht“, zu der ich greifen mufs, weil ich von vorgestellten Objektiven nichts „wissen will“. Hier würde näheres Ein- gehen wohl unverhältnismäfsig viel Raum beanspruchen.

3 A. Mahty, „Untersuchungen“ S. 485.


Das Objektiv und die Annahmen.


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nochmals daran zu erinnern, dafs es sich da ja durchaus nicht um ein Urteilen ohne Vorstellen zu handeln braucht. Wird der Gegenstand „dafs A existiert“ uns durch ein Urteil gegeben, so ist dies eben das Urteil über A, also, sofern A vorgestellt ist, keineswegs eines, das einer Vorstellung als psychologischer Voraus- setzung entbehrte. Nur dafs, wo durch das Vorstellen blofs der Gegenstand A „gegeben“ war, nun auch der Gegenstand „dafs A existiert“ einer weiteren intellektuellen Bearbeitung zur Ver- fügung steht, das ist der in Rede stehenden Auffassung nach sozusagen ein Erfolg des Urteilens, an dem das Vorstellen nicht noch einmal teilnimmt. Das Objektiv ist also jederzeit selbst auf ein Objekt gestellt, dem dann der zugehörige Inhalt als feste Vorstellungsbasis unter keiner Bedingung abzustreiten wäre.

Wichtiger noch scheint mir jedoch ein anderes zu sein. Haben wir uns angesichts der Tatsachen entschliefsen müssen, einzuräumen, dafs jede Erkenntnis, gleichviel ob affirmativ oder negativ, „etwas“ erkennt, jedes Urteil „etwas“ urteilt, das kein Objekt ist, wohl aber dem betreffenden Urteile so gegenübersteht wie das Objekt seiner Vorstellung, dann ist dem Urteile die Fähigkeit, dieses „etwas“ zu erfassen, ohnehin schon zugestanden. Ist es also jedenfalls Sache eines jeden Urteils, sich seines un- mittelbaren Objektivs sozusagen aus eigener Machtvollkommen- heit zu versichern * 1 , dann ist eigentlich nicht mehr recht ab- zusehen, warum eine Vorstellungshilfe nötig sein müfste, damit das geurteilte Objektiv nun Gegenstand weiterer Beurteilung werden kann, zumal hier weitere Beurteilungen vom ersten ihnen vorgegebenen Urteile nichts weniger als unabhängig sind. Habe ich das Recht zu dem Urteile „A existiert“, dann auch im Hin- blicke hierauf zu dem das Objektiv des ersten Urteils betreffenden zweiten Urteile „es ist, dafs A existiert“ : ich habe es so gewifs, dafs dem Naiven das zweite Urteil dem ersten gegenüber gar nicht verschieden zu sein scheint.

So darf ich mein gegenwärtiges Wissen über diese Sache 2 in dem Satze zusammenfassen : Objektive können aufser durch Urteile wohl noch durch Annahmen, nicht aber durch Vor-

1 A. Makty nimmt so sehr Anstofs an dieser Metapher, dafs er sie mir auf S. 484 — 486 der „Untersuchungen“ fünfmal vorhillt. Ich habe nicht gemeint, sie daraufhin unterdrücken zu sollen.

1 Übrigens konform der bereits oben S. 50 ff. geführten Vorunter-

suchung.


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Fünftes Kapitel.


Stellungen erfafst werden, und auch sonst steht uns für sie kein Erfassungsmittel zu Gebote. Hieraus ergibt sich nun ein für den weiteren Fortgang der Annahmeforschung in besonderem Mafse fruchtbares heuristisches Prinzip, in dem zugleich die Herein- ziehung des Objektivs in den Untersuchungskreis der gegen- wärtigen Schrift eine mehr als ausreichende Legitimation findet. Was nämlich ohne weiteres aus dem eben Formulierten folgt, ist dies: begegnet uns irgendwo in unserem psychischen Leben ein Objektiv, von dem sich zeigen läfst, dafs es nicht durch Urteilen erfafst sein kann, so ist damit jedesmal ein Annahmefall auf- gewiesen. Rückblickend kann man nun leicht erke nn en, dafs in den Untersuchungen des vorigen Kapitels dieses Prinzip bereits implizite zur Anwendung gelangt ist. Um die so verschieden- artigen Annahmefälle, die uns da beschäftigten, als solche zu agnoszieren, war jedesmal erforderlich, uns davon zu überzeugen, dafs die in den betreffenden, schon äufserlich deutlich charak- terisierten Situationen auftretenden Objektive nicht durch Urteile erfafst waren. Die nunmehr gewonnene explizite Bekanntschaft mit dem Prinzip setzt uns aber in die Lage, auch dort Annahmen aufzufinden, wo das, was ich eben die Situation nannte, gar nicht oder doch nicht so deutlich zur Geltung kommt und etwa erst selbst durch das obligatorische Auftreten von Annahmen zur ausreichenden Charakterisierung gelangt. Von den bisher zu- nächst betrachteten mehr komplexen Tatbeständen wendet sich damit die Untersuchung mehr elementaren zu, hoffentlich nicht ohne alle Aussicht, dadurch den Bedürfnissen künftiger, wo- möglich auch experimenteller, Detailbearbeitung die Wege bahnen zu helfen.

§ 21.

Aggredierte Ob j ektive. Zur Deutung sekundärer

Urteilsausdrücke.

Zu Untersuchungen von der eben bezeiclmeten Art bietet sowohl das Geistes- als das Gemütsleben Gelegenheit. Denn was zuvor das „Begegnen“ eines Objektivs im psychischen Leben genannt wurde, geht doch natürlich darauf zurück, dafs psychische Erlebnisse an ein Objektiv gleichsam herantreten, dafs Objektive in den Kreis unserer Erlebnisse gleichsam hereingezogen werden, und das kann durch intellektuelle sowohl als durch emotionale Betätigungs- resp. Verhaltungsweisen geschehen. Für die intellek-


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tuellen ist uns der Ausdruck „erfassen“ wohl ausreichend geläufig. Mag es aber schon fraglich erscheinen, ob er für das intellektuelle Gebiet unter allen Umständen ausreicht, so ist er doch jedenfalls auf das emotionale nicht zu übertragen, und ein Terminus, der farblos genug wäre, Intellektuelles und Emotionales in der frag- lichen Hinsicht gleich natürlich zu umspannen, bietet sich mir keineswegs ungesucht dar. Dem gleichwohl gerade liier sich geltend machenden Bedürfnis nach einer ausreichend umfassenden Bezeichnungsweise versuche ich in der Weise Rechnung zu tragen, dafs ich das eben berührte psychische Herantreten an Objektive als Aggredieren derselben benenne, und daraufhin von intellek- tuell wie von emotional aggredierten Objektiven sprechen kann. Alles Erfassen ist sonach intellektuelles Aggredieren, und hin- sichtlich des emotionalen scheint nach dem gegenwärtigen Stande psychologischen Wissens aufser Zweifel, dafs es an Objektive wie an Objekte nur unter intellektueller Vermittlung herankann. Durch Fühlen oder Begehren zu aggredierende Objektive müssen also vor allem anderen erfafst sein. Aber es gibt auch intellek- tuelles Aggredieren, das Erfafstsein voraussetzt: alle Beurteilung von Objektiven setzt ja Urteilung voraus; jene nannten wir eben darum mittelbar, weil sie sich auf diese als das Unmittelbare ge- gründet zeigte. In diesem Sinne läfst sich dann natürlich auch alles emotional Aggredierte als mittelbar aggrediert bezeichnen und man gewinnt damit den Gesichtspunkt, unter dem sich die normale Funktion der uns nun schon so oft entgegengetretenen ,.dafs“-Sätze einfach charakterisieren und deren besondere Be- deutung für die Lehre vom Objektiv erkennen läfst. „Dafs“-Sätze sind eben die natürliche Bezeichnung für mittelbar (gleichviel ob intellektuell oder emotional) aggredierte Objektive.

Man ersieht nun ohne weiteres, dafs es eben diese mittelbar aggredierten Objektive sind, auf die das oben formulierte heu- ristische Prinzip seine besonders natürliche Anwendung findet. Liegt es in der Natur der betreffenden Aggression, ein unmittel- bares Erfafstsein des Objektivs durch ein Urteil auszuschliefsen, dann mufs dieses, das eines unmittelbaren Erfafstwerdens unter den gegebenen Umständen nicht entraten kann, durch eine An- nahme erfafst, es mufs durch eine Annahme dem mittelbaren Aggrefs resp. dem Erlebnis, worin dieser besteht, präsentiert sein.

Ich beginne damit, der gekennzeichneten Eventualität auf intellektuellem Gebiete nachzugehen. Es handelt sich also zu- Meinong, Über Annahmen, 2. Aull. 10


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nächst um Beurteilungen, die es ausschliefsen oder denen gegen- über es unwahrscheinlich ist, dafs die betreffenden Objektive durch Urteile präsentiert sind. Ob diese Objektive dabei in sprachlichem Gewände auftreten und in welchem, ist an sich natürlich Nebensache. Aber das Ausgesprochene ist auch hier das für die Untersuchung Greifbarere. Nicht minder unwesent- lich ist, ob man es dabei mit primärem oder sekundärem Aus- druck zu tun hat ; aber der richtigen Deutung des sekundären Ausdruckes treten in Fällen, die unserem gegenwärtigen Interesse sehr nahe stehen, eigentümliche Schwierigkeiten in den Weg, um derenwillen hier, ehe wir an die Hauptuntersuchung gehen, kurz verweilt werden mufs.

Näher handelt es sich um Fälle, wo der Redende die Tat- sache, dafs er urteilt, durch das Aussprechen eines Urteils über dieses Urteil zum Ausdrucke bringt. Sätze wie „ich urteile, bin überzeugt, glaube, meine, vermute, dafs A existiert“ und dgl. sind ja so zu verstehen, und jedesmal verrät uns der mitgegebene „dafs“-Satz die Bezugnahme auf ein Objektiv. Zugleich scheint ein Zweifel darüber, dafs dieses Objektiv zu dem sekundär aus- gedrückten Urteile als seinem unmittelbaren Urteile gehören werde, ziemlich ferne zu liegen . 1 Nun gibt es aber doch eine er- staunliche Menge von Ausdrücken, die mit den erwähnten ganz und gar auf gleicher Linie zu stehen scheinen, aber gleichwohl eine andere Auffassung verlangen, und dadurch die allgemeine Geltung der obigen Deutung, ja nahezu ihre Geltung überhaupt mit in Frage stellen. Die nähere Untersuchung der Sachlage wird durch die eigentümliche Komplikation ein wenig erschwert, die durch die Tatsache des sekundären Ausdruckes bedingt ist, und die leicht zu Verwechslungen führen kann, wenn man sie nicht besonders im Auge behält. Sage ich nämlich etwa: „ich bin überzeugt, dafs A ist“, so ist hier vor allem durch primären Ausdruck ein Urteil bezeugt, das einerseits von meiner Über- zeugung handelt, andererseits natürlich auch von dem, wovon ich überzeugt bin, also dem Objektiv dieser Überzeugung. Von diesem Urteile ist im folgenden zunächst gar nicht die Rede. Dagegen soll hier die Frage aufgeworfen werden, ob das sekun- där ausgedrückte Urteil und das im „dals“-Satze zur Geltung kommende Objektiv etwa jedesmal oder auch nur in der Regel


1 Vgl. oben S. 55, Anm.


Das Objektiv und die Annahmen.


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in der Relation des unmittelbaren Urteils zu seinem Objektiv stehen mufs, ob also dieses nicht vielmehr auch schon für das sekundär ausgedrückte Urteil blofs einen Beurteilungsgegenstand abgeben kann. Eigentlich sachliche Schwierigkeiten kann die zu klarerer Einsicht in unser Tatsachengebiet kaum zu entbehrende Untersuchung dieser Frage nicht wohl in sich schliefsen: aber sie wird, wie nun leicht einzusehen, einigermafsen erschwert durch die Gefahr, das primär Ausgedrückte an Stelle des sekundär Ausgedrückten heranzuziehen.

Gesetzt also etwa, jemand bedient sich der Wendung: „ich negiere, dafs A existiert“. Kann man auch da, wie es zuvor ganz im allgemeinen selbstverständlich schien, den Hauptsatz als sekundären Ausdruck des dem Objektiv unmittelbaren Urteils verstehen? Ein Urteil, das das Objektiv „dafs A existiert“ zum unmittelbaren Objektiv hat, indem es dasselbe urteilt, kann sprachlich nur durch den Satz ausgedrückt sein, der das Objektiv bedeutet. Das Urteil ist also charakterisiert durch den Satz : „ A existiert“. Dadurch würde aber nichts negiert, sondern nur etwas affirmiert. Dagegen ist die in unserem Hauptsatze ausgesprochene Negation ungefähr nämlichen Sinnes, als wäre geurteilt worden : „Dafs A existiert, ist nicht“. Wie man sieht, liegt also die Negation im mittelbaren Urteile, und auch in der Aussage: „ich negiere, dafs A existiert“ hat der Hauptsatz das dem Objektiv mittelbare Urteil auszudrücken. Dafs Sätze wie „ich bestreite, bezweifle, dafs . . .“ und dgl. ebenso zu deuten sind, versteht sich. Dasselbe gilt von der Wendung „ich glaube nicht, dafs . . .“, an der nur auffallend ist, dafs der Negationsausdruck sozusagen an falscher Stelle steht, als gälte es, das Glauben zu negieren, indes in der Regel zwar sehr wohl geglaubt wird, nur mit negativer Qualität. Dafs dann auch Sätze wie „ich verneine, dafs A nicht existiert“ nicht etwa so gemeint sein werden wie „ich fälle das negative Urteil, dafs A nicht ist“, erhellt hier einfach daraus, dafs der so Redende normalerweise nicht der Meinung sein wird, dafs A wirklich nicht existiere, dies vielmehr gerade in Abrede stellt.

Man ersieht daraus zugleich, dafs man nicht etwa das Prinzip aufstellen dürfte: wenn Haupt- und Nebensatz gleiche Qualität 1

1 Mit „Qualität“ int hier natürlich nur die „Qualität“ im Sinne der Logik, also die Bestimmung in betreff des Gegensatzes von Ja und Nein gemeint.


10 *


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auf weist, dann drückt der Hauptsatz das dem Objektiv unmittel- bare, wenn sie entgegengesetzte Qualität haben, das dem Ob- jektiv mittelbare Urteil aus. Aber auch aus affirmativer Qualität des Hauptsatzes wird nicht zu schlieisen sein, dafs er das un- mittelbare Urteil betreffen müsse: denn auch Wendungen wie „ich bestätige, affirmiere, versichere, dafs A nicht existiert“ und dgl. weisen jene Gegensätzlichkeit der Qualität im Haupt- und Nebensatz auf, die für uns oben das Kennzeichen dafür abge- geben hat, dafs es sich da um das mittelbare Urteil handeln müsse. So bleiben nur noch Fälle mit affirmativer Qualität so- wohl im Haupt- als im Nebensatze übrig, bei denen eine Inter- pretation zugunsten des unmittelbaren Urteils mindestens nicht von vornherein ausgeschlossen heifsen darf. Will man aber Gleichheit der Interpretation bei affirmativen und negativen Aus- drücken einigermafsen aufrecht erhalten, will man also „ich be- jahe, dafs A ist“ niöht anders deuten als „ich bejahe, dafs A nicht ist“, so kann man nur noch sagen: ist der Hauptsatz qualitativ unbestimmt 1 , dann betrifft er das unmittelbare, ist er qualitativ bestimmt, so betrifft er das mittelbare Urteil.

Immerhin ist es aber nicht jedesmal sicher, ob der Hauptsatz das Urteil, das er sekundär zum Ausdrucke bringt, nach seiner Qualität bestimmt oder nicht, genauer, ob es sich um unbe- stimmte oder um affirmative Qualität handelt. Sage ich, „ich behaupte, erinnere mich, vermute“ und dgl., so bleibt ungewifs, ob damit blofs auf das unmittelbare Urteil Bezug genommen, dieses nur als Behauptung, Erinnerung, Vermutung charakteri- siert werden, oder ob nicht vielmehr eine Zustimmung zu einem solchen Urteil durch Affirmation des Objektivs, sonach das diesem mittelbare Urteil bezeichnet sein soll. Ebenso wird für den be- sonderen Fall, dafs Haupt- wie Nebensatz affirmative Qualität aufweisen, die Möglichkeit nicht kurzerhand abzulehnen sein, dafs das eben ausgesprochene Prinzip da und dort einmal auch noch in der Weise eine Ausnahme erleiden könnte, dafs der Hauptsatz auch keine andere Aufgabe hätte, als das im Neben- satze auftretende Urteil, also das dem Objektiv unmittelbare,


1 Ein Fall, der übrigens erstaunlich selten verwirklicht ist. Selbst die hierfür zunächst in Betracht kommende Wendung „ich urteile, dafs . . .“ ist kaum einmal ohne Gewaltsamkeit ihres affirmativen Charakters zu entkleiden.


Das Objektiv und die Annahmen.


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einigermafsen pleonastisch als Affirmation zu charakterisieren. Jedenfalls aber läfst sich im allgemeinen sagen, dafs bei sekun- därem Urteilsausdruck ganz gegen den ersten Anschein den mittelbaren Urteilen gegenüber den unmittelbaren eine deutliche Vorzugsstellung zukommt. Begegnet man also einem ,,dafs‘ - Satze, der vom sekundären Ausdrucke eines Urteils abhängt, so wird man für die weitaus gröfste Zahl der Fälle darauf rechnen dürfen, dafs dieser sekundäre Ausdruck ein Urteil betrifft, das dem durch den „dafs“-Satz ausgesprochenen Objektiv mittelbar ist. Nebenbei mag noch ausdrücklich betont sein, dafs, wenn oben von „Qualität“ des Hauptsatzes die Rede war, es sich na- türlich nicht um die Qualität des darin primär, sondern nur um die des darin sekundär ausgedrückten Urteiles gehandelt hat. Für derlei sekundäre Ausdrücke ist es ja allemal selbstverständ- lich, dafs das in ihnen primär zum Ausdrucke gelangende Urteil nicht anders als affirmativ sein kann : eine Aussage in betreff dessen, was in mir nicht vorgeht, könnte doch nicht wohl für Ausdruck gelten. Das Dargelegte behält seine Geltung, wo es sich nicht, wie in den bisher betrachteten Fällen, um intellektuelle Geschehnisse im Redenden, sondern um solche in Individuen handelt, die nicht der Redende sind. Für die Beziehungen zwischen dem Objektiv und den ihm als unmittel- oder mittelbar zugehörigen Urteilen verschlägt es nichts, ob gesagt wird: „ich glaube, bestreite, dafs“ oder „er glaubt, bestreitet, dafs“ od. dgl. : die Interpretation der hierher gehörigen Aussagen wird also wohl ausnahmslos den oben allgemein formulierten Gesichtspunkten zu folgen haben. Dafs der Gegensatz primären und sekundären Ausdruckes in Fällen der in Rede stehenden Art keine Anwendung mehr hat, braucht nicht besonders bemerkt zu werden.

Man ersieht aus dem Dargelegten, dafs es immerhin, aber doch nur ausnahmsweise, begegnen kann, dafs ein ,,dafs“-Satz nicht ein beurteiltes, sondern ein geurteiltes Objektiv betrifft. Unser Interesse verweilt nun nicht weiter bei diesen Ausnahmen, da es uns im folgenden gerade um die Weise zu tun ist, in der die Objektive zur Beurteilung präsentiert werden.

§ 22 .

Annahmen bei Beurteilungen.

Da alle Beurteilungen am Ende doch eben nur Urteile sind, so gilt auch für sie der Gegensatz von Sein und Sosehr Die


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Beurteilungen von Objektiven sind also entweder Seins- oder So- seinsbeurteil ungen. Jene folgen dem Paradigma: „Dafs A B ist, das ist“, resp. „dafs A ist, das ist“, — diese dem Paradigma : „dafs A B ist, ist C“ resp. „dafs A ist, ist C u . Es hält nun nicht schwer, für beide Typen Ausgestaltungen namhaft zu machen, bei denen die Präsentation des betreffenden Objektivs auf An- nahmen angewiesen ist.

Was vor allem die Seinsbeurteilungen anlangt, so ist ohne weiteres einleuchtend, dafs bei denselben in keinem Falle, wo sie negative Qualität haben, das präsentierende Erlebnis ein Urteil sein kann. Behaupte ich mit Überzeugung, „es ist nicht, dafs A existiert“, so kann ich unmöglich zugleich an die Existenz des A glauben. Das Objektiv, „dafs A existiert“, wird also unter diesen Umständen von mir nicht geurteilt; es kann im Sinne unseres heuristischen Prinzips also nur angenommen sein.

Im Gegensätze hierzu liegt selbstverständlich weder in der Natur, noch im Sinn affirmativer Seinsbeurteilung ein Hindernis, das die Präsentation des Objektivs durch ein Urteil ausschlösse. Ein solches präsentierendes Urteil wird z. B. in der Tat vorliegen müssen, wo jemand seiner Überzeugung davon, dafs A existiert, auf Grund dieser Überzeugung ein bekräftigendes „So ist es“ hinzufügt. Daneben gibt es aber Gelegenheiten genug, bei denen es nächstliegend bleibt, die affirmative Beurteilung nach der Analogie der negativen zu deuten, d. h. als präsentierende Er- lebnisse nicht Urteile, sondern Annahmen in Anspruch zu nehmen, was durch die affirmative Seinsbeurteilung an sich zwar niemals gefordert, ebensowenig aber ausgeschlossen ist. Solche Gleich- behandlung affirmativer und negativer Seinsbeurteilung wird ins- besondere dort am Platze sein, wo die Seinsbeurteilung, wie so häufig, sich als eine Art intellektueller Stellungnahme darstellt.

ich meine Erlebnisse, wie sie sich am deutlichsten dort zu- tragen, wo ein fertiges Urteil gleichsam von aufsen an uns heran- tritt 1 , und wir auf dasselbe nun auch unsererseits mit einem Urteil reagieren, das vermöge seiner Übereinstimmung oder seines Gegensatzes zu jenem ersten Urteil uns zu diesem in die Position des Beistimmens oder Ablehnens bringt, mit der dann emotionale Momente so leicht und so eng verknüpft auftreten können, dals man sich versucht fühlen mag, in derlei aufserintellektuellen

Vgl. auch oben Kap. IV, § 19-


i


Das Objektiv und die Annahmen.


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Begleittatsachen geradezu das eigentlich Charakteristische der Sachlage zu erblicken.

Einfachste Beispiele bieten hierfür die Anwendungen der Wörter „ja“ und „nein“ vor allein dort, wo derjenige, der sie anwendet, eine Meinung oder Ansicht vorfindet in einer Sache, in der auch er sich eine Meinung oder Ansicht gebildet hat oder eben bildet, die mit der vorgegebenen entweder zusammenstimmt oder nicht. Es ist jedenfalls sehr beachtenswert, dafs es gerade diese relative Tatsache des Konsenses oder Dissenses ist, die sich der Aufmerksamkeit der Beteiligten in erster Linie aufdrängt, so dafs zunächst sie zum sprachlichen Ausdrucke gelangt, indes das dieser Relation als ein wesentliches Glied zugrunde liegende Urteil des Redenden zumeist unausgesprochen bleibt. Man kann sich dabei kaum enthalten, der vielen Fälle im menschlichen Zusammenleben zu gedenken, wo wirklich Zustimmung oder Widerspruch für die Beteiligten die Hauptsache, das aber, worauf sich Zustimmung oder Widerspruch bezieht, ganz und gar Neben- sache ist. — Einigermafsen abgeschwächt funktioniert das Ja und Nein dann auch dort, w*o das Vorgegebene nur ein fiktives Ur- teil, sozusagen ein Urteilsversuch, kurz eine jener Fragen ist, aus denen durch das „ja“ oder „nein“ des Gefragten normalerweise erst das fertige Urteil herauswächst. Für den Gefragten ist auch dies eine Stellungnahme, selbst wenn er es dabei statt mit einem wirklichen mit einem blofs fingierten Widerpart zu tun hat.

Es ist nun keineswegs die Frage allein, in der wir uns hier auf den Stoff des vorigen Kapitels zurückgeführt finden. Das, wozu man Stellung nehmen soll, mufs ja vor allem erfafst sein, und dieses Erfassen ist ein Verstehen des zur Stellungnahme Vorgelegten. Wie es vorgelegt ist und ob man die Tatsache des Vorgelegtseins in ihren näheren Bestimmungen (z. B. der, dafs es sich um die ausgesprochene Überzeugung eines anderen handelt) urteilsmäfsig erfafst, das ist ganz unwesentlich für den uns hier wieder zunächst interessierenden Umstand, dafs zur Zeit, da sich diese Stellungnahme vollzieht, jenes Objektiv noch nicht durch ein Urteil gegeben sein kann, weil derjenige, der bereits urteilt, zu einem fremden Urteil über denselben Gegen- stand nicht erst Stellung zu nehmen in der Lage ist, vielmehr schon Stellung genommen hat. Hier ist also, was der „dafs“- Satz ausdrückt, nichts als eine Annahme auch dann, wenn die Stellungnahme übrigens eine zustimmende ist, dcrzufolge von


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Fünftes Kapitel.


nun an auch das der Annahme nächststehende, weil das näm- liche Objektiv erfassende Urteil den Überzeugungen des Stellung- nehmenden ganz gemäfs wäre.

Wenden wir uns nun von den Seins- zu den Soseinsbeur- teilungen, so fällt zunächst in die Augen, dafs die fundamentale Verschiedenheit von Sein und Sosein sich hier erstaunlich verwischen kann, indem es Soseinsbeurteilungen gibt, die wenig anderes als Äquivalente der Seinsbeurteilungen darstellen. Ob ich sage : „es ist, dafs A B ist“, oder „es gilt, dafs A B ist“, verschlägt sicherlich nicht viel; dennoch ist im zweiten Falle vom Objektiv, „dafs A B ist“, die Geltung prädiziert; Prädika- tionen betreffen aber normalerweise das Sosein, nicht das Sein. Aber auch noch andere Wendungen wie „dafs A B ist, ist wahr“ oder „ist gewifs“ usf., stehen der Seinsbeurteilung noch recht nahe. Es ist daher nicht verwunderlich, dafs man auch bei So- seinsbeurteilungen die Annahmen in ganz ähnlicher Weise als präsentierende Erlebnisse funktionierend findet, wie oben für Seinsbeurteilungen gezeigt worden ist. Vor allem beweisend sind auch hier die Soseinsbeurteilungen, die, diesmal vermöge der Natur des Prädikates, präsentierende Urteile ausschliefsen. Finde ich es „widersprechend, unmöglich, undenkbar, dafs A ist“ u. dgl., so kann ich eben darum das betreffende Objektiv nicht urteilen, und dieses mufs durch eine Annahme präsentiert sein. Es sind das im wesentlichen Äquivalente negativer Seinsbeurteilungen. Natürlich ist aber dann auch von den Soseins-Äcjuivalenten affir- mativer Seinsbeurteilungen zu sagen, dafs sich ihre Äquivalenz mit den letzteren ebenso hinsichtlich der Annahmen bewährt, zumal auch in ihnen die oben erwähnte intellektuelle Stellung- nahme sich betätigen wird.

Weiter bringt es aber die so überaus grofse Mannigfaltigkeit dessen, was in Soseinsobjektiven als deren Material seine Stellung finden kann, mit sich, dafs präsentierende Urteile dabei noch in ganz anderer Weise ausgeschlossen sein können. Es kommen da sogar Fälle in Betracht, die im Sinne der Ausführungen des vorigen Paragraphen auf den ersten Blick gar nicht Beurteilungen zu sein scheinen, sofern das sekundär Ausgedrückte nicht die Beurteilung, sondern die Urteilung des im „dafs“-Satze ausge- sprochenen Objektivs ist. Unter den Gesichtspunkt der Soseins- beurteilung fällt dergleichen nämlich immer noch, weil das im


Das Objektiv und die Annahmen.


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vorigen Paragraphen meist aufser acht gelassene primär aus- gedrückte Urteil das sekundär ausgedrückte mit dem im „dafs“- Satze gegebenen Objektiv in einer Weise verbindet, die selbst- verständlich unter den Gesichtspunkt der Soseinsbeurteilung dieses Objektivs fällt. Es ist nun an Fällen von der in Rede stehenden Art eigentlich doch sehr auffallend, dafs in einem Satze wie ,,ieh urteile, dafs A ist“, das im Hauptsatze sekundär ausgedrückte Urteil im Nebensatze ein zweites Mal zum Aus- drucke gelangen mufs, sofern auch dieser nichts anderes auszu- drücken hat, als ein Urteil, — und dafs in einer Aussage wie „ich vermute, dafs A ist“, der „dafs“-Satz, als Ausdruck eines Urteils verstanden, im Vergleich mit dem ungewissen Hauptsatze zu viel besagt. Das läfst mindestens die Frage auf kommen, ob nicht auch da, wo es sonst immerhin nicht sinnlos ist, den „dafs“- Satz als Urteilsausdruck zu verstehen, die Interpretation auf eine Annahme unter Umständen ebenso wohl am Platze sein könnte. Deutlicher hinsichtlich des uns hier interessierenden Anteils der Annahmen ist ein sonst nahe verw T andter Tatbestand, bei dem gleichwohl von sekundärem Ausdruck eines Urteils nicht mehr die Rede sein kann, weil hier der Hauptsatz vielmehr gerade die Aufgabe hat, das Fehlen eines solchen Urteils auszusprechen. Negationen wie „ich urteile nicht“, oder „ich bin nicht davon überzeugt, dafs A ist“, gestatten in dieser Hinsicht kein Mifs- verständnis. Durch das Urteil, das hier ausgesprochenermafsen nicht vorliegt, kann das Objektiv, das ja ebenso ausgesprochener- mafsen vorliegt, unmöglich gegeben sein: was der ,,dafs“-Satz unter solchen Umständen ausdrückt, kann natürlich nichts als eine Annahme sein.

Wie grofs die Verschiedenartigkeit dessen ist, w r as die Sub- sumtion unter den Titel „Soseinsbeurteilung“ gestattet, ersieht man neuerdings an dem Umstande, dafs auch Urteile über Relationen zwischen Objektiven am Ende doch Soseinsbeurteilungen sind. Auch hier kommt den Annahmen eine hervorragend wich- tige Stellung zu; ich will jedoch, auf dieselbe näher hinzuweisen, dem nächsten Kapitel Vorbehalten, weil die dazu erforderlichen Untersuchungen, wenn man sie nicht ihrer natürlichen Zusammen- hänge entkleiden will, das Gebiet der Beurteilungen in einer ganz wesentlichen Hinsicht zu überschreiten zwingen. Wir haben bisher als Fälle intellektuellen Aggredierens eines Objektivs aller-


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dings nur Urteilung und Beurteilung in Betracht gezogen . 1 Es darf aber nicht übersehen werden, dafs man Objektive auch in der Weise aggredieren kann, dafs man sie in irgend eine intellek- tuelle Operation einbezieht, die keinen Urteilsfall darstellt. Das findet in der Tat statt, wenn man etwa aus einem Objektiv auf ein anderes schliefst, eine Operation, die den eben erwähnten Urteilen über Relationen von Objektiven so nahe steht, dafs es nicht immer leicht ist, sich vor Verwechslungen zu hüten. Es empfiehlt sich darum, den Anteil der Annahmen an diesen beiden miteinander so eng verbundenen Betätigungsweisen auf einmal zu untersuchen.

Sehen wir aber auch einstweilen von dem ab, was in dieser Hinsicht im nächsten Kapitel noch zu ermitteln sein wird, so läfst sich auch schon jetzt zusammenfassend sagen: Wo Objektive beurteilt werden, kann man allerdings durchaus nicht etwa be- haupten, dafs der Denkakt, durch den das Objektiv der Beurtei- lung gleichsam dargeboten wird, niemals ein Urteil sein kann. Aber die Natur des das Objektiv mittelbar erfassenden Urteils bringt es nicht selten mit sich, dafs mit diesem Urteil ein dem Objektiv unmittelbares Urteil als Überzeugung desselben Subjektes unverträglich ist. Aufserdem kommt es häufig vor, dafs ein Subjekt, das das mittelbare Urteil fällt, sich in betreff eines dem Objektiv unmittelbaren Urteils Überzeugungsfreiheit mufs wahren dürfen oder -sie tatsächlich wahrt. Jedesmal hat man es dann mit Objektiven zu tun, die der Beurteilung nur durch eine An- nahme gegeben sein können.


§ 23 .

„Urteile auf Kündigung“. Die „bewufste Selbst- täuschung“.

Es gibt zwei Gesichtspunkte, unter denen man versuchen kann, den im obigen beigebrachten Nachweis des Anteils der Annahmen am intellektuellen Leben zu entkräften : entweder man spricht auch den Vorstellungen die Fähigkeit zu, Objektive zu präsentieren, oder man nimmt als präsentierende Erlebnisse auch dort Urteile in Anspruch, wo uns diese durch die Beschaffenheit der psychischen Sachlage ausgeschlossen erschienen. Wie wenig die beiden in Rede stehenden Betrachtungsweisen mir zur Zeit der

1 Aufserdem natürlich auch Annahmen, aber diese doch nur als Folgen jener.


Das Objektiv und die Annahmen.


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Abfassung der ersten Auflage dieser Schrift unbekannt waren, lassen die in dieser Hinsicht unverändert in die gegenwärtige Auflage herübergenommenen Ausführungen des vorigen Kapitels 1 er- kennen. Dennoch wurden sie mir beide entgegengehalten, als hätte ich ihrer nie gedacht 2 und auch meiner neuerlichen Ab- lehnung 3 gegenüber wieder geltend gemacht. Daraufhin ist von der Eventualität des Vorstellens von Objektiven bereits oben 1 nochmals die Rede gewesen ; die andere Eventualität, es könnten dort doch immer noch Urteile vorliegen, wo sie uns oben aus- geschlossen schienen, soll nun hier gewissermafsen anhangsweise nochmals erwogen werden.

Es ist nicht meine Schuld, dafs der Autor, der sich der von mir abgelehnten Position neuerdings annimmt, für sie das wenig einnehmende Schlagwort „Urteile auf Kündigung“ geprägt hat. Er meint damit „ein Urteilen oder Glauben . . . , nur nicht ein derart alleinherrschendes, ,dafs ihm die volle und dauernde Entkräftung der entgegenstehenden kritischen Urteile gelänge 4 und welches infolgedessen auch nicht dazu komme, ,sich nach jeder Richtung und namentlich auch nicht nach der praktischen völlig geltend zu machen “ 1 . 5 Von solchen logischen resp. prak- tischen Konsequenzen abgesehen, erfassen wir also den Roman wie einen glaubwürdigen Bericht und das Drama wie eine wirk- liche vor unseren Augen sich zutragende Begebenheit. Es be- tätigt sich darin der Einfluls unseres Fühlens und Begehrens auf unser Urteilen, und es steht uns jederzeit frei, diesen Einflufs sozusagen wieder zu sistieren und so wieder in den gewöhn- lichen, durch Umgebung und Vergangenheit bestimmten Über- zeugungszustand zurückzukehren.

Die so skizzierte Auffassung will nicht alle Annahmefälle treffen, schliefst sogar z. B. Annahmen zum Zwecke eines mathe- matischen Beweisverfahrens ganz ausdrücklich aus . 6 Ihr nächstes Anwendungsgebiet wird vielmehr das der Kunst sein sollen, und insofern wäre für eine Stellungnahme dazu das vorige Kapitel der geeignetere Ort gewesen. Aber andererseits pafst die Er- wägung der dieser Ansicht zugrunde liegenden psychologischen Position doch besser in den gegenwärtigen, bereits theoretischeren Intentionen dienenden Zusammenhang. Auch ist es von Wert, hier sofort unmittelbar zu ersehen, dafs die speziell im vorigen Paragraphen behandelten elementaren Fälle einer Umdeutung im Sinne der in Rede stehenden Auffassung nicht wohl zugänglich sein werden.

Befragen wir nun also die Empirie nach diesen „Urteilen auf Kündigung“ bei Roman oder Drama, so werden wir die Fälle,

1 Insbesondere oben S. 127 1

2 Von A. Marty, „Über , Annahmen' “, Zeitschrift f. Psychol. 40, S. 33 u. 41 ff., sowie 48 ff.

3 >d n Sachen der Annahmen“, Zeitschrift f. Psychol. 41 , S. 9 ff.

  • Vgl. §20.

A. Marty, „Untersuchungen usw.“ S. 260f.

8 A. a. 0. 8. 265.


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Fünftes Kapitel.


wo der Leser den Roman für einen glaubwürdigen Tatsachen- bericht n imm t oder der Zuschauer nicht weifs oder vergessen hat, dais er sich im Theater befinde, natürlich sofort ausscheiden dürfen. W ie häufig oder selten sie Vorkommen mögen, es sind Fälle, wo nicht „auf Kündigung“ geurteilt wird, sondern höch- stens auf die Eventualität hin, eines Besseren belehrt zu werden; es liegt da also ein Urteilen vor, das zwar irrig, im übrigen aber von gewöhnlichem Urteilen in keiner Weise verschieden ist. Ver- suche ich nun aber weiter den normalen Sachverhalt nach meinen eigenen Erlebnissen zu charakterisieren , die für unnormal zu halten ich keinen Grund habe, so ergibt sich einfach folgendes: Ich habe, seit ich solchen Dingen überhaupt Beachtung zuwende, nie direkt wahrgenommen und mich auch nie daran erinnern können, geglaubt, d. i. geurteilt zu haben. Das gilt insbesondere auch von Gelegenheiten, wo ich mir mitten während des Ver- haltens zu einem Produkt „redender“ Kunst auf fremdes Be- fragen oder auf Grund wie immer veranlafster Selbstbesinnung vom Charakter des unmittelbar vorher Erlebten Rechenschaft zu geben, versuchte eine Rechenschaft, die, nebenbei bemerkt, zwar den Eindruck, nicht aber das intellektuelle Verständnis des eben Dargebotenen beeinträchtigt hat. Von Wertgefühls- und Begehrungsreaktionen, wie sie sich einem Geglaubten oder gar zugleich für gegenwärtig Genommenen gegenüber unfehlbar ein- gestellt hätten, ist niemals etwas zu bemerken gewesen. Darf resp. mufs ich mich, solange genauere analytische und statistische oder noch besser experimentelle Untersuchungen in dieser Sache nicht vorliegen, eben an meine eigenen Erfahrungen halten, so erwächst daraus in erster Linie die Frage: woher nimmt man eigentlich das Recht, innerhalb des in Rede stehenden Gebietes überhaupt von Urteilen zu sprechen und ihnen dann, um den Konflikt mit der Erfahrung zu mildern, das seltsame Attribut „auf Kündigung“ beizulegen? Diese, natürlich unbewufste, Milderungstendenz scheint sich dabei freilich schon in der oben wiedergegebenen Beschreibung jener „Urteile“ Geltung verschafft zu haben. Denn dafs ihnen nur die Eignung zur „vollen und dauernden Entkräftung“ entgegenstehender Kritik, und auch nicht mehr als die Fähigkeit fehle, sich „in jeder Hinsicht“ und nament- lich praktisch „völlig“ geltend zu machen, scheint den Tatsachen gegenüber .doch recht schonend ausgedrückt.

Aber macht es, die Frage soll hier doch nicht unaufgeworfen bleiben, wirklich einen so grofsen Unterschied im psychischen Verhalten, ob man die politischen oder Lokalnachrichten einer Zeitung liest, oder andererseits die Romanbeilage oder das belle- tristische Feuilleton? Im allgemeinen meine ich wirklich bei solchem Wechsel den Ruck zum Zwecke der Neueinstellung deutlich zu spüren, — besonders deutlich, wenn man etwas eine Weile als Tatsachenbericht nimmt und dann erst durch das darin Enthaltene darauf geführt wird, dafs es sich da nur um eine Erdichtung handeln könne. Nur gibt es hier zwei Momente, durch die die Verschiedenheit dessen, was ich eben die Einstellung



Das Objektiv und die Annahmen.


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o-enannt habe, einigermafsen der Aufmerksamkeit verschleiert wird. Das eine ist dies, dafs man ja Zeitungsberichten durchaus nicht immer glaubend, d. i. urteilend gegenübersteht, von dem Urteil etwa abgesehen, dafs eben dies oder jenes in der Zeitung steht. Hier ist das Verstehen mit suspendierter Überzeugung eben selbst schon Annehmen, und dann wird begreiflicherweise die Reaktion auf das, was über und das, was unter dem „Strich“ steht, keine sonderlich verschiedene sein können. Das andere aber liegt in dem Umstand, dafs Erdichtetes unser Interesse zwar anders aber leicht zugleich auch stärker in Anspruch nehmen kann als Berichtetes: es kommt ja dabei so aufserordentlich viel auf die Weise an, wie uns etwas dargeboten wird. Wer nun etwa meint, Geurteiltes müsse dem Ungeurteilten an Interesse jeden- falls überlegen sein , kann leicht auf diesem indirekten Wege dazu geführt werden, dort Urteile zu agnoszieren, wo sie in Wahrheit eben doch fehlen.

So hat der Appell an die „Urteile auf Kündigung“, soweit das dadurch zu erhellende Tatsachengebiet in Betracht kommt, nicht nur nicht den Charakter einer Beschreibung beobachteter Geschehnisse, sondern die Hypothese ist der Empirie so fremd, dafs man billig zweifeln darf, ob in ihr auch nur die herkömm- lich an die „vera causa“ gestellten Anforderungen erfüllt sind. Dem Mangel soll abgeholfen werden durch Berufung einerseits auf die schwankende Natur mancher Urteile namentlich in Kon- fiiktsfällen , andererseits auf die Bestimmbarkeit unserer Über- zeugung durch emotionale Momente. Es wäre ein geringer Ge- winn, wenn so eine Unangreifbarkeit resultieren sollte, die im Grunde auf die besondere Dunkelheit anderer Materien zurück- zuführen wäre ; und ohne Zweifel gehören die beiden eben nam- haft gemachten Punkte zu den ungeklärtesten der Psychologie. Aber soviel, scheint mir, läfst sich doch leicht erkennen, dafs der Sache der „Urteile auf Kündigung“ von dieser Seite her keine nennenswerte Stütze erwächst.

Was zunächst die schwankenden Überzeugungen anlangt, so gibt es deren ja ohne Zweifel, namentlich dort, wo die verfüg- baren Gründe nur für Vermutungen ausreichen, das Urteil aber demungeachtet sozusagen voreilig zur Höhe voller Gewifsheit emporsteigt. Da kann dann nachträgliche Überlegung oder sonstiges Inspieltreten neuer Urteilsmotive zu einem eventuell kaum weniger voreiligen Umschlag ins Gegenteil führen. Solches mag sich in der Tat besonders häufig zutragen, wo Gründe oder auch nur Urteilsmotive für und gegen miteinander in Konflikt treten. Aber was hat derlei oder sonstiges Schwanken unserer Meinungen mit den Erlebnissen bei Roman oder Drama zu tun? Entweder man verkennt die wahre Situation und glaubt an das, was man liest oder hört; dann mag man durch die umgebende Wirklichkeit oder sonstwie bald eines Besseren belehrt werden und den voreiligen Glauben aufgeben. Oder, was die Regel ist, man glaubt von allem Anfang an nicht, und dann ist zu


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Fünftes Kapitel.


Schwankungen natürlich überhaupt nicht die geringste Gelegen- heit. 1

Nun soll es sich hier aber um Schwankungen handeln, die auf emotionale Einflüsse zurückgehen. Es ist weiter als billig ausgeholt, dafür alten und neuen Voluntarismus zum Zeugen anzurufen: indes sind solche Einflüsse durch die bedeutsamsten, historisch denkwürdigsten Ereignisse auf religiösem und ethischem Gebiete nicht minder als durch tausend kleine Begebenheiten des Alltagslebens verbürgt. Nur haftet all diesen Tatsachen eine eigentümliche Unvernünftigkeit an, wie ich in Ermanglung aus- reichender Klarheit über derartige Erlebnisse meine sagen zu dürfen, — natürlich keine Unverträglichkeit im logischen Sinne, aber etwas derselben einigermafsen Ähnliches, dessen eigentlicher Charakter erst festgestellt werden mufs, aber auch schon in seiner Unanalysiertheit dem Aufmerksamen nicht leicht entgehen wird. Davon ist jedoch im Verhalten zu den redenden oder auch anderen Künsten nicht das Geringste zu entdecken; aufserdem ist aber gar nicht abzusehen, wo die Emotionen herkommen könnten, die da ihren Einflufs ausüben sollen. Wir werden frei- lich auf ästhetische Gefühle verwiesen 2 3 ; aber solche können sich doch erst als Reaktion auf die Wirkungen des Kunstwerkes geltend machen, somit nicht eher als bis man im Romane erst eine Weile gelesen, die Handlung des Dramas erst eine Weile verfolgt hat. Die hierzu erforderliche Aufnahmefähigkeit mufs der Leser oder Zuschauer natürlich auch schon für einen solchen Anfang mitbringen ; und erfahrungsmäfsig ist für sie normaler- weise ohne weiteres gesorgt, sobald man das Buch zur Hand nimmt oder den Vorhang aufgehen sieht. Was aber in diesem sozusagen noch emotionsfreien Anfangsstadium erlebt wird, kann dann doch nicht wohl in „Urteilen auf Kündigung“ bestehen, sondern entweder in gewöhnlichen Urteilen oder eben überhaupt nicht in Urteilen, sondern in Annahmen. Und dafs diesem An- fangsstadium dann irgend einmal ein Stadium charakteristisch verschiedenen Verhaltens folgte, darüber fehlt meines Wissens jede Erfahrung.

Es darf hinzugefügt werden, dafs etwas wie „Urteile auf Kündigung“ auch dort schwerlich anzutreffen ist, wo sonst emotionale Einwirkungen auf das intellektuelle Leben tatsächlich zu konstatieren wären. So wird meine Behauptung, dafs das doch Urteile von ganz ungewöhnlicher Beschaffenheit sein müfsten a , wohl aufrecht bleiben. Was dann wahrscheinlicher ist, so seltsame Urteile, oder Affirmationen resp. Negationen, die


1 Dafs zu Konflikten meist jeder Anlafs fehlt, darauf habe ich schon in meiner Entgegnung auf Mahtys ersten Angriff hingewiesen, vgl. „ln Sachen der Annahmen“, Zeitschrift f. Psychol. 41 , S. 12. Marty konstatiert fliesen Einwand („Untersuchungen“ S. 263), aber ohne, soviel ich sehe, seine Entkräftung auch nur zu versuchen.

2 A. Marty, „Untersuchungen“ S. 263.

3 „In Sachen der Annahmen“ Zcitschr. /. Psychol. 41 S. 12.


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nicht Urteils- sondern Annahmecharakter haben 3 , das mag immer- hin „vorgängig“ manchem schwer zu entscheiden sein. Die Ent- scheidung wird aber dadurch leicht, dafs es Annahmen auch dort gibt, wo selbst Marty, wie berührt, auf die „Urteile auf Kündigung“ nicht rekurrieren zu sollen meint 1 2 , indes diese „Ur- teile“, wenn das eben Dargelegte richtig ist, nirgends empirisch belegt sind, als Hypothese aber nur darin ihre Beglaubigung suchen könnten, dals sie in einigen, aber eben keineswegs in allen Fällen die Annahmen zu ersetzen imstande wären.

Immerhin möchte ich zum Schlüsse dieser der selbstver- teidigenden Kritik gewidmeten Ausführungen nicht unerwähnt lassen, dafs es eine in den letzten Jahren mit Hecht vielbeachtete Kunstauffassung gibt, von der sich der Gedanke der „Urteile auf Kündigung“ besonders günstige Anknüpfungspunkte erwarten könnte. Ich meine K. Langes Theorie der „bewufsten Selbst- täuschung“. Dabei kommt es am wenigsten auf diese Benennung selbst an, die freilich deutlich genug das Urteil zu implizieren scheint, von der aber ihr Urheber sehr wohl weifs 3 , dafs sie, beim Worte genommen, eigentlich etwas ganz Unmögliches be- sagt. Aber das Nebeneinander der „illusionerregenden“ und der „illusionstörenden Elemente“ 4 * , sowie die dadurch gegebene Mög- lichkeit, sich bald jenen, bald diesen zuzuwenden, scheint ..eine Konstellation darzubieten, die dem eben besprochenen Über- zeugungswechsel doch in unerwartetem Mafse günstig sein müfste. K. Lange selbst scheint sich die Sache freilich kaum in der Weise der „Urteile auf Kündigung“ zu denken, wenigstens be- tont er gelegentlich recht nachdrücklich, „dafs nicht nur eine wirkliche Täuschung, sondern schon der Versuch einer solchen oder eine Annäherung an denselben in der Kunst unberechtigt ist “. 0 Aber es wäre sicher unbillig, von der psychologischen Exaktheit des Kunsthistorikers mehr zu verlangen, als dieser etwa dem kunsttechnischen Verständnis des „Philosophen“ zuzu- trauen für ratsam hält 6 , und so kann ich mich der Pflicht nicht für überhoben erachten, kurz zu begründen, warum ich auch den von Lange herangezogenen Tatsachen gegenüber dem Appell an die „Urteile auf Kündigung“ nicht stattgeben kann.

Von den beiden Hauptgründen, die mich dazu bestimmen, richtet sich der eine immerhin einigermafsen gegen den Autor der Illusionstheorie selbst. Ich glaube nämlich nicht an die ob- ligatorische Zweiseitigkeit der Kunsterlebnisse, so wenig glaube ich daran, dafs ich alle Gedanken darüber, ob es der Künstler gut oder übel gemacht hat, welche Mittel er dazu angewendet hat usf., für durchaus kunstfremd halte. Das Bekenntnis mag


1 So A. Marty a. a. 0. S. 261.

2 Vgl. a. a. 0. S. 265 Zeile 10 v. o. ff.

  •  »t>as Wesen der Kunst“, 2. Aufl., S. 262.

4 A. a. 0. S. 253.

f ’ A. a. 0. S. 271.

0 A. a. 0. S. 283.


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Fünftes Kapitel.


ganz persönlich verstanden werden; ich weifs auch, dafs Lange diesen Standpunkt als den des Laien \ vielleicht sogar des „pedantischen Gelehrten“ oder „soliden Spiefsbürgers “ 2 nicht gerade hochschätzt: ich weifs aber auch, dafs das Höchste, was mir die Kunst in meinem Leben geboten hat, von jeder Doppel- seitigkeit frei war. Auch gibt es eine Kunst, deren Praxis und Theorie ich nahe genug zu stehen hoffe, um mich in dieser und jener Hinsicht in die Lage des schaffenden Künstlers hinein- phantasieren zu können; und daraufhin glaube ich mit guter Zuversicht versichern zu dürfen, dafs ich mich niemandem gegen- über als Künstler so verraten und verlassen fühlen würde als dem Kunstverstande einer blofs kunstverständigen Kritik gegen- über. Auch dies ist ganz subjektiv gemeint und mag angesichts der Autoritäten, die Lange für sich in Anspruch zu nehmen in der Lage ist, wenig genug in Frage kommen. Tatsache aber und insofern frei von aller Subjektivität ist dies, dafs das Kunstwerk bei vielen Geniefsenden in der Regel nur die eine, gleichviel wie laienhafte Verhaltungs weise auslöst, in bezug auf die dann ohne weiteres alles in Kraft tritt, was oben bereits gegen die „Urteile auf Kündigung“ eingewendet worden ist.

Dasselbe gilt nun aber auch, und das ist mein zweiter Ab- lehnungsgrund, am Ende unter Voraussetzungen, die der von Lange postulierten Zweiseitigkeit so günstig als möglich gedacht werden mögen. Tatsache der Erfahrung bleibt eben auch dann, ,.dafs man sich beim normalen Kunstgenufs in keinem Augen- blick wirklich täuschen läfst“ 3 , und hier bietet unser Verhalten zu der „illusionstörenden“ Wirklichkeit sogar besonders günstige Gelegenheit, sich durch den Kontrast klar zu machen, wie es einem beim urteilenden und wie beim urteilslosen Erfassen von Objektiven zumute ist, das dann am Ende eben doch ein an- nehmendes Erfassen wird sein müssen. Dafs eine solche Auf- fassung der Durchsichtigkeit und Geschlossenheit auch der Lange- schen Positionen nur zu statten kommen könnte, ist bereits von anderer Seite 4 hervorgehoben worden.


§ 24 .

Emotional aggr edierte Objektive.

Wir sind dem Anteile der Annahmen am Erfassen der Ob- jektive bisher nur auf dem intellektuellen Gebiete nachgegangen. Nun sind aber die Annahmen in hervorragend bedeutsamer Weise auch an unserem emotionalen Leben beteiligt, und zwar


1 A. a. 0. S. 282.

2 A. a. 0. S. 274.

a A a 0. S. 276.

  • Von A. Möllkk in dem bereits oben S. 129 angeführten Aufsatze

über „Langes ,bewufste Selbsttäuschung 1 und Meinongs „Annahmen .


Das Objektiv und die Annahmen.


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wieder als Erfassungsmittel für die Objektive. Auch auf diese Seite der Annahmetatsache müssen wir im gegenwärtigen Kapitel kurz eingehen, zu diesem Ende jedoch, wenigstens notdürftig, eine Lücke ausfüllen, die bei der ersten Betrachtung des Ob- jektivs im dritten Kapitel nicht hat vermieden werden können. Zwar galten damals unsere Untersuchungen zu Anfang dem Ob- jektiv als einem Pseudoexistierenden 1 , nämlich dem erfafsten Objektiv als solchem; aber eben darum, weil ja das Erfassen eine zunächst intellektuelle Operation ist, lag es nahe, die Sphäre des Intellektuellen bei diesen ersten Untersuchungen nicht zu überschreiten. Wollen wir jetzt die Annahme auch einigermafsen ins emotionale Gebiet hinein verfolgen, so müssen wir vor allem das oben Versäumte wenigstens in der Weise nachholen, dafs wir uns durch einige flüchtige Blicke von der Wichtigkeit der Rolle überzeugen, die dem Objektiv auch dem Fühlen und Begehren gegenüber zukommt. Auch hier leisten namentlich Fälle sekun- dären Ausdruckes gute Dienste.

Was zunächst die Gefühle anlangt, so braucht man bei deren sekundärem Ausdrucke nach den das Objektiv verratenden ,,dafs“- Sätzen nicht eben lange zu suchen. Bei sinnlichen Gefühlen freilich wird man keine Objektive erwarten: um so häufiger begegnet man indes solchen schon bei ästhetischen Gefühlen. Völlig natürlich mag etwa jemand mit Bezug auf den ersten Teil von Björnsons Drama „Über unsere Kraft“ sagen: „Es mifsfällt mir, dafs Pastor Sang dem tragischen Ende seiner Frau zuerst nichts entgegenzustellen hat als das naive Erstaunen über eine Art Mifsverständnis“. Ebenso sind Wendungen wie „es gefällt mir, erhebt mich, rührt mich, dafs . . . u. dgl. durchaus am Platze. Das durch Beispiele noch weiter zu belegen, ist völlig entbehrlich, nachdem im Vorangehenden schon so viel von Kunst- •erlebnissen die Rede war. Bisher kamen diese freilich nur nach ihrer intellektuellen Seite in Betracht; aber die bei den be- sprochenen Gelegenheiten intellektuell zu erfassenden Gegenstände stellen sich nun auch als Gegenstände unseres emotionalen Ver- haltens zur Kunst dar. Ob dann die betreffenden Objektive 2 als „ästhetische Gegenstände“ und vollends als eigenartige „ästhetische Elementargegenstände“ im strengen von St. Witasek


1 Vgl. oben 8. 59.

2 Vgl. 8t. Witasek, „Grundzüge der allgemeinen Ästhetik“, S. 53 ff.

-Meinong, Über Annahmen, 2. Aufl. 11


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Fünftes Kapitel.


geprägten Sinne 1 anzusprechen sind, ist für den gegenwärtigen Zusammenhang kaum von Belang. Auf diese Frage selbst kommen wir weiter unten 2 kurz zurück: aber jedenfalls hat auch Witasek die Bedeutung der Objektive im Gebiete der ästheti- schen Erlebnisse nicht in Abrede gestellt, vielmehr nachdrücklich hervorgehoben, und nur von dieser Bedeutung ist ja im gegen- wärtigen Zusammenhänge die Rede. In ganz unverkennbarer Direktheit den Objektiven zugewendet sind nun aber die Urteilsgefühle 3 und zwar schon einigermafsen die Wissens- gefühle : wer etwa zu erstem Einblick in die moderne Mikrobenlehre gelangt, mag leicht finden, es interessiere ihn,, dafs der gegenwärtige Stand des Wissens und Könnens in dieser Sache die Vollkommenheit unserer optischen Hilfsmittel zur unerläfslichen Voraussetzung habe. Namentlich aber drängen sich hier die Wertgefühle der Beachtung auf, die ja natürlichst in Wendungen zum Ausdruck gelangen wie „ich freue mich,, bedauere, fürchte, hoffe, dal's . . . usw. Man wird hier geradezu behaupten müssen, dafs dem Grundtatbestande aller Wertgefühle,, der Werthaltung, eine Beziehung zu einem Objektiv jederzeit ganz wesentlich anhafte. Wertgefühle sind Existenzgefühle 4 : darin liegt eigentlich schon beschlossen, dafs das Wertgefühl sich zunächst nicht irgend einem Ding, sondern der Existenz 5 '


1 A. a. 0. S. 35.

2 Vgl. Kap. IX, § 55.

3 Über diesen Begriff vgl. meine „Psychologisch -ethischen Unter- suchungen zur Werttheorie“, S. 31 ff. und insbesondere „Über Urteilsgefühle, was sie sind und was sie nicht sind“, im Archiv f. d. ges. Psychologie, 6,. S. 22 ff.

4 Eine ebenso interessante als lehrreiche Diskussion dieses Funda- mentes meiner wertpsyehologischen Aufstellungen bringt jetzt W. G. Urban, „Valuation, its nature and laws. An introduction to tlie general theory of value“, London 1909, besonders S. 41 ff. Doch mufs ich mir ein Eingehen hierauf an der gegenwärtigen Stelle versagen.

» Unter „Existenz“ ist dabei natürlich, wie normalerweise auch sonst immer, „tatsächliche Existenz“ zu verstehen. Dafs es sich ferner nicht nur um die Existenz eines Soseienden, sondern ebenso um das Sosein. eines Existierenden handeln kann, habe ich berührt in „Über Urteils- gefühle usw.“ a. a. 0. S. 36; vgl. übrigens unten § 55. Der Eventualität eines Übergreifens über das Existentialgebiet hinaus, gedenkt mit Recht B. Rüsseli, („Meinong’s theory of complexes and assumptions“, II, Mmd r N. S., 18, S. 352 Anm.). Der Bereich des Objektivs wird natürlich durch keine dieser Erweiterungen der Betrachtungssphäre verlassen.


Das Objektiv und die Annahmen.


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dieses Dinges zuwendet, was ganz unverkennbar in dem Um- stande zur Geltung kommt, dafs dasjenige, worauf Wert gelegt wird, statt der Existenz einmal auch Nicht-Existenz des betreffen- den Dinges sein kann. Man darf sich an dieser Einsicht nur nicht dadurch irre machen lassen, dafs beim Ausdrucke von Werthaltungen durchaus nicht immer „dafs“-Sätze in Verwendung sind. Ich kann ganz wohl sagen, „ich lege Wert auf dieses Buch“, wo genauer zu sagen wäre: „ich lege Wert darauf, dafs ich dieses Buch besitze“; und dies ist vielleicht nicht einmal blofse Ungenauigkeit, wie bei manchen früher erwähnten 1 Fällen aus dem Erkenntnisgebiete. Denn es könnte ja sein, dafs das Objektiv dann auch eine Relation zwischen seinem Objekte und dem Wertgefühl stiftet, und dafs, was man ohne Unterschied „Wertobjekt“ nennt, ohne genauere Differenzierung bald das Objektiv, bald dessen Objekt bedeutet . 2 In anderen Fällen ist es nicht einmal nötig, diese Möglichkeit ins Auge zu fassen, weil da der „dafs“-Satz nur durch Wendungen ersetzt ist, die uns als Äquivalente desselben bereits bekannt sind. Statt „ich lege den gröfsten Wert darauf, dafs meine Schüler selbständig denken“, kann ich freilich sagen: „ich lege den gröfsten Wert auf das Selbstdenken meiner Schüler“ oder auch auf deren „Selbständig- keit“ oder dgl. Aber was bei solcher Redeweise zur Geltung kommt, sind eben jene Verbalsubstantive und grammatischen Abstrakta, über deren Bedeutung wir oben bereits ins klare ge- langt sind . 3 Anders steht es, wie vielleicht nebenbei bemerkt zu werden verdient, mit Wendungen wie „ich liebe, verehre, achte, schätze ihn“ u. dgl., wo offenbar ,,dafs“-Konstruktionen ohne Ge- waltsamkeit nicht anzubringen wären. Auch den hier zum Aus- drucke gelangenden psychischen Erlebnissen liegen ohne Zweifel Wertgefühle zugrunde: aber gerade die erwähnte Ausdrucks- eigentümlichkeit wird als Hinweis darauf zu beachten sein, dafs es sich da nicht nur um Wertgefühle handelt.

Was eben von den Wertgefühlen dargelegt wurde, gilt womöglich in noch augenfälligerer Weise von den Begehrungen und zwar, so viel ich sehe, von allen Begehrungen. Die vielfach auffällige Analogie zwischen Urteilen und Begehren kommt auch


1 Vgl. den Anfang des § 10, S. 54 f.

2 Näheres hierüber in „Über Urteilegefühle usw.“ a. a. 0. S. 31 f.

3 Vgl. § 10, S. 56 ff.


11 *


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darin zur Geltung, dafs jedes Begehren so gut wie jedes Urteil sein Objektiv hat. Wie man nicht urteilen kann, ohne über etwas zu urteilen, so kann man auch nicht begehren, ohne etwas zu begehren, und in diesem Falle heilst dies genauer, ohne zu begehren, dafs das betreffende Etwas existiere oder dafs es nicht existiere, dafs es so und so beschaffen oder dafs es nicht so be- schaffen sei . 1 Daneben gibt es auch hier wieder sprachliche Wendungen, denen der „dafs“-Satz fehlt: das Kind verlangt den Apfel, der Erwachsene sehnt sich nach Glück u. dgl. Aber auch da sind die im Vorhergehenden nun schon mehrfach bewährten Interpretationen am Platze. Vor allem mag es wieder oft genug begegnen, dafs der ,,dafs“-Satz nur durch eines jener Verbal- substantive resp. grammatischen Abstrakta ersetzt ist, die uns als Äquivalente jener Sätze bereits ausreichend bekannt sind, von Infinitivkonstruktionen wie „ich will das Interesse der Gesamtheit nicht aufser acht lassen“ gar nicht zu reden . 2 Ist, wie bei den obigen Beispielen vom Kinde und vom Erwachsenen, solche Auf- fassung ausgeschlossen, so ist dies doch keineswegs so zu deuten, als hätte man da Begehrungen ohne Objektiv vor sich. Davon überzeugt man sich am einfachsten durch die Erwägung, dafs ein Begehren, dem nur das Vorstellungsobjekt Apfel oder Glück gegenüberstände, für die Praxis noch genau so unbestimmt wäre als eines, bei dem erst ausgemacht werden müfste, ob es sich um Begehren oder Widerstreben, spezieller also etwa um „veile“ oder „nolle“, Wollen oder, wie man als Gegensatz dazu ungenau sagt, Nicht- Wollen handle. Ich meine nämlich zwar durchaus nicht, dafs etwa jedes Widerstreben als Wollen einer Nicht-Existenz aufzufassen wäre 3 : das Widerstreben ist dem Streben oder Be-


1 Vgl. auch Ehrenfels, „System der Werttheorie“, Bd. I, S. 53 unten. Ich betone die Übereinstimmung in dieser wichtigen Sache um so lieber, als ich weiter unten gezwungen sein werde, bei Divergenzen in betreff anderer Punkte der Begehrungstheorie länger zu verweilen.

2 Eine Art Widerspiel zu den fehlenden „dafs“-Sätzen machen die Fälle aus, wo solche Sätze oder etwas ihnen ausreichend Ähnliches zwar vorliegt, das Begehren aber den Worten nach ganz verschwiegen bleibt und nur aus der Konstruktion, genauer aus der Verbindung unseres abhängigen Satzes mit einem zunächst etwas ganz anderes als das Begehren aus- sprechenden Hauptsatze erkannt werden kann. So verhält es sich bei finalen Wendungen mit „auf dafs“, „damit“ u. dgl.

Gegen Ehrenfels, insbesondere in der Vierteljahr sschrift f. wmensch. Fhilos., Jahrg. 1899, S. 278 ff., dessen Ausführungen gegenüber ich meine


Das Objektiv und die Annahmen.


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gehren gegenüber so qualitativ verschieden, d. h. ebenso entgegen- gesetzt und qualitativ eigenartig, wie Unlust gegenüber Lust oder Negation gegenüber Affirmation. Sollte aber die Aussage „ich begehre X “ gar nichts anderes auszudrücken haben als ein Be- gehren, das auf X als seinen Gegenstand 1 bezogen ist, dann kann sie ebensowohl besagen, dafs es dem Begehrenden um die Existenz, wie dafs es ihm um die Nicht-Existenz des X zu tun sei . 2 In beiden Fällen ist das Begehren auf X als seinen Gegen- stand bezogen; das eine Mal aber käme dabei ein Tatbestand zum Vorschein, der mit einem gleichfalls auf das X bezogenen Widerstreben seiner praktischen Bedeutung, wenn auch nicht seinem psychologischen Wesen' nach zusammenfiele. Kurz, ist die Wendung „ich begehre X“ in der Regel nicht mifsverständ- lich, so ist das im Grunde nur dem besonderen Sprachgebrauch e beizumessen. Streng genommen mtifste jedesmal ganz ebenso bestimmt werden, ob das Begehren auf die Existenz oder die Nicht-Existenz des X gerichtet ist, w T ie es ins Reine gebracht sein mufs, ob das Begehren sozusagen positives oder negatives Vorzeichen hat.

Natürlich fehlt es nun ganz in ähnlicher Weise wie beim Urteil auch bei Gefühlen und Begehrungen nicht an Attributen, die sich auf sie beziehen, zunächst aber den betreffenden Objek- tiven zuzuerkennen sind. „Es ist schön, erfreulich, bedauerlich, verdriefslich, interessant, wertvoll, wichtig, dafs . . .“ usw. „Es ist geraten, geboten, willkürlich, unabweislich, dafs . . .“ usw. Es braucht kaum beigefügt zu werden, dafs die erste der eben


Positionen in den „Psychologisch -ethischen Untersuchungen zur Wert- theorie“ S. 123 aufrecht erhalten mufs ; vgl. auch PI. Schwarz, „Psychologie des Millens , Leipzig 1900, S. 160 ff. Nicht einmal in dem von Ehrenfels


(a. a. 0. S. 280 f.) als besonders schlagend angesprochenen Falle des Be- gehrens nach einem Gegenmittel kann ich einsehen, dafs man da ein Be- gehren nach Nichtsein vor sich haben müfste, so dafs ein Widerstreben


gegen das Sein ausgeschlossen wäre. Begehren nach einem Zweck motiviert Begehren nach den Mitteln und Widerstreben gegen die Hindernisse: varum sollte nicht Widerstreben gegen den Zweck nebst dem Widerstreben


gegen die Mittel auch Begehren der Hindernisse motivieren?

Das Wort „Gegenstand“ natürlich in jenem weiteren Sinne ge- nommen, in dem auch ein vorgestelltes Objekt Gegenstand eines darauf bezüglichen Urteils heifsen kann (vgl. oben § 8), S. 43 f.

2 Von der Eventualität des Soseins, auf die die Übertragung ja leicht ist, sei der Einfachheit wegen hier abgesehen.


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Fünftes Kapitel.


angeführten Gruppen von Ausdrücken dem Gefühls-, die zweite dem Begehrungsgebiete angehört: auf dem letzteren Gebiete scheinen hierhergehörige Attribute resp. Adjektive im ganzen weniger leicht auffindbar zu sein. Auch nach Relationen wird man nicht vergebens suchen: dafür bürgt schon die Tatsache, dafs gleich meiner Überzeugung auch meine Freude oder Trauer, und dann ebenso meine Entschliefsung „den Grund haben kann, dafs . . Ich mufs darauf verzichten hier in der Einzelbetrach- tung noch weiter zu gehen.


§ 25.


Annahmen bei Gefühlen


und Begehrungen.


Ist aus dem eben Dargelegten einigermafsen klar geworden, wie tief, wenn man so sagen darf, die Objektive auch in unser Gemütsleben eindringen, so erübrigt nun nur noch, analog wie oben hinsichtlich der intellektuellen Erlebnisse, hier hinsicht- lich der emotionalen zu fragen, inwieweit zum Aggredieren ihrer Objektive Annahmen erforderlich sind. Da den Gefühlen und Begehrungen, soviel bisher bekannt, die Fähigkeit, Gegenstände unmittelbar zu aggredieren, fehlt, mögen dies übrigens Objekte oder Objektive sein, so bedeutet jedes Herantreten eines emotio- nalen Erlebnisses an ein Objektiv, kürzer gesagt also jedes emotionale Aggredieren zugleich ein intellektuelles. Man steht also wieder vor dem uns bereits so wohlbekannten Dilemma : ent- weder Urteile oder Annahme , so dafs, wo die psychologische Sachlage das Urteil ausschliefst, auch hier wieder die Annahme als zweifellos gegeben erwiesen ist.

Sehr einfach erledigt sich diese Aufgabe hinsichtlich der Begehr ungen. Denn haben die Ausführungen des vorigen Paragraphen dargetan, dafs ich genau genommen zunächst nicht A begehre, sondern nur, dafs A sei oder „so“ sei, dann ist auch sofort einleuchtend, dafs ein solches Objektiv demjenigen, der begehrt, nicht durch ein Urteil gegeben sein kann, aus dem so selbstverständlichen Grunde nämlich, weil niemand erst begehren kann, was seiner Meinung nach bereits verwirklicht ist. Urteile ich also, dafs A ist resp. nicht ist, so kann ein diesem Objektiv zugewendetes Begehren nicht zustande kommen; liegt dagegen das Begehren tatsächlich vor, so kann das Objektiv unmöglich durch ein Urteil gedacht sein, und nichts anderes als die Annahme


Das Objektiv und die Annahmen.


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bleibt übrig. Dem steht natürlich keineswegs entgegen, dafs jemand in betreff einer Sache, die gegenwärtig existiert, sehr wohl begehren kann, sie möchte auch in Zukunft existieren: „dafs A ist“ ist eben ein anderes Objektiv als „dafs A in Zukunft sein wird“. Von jenem kann auch überzeugt sein, wer dieses begehrt, aber eben nur, weil die Überzeugung von einer gegenwärtigen Existenz bei weitem noch nicht die von der künftigen in sich schliefst.

Nicht ganz so durchsichtig ist die Sachlage bei den Wider- strebungen. Als Analogon zu dem eben für die Begehrungen Dargelegten stellt sich hier die Tatsache dar, dafs wer sich etwa gegen das Eintreten eines Ereignisses A zur Wehr setzt, unmög- lich der Überzeugung sein kann, dafs A überhaupt gar nicht eintreten werde. Dadurch ist aber in betreff des Denkaktes, durch den hier das dem Widerstreben zugrunde hegende Objektiv gegeben ist, gar nichts vorbestimmt. Denn ist das Objektiv, dem widerstrebt wird, dies, „dafs A eintritt“, dann hat das durch dieses Widerstreben ausgeschlossene Urteil das Objektiv „dafs A nicht eintritt“, also das Gegenteil dessen, dem widerstrebt wird. Immerhin darf man nun aber auch hinzufügen, dafs, wer un- erschütterlich fest davon überzeugt ist, dafs A eintreten werde, normaler oder „vernünftiger“ Weise sein Widerstreben gegen Unabänderliches bezwingen wird . 1 Man darf sonach zwar nicht so weit gehen, zu behaupten, dafs ein Widerstreben dagegen, „dafs A ist“, die Überzeugung davon, also ein Urteil mit dem Objektiv „dafs A ist“ ausschliefse. Dagegen ist es mindestens das Natürlichere, dafs der Widerstrebende das, dem er sich ent- gegenstellt, nicht für unvermeidlich halte, und für solche Fälle ist damit wieder festgestellt, dafs das Objektiv der in Frage kommenden Widerstrebung nicht durch ein Urteil, sondern durch eine Annahme gegeben ist. So ist die Annahme als psycho- logische Voraussetzung für alle Begehrungen positiver Qualität unerläfslich, für Begehrungen negativer Qualität zum mindesten weitaus die Regel.

Ich unterlasse es, auf die für die Angelegenheit der An- nahmen offenbar wenig charakteristischen Fälle besonders ein- zugehen, wo dem Objektive Eigenschaften nachgesagt werden,


1 Zum mindesten ein Widerstreben von der Art, die das auf diesem Gebiete ohne Zweifel vertretene Gegenstück desWollens ausmachen würde.


168


Fünftes Kapitel.


die von einer diesem Objektiv zugewendeten Begehrung ge- nommen sind, zumal da viel Einschlägiges mit Objektivprädikaten auf gleicher Linie rangieren wird, welche auf die zu dem be- treffenden Objektiv gehörigen Gefühle zurückgehen. Wir hätten uns nunmehr sonach diesen Gefühlen zuzuwenden, näher vor allem den ästhetischen Gefühlen und den Wertgefühlen. Beiderseits scheint auf den ersten Blick die Sache so einfach zu liegen, dafs von näheren Erwägungen billig abzugehen wäre.

Denn dafs zunächst bei ästhetischen Gefühlen die Ob- jektive nicht allemal, ja nicht einmal in der Regel durch ein Urteil des Fühlenden getragen werden, das ist, wie wir bereits gesehen haben 1 , so sicher, als es sich von selbst versteht, dafs für das Verhalten zum „ästhetischen Gegenstand“ die Überzeugung von dessen Wirklichkeit durchaus nicht erforderlich ist. Man hat dies in der Behauptung anerkannt, dafs das ästhetische Ver- halten wesentlich auf Vorstellen, auf den „Schein“ gegründet sei ; und ich selbst habe daraus die Konsequenz gezogen, dafs die ästhetischen Gefühle ihrem Wesen nach als Vorstellungsgefühle bestimmt werden dürfen . 2 Neuerlich hat nun auch St. Witasek das Hauptergebnis seiner ästhetischen Untersuchungen in dem Satze formuliert : „der ästhetische Zustand des Subjektes ist im wesentli eben ein (Lust- oder Unlust-)Fühlen zusammen mit einem anschaulichen Vorstellen, und zwar so, dafs das Vorstellen die psychische Voraussetzung des Fiihlens bildet. Die ästhetischen Gefühle sind Vorstellungsgefühle “. 3 Nun kommt dieses Resultat vorerst aber der Sache der Annahmen so wenig unmittelbar zu statten, dafs sich Witasek durch seine Aufstellung vielmehr polemisch 4 gegen meine Behauptung 5 wendet, dafs die im vorigen Paragraphen berührten Objektive des ästhetischen Gebietes „nicht durch Urteile, sondern durch Annahmen gegeben sind, und dafs man Grund hat, dabei nicht mehr von Vorstellungs-, sondern von Annahmegefühlen zu reden“. Was jedoch Witasek hieran in Abrede stellt, ist nur, dafs diese (auch von ihm anerkannten)


1 Vgl. oben Kap. IV.

2 Vgl. Psych.-eth. Unters, zur Werttheorie S. 36, besonders aber Höfleb, Psychologie, S. 427 ff.

3 „Grundzüge der allgemeinen Ästhetik** S. 181.

4 Vgl. a. a. 0. Anmerkung.

r ' S. 211 der ersten Auflage dieses Buches.


Das Objektiv und die Annahmen.


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..Annahmegefühle “ 1 ästhetische Gefühle sind, keineswegs da- gegen die Tatsache , dafs die für die Kunst normalerweise in Frage kommenden Objektive nicht geglaubt, daher jeden- falls angenommen sein müssen. Dieser Gesichtspunkt findet seine Anwendung natürlich nicht nur, tvo es sich um unser Verhalten zu gegenwärtigen Kunstwerken handelt, sondern nicht minder, w t o einem Objektive ästhetische Prädikate zu- oder even- tuell auch abgesprochen werden. Zugleich ist damit der hervor- ragende Anteil der Annahmen an der Kunst, der sich uns im vorigen Kapitel blofs aus der direkten Betrachtung der Tatsachen heraus und noch ohne besonders eingehende psychologische Analyse aufgedrängt hat, einem wesentlichen Teile nach für unser Verständnis erschlossen.

Ebenso leicht scheint nun die Bedeutung der Wertgefühle für die Annahmen festzustellen, nur dafs das Ergebnis hier sozusagen das entgegengesetzte Vorzeichen hätte. Sind Wert- gefühle von Natur Urteilsgefühle, so ist ja klar, dafs die An- nahmen bei ihnen keine Anwendung finden. Nun scheint mir aber eine nähere Untersuchung unseres Verhaltens zu Wert- objekten doch zu ergeben, dafs dabei den Annahmen eine und zwar eine für das richtige Erfassen der Grundtatsachen der Wert- theorie sehr wichtige Rolle zukommt. Dies läfst sich aber nicht wohl darlegen, ohne näher auf einige Dinge einzugehen, die von dem übrigen Kontexte dieser Ausführungen etwas abliegen. Ich widme diesen Untersuchungen daher ein besonderes Kapitel, was wohl um so leichter geschehen kann, als im obigen auch noch in betreff der Begehrungen eine, wie mir scheint, für deren Kenntnis sehr wichtige Seite nicht zur Sprache gekommen ist, in bezug auf welche sich die Berücksichtigung der Annahmen als ein wirksames Aufklärungsmittel erweist. Näher handelt es sich dabei um Fragen der Begehrungsmotivation, deren Beant- wortung für das richtige Erfassen auch der Werttatsachen von Belang ist, so dafs es sich empfiehlt, die einschlägigen Unter- suchungen denen in betreff unseres Verhaltens zu Wertgegen- ständen vorangehen zu lassen.

Bevor wir indes die Annahmen so in ein etwas enger um- grenztes Gebiet des emotionalen Lebens hineinverfolgen, wollen


1 Dafs überdies nach Witaseks Ansicht „Annahmegefühl“ soviel heifsen müfste als „Phantasiegefühl“, wird sich weiter unten (vgl. § 55) ergeben.


170


Fünftes Kapitel.


wir noch für eine Weile in die Sphäre intellektueller Betätigungen zurückkehren, zuvörderst, um den zu Ende von § 22 nur flüchtig erwähnten Relationen zwischen Objektiven und Operationen an ihnen wegen der dabei beteiligten Annahmen etwas näher zu treten, — dann aber, um noch einen ebenso wichtigen als verbreiteten Anteil der Annahmen an intellektuellen Operationen aufzuweisen, der insofern sozusagen noch vor vielen Objektiven liegt, als er zu- nächst deren Material angeht, das zwar manchmal auch durch Objektive, in erster Linie aber durch Objekte ausgemacht wird. Es handelt sich da um Erlebnisse, die der eigentlichen intellek- tuellen Bearbeitung eines Gegenstandes in der Regel als Bedingung vorhergehen und bei denen die blofse Präsentation des betreffenden Gegenstandes besten Falles nur einen Teil des Erforderlichen leistet, der Rest der Leistung aber den Annahmen zufällt, sofern diese nicht schon bei der Präsentation selbst als Hilfen derselben eintreten müssen. Der Untersuchung dieser also wesentlich intellektualpsychologischen Dinge sollen die drei nächsten Kapitel gewidmet sein.


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Sechstes Kapitel.

Annahmen hei Operationen an Objektiven.


§ 26.

Unmittelbare und mittelbare Evidenz.

Wir haben uns hier zunächst einem Tatsachengebiete zuzu- wenden, das von alters her zu den meistbearbeiteten Partien der Lehre vom menschlichen Erkennen gehört, ja für viele unter dem Namen der „formalen Logik“ so gut wie alles in sich zu schliefsen schien, was von dieser Lehre Anspruch auf Beachtung hat. Die Einseitigkeit solcher Auffassung ist heute jedem auch nur einigermafsen Urteilsfähigen klar: aber über eine der wich- tigsten Folgen solcher Einseitigkeit hat man immer noch nicht recht hinauskommen können. Sie betrifft ebenso erstaunlicher- als charakteristischerweise unser Wissen gerade über jene Er- kenntnisbetätigungen, die jederzeit das ganz ausgesprochen be- vorzugte Lieblingsthema für Untersuchungen der formalen Logik abgegeben haben, ich meine die Ableitungen von Urteilen aus Urteilen, das Erschliefsen resp. Begründen. Hier hat die Mannig- faltigkeit wirklich vorkommender oder wohl auch erst kon- struierter Modi und Figuren die Aufmerksamkeit nicht nur von jenen Tatsachen völlig abgelenkt, welche sich der Einordnung unter diese „Formen“ nicht willig fügen; sondern auch die allem Anschein nach viel primitivere Frage, was für Tatsachen man eigentlich in allen diesen Schlulsvorgängen vor sich habe, hat die erkenntnistheoretische Forschung der Gegenwart als eine im wesentlichen noch offene überkommen, obwohl darin eines der fundamentalsten Probleme liegt, an die heranzutreten die Er- kenntnistheorie berufen ist. Unter solchen Umständen ist es natürlich immerhin einigermafsen gewagt, einen auch noch so bescheidenen Beantwortungsversuch jener Frage mitten in eine im Grunde doch einer ganz anderen Sache gewidmete Darlegung


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Sechstes Kapitel.


hineinzuwerfen. Aber einmal ist die Antwort, die ich meine geben zu dürfen, wenn sie auch im Rechte ist, wirklich nur eine doch aufserordentlich bescheidene Leistung, weil sie im Grunde nur wenig mehr bietet als eine, wie ich glaube, freilich unver- meidliche, aber eben darum keineswegs als besondere theoretische Tat in Anspruch zu nehmende Verweisung auf die direkte Empirie. Dann aber und vor allem steht, was ich hier in betreff charakteristischer Fälle von Annahmen zu sagen habe, mit der Weise, wie ich Begründung und Schlufs auffassen zu müssen glaube, in so enger Verbindung, dafs ich diese Auffassung hier nicht ganz undargelegt lassen kann, immerhin übrigens zugleich hoffe, dafs das ungezwungene Zusammenstimmen, auf das ich meine hinweisen zu können, dann nicht nur der hier vor allem zu legitimierenden Konzeption der Annahmen, sondern auch dem über die Natur des Schlusses Beizubringenden zustatten kommen wird.

Die eigentümliche Dignität, vermöge deren gewisse Urteile im Gegensätze zu anderen für Erkenntnisse gelten, geht jederzeit zuletzt auf die selbst ein Letztes ausmachende Tatsache der Evi- denz zurück, der insofern mit Recht der Rang der Grund- oder Zentraltatsache aller Erkenntnistheorie eingeräumt werden kann . 1 Alle Evidenz hängt natürlich am Urteil, und man hat sich längst daran gewöhnt, den allein auf sich selbst gestellten unmittelbar evidenten Urteilen solche von blofs mittelbarer Evidenz an die Seite zu setzen, so genannt, weil diese auf die Evidenz, zuletzt natürlich auf die unmittelbare Evidenz anderer Urteile zurück- geht. Aus solcher Gegenüberstellung erwächst nun von selbst die Frage, ob die in ihr sich geltend machende Verschiedenheit der Evidenzen nur deren Herkunft oder auch deren Beschaffen- heit betrifft, anders ausgedrückt, ob das mittelbar evidente Urteil am Ende doch ebenso evident ist wie das unmittelbar evidente, oder ob die mittelbare Evidenz vielleicht zugleich auch eine Art unvollkommenerer Evidenz, etwas wie eine niedrigere Evidenz- stufe darstelle.

Vor aller Berücksichtigung der Erfahrung könnte die Frage auch sozusagen nach der entgegengesetzten Richtung hin for- muliert werden, dahin nämlich, ob die mittelbare Evidenz nicht


1 Vgl. „Über die Erfahrungsgrundlagen unseres Wissens“, S. 31 ff., auch oben § 13.


Annahmen hei Operationen an Objektiven.


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etwa eine vollkommenere Evidenzstufe bedeute. Aber eine solche Möglichkeit könnte doch nur dem erkenntnistheoretisch völlig Naiven diskutierbar erscheinen, dem blol's das Bewiesene für durchaus gesichert gelten mag, ohne Rücksicht darauf, dafs jeder Beweis zuletzt doch auf Unbewiesenes gestellt sein mufs. Da- gegen hat der Gedanke an den möglicherweise geringeren Er- kenntniswert der mittelbaren Einsicht seinen guten empirischen Untergrund in der auffallend verschiedenen Erkenntnisstellung, die wir etwa einem geometrischen Axiom und dann wieder einem auch nur auf mäfsig komplizierten Beweisgang gegründeten Theorem dieser Wissenschaft gegenüber einnehmen. Wirklich hat auch schon die ältere Erkenntnistheorie das „intuitive“ Wissen dem „demonstrativen“ vorangestellt; und wenn man sich an die seit Schopenhauer so oft wiederholte Klage darüber erinnert, wie die EuKLiDsche Geometrie ihre Sätze der Überzeugung gleichsam aufzwinge, ohne doch zu einer rechten Einsicht in den erwiesenen Sachverhalt zu führen, so mufs man sich geradezu fragen, ob so gewonnene „mittelbare“ Evidenzen überhaupt noch den An- spruch darauf haben, für Evidenzen zu gelten. Nur dafs sich auch sofort die Gegenfrage einstellt, wie eine solche „mittelbare Evidenz“, die dann streng genommen gar keine Evidenz ist, einem Urteile eine ähnliche Erkenntnisdignität zu verleihen fähig sein soll wie jene „unmittelbare“ Evidenz, genauer Evidenz ohne Beisatz, die solchen Urteilen dann eben einfach fehlt.

§ 27 .

Das Wesen der Überzeugungsvermittlung.

Evidenz haftet , wie berührt , am Urteile , und Evidenz- vermittlung, wie immer sie aufzufassen sein mag, ist doch jeder- zeit ein spezieller Fall von Überzeugungsvermittlung, die von. der gegenständlichen Seite betrachtet, unter günstigen Umständen „Beweis“ heifst, aber unter anderen Umständen, z. B. wenn die Voraussetzungen irrig sind, gar wohl auch zustande kommen kann, ohne dafs die so gewonnene Überzeugung Anspruch darauf haben müfste, für wirklich legitimiert zu gelten. Es wird uns vielleicht die Beantwortung der obigen Frage erleichtern, wenn wir zunächst in das Wesen solcher Überzeugungsvermittlung ganz im allgemeinen einen Einblick zu gewinnen versuchen.

Es handelt sich also um folgende einfache Frage: ich bin


174


Sechstes Kapitel.


überzeugt, dafs A.B ist; ich schliefse daraus, dafs C D ist; was geht da eigentlich vor, indem ich schliefse? Es mufs dabei gar nicht ausdrücklich von „Schliefsen“ die Rede sein; sage ich ein- fach: C wird oder mufs D sein, weil AB ist, so ist damit häufig dasselbe ausgedrückt. Immerhin verbindet das nämliche Wort manchmal auch Glieder von Kausalreihen, indem man etwa von einer Kugel sagt: sie bewege sich, „weil“ sie durch eine andere Kugel gestofsen worden ist. Und wer dies nicht sofort als einen der vielen Fälle von Mehrdeutigkeit 1 unberücksichtigt läfst, wird hierin sogleich einen Hinweis auf die übrigens auch ohne Bezug- nahme auf das sprachliche Moment nächstliegende Antwort für unsere Frage finden. Was könnte dieses „weil“ auch Natür- licheres bedeuten, als dafs das zweite Urteil aus dem ersten, auf das man sich ja ausdrücklich beruft, hervorgegangen, dafs das zweite Urteil durch das erste verursacht sei? Es wird ja zudem auch kaum in Zweifel gezogen werden können, dafs das erste Urteil, wenn auch nicht die Gesamtursache, so doch normaler- weise sicher eine Teilursache für das Auftreten des zweiten Urteils abgeben wird.

Nun ist aber einer solchen Berufung auf die Kausalrelation mit Recht entgegengehalten worden 2 , dafs zwei Urteile gar wohl in Kausalnexus stehen können, ohne dafs man darum das zweite aus dem ersten erschlossen nennen dürfte. Wer etwa, sobald er den Blitz gesehen hat, auf den Donner wartet, hat die Über- zeugung vom Bevorstehen des Geräusches gewifs seinem Wahr- nehmungsurteil über den Blitz zuzu^chreiben ; was da aber vor- geht, braucht keineswegs dasjenige zu sein, was in der Wendung: „es hat geblitzt, folglich wird es donnern“ zum Ausdrucke ge- langt. Man kann einen solchen Schlufs, wenn Umstände der gegebenen Art vorliegen, in der Regel ziehen : um so deutlicher hebt sich gerade dann der Unterschied der Sachlage, wenn man es tut, von der ab, wenn man es eben nicht tut.

Vielleicht noch stringenter, jedenfalls für den gegenwärtigen Zusammenhang von charakteristischerem Belange ist ein anderer Beweisgrund gegen die in Rede stehende Auffassung. Wäre für

1 Die indes vielleicht auch hier, wie sonst nicht eben selten, sehr beachtenswerte Wurzeln aufweisen mag, denen nur im gegenwärtigen Zu- sammenhänge nicht nachgegangen werden kann.

2 Vgl. Hilcebrand, „Die neuen Theorien der kategorischen Schlüsse“. Wien 1891. S. 4f.


Annahmen hei Operationen an Objektiven.


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das Verhältnis der beiden Urteile die Kausalverbindung allein mafsgebend, dann wäre man niemals in der Lage, aus direkter Wahrnehmung zu wissen, ob man und woraus man etwas er- schlossen habe, da der Kausalnexus zwischen einer Teilursache und der zugehörigen Wirkung sich niemals wahrnehmen läfst. Der Tatbestand eines Schlusses wäre sonach im einzelnen Falle nur auf Grund jener gelegentlich recht weitaussehenden Gedanken- operationen erkennbar , deren wir sonst bedürfen , um den Kausalnexus innerer oder äufserer Geschehnisse festzustellen : das widerspricht aber aufs entschiedenste unseren Erfahrungen über die Unmittelbarkeit, mit der wir normalerweise darüber Rechen- schaft zu geben imstande sind, ob und woraus ein vorliegendes Urteil erschlossen ist. Natürlich darf man wegen jener Un- wahrnehmbarkeit der Kausalrelation den obigen Bestimmungs- versuch auch nicht etwa dahin verbessern, dafs das zweite Urteil dann erschlossen sei, wenn man den ursächlichen Zusammen- hang mit dem ersten Urteile wahrnehme, denn das kommt eben überhaupt nicht vor 1 : richtig ist aber an dieser W endung, dafs die dem Schliefsen wesentliche Relation eine der direkten Wahr- nehmung zugängliche sein mufs, die aufserdem den Kausalnexus nicht ausschliefst.

Genaueren Einblick in das Wesen dieser Relation gewinnt man am leichtesten, indem man auf eine Eigentümlichkeit aprio- rischen Urteilens achtet, zu der man dann in unserem Falle un- schwer eine gewisse Analogie findet. Bei der charakteristischen Abhängigkeit des apriorischen Urteiles von der Natur des darin beurteilten Materials 2 begreift sich, dafs es eben diese Natur ist, der der Urteilende in erster Linie seine Aufmerksamkeit zu- zuwenden hat. Das mag, wo es sich um etwas recht leicht Er- kennbares handelt, wie z. B. um die Verschiedenheit von Schwarz und Weifs, nicht sehr auffällig sein; um so deutlicher kommt es etwa bei Urteilen zutage, bei denen die betreffenden Verschieden- heiten der Schwellenregion nahe genug sind. So kann man all- gemein sagen: apriorische Urteile werden gefällt im Hinblick auf die Beschaffenheit des Urteilsmaterials, der beim aposterio- rischen Urteile eine ähnliche Bedeutung keineswegs zukommt. Gesetzt nun, jemand kommt auf Grund der Überzeugung, dafs-


1 Vgl. meine Ausführungen in den Gott. Gel. Anz. 1892, S. 446.

2 Vgl. oben S. 63.


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Sechstes Kapitel.


A B, und dals B (J sei, zu der weiteren Überzeugung, A sei C, so ist nun ebenso selbstverständlich, dafs er sich, um zu diesem Ergebnis zu gelangen, beim A, B und C, also beim Material der Prämissen, gleichsam aufhalten mufs. Allerdings nicht nur beim Material: ob A B oder nicht-B, ob B C oder nicht C ist, darauf kommt begreiflicherweise sehr viel an. Das, wobei sich der Schliefsende aufhalten mufs, ist also nicht nur das Material, das die Prämissen enthalten, sondern es sind die in den Prämissen sich darbietenden Objektive unter Einschlufs ihres Materials. Die wesentliche Rolle der Objektive ist ja auch bereits unmittel- bar aus dem in solchen Fällen gebräuchlichen sprachlichen Aus- drucke zu entnehmen. „Daraus, dafs A B, und dafs B C ist, folgt, dafs A C ist“, sagt man etwa; oder, wie bereits oben er- wähnt, gelegentlich auch kürzer: „weil A B und B C ist, des- halb ist A C“, oder „mufs A C sein“. Diese Objektive also sind das Ausschlaggebende für die Überzeugungsvermittlung, unter der Voraussetzung natürlich, dafs sie geurteilt, d. h. eben ge- glaubt werden. Ob dieses Glauben schon ohne weiteres zur Gewinnung der vermittelten Überzeugung ausreicht oder auf die Tatsache des Glaubens durch ein besonderes Urteil noch aus- drücklich Bedacht genommen werden mufs, bleibe ununtersucht. Auch auf sonstige Eigentümlichkeiten der hier vorliegenden, jedem aus innerer Erfahrung wohlbekannten Operation kann nicht einzugehen versucht werden. Fürs Erste mag die Charak- teristik mit Hilfe der altbekannten Analogie zum apriorischen Urteil, auf die ja bekanntlich dessen Bezeichnung als „apriorisch“ ohnehin zurückweist, genügen , der gemäfs man nun sagen kann, dafs derjenige schliefst, der sich eine neue Überzeugung bildet unter Heranziehung einer ihm bereits gegebenen, im Hinblick auf diese . 1 Das Erlebnis, auf das durch Worte dieser Art hingewiesen wird, scheint mir charakteristisch genug, um einer weiteren Beschreibung entraten zu können.

Irre ich nicht, so wird die bisher mehr vernachlässigte als zielbewufst gepflegte psychologische Erfahrung noch in gar vielen Fällen auf vorher nicht beachtete und für den augenblicklichen


1 Wie nahe diese Auffassung dem steht, was bereits Locke vertreten hat, ergeben die auch sonst durchaus dem gegenwärtigen Interessenkreise zugewandten Ausführungen E. Mautinaks über „Die Logik John Lockf.s {Halle a. S. 1894), S. 127 ff.


Annahmen bei Operationen an Objektiven.


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Stand der Analyse unzurückführbare Tatsachen führen. Ich nehme darum gar keinen Anstand, auch im vorliegenden Falle zu behaupten, dafs die Gewinnung einer Überzeugung aus einer anderen, die Überzeugungs- oder Urteilsvermittlung wesentlich ■charakterisiert ist durch eine eigenartige Realrelation des ver- mittelten Urteils zu dem oder den vermittelnden Urteilen. Ein Analogon zu dieser Relation ist auf dem auch sonst den Urteils- tatsachen vielfach analog gearteten Gebiete der Begehrungen an- zutreffen 1 und hat dort einen längst gebrauchten Namen. Wie ich nämlich im Hinblick auf eine Überzeugung zu einer zweiten gelangen kann, so im Hinblick auf eine Begehrung (z. B. die nach einem Zwecke) zu einer anderen Begehrung (etwa der nach ■den Mitteln). Hier sagt man, das eine Begehren habe das andere 2um „Motiv“ ; der Sachverhalt auf dem Urteilsgebiete aber ist von ausreichend auffallender Analogie, um die Übertragung ■dieser Benennungsweise auf das intellektuelle Gebiet zu recht- fertigen. Indem ich daher hierin Hillebkands Ausdrucksweise 2 3 entgegen anfänglichen Bedenken 8 akzeptiere, scheint es mir nur noch ratsam, erforderlichen Falles Tatsachen der in Rede stehenden Art als Fälle von Urteilsmotivation solchen von Begehrungs- motivation gegenüberzustellen. In betreff der zueinander in dieser eigenartigen Motivationsrelation stehenden Urteile — analog übrigens auch bei den Begehrungen — wird es mancherlei Be- dürfnissen entgegenkommen , das „Motiv“ resp. die „Motive“ dem „Motivat“ gegenüberzustellen, so dafs die Motivationsrelation .auch als das Verhältnis zwischen Motiv und Motivat bestimmt werden mag.

Durch diese Ausführungen ist implizite gegen die vor Jahren von mir vertretene 4 , übrigens auch schon explizite aufgegebene 5 * Auffassung Stellung genommen, als wäre der Schlufs im Grunde nichts als ein hypothetisches Urteil, in dem die Abhängigkeit des

1 Dafs übrigens auch bei Gefühlen etwas Ähnliches stattfindet, näher bei dem, was ich als „vermittelte Werthaltungen“ den „unvermittelten“ gegenübergestellt habe, ist bereits hervorgehoben auf S. 61 der „Psycho- logisch-ethischen Untersuchungen zur Werttheorie“.

2 A. a. 0. S. 5. Husskrl, „Logische Untersuchungen“ Bd. II, S. 28 nimmt sie für Brentano in Anspruch.

3 Gott. Gel. Anz. 1892, S. 446; Husserls polemischen Bemerkungen a. a. 0. mufs ich sonach stattgeben.

4 HuMK-Studien, II, S. 108 f.

0 Gott. Gel. Anz. 1892, S. 445.

Meinong, Über Annahmen, 2. Aufl.


12


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Sechstes Kapitel.


Motivats vom Motiv zum Ausdruck kommt. Ich denke bei dieser Position hier nicht verweilen zu sollen, zumal sie jeden Scheines entbehrt, so lange Richtigkeit und Evidenz ganz aufser Betracht bleibt. Immerhin aber erkenne ich heute in ihr den verfehlten Ausdruck eines an sich durchaus berechtigten Bedürfnisses, dem ich, wie sich zeigen wird, durch die Heranziehung der „An- nahmen“ Rechnung zu tragen mich imstande glaube. Es wird auf das berührte hypothetische Urteil unten noch zurückzu- kommen sein.


§ 28 .


Die Evidenzvermittlung. Scheinbare Schwierigkeiten bei derselben.


Wir wenden uns nun dem erkenntnistheoretisch so fundamen- talen Spezialfalle zu, in dem es sich nicht nur um Vermittlung- einer Überzeugung durch eine andere, sondern um Vermittlung einer Evidenz durch eine andere, nicht nur um die Gewinnung eines neuen Urteils, sondern zugleich um die eines berechtigten Urteils handelt. Läge in dem eben berührten hypothetischen Urteile das Wesen der Überzeugungsvermittelung und verdiente es mit Rücksicht hierauf den ihm von mir einst zugedachten Namen des eigentlichen „Schlufsurteils“, dann könnte etwa in der Evidenz dieses Urteiles der Tatbestand der sogenannten mittelbaren Evidenz gesucht werden . 1 Aber das von Sigwart 2 passender sogenannte „Schlufsgesetz“ ist, wie bereits einge- räumt, eben nicht der Schlufs selbst; oder genauer: die Einsicht in das Bestehen jenes Gesetzes ist weder die Schlufsoperation noch deren Ergebnis. Das letztere kann vielmehr, das ist nun eigentlich ohne weiteres deutlich, gar nichts anderes sein als das- Einsehen der Conclusio. Dies ist ja in der Tat auch das Ein- zige, was dem oben hinsichtlich der Überzeugungsvermittlung Festgestellten gemäfs ist: der „Überzeugung im Hinblick“ tritt hier eben die „Evidenz im Hinblick“ gewissermafsen als Spezial- fall an die Seite. Die Dinge liegen im Grunde so einfach, dafs




ein Zweifel daran gar nicht aufkommen könnte ohne die an- scheinende Schwierigkeit, die in der bereits zu Anfang dieses Kapitels erwähnten Evidenzlosigkeit von so vielen Konklusionen


1 Hillebrand, „Die neuen Theorien der kateg. Schlüsse“ S. 8.

2 Logik, 2. Aufl. Bd. I, S. 424.


Annahmen hei Operationen an Objektiven.


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liegt, über deren Korrektheit und Gültigkeit gleichwohl niemand unsicher ist. Wir müssen den hierher gehörigen Tatsachen nun etwas näher treten.

Es wird angemessen sein, sich zunächst zu fragen, ob die in Rede stehende Schwierigkeit etwa allen Fällen von Evidenz- vermittlung eigen sei. Daran freilich, dafs irgend einmal ein Urteil zur Evidenz gelangen sollte, durch Bezugnahme auf ein anderes Urteil, dem selbst die Evidenz fehlt, wird niemand denken. Kommt es aber nicht wenigstens unter günstigen Um- ständen vor, dafs ein Urteil, das der Einsicht des urteilenden Subjektes verschlossen bleibt, solange dieses über dessen gegen- ständliches Material nicht hinausgeht, Evidenz erhält durch „Hinblick“ auf anderes, dem Subjekte Einleuchtendes, wobei die so neuerworbene Evidenz , von ihrer Herkunft abgesehen, durchaus den Charakter der auf direktem Wege gewonnenen Einsicht auf weist? Dafs sich dergleichen wirklich zuträgt, davon überzeugt man sich vielleicht am leichtesten an relativ einfach erweislichen Lehrsätzen der Geometrie, die nur nicht etwa schon vor dem Beweis einleuchten. Wie grofs z. B. die Summe der Dreieckswinkel, insbesondere ob sie gröfser oder kleiner als 180 0 ist, darüber gibt die anschauliche Vorstellung eines Dreiecks für sich allein noch keinen ausreichend präzisen Aufschlufs. Da- gegen gestattet die bekannte Hilfskonstruktion, sozusagen mit einem Blicke zu übersehen, dafs der dreigeteilte Winkel, den man in dieser Weise erhält, ein gestreckter Winkel ist, und dafs die drei Winkel, in die er zerfällt, den Dreieckswinkeln gröfsen- gleich sind. 1 Hier haben wir es also wirklich mit einem Um- wege zu tun, der zur Einsicht führt: das erschlossene Urteil ist nicht anders evident als die Prämissen, und nur die Weise, in der diese Evidenz zustande kommt, die Grundlage, auf die sie gebaut ist, ist eine andere.

Ganz Ähnliches kann man bei Urteilen antreffen, die sonst in bezug auf ihre erkenntnistheoretische Natur dem eben bei- gebrachten Beispiele so unähnlich als nur möglich sein können.

1 Dafs in der Wahl dieses Beispieles eine implizite Stellungnahme in Sachen von Euklids elftem Axiom gelegen ist, kann ich nicht leugnen. Doch ist sie für den gegenwärtigen Zusammenhang unwesentlich, und wer an ihr Anstofs nimmt, kann das obige Beispiel leicht durch ein anderes ersetzen. Vgl. übrigens „Über die Stellung der Gegenstandstheorie usw.“, S. 77 ff.


12 *


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Sechstes Kapitel.


Einer weifs nicht, ob sein Freund X oder sein Freund Y der Alteie ist. Von X weifs er, dafs er 47 Jahre hinter sich hat: nun erfährt er aus guter Quelle, dafs Y erst 46 Jahre alt sei. Natürlich weifs er darauf hin jetzt auch, dafs Y der Jüngere ist und sieht das so gut ein, d. h. hat dafür so viel Evidenz, als für derlei Tatsächlichkeiten normalerweise nur immer zu ver- langen sein mag. V as zuvor auf apriorischem, zeigt sich hier auf ganz oder mindestens teilweise empirischem Erkenntnis- gebiete : die vermittelte Evidenz ist von der unvermittelten nur ihrer Provenienz nach verschieden, im übrigen ist aber die eine so gut Evidenz wie die andere. Zugleich entspricht dies so natürlich dem in den Bezeichnungen „mittelbar“ und „un- mittelbar“ sich aussprechenden Gegensätze, dafs man kaum anders können wird, als in diesem Tatbestände den eigent- lichen paradigmatischen Fall für alle Evidenzvermittlung zu ver- muten.

Nun sind aber jedenfalls in der Regel die Umstände nicht so günstig, wie in den eben beigebrachten Beispielen. Die Be- gründungen und Beweise schon des täglichen Lebens, noch mehr die der Wissenschaft, sind zumeist viel komplizierter, und die Komplikation macht sich einerseits in der Anzahl der zusammen- zuhaltenden Prämissen, andererseits in deren gegenständlicher Beschaffenheit geltend. Infolgedessen ist dann das schliefsende Subjekt zumeist aufser Stande, die Prämissen mit jener An- schaulichkeit zu erfassen, die so oft die unentbehrliche Voraus- setzung für unmittelbare Evidenz ausmacht. Und selbst wer Gewissenhaftigkeit, Aufmerksamkeit und Zeit genug aufbringt, sämtliche Prämissen hintereinander mit der ihnen zukom- menden Evidenz zu urteilen, kann normalerweise dieses Vielerlei an Urteilen und vollends die Evidenz für jedes dieser Urteile nicht so lange festhalten, bis der Schlufssatz ins Reine gebracht ist. Gleichwohl müfste aber solches geleistet sein, da der dem Motivationsverhältnisse charakteristische „Hinblick“ doch nur gegenwärtige Urteile betreffen kann, zudem aber, wie berührt, eigentliche Evidenz nicht aus evidenzlosen oder in bezug auf ihre Evidenz sozusagen minderwertigen Tatbeständen zu ge- winnen ist. Hier also ist der Ort, wo die unter diesen Um- ständen gleichwohl zutage kommende „mittelbare Evidenz“ des Schlufssatzes die Theorie vor das eigentliche Problem dieser Evi- denz zu stellen scheint.


Annahmen hei Operationen an Objektiven.


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Vielleicht ist indes die Schwierigkeit doch leichter zu über- winden, als man fürs erste erwarten möchte. Vor allem mufs man sich darüber klar werden, was für ein Evidenzzustand den Prämissen unter den gegebenen Umständen eigentlich zukommen kann. Gesetzt also, man habe sich zum Zwecke einer durch- zuführenden Argumentation auf einen Kongruenzsatz zu berufen oder auch nur von dem oben besprochenen Satz über die A\ inkel- summe im Dreieck Gebrauch zu machen, ohne dafs man dabei noch einmal auf dessen Beweisgründe ausdrücklich eingehen kann. Wie steht es da mit der Evidenz? Werden diese Urteile dann etwa völlig evidenzlos gefällt? Ohne Zweifel kann es ge- schehen; mufs es aber? Und kann man auch nur für die Mehr- zahl der Fälle behaupten, dafs derjenige, der sich solcher Prä- missen in seinen Erwägungen bedient, diesen so gegenüberstehen wird, als wären es ganz willkürlich aus der Luft gegriffene Meinungen? Der Konstrukteur oder Rechner wird sicher viele mathematische Formeln und Lehrsätze anwenden, an deren Beweis er nicht denkt, vielleicht auch viele, deren Beweis er nicht sofort beizubringen imstande wäre, aber keinen einzigen, den er nicht für richtig hielte. Woher nimmt er aber diese Meinung? Doch wohl in der Regel daher, dafs er sich erinnert, den Beweis für die Richtigkeit des Satzes oder der Formel ein- mal nachgeprüft zu haben. Wenn dem aber so ist, kann man mit aller Strenge behaupten, dafs ihm, indem er jetzt im Sinne jenes Satzes, oder jener Formel urteilt, für sein Urteil jede Evidenz fehle? Jene apriorische Evidenz, die den eigentüm- lichen Vorzug mathematischen Erkennens vor vielem anderen Wissen ausmacht, die ist freilich verloren gegangen; ist aber die Erinnerung daran, diesen oder jenen Lehrsatz eingesehen zu haben, ja auch nur die Erinnerung daran, von seiner Richtig- keit mit Recht überzeugt gewesen zu sein, schlechter als die Er- innerung an ein Experiment, die man unbedenklich der Induktion irgend einer Gesetzmäfsigkeit zugrunde legt, — oder schlechter als die Erinnerung an die Begegnung mit dieser oder jener Persönlichkeit, die man unbedenklich im Alltagsleben als Aus- gangspunkt für praktische Konsequenzen verwendet? So gewifs also dem Gedächtnis Evidenz zukommt , 1 so gewifs sind auch

1 Vgl. meine Ausführungen „Zur erkenntnistheoretischen Würdigung des Gedächtnisses“ in der Vierteljahrsschrift f. wisscnsch. Philos., Jahrg. 1886, S. 7 ff., „Über die Erfahrungsgrundlagen unseres Wissens“, S. 69 f.


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Sechstes Kapitel.


die ohne Mitberücksichtigung ihrer Ableitung benutzten Formeln und Lehrsätze nicht Sache evidenzlosen Urteilens. Nur ist es eine Evidenz von sozusagen niedrigerer Erkenntnisdignität, welche an Stelle einer Evidenz höherer Dignität getreten ist : was mit Evidenz für Gewifsheit hätte geurteilt werden können, tritt nur noch mit Evidenz für Ungewifsheit auf, wenn es viel- leicht auch immerhin noch eine jener Ungewifsheiten sein mag, die die Praxis des Erkennens und Handelns unbedenklich für Gewifsheit nimmt.

Nun müssen übrigens die Prämissen, um die es sich handelt, keineswegs immer apriorischer Beschaffenheit sein. Bei Er- wägungen, welche das Gebiet der theoretischen Mechanik oder auch sonst ein Kapitel der Physik angehen, dann aber auch bei solchen aus beliebigen anderen wissenschaf tlichen oder aufser- wissenschaftlichen Tatsachenbereichen kann es sich leicht genug zutragen, dafs einer sich in seinem Nachdenken auf Verallge- meinerungen von Erfahrungen stützt, deren er sich dabei nicht im einzelnen erinnert. Vielleicht hat man freilich auch schon von Haus aus ein Recht zu allerlei Urteilen induktiven Cha- rakters ohne ausdrückliche Erinnerung an die Instanzen, aus denen sie geschöpft sind. Aber auch abgesehen davon kann einer, der einmal etwas nach allen Regeln induziert hat, sich ein andermal des Induktionsergebnisses bedienen, indem er sich daran erinnert, dies oder jenes festgestellt zu haben. Das Ver- trauen auf die Feststellungen anderer, die Erinnerung daran, dafs man zu solchem Zutrauen Grund hatte, und vielerlei anderes mag hier noch mit in Frage kommen, darunter wohl auch mancherlei Arten von Vermutungsevidenz, die sich gleich der des Gedächtnisses zur Anerkennung in der Erkenntnistheorie erst werden durchringen müssen, auf die aber an dieser Stelle einzugehen viel zu weit führen würde. Nur so viel darf nach dem Dargelegten hier wohl mit Anspruch auf Allgemeingültigkeit behauptet werden: Wenn jemand aus was immer für äufseren Gründen ein Urteil nicht mit der vollen oder genauer mit der erkenntnistheoretisch höchststehenden Evidenz fällt, deren er resp. das Urteil fähig wäre, so wird er normaler- und gewissen- hafterweise das Urteil doch nicht ohne jede Evidenz fällen. Es findet also zwar Verlust an Evidenz statt, aber sozusagen nicht völlige Vernichtung, sondern nur eine Art Evidenzherabsetzung,


Annahmen hei Operationen an Objektiven.


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indem an Stelle einer Evidenz höherer eine Evidenz niedrigerer Erkenntnisdignität tritt.

Daraus ergibt sich, dafs die Schwierigkeit, die darin be- stünde, dafs der conclusio eine Evidenz zukäme, die den Prä- missen sämtlich oder teilweise fehlt, eine nur scheinbare ist. Auch unter den ungünstigen Verhältnissen, von deren Be- trachtung wir hier ausgegangen sind, verlieren die Prämissen ihre Evidenz normalerweise nicht völlig, sondern diese erfährt nur eine Herabsetzung : eine Evidenz, welche diese herabgesetzte Evidenz an Dignität nicht übersteigt, wird also der conclusio im Hinblicke auf sie ohne Bedenken zugesprochen werden können. Es miifste also nur noch etwa sein, dafs die conclusio erfahrungs- gemäfs unter Umständen im Vergleiche mit den Prämissen allzu hohe Evidenzgrade zeigte. Damit hat es aber gar keine Gefahr: darauf weist schon die oft konstatierte Tatsache hin, dafs man in der Regel des Erwiesenen nicht ganz in dem Mafse sicher ist wie der Beweisgründe. Es ist dann im Grunde nichts wesent- lich anderes, was in Schopenhauers bereits erwähnter Gegner- schaft gegen den EüKLiDschen Betrieb der Geometrie zur Geltung kommt, davon natürlich abgesehen, dafs sich die Spitze dieser Gegnerschaft eigentlich gegen die von Schopenhauer nicht aus- reichend gewürdigten Exaktheitsvorzüge der Präzisionsgegen- stände 1 und des auf sie gerichteten begrifflichen Denkens wendet.

Das über Schlüsse aus apriorischen Prämissen Ausgeführte hat gezeigt, dafs gelegentlich der Herabsetzung der Evidenz leicht auch eine Umwandlung des erkenntnistheoretischen Cha- rakters der betreffenden Urteile eintritt, genauer dafs etwas, das von Natur fähig wäre, a priori erkannt zu werden, nun streng genommen nur noch als aposteriorische Erkenntnis zur Geltung kommt. Auch dieses entspricht der Erfahrung, insofern man gewöhnt ist, unter „Einsicht“ speziell die apriorische, d. h. die aus der Natur der Gegenstände geschöpfte Einsicht zu meinen, diejenige also, der der Vorzug zukommt, Einsicht mit Verständnis 2 zu sein. Wer dies tut, wird dann freilich leicht einen Schlufs aus apriorisch scheinenden Prämissen jener „Einsicht“ bar finden,


^ gl. „Über die Stellung d. Gegenstandsth. im System der Wissen- schaften“ S. 82 ff.

2 Vgl. a. a. 0. S. 31 f. und sonst.


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die er allein unter diesem Namen zu suchen pflegt, und insofern dem Vorwurfe, dafs etwa manche der EuKumschen Beweise Überzeugung aber keine Einsicht herbeiführen, in seiner Weise nicht ohne Recht zustimmen.

Wie nun aber, wenn das schliefsende Subjekt der oben ge- machten A^oraussetzung entgegen seine Prämissen ganz ohne Evidenz heranzieht, in welchem Falle natürlich so gut wahre als falsche unterlaufen können? Wie, wenn es dabei doch nur richtige benützt und so zu einer brauchbaren conclusio gelangt? In diesem Falle wird natürlich die Brauchbarkeit nichts daran ändern, dafs der conclusio tatsächlich die Evidenz in jedem eigentlichen Sinne so sicher fehlt als den betreffenden Prämissen. Müssen derlei Tatbestände zwar darum, wie sich bald zeigen wird noch keineswegs jeden Anteiles an der Evidenz entraten, so sind sie doch der Hauptsache nach jedenfalls in das Problem der mittelbaren Evidenz eben gar nicht einzubeziehen, da bei ihnen keinerlei Evidenz im gewöhnlichen Sinne vorliegt, weder eine unmittelbare noch eine mittelbare.

Nun bleibt nur der zweite der oben namhaft gemachten Punkte zu berücksichtigen, die grofse Menge dessen, was unter Umständen in einem Gedanken vereinigt werden soll : man sieht hier sogleich voraus, dafs dieser Umstand an der sonst bewährten Auffassung der Evidenz Vermittlung schwerlich mehr etwas Er- hebliches ändern wird. In der Tat scheint jetzt nur noch er- forderlich, zweierlei in Rechnung zu ziehen. Einmal wird der Fähigkeit normaler Intelligenz in dieser Richtung nicht allzuwenig zugetraut werden dürfen. Dann aber wird zu berücksichtigen sein, dafs dem Denken hier die allerverschiedensten Hilfen die Arbeit teilweise abnehmen, teilweise erleichtern. Hierher gehören Symbole, Formeln und Operationen an denselben, hierher Hilfs- und Zwischengedanken, die es eventuell ermöglichen, auch Urteile, die nicht mehr haben gegenwärtig bleiben können, doch noch wenigstens indirekt mit einzubeziehen. Ein einfachstes Beispiel mag ein Schlufs nach der Form „A ist B, B ist C, C ist D . . M ist N, daher ist A N“ darbieten, wo gewifs nicht alle Prä- missen zugleich gegenwärtig bleiben werden. Wenn hier das Subjekt etwa den Gegenstand A in Gedanken nur ausreichend festhält, um bei jedem Schritte zu wissen, dafs das neu hinzu-


1 Vgl. unten § 29 f.



Annahmen hei Operationen an Objektiven.


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kommende Prädikat auch von A gelten müsse, so resultiert daraus zusammen mit dem in seiner Weise evidenten Gedächtnis- urteil über die Provenienz des so Gewonnenen freilich wieder eine Evidenz, die erkenntnistheoretisch niedriger steht als die der Prämissen, vielleicht auch niedriger als die, welche durch Reflexion über den Rang der Prämissen und deren Verhältnis zur conclusio noch nachträglich zu erzielen sein mag, — aber am Ende eben doch wieder eine Evidenz. Es möchte natürlich zu weit führen, sollte hier der Versuch gemacht werden, der Mannigfaltigkeit einschlägiger Tatsachen nachzugehen , deren genauere Feststellung übrigens der Psychologie des Erkennens eine Fülle dankbarer Aufgaben stellen dürfte. Für die nächsten Zwecke dieser Untersuchung genügt wohl das Dargelegte, um die allgemeine These zu begründen, dafs die mittelbare Evidenz sich von der unmittelbaren im Prinzip wirklich nur durch ihre Herkunft unterscheidet, immerhin aber in der Regel die Spuren dieser Provenienz auch noch in einem Verluste an Erkenntnis- diginität gegenüber einzelnen, vielen oder auch allen Prämissen an sich tragen wird. Was aber eben als charakteristische Her- kunft bezeichnet worden ist, besteht zunächst in nichts weiter als in jenem Verhältnis zwischen Motiv und Motivat, in jenem Urteilen „im Hinblick“ auf eine bereits vorgegebene Überzeugung, wie solches uns zuerst bei evidenzlosen Urteilen entgegengetreten ist und auf den Fall des mit Evidenz ausgestatteten Urteilens und Schliefsens einfach übertragen werden kann.

§ 29 .

Evidenz aus evidenzlos geurteilten Prämissen.

Wir sind im obigen von der ÜberzeugungsVermittlnng zum Spezialfall der Vermittlung evidenter Überzeugung durch evidente Prämissen übergegangen. Damit sich indes Überzeugungs- vermittlung einstelle, ist, wie alltägliche Erfahrung lehrt, keines- wegs erforderlich, dafs den motivierenden Urteilen etwa auch Evidenz zukomme : die irrigsten oder mindestens grundlosesten Ansichten können bekanntlich als Prämissen funktionieren. Dafs aber einem Motivate als solchem 1 höhere Erkenntnisdignität zu-

' Die Eventualität also, dafs das als Motivat auftretende Urteil aufser- dem auch noch unmittelbar evident oder aus anderen evidenten Prämissen abzuleiten wäre, uneingerechnet.


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Sechstes Kapitel.


käme als seinen Motiven, ist natürlich ausgeschlossen, und darum auch selbst\ ei stündlich, dals der aus evidenzlosen Prämissen ge- schöpften conclusio als solcher keinerlei Evidenz im gewöhn- lichen Sinne zukommen kann. Um so mehr mufs es auf fallen, dafs nun doch jedem Motivate, also jedem im Hinblick auf andere Urteile gefällten Urteile normalerweise bereits etwas eigen ist, dem man schon auf Grund direkter Betrachtung eine gewisse Evidenzähnlichkeit nicht absprechen kann. Schwerer noch wiegt vielleicht der Ähnlichkeitsbeweis, den das menschliche Denken alter und neuer Zeit so häufig und so sehr wider Willen dadurch angetreten hat, dafs blofs vermittelte Überzeugungen mit evidenten Urteilen verwechselt worden sind, indem man die Ableitung eines Urteils aus anderen für dessen Erweis hat gelten lassen. Man hat sich auch schon oft genug darüber gewundert, wie leicht der Drang nach dem Warum durch das erste, beste „Darum“ sich befriedigen läfst, wenn’s eben nur ein „Darum“ ist, d. h. etwas, das als Urteilsmotiv seine Schuldigkeit tut. Das wäre am Ende doch unverständlich, wenn es demjenigen, der „im Hinblick“ auf anderes urteilt, nicht in der Regel bereits einigermafsen nach Evidenz zumute wäre, gleichviel, ob solche den Motiven zukommt oder nicht. Allerdings, wie eben bemerkt, nur in der Regel: es gibt, wie nicht verkannt werden darf, Urteilsmotivationen ohne das eben berührte evidenzartige Moment so gut, als es Urteile ohne Evidenz im gewöhnlichen Wortsinne gibt, nur vermutlich beträchtlich seltener. Läfst sich etwa jemand beikommen, nach der zweiten Figur affirmativ, oder nach der dritten Figur universell zu schliefsen, so urteilt er zwar voraus- sichtlich ebenfalls „im Hinblick“ auf die Prämissen : ein Evidenz- anteil welcher Art immer wird aber diesem Motivate doch nicht wohl zuzusprechen sein.

An das also eben als Regel Bezeichnete knüpft sich nun die Frage: was haben wir eigentlich in diesem Evidenzartigen vor uns? Hat man ein Recht, hier kurzweg von Evidenz zu reden und daraufhin den Evidenzbegriff angemessen zu erweitern ? In der ersten Auflage dieser Schrift 1 habe ich mich damit begnügt, durch Prägung des vorläufigen Terminus „relative Evidenz“ die Frage eher einer genaueren Untersuchung vorzulegen als sie wirklich selbst zu beantworten. Praktisch schien mir diese Be-


1


S. 68 u. ü.


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zeichnungsweise das für sich zu haben, dafs derlei „relative Evidenz“ unter günstigen Umständen mit Evidenz im gewöhnlichen Sinne, also, wenn man so sagen will, absoluter Evidenz zusammen auf- tritt und dann eine Art Voraussetzung der letzteren abzugeben scheint. Theoretisch aber könnte dies die Frage nahe legen, ob der Schein der Evidenzähnlichkeit nicht am Ende eben nur darauf zurückgeht, dafs man es da mit Konklusionen zu tun hat, die ihrerseits zur eigentlichen Evidenz in der angedeuteten engen Beziehung stehen. Diese Deutung klingt einigermafsen an Betrachtungsweisen an, die man in der Psychologie gern als „empiristische“ bezeichnet hat, und es wäre nicht das erste Mal, wenn sich das „Empiristische“ keineswegs als das in besonderem Mafse Empirische d. h. Erfahrungsgemäfse bewährte: jedenfalls scheint mir das Zeugnis innerer Wahrnehmung vorerst solcher Auffassung nicht gerade günstig zu sein.

Dagegen wird es vielleicht gelingen , zu einiger Klarheit über diese Dinge zu gelangen, wenn wir von dem immerhin •etwas befremdlichen Falle, dafs Evidenz aus evidenzlosen Urteilen resultiert, uns nun auch den in gewissem Sinne noch stärkeren Fällen zuwenden, in denen Evidenz nicht nur nicht auf Evidenz, sondern auch nicht einmal auf Urteil zurückgeht. Es wird sich dabei zugleich zeigen, dafs die Konzeption des Begriffes der „relativen Evidenz“ durch einen den Tatsachen besser Rechnung tragenden Begriff ersetzt werden kann.


§ 30 .


Evidenz aus ungeurt eilten Prämissen.


Es handelt sich hier übrigens um ganz alltägliche Dinge. Schon zu Anfang dieses Kapitels war der Tatsache Erwähnung zu tun, dafs die Lehre von den Schlüssen herkömmlich in erster Linie formalistisch bearbeitet wird, indem dabei auf die kon- kreten Erlebnisse des Schliefsenden nahezu gar keine Rücksicht genommen erscheint. Man interessiert sich, was nebenbei für den von Natur vorwiegend gegenstandstheoretischen Charakter der Schlulslehre sehr bezeichnend ist, in erster Linie eben nur für das durch Prämissen und Konklusion repräsentierte Gegen- ständliche, für Aufsergegenständliches zunächst nur, soweit es sich um das Erfordernis der Evidenz handelt. Diese Evidenz aber scheint von der Evidenz, ja selbst Gültigkeit der Prämissen wie


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der conclusio so wenig abhängig, nimmt vielmehr eine so selb- ständige Stellung ein, dafs man sich längst daran gewöhnt hat, von der „formalen Richtigkeit“ eines Schlusses ganz ohne Rück- sicht auf die „materielle Wahrheit“ der darin auftretenden Urteile zu handeln. Ja man legt bei Feststellung der beim Scliliefsen in Frage kommenden Gesetzlosigkeiten augenscheinlich gar keinen Wert darauf, mit wirklich Geurteiltem als Prämissen und Konklusionen zu operieren, indem man alles Erforderliche ganz wohl an fingierten Urteilen einzusehen vermag, deren Richtig- keit man ohne Schaden in suspenso läfst, falls man nicht etwa gar von ihrer „materiellen“ Falschheit überzeugt ist. Und ohne Zweifel verdienen diese Tatsachen die Aufmerksamkeit eines jeden, der über Überzeugungs- und Evidenzvermittlung zur aus- reichenden Klarheit gelangen will : aber erst vom Standpunkte des eigentlichen Gegenstandes der gegenwärtigen Ausführungen betrachtet stellen sie sich als der nächste Grund dar, um dessen willen im Obigen eine Art Digression nach den Fragen der mittelbaren Evidenz hin unternommen werden mufste. Hoffent- lich wird sich nun alsbald herausstellen, dafs eine solche Digression zur Gewinnung einer einigermafsen sicheren Grundlage für das Folgende unerläfslich war, — zugleich aber auch, dafs eben dieses Folgende Anspruch darauf hat, in einer Untersuchung über „An- nahmen“ seine Stelle zu finden.

Was geht also vor, wenn ich, wie man mehr kurz als genau sagt, aus Prämissen eine Konklusion erschliefse, in bezug auf welche ich meine Überzeugung ganz ebenso in suspenso lasse wie in bezug auf die Prämissen, falls ich nicht etwa sogar von der Ungültigkeit sowohl des Schlufssatzes wie seiner 'S oraus- setzungen überzeugt bin? Dafs hier in Wahrheit nicht wirklich geschlossen wird, scheint klar, dagegen könnte man versuchen, die Evidenz, die hier ohne Zweifel vorliegt, auf das Urteil über einen Sachverhalt zu beziehen, der beim wirklichen Schliefsen seine Bedeutung bewährt hat und im gegenwärtigen Falle sozu- sagen nur um der Eventualität wirklichen Schliefsens willen Be- achtung findet. Genauer etwa: man trifft an den Schlüssen, den wirklichen natürlich, gewisse übereinstimmende Äufserlichkeiten an; man hebt sie als „Form“ heraus, die man dann mit einer beliebigen „Materie“ ausfüllen kann, um damit nur zu behaupten,, dafs, falls die Prämissen zu recht bestünden, auch die Konklusion mit Recht zu fällen wäre. An dem vorliegenden Quasischlussc


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wäre demnach eigentlich gar nichts einzusehen, als dafs er eine „Form“ auf weist, die sich an erfolgreichen, d. h. zu Einsichten führenden Schlufsvorgängen tatsächlich bereits erprobt hat. Nun ist es ja wirklich aufser Zweifel, dafs unser Wissen über „Denk- formen“ zunächst unseren Erfahrungen am lebendigen Denken entstammt. Sind wir aber, um die Gültigkeit des Modus Barbara oder Celarent einzusehen, wirklich auf Induktion aus einer Reihe experimentell zu ziehender oder doch der Erinnerung zu ent- nehmender Schlüsse angewiesen? Ich kann keinen Augenblick darüber im Zweifel sein, dafs zur Erzielung der ganzen hier erforderlichen, ja der zunächst hierfür charakteristischen Evidenz der Quasischlufs trotz Ungültigkeit oder Unausgemachtheit seiner Bestandstücke ganz allein ausreicht : damit ist dann

aber auch erwiesen, dafs der „richtigen Form“ eben doch eine andere als die eben versuchsweise erwogene Bedeutung zu- kommen mufs.

Besseren Erfolg könnte in diesem Zusammenhänge die Heran- ziehung des wiederholt erwähnten „Schlufsgesetzes“ versprechen. Wirklich hat sich ja bisher alle Theorie des Schliefsens bei diesem „Gesetze“ mit besonderer Vorliebe aufgehalten. Dann lehrt aber auch die direkte Erfahrung, dafs gerade hinter diesem „Gesetze“ ein der Evidenz in besonders auffälliger Weise zugänglicher Tat- bestand steckt. Daran, in diesem „Schlufsgesetz“ das Wesen des „wirklichen“ Schlusses zu suchen, kann nach obigem natürlich nicht mehr gedacht werden; davon ist jetzt aber auch gar nicht die Rede. Dagegen fragt sich nun, ob die Einsicht in die „formale Richtigkeit“ eines Schlufsverfahrens nicht wenigstens als Evidenz eines hypothetischen Urteils beschrieben werden kann.

Es gilt für selbstverständlich, — mit wie viel Recht, soll weiter unten festzustellen versucht werden \ dafs man dasjenige, was im hypothetischen Urteile eigentlich behauptet wird, weder im Vorder- noch im Nachsatz zu suchen hat, sondern sozusagen in der Mitte zwischen beiden, in der Relation, die sie verbindet. Näher handelt es sich dabei offenbar um einen Zusammenhang, aber einen Zusammenhang zwischen was für Gliedern? Gerade in unserem speziellen Falle liegt hierauf eine Antwort nahe, von der dann immerhin unausgemacht bleiben könnte, inwiefern sie


1 Vgl. § 31.


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eine Ausdehnung auf das Gesamtgebiet des hypothetischen Urteils gestattet. Man kann nämlich vermuten : das, zwischen dem der Zusammenhang in Anspruch genommen wird, seien die Prämissen einerseits, die conclusio andererseits, Urteile also, die in den uns derzeit zunächst beschäftigenden Fällen suspendierter oder gar gegensätzlicher Überzeugung nun freilich nicht wirklich gefällt, sondern blofs vorgestellt sind . 1 Ich stelle mir also etwa vor, dafs ich die Prämissen urteile: ich komme dann zur Evidenz dafür, dafs diese Urteile nur mit dem in der conclusio ge- gebenen dritten Urteile verträglich sind, dafs also, wenn jene gelten , auch diese gelten mufs , oder wie man es sonst aus- drücken mag.

Auf die Determinationen, die diese Auffassung im einzelnen annehmen kann, meine ich indes genauer nicht eingehen zu müssen, weil schon ohne Rücksicht auf diese Ausgestaltungen die Unhaltbarkeit des Hauptgedankens ausreichend ersichtlich ist, wenn man ihn der Erfahrung gegenüberstellt. Diese lehrt ja deutlich, dafs, indem ich etwa die Gültigkeit des vielberufenen Modus Barbara einsehe, ich weder an mich, noch an mein Ur- teilen, sondern blofs an die betreffenden Subjekte, Prädikate und was diese angeht denke. Die Rolle, welche beim wirklichen Schliefsen dem wirklichen Urteilen zufällt, im Falle blofsen Erfassens der Schlufsf'ormen dem vorgestellten Urteilen zu- zuweisen, ist also ein ganz unempirisches und darum unbrauch- bares Auskunftsmittel.

Ich habe hier, zunächst um dadurch eigenen älteren Auf- stellungen ausdrücklich entgegentreten zu können, noch einmal auf Eventualitäten zurückgegriffen, deren Erwägung durch die Untersuchungen der früheren Kapitel dieses Buches bereits ent- behrlich geworden sein dürfte. Wer einmal auf das Objektiv achten gelernt hat, sieht es jedem hypothetischen Urteile sozu- sagen unmittelbar an, dafs es sich dabei um Objektive handelt, die in der Bedeutung des Vordersatzes resp. Nachsatzes zur Gel- tung kommen. Wir sind damit an einen Punkt gelangt, bei dem eine den Annahmen gewidmete Untersuchung schon ohne Rück- sicht auf die uns augenblicklich beschäftigenden kragen als bei einem wichtigen Typus für das Auftreten der Annahme zu ver- weilen Grund hat. Denn das Vorder- und das Nachobjektiv, wie


1 So Hume-Studien 2, S. 107.


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wir hier ebenso kurz als verständlich sagen können, wird zwar in der Logik immer als eine Art Urteil behandelt, an dem sie z. B. „Qualität“ und „Quantität“ variabel sein läi'st wie bei irgend einem Urteile sonst. Aber genau genommen heilst hier „Urteil“ wie so oft nichts weiter als „Objektiv“, da in Wahrheit, wie wir sahen, von einem Glauben des Vorder- und eventuell auch des Nachsatzes durchaus nicht, wenigstens nicht als obligatorisch, die Rede ist. Nach unserem oft bewährten Prinzipe aber mufs ein erfafstes und nicht geurteiltes Objektiv ein angenommenes sein.

Wir können also ganz allgemein sagen: im Vorder- und Nachsatz, des hypothetischen Urteils haben wir unter den obigen Voraus- setzungen den Ausdruck von Annahmen vor uns.

Treten wir nun unter diesem Gesichtspunkte auch wieder an die Schlüsse mit suspendierten Prämissen heran, so zeigt er sich einer Bestimmung derselben als hypothetische Urteile zu- nächst noch nicht ungünstig. Es leuchtet ja ein, dafs auch sus- pendierte Prämissen, in denen es sich wieder nur um Objektive handeln kann, der Voraussetzung nach nicht geurteilt, daher nur angenommen sein können. Dagegen verschwindet der Schein des Zusammenfallens, wenn man der Relation nachfragt, die im hypothetischen Urteil zwischen Vorder- und Nachobjektiv in An- spruch genommen wird, und dieser nämlichen Relation dann auch bei den in Rede stehenden Schlüssen nachgeht. Die das hypothetische Urteil gleichsam beherrschende Relation kann man, sofern man in betreff ihrer Natur möglichst wenig präjudizieren will, ganz äufserlich, aber ausreichend deutlich als Wenn-Relation bezeichnen. An diese Wenn-Relation denkt, das scheint un- zweifelhafte Erfahrungstatsache, der Schliefsende normalerweise ' 1 überhaupt nicht; und wenn er ja einmal daran denkt, so besteht l j das Schliefsen hier so wenig in diesem Denken, als beim ge- wöhnlichen Schlüsse aus geglaubten Prämissen das Schliefsen im Denken an die etwa vorliegende Weil-Relation besteht.

Was so die Heranziehung des hypothetischen Urteils (in her- kömmlicher Auffassung) nicht zu leisten vermag, das könnte die Berücksichtigung des eben erwähnten Annahmecharakters der suspendierten Prämissen zu ergeben scheinen, zusammen mit der Frage, ob dieser Charakter wirklich, wie auf den ersten Blick für selbstverständlich gelten mag, auch der Konklusion zukommen müsse. Eine sehr auffallende Eigentümlichkeit am sprachlichen Ausdrucke ist es, die diese Frage nahe legt. Um nämlich einen


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solchen Schlufs auszusprechen, kann man etwa so beginnen : „es sei A B, und es sei ferner B C.“ Dafs es sich da um An- nahmen handelt, tritt in diesen Konjunktiven besonders deutlich zutage. Nun kann man aber schwer fortsetzen: „daher sei auch A C“. Der Indikativ „daher ist“, oder besser „dann ist A C“ erscheint hier allein natürlich . 1 Die Sprache gestattet uns also nicht, die Konklusion ebenso zu behandeln wie die Prämissen. Das, worauf dieser Indikativ aufmerksam zu machen scheint, ist einfach dies: die Konklusion im Schlufs mit suspendierten Prä- missen könnte am Ende selbst nicht ebenfalls susjrendiert, sie könnte nicht blofs angenommen, sondern geurteilt sein.

Auf den ersten Blick sieht das freilich wie die bare Absur- dität aus. Wenn ich es ausdrücklich dahingestellt sein lasse, ob A B und B C ist, wie soll ich dann etwas über A und C be- haupten können? Aber man hat beim Gebrauche jenes Indika- tivs ein so deutliches Gefühl der guten Zuversicht, dafs man sich -wohl fragen darf, ob dieses „dann ist A C“ nicht doch in einer Weise verstanden werden könnte, in der ein Urteil für wohl- berechtigt gelten dürfte. In der Tat gibt es eine solche Inter- pretation und sie ist bei theoretischer Bearbeitung des Syllogis- mus schon oft genug zur Sprache gekommen. Halten wir uns der Einfachheit wegen an das hier bereits in Verwendung- stehende Formel-Paradigma für den Syllogismus nach dem Modus Barbara, so kann man ja sagen: es fehlt gewifs nicht an einem Gegenstände A , dem mit Recht das Prädikat C zugesprochen werden kann. Es ist jener Gegenstand A, der das Prädikat B hat, und zwar auch nicht kurzweg das Prädikat B , sondern jenes B, dem das Prädikat C zukommt . 2 Von dem so determinierten A kann das G unbedenklich ausgesagt werden. Eine Bürgschaft dafür, dafs ein solches A existiert, oder auch nur, dafs es be- steht, ist natürlich nicht zu leisten ; aber das entspricht durchaus der Erkenntnislage, wie sie den suspendierten Prämissen, d. h. den blofs angenommenen und nicht geglaubten Objektiven völlig


1 Anders, wenn die Konklusion eigentlich mehr per accidens als solche auftritt, indem etwa erst sie eine Grundlage für weitere, auf Annahmen gestellte Denkoperationen abzugeben hat. „Gesetzt, X sei 20, Y 40 Jahre alt, Y also zweimal so alt als X. Gesetzt ferner, . . . .“

2 Von gegenstandstheoretischen Ungenauigkeiten, wie sie z. B. dem altehrwürdigen Prinzip „Nota notae est nota roi ipsius“ leicht nachgewiesen werden können, wird hier natürlich ohne Schaden abzusehen sein.


Annahmen bei Operationen an Objektiven.


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geiuäfs ist. Der Schlufssatz gilt in dem eben angegebenen einge- schränkten Sinne unter Voraussetzung der Daseins- und eventuell sogar Bestandfreiheit seines gegenständlichen Materials, die ganz ■gut zu der Bestandfreiheit stimmt, unter deren Voraussetzung die Prämissen-Objektive in die Betrachtungssphäre des Schliefsen- den einbezogen worden sind.

Das hier am Modus Barbara Dargelegte wäre natürlich mutatis mutandis auch von jedem anderen Modus kategorischen Schliefsens auszuführen und nicht minder über den. Umkreis dieser Modi hinaus. Letzteres belege hier noch der modus „po- nendo ponens“ des hypothetischen Schlusses, der für unsere .Zwecke etwa in folgende formelhafte Gestalt zu bringen wäre : „Gesetzt, es bestehe die Relation: wenn A ist, so ist B. Gesetzt ferner, es seiM, dann ist B.“ Hier kann man nun etwa sagen: wenn A ist, dann ist auch jenes B, das ist, wenn A ist. An die Stelle des resultierenden kategorischen Urteils im vorigen Formel- beispiel tritt hier allerdings ein hypothetisches, das, soviel ich sehe, sich nicht beseitigen läfst. Auch ist, dafs die Evidenz eines solchen Urteils auf dessen tautologische Natur zurückgeht, hier ganz besonders auffallend.

Aber eben in dieser Tautologie, die deutlich an das „ana- lytische Urteil“ im engen KANTschen Sinne anklingt, zeigt sich die Gleichartigkeit mit dem zuvor betrachteten kategorischen Falle: wieder ist es die determinierende Einschränkung, hier die des B, die für die Geltung des vorliegenden Urteils wesentlich ist. Und hier wie dort vollzieht sich das Urteil „im Hinblick“ auf etwas, das nicht geurteilt, sondern angenommen ist. Von dem aber, was uns oben bei der mittelbaren Urteilsevidenz unter dem Namen „Hinblick“ begegnet ist, unterscheiden sich beide Fälle wesentlich, sofern bei ihnen einfach das, worauf „hinge- blickt“ wird, in das Urteilsmaterial aufgenommen erscheint. Der „Hinblick“ geht also nur dem Anscheine nach über das Urteil hinaus, das in Wahrheit ein apriorisches Urteil von ganz ge- wöhnlicher Beschaffenheit ist. Prämissen im eigentlichen Sinne hat es gar nicht, und die dem Urteile vorangehenden Annahmen dienen näher gesehen nicht eigentlich zum Erfassen von Prä- missen; sie bereiten vielmehr das apriorische Urteil vor, indem sie dessen Gegenstände in einer Weise ergreifen und gewisser- .mafsen dem Urteilen vorlegen, in der wir durch spätere Unter- st einong, Über Annahmen, 2. Aull. IS


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Buchung eine wesentliche Funktion der Annahmen kennen lernen werden . 1

Dafs dieses Urteil, in dessen Objektiv man also jedesmal die bis zu ausschliefslich formaler Bedeutung restringierte conclusio- vor sich hat, notwendig zu Recht besteht, wo das oben be- sprochene hypothetische Urteil gilt und umgekehrt, ist nach dem Dargelegten ebenso selbstverständlich, als andererseits die Be- trachtung der jedesmal geurteilten Objektive die prinzipielle Ver- schiedenheit dieser beiden Urteile aufser Zweifel setzt. Können wir nun aber daraufhin in diesem letzteren Urteile das Wesent- liche der blofs die formale Seite herausarbeitenden Schlufs- operation, und sonach in der Evidenz dieses Urteils die eigen- tümliche an den „Schlufs mit suspendierten Prämissen“ unter günstigen Umständen sich anschliefsende Evidenz erblicken?

Dafs dies immer noch nicht der Fall ist, ergibt sich einfach daraus, dafs im Schlüsse aus suspendierten Prämissen nicht die restringierte, sondern sozusagen die volle Konklusion zur Geltung kommt. Nicht dafs A mit gewissen es determinierenden Vorbe- halten, sondern dafs A kurzweg C ist, ist hier das Ergebnis. Dafs dieses z. B. an gewisse Bedingungen hinsichtlich des B ge- knüpft erscheint, ist, so nahe diese Bedingung ihrer Geltung nach mit jener Restriktion zusammengehört, doch ein wesentlich anderer Gedanke.

Wir dürfen also einfach zusammenfassen: das, wohin die uns beschäftigenden Schlüsse aus nicht geurteilten, also blofs an- genommenen Prämissen tendieren, ist weder das Schlufsgesetz,. noch die, gleichviel ob kategorische oder hypothetische, restrin- gierte Konklusion, sondern, wie wir von Negation zur Position übergehend beifügen dürfen, die volle Konklusion, aber nicht als geurteilt, sondern als angenommen. Die Analogie zu den eigentlichen Schlüssen aus geurteilten Prämissen liegt auf der Hand: wie diese von der Urteilung der Prämissen zur Urteilung des Schlufssatzes, so führen jene vom Annehmen der Prämissen zum Annehmen des Schlufssatzes. Nur die eine Frage drängt sich diesem sonst gewifs in sich plausiblen Resultate gegenüber auf : was sollen wir von der Tatsache denken, dafs auch diesen Schlüssen aus angenommenen Prämissen, wie wir auf Grund so leicht zugänglicher Erfahrungen behaupten durften, etwas vie


1 Vgl. unten Kap. VIII.


Annahmen bei Operationen an Objektiven.


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Evidenz anhaftet? Soviel ich sehe, wird man dieser Tatsache gegenüber, sowie mit Rücksicht darauf, dafs unsere Versuche, obligatorische Urteile als Träger dieser Evidenz namhaft zu machen, fehlgeschlagen sind, nur einfach das daraus zu lernen haben, dafs nicht nur Urteile, sondern auch Annahmen Evidenz haben können. Die Analogie zu den gewöhnlichen Schlüssen wird dann eine noch durchgreifendere: es ist klar, dafs es sich in beiden Schlufsfällen um jene Evidenz „im Hinblick ’ 1 handeln mufs, die wir oben in der sogenannten mittelbaren Evidenz an- getroffen haben. Dafs sonach nicht nur Urteile, sondern auch Annahmen sollen evident sein können, wird freilich nicht jedem unbedenklich erscheinen; vielleicht auch das nicht, dafs diese Annahme-Evidenz sofort den Charakter der mittelbaren Evidenz an sich trägt, ohne dafs sich auch Fälle unmittelbarer Evidenz bei den Annahmen scheinen empirisch nachweisen zu lassen. Doch wird auf diese Dinge besser in einem späteren Zusammen- hänge 1 zurückzukommen sein.

Dagegen wird am besten schon hier darauf hingewiesen, dafs unter der Voraussetzung von Annahmen, die in eben gekenn- zeichneter Weise evident sind, ein Evidenzproblem der Lösung näher rücken dürfte, das uns oben bei den Schlüssen aus evidenz- los geurteilten Prämissen begegnet ist .' 2 Wir fanden an solchen Schlüssen eine gewisse Einsichtigkeit, die mit dem Evidenzmangel bei den Prämissen in einigermafsen erstaunlichem Kontraste steht, und eigentlich in noch erstaunlicherem Kontraste zu dem am Ende doch auch wieder unverkennbaren und ganz natür- lichen Evidenzmangel bei der conclusio. Im Sinne der ersten Auflage dieser Schrift zu sagen, dieser conclusio fehle die ab- solute Evidenz, eigne aber dafür eine relative, führt den Ein- blick in die Tatsachen doch kaum erheblich weiter. Haben wir dagegen nun einmal Evidenz auch bei Annahmen angetroffen, und zwar eine Evidenz „im Hinblick“ auf Annahmen, denen einen Evidenzvorzug zuzusprechen wir keinerlei Grund auf- zuweisen in der Lage wären, dann wird wohl die Vermutung am Platze sein, das, was sich uns zunächst als eine Art Urteils- evidenz aus evidenzlosen Urteilen darstellte, müsse als eine An- nahmeevidenz aufgefafst werden, die mit dem an sich evidenz-


1 Vgl. unten Kap. X § 60.

2 Oben § 29.


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losen Konklusionsurteile Hand in Hand gehe. Allerdings unter «iner Voraussetzung, auf die gleichfalls weiter unten 1 noch zu- rückzukominen sein wird und die beim gegenwärtigen Stande unseres Wissens keinesfalls für selbstverständlich gelten darf. Es ist die \ oraussetzung, dals jedes Urteil sozusagen a potiori eine Annahme gleichen Objektivs involviert, wie etwa die kleinere Strecke in der gröfseren, kurz der Teil im ganzen enthalten ist. Dann könnte natürlich leicht dem als Urteil evidenzlosen Er- lebnis immer noch eine Evidenz anhaften, welche nur die im Urteil enthaltene Annahme betrifft. Unter diesem Gesichtspunkte ist dann ein besonderer Begriff „relativer Evidenz“ beim Urteile überflüssig: dagegen könnte er seine bisherige Bedeutung, ein Problem zu fixieren, beibehalten, sofern die eben dargelegte Auf- fassung den Tatsachen doch nicht gerecht zu werden vermöchte.

Das Hauptergebnis der Untersuchungen des gegenwärtigen Kapitels können wir nunmehr aber so formulieren : Es gibt nicht nur Schlufsoperationen, die von Urteilen zu Urteilen, sondern auch solche, die von Annahmen zu Annahmen führen. Letztere kann man passend Annahmeschlüsse nennen und sie den übrigen als den Urteilsschlüssen gegenüberstellen. Annahmeschlüsse können sehr wohl für sich allein auftreten; sie sind aber auch stets in die Urteilsschlüsse impliziert. Das erhellt daraus, dafs auch die „Form“ der letzteren unter den Gesichtspunkt von .Richtig und Unrichtig, resp. von Evident und Nichtevident fällt. Evidente Urteile nämlich erschliefst man natürlich blofs aus evidenten Prämissen, indes auch Urteile, die aus evidenzlosen Prämissen erschlossen sind, trotz ihres Evidenzmangels einen Evidenzanteil aufweisen, der mit der Evidenz der implizierten Annahmen zusammenfällt und vom Geurteiltwerden der Prämissen so wenig abhängig ist, dafs er auch ohne alles Urteilen auf- treten kann, sobald die geeigneten Prämissen nur durch An- nahmen erfafst sind.

Es scheint mir kein gering anzuschlagender Vorzug der hier vorgelegten Lösung unseres Problems, dafs dabei die "Verwandt- schaft dieser uneigentlichen Schlüsse den eigentlichen gegenüber bei aller Verschiedenheit der Sachlage hier und dort gleich- wohl in dem für das Schliefsen wesentlichen Punkte gewählt bleibt. Man begreift unter diesen Voraussetzungen ganz wohl,


1 Vgl. Kap. X, § 63.


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weshalb man die uns hier beschäftigende Operation an den sus- pendierten oder gar verworfenen Prämissen ohne weiteres als „Schliefsen“ bezeichnet, obwohl ein Schlufs im gewöhnlichen Sinne gar nicht vorliegt, in diesem Sinne also auch nicht ge- schlossen wird. Es wäre dies unverständlich, wenn dergleichen Erfassen der „blofsen Form“ vom Schliefsen so weit abläge, wie etwa das Fällen eines Relationsurteiles vom Gewinnen der Evidenz für ein Urteil aus anderen Urteilen eben liegen mufs. Dagegen ist das Gewinnen der Evidenz für eine Annahme aus anderen Annahmen ein dem eigentlichen Schliefsen ganz analog gebildeter Vorgang; es ist daher ganz begreiflich, dafs für den Gebrauch des Wortes „Schliefsen“ hinter dieser Analogie die an sich gewifs nicht unbeträchtlichen Verschiedenheiten zurück- treten.


§


31 .


Die Natur des hypothetischen Urteils.


Wir sind durch die Untersuchungen des vorigen Paragraphen wiederholt auf das geführt worden, was man dem Herkommen der Logik gemäfs als hypothetisches Urteil zu bezeichnen sich gewöhnt hat. Dem Wesen desselben hier nun ausdrücklich noch nachzugehen, scheint mir einerseits durch den Umstand geboten, dafs den Annahmen auch hier eine ganz charakteristische Be- deutung zukommt. Aufserdem aber habe ich diese Bedeutung in der ersten Auflage des vorliegenden Buches dahin zu formu- lieren versucht, dafs derlei hypothetische Urteile selbst nichts anderes wären als Annahmeschlüsse. Das wäre ungefähr das Widerspiel zu dem im obigen bekämpften Versuche, den Schlufs zu einer Art hypothetischen Urteiles zu machen. Dem Widerspruche, den meine These gefunden hat, als berechtigt ausdrücklich statt- zugeben, scheint mir nun hier der richtige Ort, — aufserdem aber auch darzulegen, warum ich trotzdem nicht meine, auf eine der bisher herrschenden Auffassungen des hypothetischen Urteiles einfach zurückgreifen zu können.

Gesetzt also, es spreche jemand den Satz aus: „Wenn man von der Spitze des gleichschenkeligen Dreieckes auf dessen Grundlinie ein Lot fällt, so wird diese halbiert“ ; was wird nor- malerweise im Redenden Vorgehen? Ist insbesondere und vor allem etwas von einem Urteile über einen Zusammenhang zu


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Sechstes Kapitel.


merken ? Tritt man unter dieser Fragestellung an die Tatsachen hei an, so scheint vor allein jedenfalls ein Zweifel daran aus- geschlossen, dafs diese 1 atsachen von einem Gedanken an Zu- sammenhang oder eine verwandte Relation erstaunlich wenig bemerken lassen. Da und dort mag ein solcher Gedanke ja ganz wohl beteiligt sein, aber sollte man daraufhin ein Recht haben, das ganze Erlebnis, das in einer hypothetischen Periode zum Ausdruck kommt, als Zusammenhangsurteil zu bezeichnen? Und man kann hier noch weiter gehen: hat die Wendung „Wenn . . ., so . . überhaupt auch nur die Aufgabe, ein Urteil auszudrücken? Es wäre in der Tat ungewöhnlich genug, be- nutzte man dazu einen Satzkomplex etwa von der Form, „wenn A ist, so ist R", wo zunächst Vorder- wie Nachsatz für sich nicht anders funktionieren als Sätze sonst, das Zusammenhangs- urteil aber durchaus nicht in einem eigenen Satz und die an- geblich die Hauptsache ausmachende Relation des Zusammen- hanges keineswegs in einem Subjekts- oder Prädikatsworte zur Geltung käme.

Diese Erwägung findet ihre Bestätigung in dem Ehnstande, dafs, falls das „Wenn . . ., so . . .“ überhaupt geeignet sein sollte, ein Urteil auszudrücken, dieses höchst auffallenderweise nur ein affirmatives Urteil sein könnte. Denn es gibt keine negativen hypothetischen Urteile: dafs Vorder- wie Nachsatz negativ sein können, kommt ja hierfür gar nicht in Frage. Weit eher könnte man sich versucht fühlen, den Rang von Gegeninstanzen für Aussagen wie die folgende in Anspruch zu nehmen: „Wenn die Sonne scheint, braucht es deshalb nicht heifs zu sein“, oder „mufs es nicht heifs sein“ oder dgl. Deutlicher noch als dieses Beispiel, in dem man des Konditionalverhältnisses zwischen dem. was Vorder- und Nachsatz zu besagen hat, nicht jedesmal sicher sein möchte, wäre etwa die Position : „Wenn Vierecke gleichseitig sind, müssen sie noch nicht Quadrate sein“. Aber näher besehen handelt der Nachsatz in solchen Fällen nicht von der Hitze oder von Quadraten, sondern zunächst vom Müssen 1 : zwischen

1 Anders immerhin bei dem Seitenstück dazu, das man bei den „weil“- Sätzen und Ihresgleichen antrifft, z. B. in der Wendung: „Obgleich die Sonne scheint, ist es nicht heifs.“ Aber die aus solcher Aussage heraus- zuspürende Gegensätzlichkeit betrifft zunächst nicht einen Zusammenhang, der dadurch implizite negiert würde, sondern blofs den im Sinne solchen Zusammenhanges zu gewärtigenden Nachsatz, resp. das, was dieser zu be- sagen haben würde.


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dem Vorder- und dem eigentlichen Nachsatze stehen hier also die Dinge genau wie sonst. Vom Zusammenhänge freilich ist dabei nun ganz ausdrücklich die Rede, und ich denke auch nicht daran, zu bestreiten, dafs ein solcher unter Umständen ganz wohl affirmiert oder negiert werden kann. Aber an dem sprach- lichen Gewand, in dem solche Affirmationen oder Negationen aufzutreten pflegen, wird nur erst recht ersichtlich, dafs, was in der hypothetischen Satzform ausgedrückt erscheint, von Haus aus schwerlich ein Zusammenhangsurteil sein wird . 1

Zu günstigeren Ergebnissen dürfte gelangen, wer sich mit Hilfe der Analogie von Perioden zu orientieren versucht, die den hypothetischen ähnlich gebaut sind und diesen auch sonst nahe stehen. „Wo viel Freiheit, da ist auch viel Irrtum“. „So- bald es dämmert, werden die Gaslampen angezündet“, in welch letzterem Beispiele das „sobald“ auch durch das rein temporale „wenn“ zu ersetzen ist, das man dann manchmal noch als „wann“ dem konditionalen „wenn“ gegenüber zu differenzieren versucht, um dabei oft genug recht deutlich zu spüren, wie schwer im einzelnen das eine „wenn“ vom anderen zu sondern ist. Was bedeutet nun eine derartige syntaktische Konstruktion mit lokalen oder temporalen Konjunktionen? Sage ich etwa, „wo A ist, da ist R“, so mag das sehr wohl ein Urteil ausdrücken. Ist es aber eines, das neben oder gleichsam hinter den beiden Sätzen ,,A ist“ und „ B ist“ steht, höchstens deren Objektive in einer be- sonderen Relation erfassend ? Offenbar ganz und gar nicht. Der Urteilsausdruck liegt hier zunächst einfach im Nachsatz, und der Vordersatz bringt für das Material des letzteren nur noch eine Bestimmung bei. Unser zusammengesetzter Formel- satz behauptet einfach etwas darüber, wo B ist, indem dessen Ort durch den Ort des A näher präzisiert wird. B befindet sich eben am Orte des A. Ein temporales Beispiel liefse sich natür- lich ganz ebenso bearbeiten. Sollte daraus für konditionale Kon- struktionen nicht auch etwas zu lernen sein?

1 Die Polemik B. Russells („Meinong’s tlieory of complexes and assumptions“ II, Mind, N. S. 13, S. 342 f.) scheint mir die Intention dieser Ausführungen zu verkennen. Sie bestreiten durchaus nicht, dafs man über den Zusammenhang (mag es dabei mit der von Russell angezweifelten Not- wendigkeit wie immer bewandt sein) urteilen kann. Nur dies wollte und will ich zeigen, dafs das „Wenn . . ., so . . .“ ein solches Urteil nicht aus- drückt, und darum das durch das „Wenn . . ., so . . .“ korrekt in Worte gefafste hypothetische Urteil kein Zusaminenhangsurteil ist.


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Greifen wir vor allem noch einmal auf das Beispiel vom gleichschenkligen Dreieck zurück, um zu konstatieren, dafs dieses ohne allzugrofse Modifikation des Sinnes auch in einer anderen als der hypothetischen Form ausgesprochen werden kann. Man. braucht etwa nur zu sagen: durch ein von der Spitze des gleich- schenkligen Dreiecks auf dessen Grundlinie gefälltes Lot wird diese halbiert. Ist hier wirklich keine wesentliche Sinnesänderung vorgefallen, so handelt auch schon unser hypothetisches Urteil nicht von einem Zusammenhang oder einer Abhängigkeit zwischen Vorder- und Nachobjektiv, sondern von der Halbierung der Grundlinie des gleichschenkligen Dreiecks ; es wird also das Objektiv des Nachsatzes geurteilt mit einer gewissen Einschrän- kung, die im Vordersätze genauer bestimmt ist. Das ist, wie man sieht, ganz das analoge Ergebnis wie das oben bei den Temporal- und Lokalsätzen ; und was da geurteilt wird, steht ganz auf gleicher Linie wie die oben bei den blofs formalen Schlüssen behandelten restringierten Konklusionen . 1 LTnd dieses letztere Zusammentreffen ist offenbar kein zufälliges; läfst sich doch jeder formal gültige Schlufs, also, wie festgestellt, zunächst jeder Annahmeschlufs auch als hypothetisches Urteil aussprechen. Sage ich z. B. hypothetisch: „wenn alle Menschen ihre Schwächen haben, so war auch Goethe nicht frei von solchen“, so liegt hierin ja offenbar zugleich ein Schlufs „ad subalternatam“ mit suspendierter „subalternans“, und durch diesen ist die Berechtigung zum Urteilen der restringierten Konklusion ohne weiteres ge- währleistet. Dies führt zu der Vermutung, was im hypothetischen Urteil geurteilt wurde, sei der durch den Vordersatz restringierte Nachsatz. Dem Aspekt, den das hypothetische Urteil dem Naiven darbietet, entspricht dies ohne Zweifel besser als die Auffassung dieses Urteils als Zusammenhangsurteil, die dann auch noch ins- besondere darin, dafs sie eine Gleichbehandlung von Vorder- und Nachsatz als in gleicher Weise angenommenen Fundamenten dieser Zusammenhangsrelation in sich schliefst, mit der direkten Erfahrung schwer in Einklang zu bringen scheint. Und ver- stehe ich recht, so hat die These vom Urteilen des restringierten Nachsatzes erst in allerjüngster Zeit auch einen theoretischen Vertreter gefunden . 2


1 Vgl. S. 193 f.

2 D. H. Kkhlkk, „Über Annahmen“, S. 20f.


Annahmen bei Operationen an Objektiven.


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Dieser Auffassung des hypothetischen Urteils, die mir heute wirklich den Tatsachen am ungezwungensten Rechnung zu tragen scheint 1 , steht zunächst in manchen Fällen der sprachliche Aus- druck entgegen, auf den hier besonders hinzuweisen schon des- halb am Platze sein dürfte, weil es oben auch der sprachliche Ausdruck gewesen ist, der uns durch die Anwendbarkeit des Indikativs beim Ausdrucke von Konklusionen auf die restringierten Sätze zuerst aufmerksam gemacht hat. Bleiben wir nämlich vorübergehend noch einmal beim Schlüsse stehen , so finden wir, dafs dieser Indikativ versagt, sobald das Schliefsen aus suspendierten Prämissen in den sozusagen noch stärkeren Fall des (formal richtigen) Schliefsens aus falschen, nämlich vom Schliefsenden für falsch gehaltenen Prämissen übergeht und in dem Umstande kein Hindernis findet, dafs der Schliefsende auch die so sich ergebende Konklusion für falsch hält. Jeder indirekte Beweis bietet hierhergehörige Belege. Auch er kann hinsichtlich der Prämissen sich des Konjunktivs bedienen: „gesetzt A wäre B, gesetzt ferner, B wäre C“. Aber er kann nicht fortfahren: „dann ist A auch (7“, sondern nur: „dann wäre A auch G“, obwohl die restringierte Konklusion immer noch zweifellos zu Recht besteht, daher stets durch einen Satz im Indikativ zur Aussprache gelangen könnte. In die Sprache des hypothetischen Urteils ist das alles natürlich leicht genug übersetzt, nicht minder leicht anderes hinzugefügt, was sich nicht ohne weiteres in die Gestalt des Schlusses würde bringen lassen:

„Dürft’ ich wünschen, wie ich wollt’,

Wünscht ich mir Blätter von lauter Gold“,

u. dgl. m. Überall findet man da in gleicher Weise den Kon- junktiv, den wir längst als Annahmezeichen kennen. Darf man da immer noch von Urteilung des restringierten Nachobjektivs reden? Es kann sich natürlich nicht darum handeln, diese These aus den Konj unktivf ällen heraus zu beweisen; es genügt, wenn man zeigen kann, dafs der Konjunktiv nicht in jeder Weise ein Urteil ausschliefst. Dies aber scheint mir zu leisten möglich. Angesichts eines ungleichseitigen Dreieckes kann ich ja ganz korrekt sagen: „ein gleichschenkliges Dreieck hätte auch die Winkel an der Grundlinie gleich“ ; ich denke aber nicht daran, etwa die Winkelgleichheit beim gleichschenkligen Dreiecke nur


1 Nur daf« 8ie, wie sich sogleich zeigen wird, einer Ergänzung bedarf.


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anzunehmen. Hier betrifft der Konjunktiv und mit ihm die Annahme nur die Tatsächlichkeit der gleichen Winkel, und man wird wohl berechtigt sein, Konjunktive im Nachsatz hypothetischer Urteile auch nicht anders zu deuten.

Dagegen könnte es sein, dafs eine andere Schwierigkeit sich nicht für jedermann restlos beheben läfst. Sie betrifft jenen be- reits oben angeführten, anscheinend einfachsten Fall, der formel- haft durch das nicht temporal, sondern konditional verstandene „Wenn A ist, so ist B“ repräsentiert wird. Man hat hier den Eindruck, als ob gerade die Einfachheit der Sachlage es mit sich brächte, dafs für eine angemessene Restriktion des Nachsatzes sich kein rechter Angriffspunkt finden will. Die Sache stellt sich bei einem etwas bestimmteren Beispiele sogleich günstiger, selbst bei einem so farblosen wie dem Lieblingsexempel der Schul- grammatiker: „Wenn es Götter gibt, so gibt es auch Götter- werke “, 1 wo man etwa formulieren kann: Werke existierender Götter existieren selbst. Dennoch scheinen eben gerade die Existentialsätze ganz allgemein ein unübersteigliches Hindernis dar- zubieten. Alle restringierten Schlufs- und Nachsätze sind, das ist ja ohne weiteres selbstverständlich, daseinsfrei 2 3 zu nehmen; wie könnte aber ein Existentialsatz daseinsfrei gelten? Einen Ausweg verspricht vielleicht F. Brentanos mir von A. Marty 3 so ein- dringlich vorgehaltene Umwandlung in die negative Form; man könnte ja wirklich mit Recht sagen: „A ohne B existiert nicht“, im Beispiele : „es gibt keine Götter ohne Werke“. Aber ohne auf das Meritorische der bereits oben 4 für eine andere Gelegen- heit zurückgestellten Kontroverse näher eingehen zu können, meine ich darauf verzichten zu müssen, etwas so deutlich af- firmatives wie die in Rede stehenden Beispiele für negativ zu nehmen, davon ganz abgesehen, dafs aus einer derartigen Um- formung weit eher ein restringierter Vorder- als Nachsatz zu re- sultieren scheint. Überdies aber dürfte man auf ein derartiges


1 Vgl. G. Stengler auf S. 942 der viel anregendes Material bei- bringenden Abhandlung „Zur Grammatik der hypothetischen Sätze auf Grund neuerer psychologisch-logischer Theorien des hypothetischen Ur- teiles“, in der Zeitschrift für österreichische Gymnasien, Jahrg. XLVI, 1895.

2 Vgl. „Über die Stellung der Gegenstandsth. im System d. Wiss.“, S. 28 ff., übrigens schon oben § 12.

3 „Untersuchungen usw.“, S. 340 ff.

4 Vgl. § 20.


Annahmen hei Operationen an Objektiven.


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Aufgeben der affirmativen „Qualität“ auch gar nicht angewiesen sein; denn es gibt, so seltsam das klingt, wirklich daseinsfreie Daseinsaffirmationen, und zwar auf einem Gebiete, dessen Ver- wandtschaft mit den restringierten Sätzen uns bereits aufgefallen ist, nämlich auf dem Gebiete des analytischen Urteils. Um mich des an anderer Stelle 1 verwendeten Paradigmas neuerlich zu be- dienen : dafs ein existierender goldener Berg (oder auch ein existierendes rundes Viereck) existiert, ist unangreifbar ; und doch existiert ein solcher Berg (und ein solches \ iereck) nicht. Ein derartiger Satz gilt also daseinsfrei. Unserem obigen hypo- thetischen Formelurteil kommen wir von da sogleich näher, wenn wir statt A im Vordersatz vorübergehend B setzen, was ergibt : wenn B existiert, dann existiert B ; denn hiervon ist ein Satz wie „ein existierendes B existiert“ kaum erheblich ver- schieden. Und nehme ich nun neuerlich das A in den Vorder- satz, so verschwindet wieder der tautologische Charakter, sonst aber bleibt alles wie bisher in dem Restriktionssatze : „B bei existierendem A existiert selbst“, wo die restringierende Determi- nation durch „bei“ nicht mehr gegen sich haben kann als die durch ein „ohne“ in einem Satze wie dem obigen „A ohne B existiert nicht“. Gegen die Existenz der Werke existierender Götter ist natürlich ebensowenig einzuwenden als gegen die des existierenden goldenen Berges, wenn man jedesmal „Existenz“ in jenem besonderen Sinne nimmt, auf den ich unter dem vor- läufigen Namen der „Existentialprädikation“ hingewiesen habe . 2 Hoffe ich in der Klärung dieser Sache inzwischen auch wieder einen Schritt nach vorwärts getan zu haben, so bleibt sie immer noch dunkel genug, um es begreiflich erscheinen zu lassen, wenn jemand an einer Auffassung des hypothetischen Urteils Anstofs nehmen sollte, die ohne Einbeziehung dieser „Existentialprädi- kation“ nicht wohl folgerichtig durchzuführen wäre. Ich selbst aber wiifste ihr in der Tat keine einigermafsen ebenso natürliche an die Seite zu stellen und formuliere sie daher zu der Be- hauptung: im hypothetischen Urteil liegt wirklich ein Urteil vor, und was darin geurteilt wird, ist der durch den Vordersatz re- stringierte Nachsatz.


1 „Über die Stellung der Gegenstandsth. usw.“, S. 17. Vgl. auch oben § 20, S. 141 f.

2 „Über die Stellung der Gegenstandstheorie“, S. 17.


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Wie man sieht, ist damit eine Position bezogen, die sich der von B. Erdmann als „Nachsatztheorien“ benannten Gruppe von Auffassungen des hypothetischen Urteils 1 einordnet, wobei ich immerhin der Hoffnung bin, dafs die „Nachsatztheorie“ im obigen zu einer Ausgestaltung gelangt, in der sie Erdmanns Einwürfen nicht ausgesetzt ist. Insbesondere, dafs das hypothetische Urteil gelten kann trotz Ungültigkeit nicht nur des Vorder- sondern auch des Nachsatzes , 2 ist im obigen sicher nicht unerwogen ge- blieben. Es verschlägt nichts, da als Nachsatz des hypothetischen Urteils nur der nicht restringierte Nachsatz in Betracht gezogen wird, der sehr wohl falsch sein kann, auch wenn es mit dem restringierten seine volle Richtigkeit hat. Dafs dagegen die Nach- satztheorie auf einen Unterschied affirmativer und negativer hypothetischer Urteile nicht eingestellt ist , 3 kann nicht bestritten werden, gereicht ihr aber kaum zum Schaden, wenn ich oben mit der Behauptung 4 im Rechte war, dafs es derlei Unterschiede in der „Qualität“ hypothetischer Urteile so wenig gibt als solche in der Modalität. Dennoch ist die Heranziehung des Gesichts- punktes der „Qualität“ auch den gegenwärtigen Feststellungen förderlich. Unter diesem Gesichtspunkte wird man nämlich fragen dürfen : wenn das hypothetische Urteil, wie nach dem Bisherigen leicht für selbstverständlich gehalten werden könnte, jenes restringierte Nachsatzurteil ist und sonst nichts, warum nennt man nicht wenigstens die hypothetischen Urteile affirmativ resp. negativ, sobald dieser Nachsatz affirmativ resp. negativ ist? Unsere Charakteristik des hypothetischen Urteiles mufs also zum mindesten eine unvollständige sein und wir haben uns um eine angemessene Vervollständigung umzusehen.

Solchem Vorhaben scheint mir in besonderem Mafse der Um- stand günstig, dafs man leicht hypothetische und gewöhnliche „kategorische“ Sätze nebeneinander stellen kann, die trotz dieser Verschiedenheit ganz erstaunlich Ähnliches besagen. Ob ich etwa behaupte: „ein Dreieck, das gleichseitig ist, ist auch gleich- winklig“, oder „ein Dreieck, wenn es gleichseitig ist, ist auch gleichwinklig“, das macht sicher keinen grofsen Unterschied.


1 Logik, Bd. I, 2. Aufl. S. 577.

2 A. a. 0. S. 578.

3 Vgl. a. a. 0. S. 579.

1 Oben S. 198f.


Annahmen bei Operationen an Objektiven.


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B. Erdmann redet da von „Mischformen“ 1 ; schwerlich mit Recht: hypothetisch ist jedenfalls nur die zweite dieser beiden Aussagen. Ich möchte nicht unterlassen, nebenbei darauf aufmerksam zu machen, wie deutlich diese Ähnlichkeit für eine „Nachsatztheorie“ spricht und wie schwer sie mit jeder anderen Auffassung, ins- besondere der oben als Ausgangspunkt verwendeten Zusammen- hangstheorie, wenn man so sagen mag, in Einklang zu bringen wäre.

Die Hauptfrage ist aber jetzt diese: können wir genauer sagen, was das zweite der beiden einander so ähnlichen Urteile yom ersten unterscheidet, und so wohl das ausmachen oder ent- halten mufs, was das „hypothetische Urteil“ charakterisiert? Offenbar ist wesentlich, clafs die in beiden Fällen vorliegende determinierende Restriktion des Subjektsbegriffes „Dreieck“ im zweiten Fall nicht durch einen Relativ- sondern durch einen Konditionalsatz erfolgt; was hat das zu bedeuten? Augenschein- lich wäre nicht jede für den Ausdruck durch den Relativsatz geeignete Determination auch durch den Konditionalsatz aus- driickbar. So könnte man ohne weiteres sagen: „ein Dreieck, das in einen Kreis eingeschrieben ist und gleiche Seiten hat, hat auch gleiche Winkel“, indes die Aussage: „Wenn ein Dreieck in einen Kreis eingeschrieben ist und gleiche Seiten hat, dann hat es auch gleiche Winkel“, merklich weniger korrekt wäre. Und dies offenbar deshalb, weil der umschriebene Kreis für die Gleich winkligkeit nichts verschlägt , indes die Gleichseitigkeit gerade die Eigenschaft ist, die dem Urteilenden die Gleich- winkligkeit glaubhaft, ja einsichtig macht. „Im Hinblick“ auf diese Gleichseitigkeit wird geurteilt, mag der Relativ- oder der Konditionalsatz beim Ausdruck in Anwendung kommen : der Konditionalsatz aber bringt zugleich zum Ausdruck, worauf hin- geblickt wird. Dafs aus diesem „Hinblick“ jedesmal Evidenz resultiere, wie günstigen Falles im gegenwärtigen Beispiel, ist dabei keineswegs unerläfslich : auch evidenzlose Überzeugung genügt. Sozusagen noch weniger erforderlich ist ein besonderes Bewufstwerden dieses Hinblickes durch Reflexion auf die für ihn wesentliche Operation, und ebenso wenig spielt ein Erfassen der Relation zwischen dem restringierenden Objektiv des Vorder- und dem. zu restringierenden Objektiv des Nachsatzes, unter deren


1 Logik, ßd. 1, 2. Aufl. S. 585 f.


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Voraussetzung der Hinblick auf Evidenz führen könnte, eine wesentliche Rolle.

Man kann also allgemein sagen: von „hypothetischen Ur- teilen“ ist nur dort die Rede, wo geurteilt wird „im Hinblick“ auf ein restringierendes Objektiv ; der Terminus kommt aber nur zur Anwendung, sofern zusammen mit dem Urteile selbst auch dieser Hinblick zum Ausdruck gelangt. Daraus läfst sich nun verstehen, warum es unter den „hypothetischen Urteilen“ keine negativen gibt, — und streng genommen auch keine affirmativen. Das „hypothetische Urteil" als Ganzes ist eben nicht ein Urteil, sondern eine Operation, die ein Urteil in sich schliefst. Diese Operation kann stattfinden oder nicht stattfinden, — aber sie kann nicht einmal affirmativ, einmal negativ stattfinden.

Mit Rücksicht auf das Dargelegte ist es vorerst sicher korrekter, von „hypothetischem Satz“, oder „hypothetischer Periode“ im Sinne der Grammatik, als von einem „hypo- thetischen Urteil“ im Sinne der Psychologie zu reden. Wie ist damit aber in Einklang zu bringen, dafs die Ausdrücke „hypo- thetischer Satz“, „hypothetisches Urteil“ in ihrer Anwendung über die Subjektivitäten von sprachlichem Ausdruck und erlebter Operation ebenso gleichsam hinausgewachsen sind wie die Wörter „Urteil“ und „Satz“ ohne nähere Bestimmung, wo sich dieselben auf Objektive beziehen? Ich kann ja ebenso gilt von wrnhren oder falschen hypothetischen Urteilen reden, als ich andererseits im einzelnen z. B. sagen kann „es ist wahr, dafs, wenn man Knallgas entzündet, dieses explodiert“. Und eine solche Meinung ist seitens desjenigen, der eine hypothetische Periode ausspricht, nicht etwa eine seltene Ausnahme. So wenig einer durch einen „kategorischen“ Satz das mitteilen will, was dieser ausdrückt, das Urteilserlebnis nämlich mit seinen mein oder minder feinen Bestimmungen, so wenig will er mit dem „hj'po- thetischen“ Satze etwas darüber aussagen, was in ihm vorgeht. Wie dort, so ist auch hier die Bedeutung etwas vom Erlebnis, das ausgedrückt erscheint, weit Verschiedenes. Erstaunlicher ist, dafs hier am hypothetischen Urteil eine Bedeutung zum Vor- schein kommt, die mit dem restringierten Nachobjektiv, von dem in der obigen Analyse die Rede war, nun durchaus nicht zu- sammenfällt. So steht die Untersuchung hier noch vor der doppelten Aufgabe, einmal festzustellen, welcher Art diese noch


Annahmen bei Operationen an Objektiven.


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hinzutretende Bedeutung ist, — dann die Verbindung auf zu weisen, in der sie mit den oben beschriebenen Erlebnissen steht.

Es fragt sich also vor allem : was ist dasjenige, das hier wahr resp. falsch sein kann? Natürlich kann es nur ein Ob- jektiv sein, aber wie bestimmt es sich näher? Vielleicht ist es kennzeichnend für die Sachlage, dafs die Antwort auf diese Frage nicht viel anders ausfallen will als die Antwort, die uns oben 1 zur Verfügung stand, da es galt, das Objektiv des kate- gorischen Satzes resp. Urteils kennen zu lernen. Sagt jemand,. ,,Ä ist B“, so ist das die Satzbedeutung ausmachende Objektiv eben nichts anderes, als dafs A B ist. Und sagt jemand, „wenn A B ist, dann ist C ZU, so ist auch hier das Objektiv am natür- lichsten so zu beschreiben : es besteht darin, dafs, wenn A B ist r dann auch C D ist. Gibt man sich indes mit dieser etwas tau- tologischen Auskunft nicht zufrieden, so gelangt man, aber viel- leicht nie mit dem Gefühle, einen ganz genauen Bescheid ge- funden zu haben, dazu, auf das Bestehen der Wenn-Relation zwi- schen dem Vorder- und dem Nachobjektiv als den eigentlichen „Sinn‘‘ der fraglichen Aussage hinzuweisen. Das Wesen dieser Wenn-Relation wird man sich dann etwa so näher zu bringen versuchen, dafs man sie in der Eignung des einen Objektivs findet, das andere in passenderWeise zu restringieren und unter günstigen Umständen, zu denen in erster Linie der wiederholt erwähnte „Hinblick“ gehört, evident zu machen. Man wird sich aber neuerlich, worauf schon oben hinzuweisen war, nicht verhehlen können, dafs beim „Fällen“ des hypothetischen Urteils- von expliziten Gedanken an die Wenn-Relation und vollends an eine Bestimmung derselben in der eben versuchten Weise unter- normalen Umständen nichts zu merken ist.

Und damit gelangen wir zur zweiten Frage: wie kommt unter solchen Umständen das „hypothetische Urteil“ zu seiner Bedeutung ? Wir wissen 2 , dafs alles Bedeuten an ein erfassendes Erlebnis geknüpft ist. Was sich unserer obigen Analyse als das ergeben hat, was beim hypothetischen Urteil zunächst in uns vorgeht, hat uns nichts von diesem erfassenden Erlebnis gezeigt; wo haben wir es also zu suchen ? Ich will sogleich gestehen,, dafs ich hierauf nur sehr Ungenügendes zu antworten weifs..


1 Kap. III, Anfang.

2 Vgl. oben Kap. II, § 4.


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Soviel scheint mir zunächst sicher, dafs man das hypothetische Urteil erleben kann, diese aus Annehmen und Urteilen zu- sammengesetzte Operation , ohne über dieses Annehmen und Urteilen hinauszugehen, und sonach auch, ohne jene Bedeutung mitzuerfassen. Weiter scheint mir nun, dafs dieselbe Operation auch zum Erfassen ihrer Bedeutung dient, sobald man von ihr nur sozusagen den erforderlichen Gebrauch macht. Auch die Vorstellung reicht, wie wir noch sehen werden x , für sich allein zum Erfassen eines Objektes nicht aus; auch die Vorstellung will gewissermafsen richtig angewendet sein. Das Besondere an der uns jetzt beschäftigenden Sachlage ist aber dies, dafs hier an die Stelle der Vorstellung, oder eigentlich, da es sich jetzt um ein Objektiv handelt, an die Stelle von Urteil oder Annahme, eine komplexere Operation zu treten scheint. Noch ein Analogon könnte hierzu im Vorstellungsgebiete gesucht werden: die Vor- . Stellungsproduktion nebst ihrer gegenständlichen Seite, der Fun- dierung.- Wir kennen diese bisher nur als Objektfundierung, d. h. als Fundierung von Objekten durch Objekte; könnte es nun nicht auch eine Objektivfundierung geben, bei der hier zunächst nur an Fundierung durch Objektive gedacht ist? Genauer also: könnte die im obigen beschriebene Operation an Vorder- und Nachobjektiv nicht die produzierende Tätigkeit sein, die etwa ein neues Vorstellungs- oder Begriffsgebilde ergibt, das ein Superius erfafst, dessen Inferiora in ähnlicher Weise Objektive sind, wie solches etwa bei einem Kollektiv von Objektiven der Fall ist?

So unfertiger Konzeptionen würde ich überhaupt nicht ge- denken, meinte ich nicht, ihnen eine Zukunft Zutrauen zu dürfen. Es wäre aber hier nicht der Ort, bei ihnen zu verweilen : vorerst mufs genügen, die Sachlage so äufserlich und dafür so theorie- frei als möglich zu charakterisieren. Zu diesem Ende darf man wohl sagen: es ist so, als ob die oben geschilderte Operation an Vorder- und Nachobjektiv es selbst wäre, durch die jener eigen- artige komplexe Tatbestand erfafst würde, dessen Inferiora die genannten Objektive ausmachen. Ich nenne das die Quasi- Auswärtswendung komplexer intellektueller Operationen, eine Bezeiehnungs weise, deren provisorischer Charakter unverkennbar


1 Unten Kap. VII.

2 Vgl. oben § 2.


Annahmen bei Operationen an Objektiven.


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genug sein dürfte, so dafs in ihr sicher keine Theorie, sondern nur das Bedürfnis nach theoretischer Aufhellung zum Ausdrucke gelangt. Immerhin aber gestattet schon dieses Provisorium, der Tat- sache eingedenk zu sein, dafs eine solche Quasi- Auswärtswendung nicht nur bei der Operation des hypothetischen Urteilens an- zutreffen ist. Auch der Annahmeschlufs bedeutet etwas, was unter günstigen Umständen eine Wahrheit sein kann ; die günstigen Umstände sind es, die man eventuell als „formale Richtigkeit“ des Schlusses bezeichnet, der insofern auch ein Urteilsschlufs sein kann. Und praktisch steht diese Bedeutung der Schlufs- operation der des hypothetischen Urteils nahe genug, dafs man versuchen konnte, beides für identisch zu nehmen. Ferner mag das Sprüchlein von dem, „der das Wenn und das Aber erdacht“, daran erinnern, wie nicht nur die Wenn-Operation, sondern auch die Aber-Operation zu Bedeutung gelangen kann, sekundärer Bedeutung natürlich in dem oben bestimmten Sinne 1 , — und nicht minder noch manche andere Operation, die in einer Kon- junktion zum Ausdrucke gelangt. Der Operationen des Zu- stimmens und Ablehnens, die man durch „ja“ und „nein“ aus- drückt, ist in diesem Sinne ebenfalls schon gedacht worden.

Speziell auf dem Gebiete des hypothetischen Urteils kommt, wie mir scheint, der hier versuchte Ansatz zu einer neuen Auf- fassung dem Probleme des Erkenntnisgrundes zu statten. Was hier besondere Schwierigkeit bereitet, ist der schon im Namen hervortretende subjektive Aspekt, die Bezugnahme auf das Er- kennen, — und andererseits doch wieder jenes Heraustreten aus dem Bereiche blofser Subjektivität, das gestattet, kurzweg ein bestimmtes Objektiv als den Erkenntnisgrund für ein anderes Objektiv zu bezeichnen. Die Relation von Erkenntnisgrund zur Erkenntnisfolge wird von dem, was wir bisher als Wenn-Relation bezeichnet haben, schwerlich erheblich verschieden sein. Aber die oben vorübergehend versuchte Zurückführung dieser Relation auf die Eignung eines Objektivs, ein anderes zu restringieren und eine evidente Urteilung des restringierten Objektivs zu motivieren, gibt gewifs nicht den Gedanken des Erkenntnis- grundes wieder, dem die Reflexion auf unsere Erlebnisse ebenso fremd gegenübersteht, wie etwa dem der Notwendigkeit. Dafs solche Bedenken der Quasi- Auswärtswendung gegenüber entfallen,


1 Vgl. Kap. II, § 4. Meinonp:, Über Annahmen, 2. Aufl.


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Sechstes Kapitel.


ist sofort klar. Was durch diese erfafst wird, ist schwerlich so- gleich die Relation, wohl aber ein Komplex von Objektiven, die sich in dieser Relation befinden, und dieselbe daher heraus- zuabstrahieren gestatten. Auch dafs unter solchen Umständen besondere Gefahr besteht, ins unberechtigt Subjektive hinüber- zugeraten, läfst sich verstehen. Die Operation selbst ist ja etwas Erlebtes, die Worte für sie sind zunächst Ausdrücke von Er- lebnissen. Kommt diesen Erlebnissen vermöge jener Quasi- Auswärtswendung nun auch noch eine (sekundäre) Bedeutung zu, dann wird es nicht zum Verwundern sein, wenn das Wesen dieser Bedeutung durch das Hereindringen von Erlebnisdaten gleichsam verdunkelt zu werden droht.

Rückblickend erkennt man nun, dafs das sogenannte hypo- thetische Urteil sozusagen zwei Seiten zeigt wie ein gewöhnliches Urteil, eine Erlebnisseite und eine Bedeutungsseite, aber doch zwei ganz andere. Jene wird nicht einfach durch ein Urteil ausgemacht, sondern ist eine komplexere psychische Operation, in der sich allerdings auch ein Urteil vorfindet, nämlich die Urteilung des restringierten Nachsatzes. Auf der Bedeutungsseite dagegen finden wir einen eigenartigen Objektivenkomplex, der seitens dessen, der „hypothetisch urteilt“, nicht erfafst werden mufs, aber mit Hilfe der das hypothetische Urteil ausmachenden Operation erfafst werden kann. Eine analysierende Beschreibung dieses Er- fassungserlebnisses steht noch aus: ein Urteil ist aber natürlich auch in ihm enthalten, und an diesem Urteil wird es liegen, dafs man so leicht sich versucht fühlen kann, das hypothetische Urteil selbst für ein Urteil über die Wenn-Relation zu halten. Dafs auch die Schlufsoperation in ähnlicher Weise eine, und zwar eine sehr verwandte Bedeutung 1 hat, wird ebenso den HaujAanlafs dazu gegeben haben, im Erfassen des „Schlufsgesetzes" den Schlufs selbst zu sehen.

Was aber das Erfassen der Wenn-Relation anlangt, so hat sich vor allem ergeben, dafs das, was am „hypothetischen Urteile“ wirklich Urteil ist, sich zunächst nicht auf sie richtet, dafs man also hypothetisch urteilen kann, ohne über den Zusammen- hang von Vorder- und Nachobjektiv zu urteilen. Dagegen kann


1 Es dürfte das Verdiest J. Kl. Kreibigs sein, auf die gegenständliche Eigenartigkeit des hier zu Erfassenden zuerst hingewiesen zu haben; vgl. „Die intellektuellen Funktionen“, Wien und Leipzig 1909, S. 200 ff.


Annahmen bei Operationen an Objektiven. 211

die das „hypothetische Urteil“ ausmachende Operation in ge- wissennafsen etwas mittelbarerer Weise durch „Quasi- Auswärts- wendung“ sehr wohl die Wenn-Relation erfassen helfen. Das ist aber dann immer noch ein ganz anderer Weg, als wenn man zum Erfassen dieser Relation den Umweg der „Reflexion“ auf die betreffenden Erlebnisse einschlägt, der in seiner Kompliziert- heit der Praxis mindestens des aufsertheoretischen Denkens durch- aus fern bleiben dürfte.

Sollte es mir im voranstehenden gelungen sein, den Tat- sachen etwas näher zu kommen als in den einschlägigen Aus- führungen der ersten Auflage dieses Buches 1 , so danke ich das den Einwendungen G. Spenglers 2 , die für mich der Anlafs zu besonders eingehender Überprüfung meiner Aufstellungen ge- worden sind. Die Ergebnisse dieser Überprüfung gehen über Spengleks Widerspruch insofern noch hinaus, als dieser nur nicht alle und auch nicht die meisten, aber immerhin doch viele der sogenannten hypothetischen Urteile in Übereinstimmung mit meiner Position in der ersten Auflage für Annahmeschlüsse gelten zu lassen geneigt bleibt, indes mir heute sachgemäfser erscheint, dies, soweit es sich um den Normalfall handelt, ganz allgemein in Abrede zu stellen. Zwar glaube ich auch nicht von den durch Spengler namhaft gemachten Beispielen, dafs sie der Um- wandlung in Annahmeschlüsse besondere Schwierigkeiten in den Weg legen, falls man das Gebiet intellektueller Motivation nicht mit dem emotionaler vertauscht und gegen subintelligierte Prä- missen keinen Einwand erhebt. 3 Aber eben dafs eine besondere


1 Insbesondere S. 87 ff.

2 „Meinongs Lehre von den Annahmen und ihre Bedeutung für die Schullogik“, Wiener Gymnasialprogramm 1903, S. 28 ff. des Sonderabdruckes.

3 A. a. 0. S. 29 bringt Spengler folgende Exempel : a) für hypothetische Sätze „von der Form der Wirklichkeit“: „Du bist tadelnswert, wenn du von zwei Übeln nicht das kleinere wählst“ (möglicher Annahmeschlufs : gesetzt, du wählst von zwei Übeln nicht das kleinere, dann mufs auch an- genommen werden, dafs du tadelnswert bist) — ferner: „Wenn ein Zug in die Station einfährt, wird ein Zeichen gegeben“ (die Annahme des ein- fahrenden Zuges legitimiert die des gegebenen Zeichens), b) für den „Fall der Eventualität“: „Wenn es morgen schön sein sollte, werde ich einen längeren Spaziergang unternehmen“ (handelt es sich hier nicht um die emotionale Seite, so legitimiert natürlich wieder die Annahme des schönen Wetters die der Ausführung des für diesen Fall gefafsten Entschlusses), c) für den „potentialen Fall“ : „Gesetzt den Fall, du wiesest mir einen Irr-

14*


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Sechstes Kapitel.


Umwandlung erst nötig ist, ohne diese aber beim hypothetischen Urteil das Denken bei der Restriktion des Nachsatzes sozusagen stehen bleibt, das scheint mir die Beschreibung des Wesens dieses hypothetischen Urteils entscheiden zu müssen. Da aber dabei ferner über den „Zusammenhang“ nicht unmittelbar ge- urteilt zu werden pflegt, so kann die Zustimmung zu Spenglees Opposition gegen eine „Annahmeschlufs- Ansicht“ vom hypothe- tischen Urteil doch nicht meine Rückkehr * 1 zu der von Spenglee vertretenen „Zusammenhangstheorie“ 2 mit sich führen, in deren Verwerfung ich vielmehr mit B. Eedmann 3 völlig übereinstimme.

Ob mich dagegen meine „Nachsatztheorie“ zwingt, des letzt- genannten Forschers „Konsequenztheorie“ des hypothetischen Urteils 4 abzulehnen? Was Eedmann „Kopula“ nennt, müfste ich natürlich im Sinne früherer Ausführungen 5 auf jenes Moment am Objektiv beziehen, das uns in dessen zwei Hauptarten, Sein und Sosein, entgegengetreten ist. Neben diesen beiden Arten wäre noch eine dritte zu statuieren, eben diese „Konsequenz“, unter anderem auch dadurch charakterisiert, dafs sie schon von Natur ein Objektiv höherer Ordnung ausmachte, das jederzeit bereits Objektive als Material voraussetzte. Das liefse sich, wie man sieht, meiner Auffassung vom Objektiv nicht eben schwer angliedern. Nur dafs es eine solche dritte Objektivart wirklich „gibt“, das an den Tatsachen zu verifizieren, ist mir bisher noch nicht gelungen ; ob aber gegenstandstheoretisch geschärfter Blick in Zukunft hierüber nicht anders denken lehren wird? Die Urteile über die restringierten Nachobjektive, auf die uns die obigen Untersuchungen geführt haben, würden natürlich auch dann zu Recht bestehen.

Was aber die im Obigen vertretene Auffassung des hypo-

tum nach, ich wäre sofort bereit, mich deiner Meinung anzuschliefsen“ (hier hat der Vordersatz schon die Form des Ausdrucks der „expliziten Annahme“ im Sinne obigen Kapitels IV; was hindert, hieraus den Nach- satz als evidente Schlufsannahme abzuleiten?). Zur Charakteristik der Hauptformen hypothetischer Sätze vgl. desselben Autors bereits erwähnte Abhandlung „Zur Grammatik der hypothetischen Sätze usw.“ in Bd. XL\ I der Zeitschr. f. österr. Gymnasien, 1895, S. 942 f.

1 Vgl. meine „Hume- Studien“ II, S. 108.

2 Vgl. „Meinongs Lehre von den Annahmen usw.“ S. 30.

5 „Logik“, Bd. I, 2. Aufl. S. 579 f.

  • A. a. 0. S. 559, 580.

6 Vgl. oben Kap. III.


Annahmen hei Operationen an Objektiven.


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thetischen Urteils selbst anlangt, so wird eine billige Beurteilung derselben den einigermafsen schwankenden Charakter nicht über- sehen dürfen, der ihr vermöge der Natur der zugrunde liegenden Fragestellung anhaftet. Diese war an den sprachlichen Ausdruck gebunden, an die Anwendungssphäre syntaktischer Wendungen wie „wenn, so“ u. dgl. Nun wird aber natürlich niemand dafür bürgen wollen, dafs in keinem Falle, wo derartige Ausdrücke angewendet werden, das Denken beim Urteilen des restringierten Nachsatzes unverrückbar stehen bleiben und nicht etwa auch den Schritt zu dem so nahe stehenden Annahmeschlufs machen wird, so wenig als umgekehrt ein in der Weise des Schlusses verbundener Sätzekomplex die Gewähr bieten wird, dafs es nicht gelegentlich beim Urteilen der restringierten Konklusion sein Be- wenden haben könnte. Ebenso wenig wird sich mit einiger Ge- nauigkeit überschlagen lassen, wie oft zum Urteilen und Schliefsen (einschliefslich des Annahmeschliefsens) auch noch die Beurteilung der Relation zwischen den in die Operation einbegriffenen Ob- jektiven sich einstellen mag. Es kann also nur ein ganz sum- marischer Überschlag sein, aus dem heraus ich mich für das Urteilen des restringierten Nachsatzes entscheiden zu müssen meinte. Wichtiger bleibt am Ende für den gegenwärtigen Stand unseres Wissens, ob die in Rede stehenden Erlebnisse dort, wo sie sich tatsächlich einstellen, der hier versuchten Beschreibung entsprechen und ob unter den angegebenen Umständen nicht etwa noch andere, bisher übersehene Erlebnisse sich einstellen.

§ 32 .

Operationen an und Relationen zwischen Objektiven.

Mit Rücksicht auf den eigentlichen Gegenstand der gegen- wärtigen Untersuchung ist es angemessen, die in den letzten Paragraphen gewonnenen Ergebnisse in folgender Weise zu über- blicken. Das Erfassen der „formellen“ Stringenz eines Schlufs- verfahrens bietet ein Problem dar, das sich einer Lösung erst zugänglich erweist, wenn man in Rechnung zieht, dafs auch sus- pendierten oder selbst verworfenen Prämissen gegenüber ein Schlulsverfahren sehr wohl möglich bleibt, sobald an Stelle der Urteile jene urteilsähnlichen Tatsachen treten, die wir Annahmen genannt haben. Der Ausdruck „Schlüsse aus suspendierten Prä- missen , der auf den ersten Blick etwas vom „hölzernen Eisen“


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Sechstes Kapitel.


an sich zu haben scheint, ist näher besehen durchaus sach- gemäfs ; denn den gewöhnlich allein in Betracht gezogenen Ur- teilsschlüssen stehen auch Annahmeschlüsse zur Seite.

Dagegen liegt dem hypothetischen Urteil, so nahe es übrigens auch dem blofs auf formale Stringenz bezogenen Schlufsverfahren sonst stehen mag, ein Urteil zugrunde, dessen Objektiv durch den restringiert verstandenen Nachsatz ausgemacht wird und bei dem der Anteil des restringierenden Vordersatzes an der günstigen Falles resultierenden Evidenz im Ausdruck besonders zutage tritt. Obligatorisch sind die Annahmen hier nur am Vordersatz beteiligt. Was das Annehmen dabei zu leisten hat, ist eigent- lich nichts anderes als das Ergreifen jenes Gegenstandes, der dann den Nachsatz in einer seine Gültigkeit gewährleistenden Weise determiniert.

Der Tradition, gelegentlich des hypothetischen Urteils auch sogleich das disjunktive zur Sprache zu bringen, sei hier, ohne der Berechtigung dieser Tradition nachzufragen, nur insofern gefolgt, als darauf hinzuweisen ist, dafs es Umstände gibt, unter denen auch beim disjunktiven Urteil das Annehmen ganz unent- behrlich wird. Dieses wird nicht jedesmal statthaben müssen. Die Formel „A ist entweder B oder C oder . . .“ kann ja auch in dem Sinne verstanden werden, dafs dem A etwas zukommt, resp. dafs A etwas ist, das ein Bestandstück ausmacht in dem gleichviel aus welchem Anlafs gebildeten Kollektiv „ B und C und . . .“ Aber ein solcher Gedanke ist nicht frei von Künst- lichkeit; natürlicher wird meist sein, zu denken: „Entweder ist A B, oder ist A C , oder . . wo nicht die Objekte B, C . . . sondern bereits Objektive einander an die, Seite treten. Auch kann das Kollektiv selbst schon aus Objektiven gebildet sein; so etwa, wenn geurteilt wird : „Entweder ist A B , oder C ist D, oder E ist F, oder . . .“ In jedem dieser Fälle liegt es im gegenseitigen Ausschlufs der Disjunktionsglieder und im Fehlen einer Entscheidung zugunsten einer der verfügbaren Eventuali- täten, dafs die betreffenden Objektive nicht durch Urteile und sonach wieder nur durch Annahmen zu erfassen sind. So ist am disjunktiven Urteil das Urteilen nicht minder beteiligt wie am hypothetischen : aber gleich diesem wird auch das disjunktive Urteil normalerweise nur auf der Grundlage von Annahmen zu fällen sein.

1 Über die Beziehung der Annahmen zum hypothetischen und disjunk- tiven Urteil vgl. auch J. M. Baudwin, „Thouglit and things“, Bd. II, S. 108 ff.


Annahmen bei Operationen an Objektiven.


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Mau kann das, was uns im gegenwärtigen Kapitel beschäftigt hat, den Schlufs, das hypothetische und das disjunktive Urteil, ganz wohl unter dem diesen intellektuellen Erlebnissen gemein- samen Gesichtspunkte der Operation an Objektiven zusammen- fassen, wenn man das Wort „an“ nur nicht auf eine Abänderung oder sonstige reale Beeinflussung deutet, deren Gegenstände von der idealen Natur der Objektive selbstverständlich nicht fähig wären. Immerhin könnte man in diesem Sinne auch schon das blofse Aggredieren und speziell das Erfassen, mit dem das vorige Kapitel es zu tun hatte, als Operation an den Objektiven betrachten. Schränken wir aber, und wäre es auch nur für den Augenblicksbedarf, den Sinn des Wortes „Operation“ auf Be- tätigungen ein, die den Aggrefs bereits voraussetzen, so können wir von den im Vorangehenden betrachteten Operationen an Ob- jektiven sagen, dals sie von den eigentlichen Schlüssen, nämlich den Urteilsschlüssen abgesehen, sämtlich der Annahmen bald in gröfserem, bald in geringerem Mafse bedürfen. Es ist nun leicht zu zeigen, dafs dies auch noch von einer weiteren Gruppe von Operationen an Objektiven gilt, die in gewissen Ausgestaltungen den Annahmeschlüssen und hypothetischen Urteilen insofern be- sonders nahe stehen, als man oft versucht hat, Annahmeschlufs wie hypothetisches Urteil auf sie zurückzuführen, so dafs auch wir in den Untersuchungen der vorigen Paragraphen wiederholt auf sie Bezug zu nehmen hatten. Ich meine das Erfassen von Re- lationen zwischen Objektiven, dem wir uns mit Rücksicht auf den Anteil der Annahmen daran hier noch kurz zuzuwenden haben.

Dafs zunächst Objektive so gut in Relationen und Komplexionen eingehen wie Objekte, versteht sich: es können sogar dieselben Relationen und Komplexionen sein. Das Assoziationsgesetz und das WEBEEsche Gesetz sind ihrer zwei, machen also einen Zweier- komplex aus so gut wie Rot und Grün, und stehen in Verschieden- heitsrelation wie diese Farben. Insbesondere gewisse Objektive in einem Komplex zusammenzufassen, könnte, wie leicht ersicht- lich, ganz wohl ein Superplus an jener Operation ausmachen, die uns eben zuvor im disjunktiven Urteil entgegengetreten ist. Näher liegen immerhin dem in den vorhergehenden Paragraphen Betrachteten gewisse Relationen, die sich von Natur auf Objektive als Glieder angewiesen zeigen. Hierher gehört vor allem die oft erwähnte Wenn-Relation, der sich sogleich auch eine Weil-Relation an die Seite setzen läfst. Wie sich beide Relationen zu Zusammen-


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Sechstes Kapitel.


hang, notwendiger Verknüpfung, Unverträglichkeit, Verträg- lichkeit, Koexistenz, sowie zu Grund und Folge in den verschie* denen Bedeutungen dieser Wörter verhalten, kann hier nicht untersucht werden. Man erkennt mit leichter Mühe, wie es sich da überall um Relationen zunächst zwischen Objektiven und höchstens erst gewissermafsen durch Objektive hindurch um Re- lationen zwischen Objekten handelt.

Es gibt ferner bekanntlich viele Relationen zwischen Ob- jekten, die bestehen, mögen die Objekte existieren oder nicht: kongruente Dreiecke haben bezw. die Seiten und Winkel gleich, obw r ohl solche Dreiecke nicht existieren. Wie derlei Relationen also daseinsfrei heifsen könnten hinsichtlich der ihre Glieder ausmachen- den Objekte, so könnten sie unbeschadet ihres tatsächlichen Be- standes bestandfrei heifsen hinsichtlich der ihre Glieder unter Um- ständen ausmachenden Objektive. Dafs Newton Amerika entdeckt hat, ist gewifs etwas anderes, als dafs Goethe in Leipzig geboren ist: dieses Anderssein, diese Verschiedenheit ist also ohne Zweifel Tatsache, obwohl keines der beiden Glieder dieser Verschieden- heitsrelation tatsächlich ist. Das nämliche ist nun natürlich auch an Relationen zu konstatieren, die ausschliefslich zwischen Objektiven bestehen können : im vorangehenden sind uns Wenn-Relationen genug begegnet, deren Geltung mit Recht zu behaupten war, mochten nun die betreffenden Objektive bestehen oder nicht.

Was diese Tatsachen für denjenigen zu bedeuten haben, der über die Umstände Aufschlufs sucht, unter denen Annahmen auftreten, das ist nun ohne weiteres zu ersehen. Gibt es Re- lationen zwischen Objektiven, deren Bestand nicht vom Bestand der Objektive abhängig ist, und können wir, wie die Erfahrung lehrt, den Bestand solcher Relationen erkennen, so müssen die betreffenden untatsächlichen Objektive, nicht minder diejenigen, über deren Tatsächlichkeit nichts bekannt ist, durch etwas anderes als durch Urteile präsentiert sein, da solche, vom Irrtumsfalle abgesehen, überhaupt nicht zu Gebote stehen. Man darf sonach im Sinne des von uns so oft angewendeten Prinzips ganz all- gemein sagen : soweit die hinsichtlich der Inferiora bestandfreie Einsicht in den Bestand von Relationen und Komplexionen zwischen Objektiven reicht, soweit reicht auch das Anwendungs- gebiet der die unerläfsliche Grundlage für solche Einsicht aus- machenden Annahmen.


Siebentes Kapitel.

Annahmen beim Erfassen des Präsentierten. Das Meinen.


§ 33 .

Vorbemerkung.

Von vergleichsweise noch ziemlich internen Problemen der „formalen“ Logik wollen wir nun zur Würdigung einer Tatsache übergehen, an der das gesamte psychische Geschehen als an einer Fundamentaltatsache beteiligt ist, wenn auch die Erkenntnis- theorie in gewissem Sinne ein erstes Recht auf ihre Bearbeitung geltend zu machen hat. Es gibt schwerlich ein psychisches Ge- schehen ohne Gegenstand 1 und gewifs keine Vorstellung ohne einen solchen. Sehe ich nun recht, so kann man sich unschwer davon überzeugen, dafs bei dem, was man das „Vorstellen eines Gegenstandes“ nennt, ja ganz allgemein bei dessen Erfassen, der Annahme eine ganz ständige Funktion zufällt, vermöge deren dann das Verbreitungsgebiet der Annahmen kaum kleiner an- zuschlagen sein wird als das des Erfassens selbst. Nur macht die Darlegung auch dieses Sachverhaltes, wie solches bereits oben wiederholt der Fall war, das Eingehen auf einige Voraus- setzungen und damit den Anschein, unerläfslich fürs erste wieder vom eigentlichen Thema einigermafsen abzuschweifen. Es ist diesmal das Wesen der Gegenständlichkeit, auf das hier mit einigen Erwägungen eingegangen werden mufs.

Es liegt nahe, die Gegenständlichkeit einer Vorstellung nur dort für völlig verwirklicht zu halten, wo ein Gegenstand, auf den diese Vorstellung gehen kann, auch wirklich da ist: höchstens Bestand des Gegenstandes könnte z. B. bei Objekten der Geometrie als Äquivalent der Existenz gelten gelassen werden. Dieser

1 Vgl. zum folgenden meine Darlegungen „Über Gegenstände höherer Ordnung etc. u , Zeitschr. f. Psychol. 21 , S. 183 ff.


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Siebentes Kapitel


Gesichtspunkt ist denn auch in der Tat für meine einschlägigen Darlegungen in der ersten Auflage dieser Schrift mafsgebend gewesen. Seither hat mich namentlich die zunehmende Ge- wöhnung an die gegenstandstheoretische Betrachtungsweise in solcher obligatorischer Bezugnahme auf das Sein (das tatsächliche natürlich) einen Ausfiufs der nämlichen Vormeinung erkennen lassen, der ich inzwischen als dem „Vorurteil zugunsten des Wirklichen“ an anderem Orte 1 entgegengetreten bin. Nur ist zur- zeit die frühere Betrachtungsweise vielleicht doch noch nicht sicher genug überwunden, um sie hier ganz zu unterdrücken und die mir jetzt angemessen scheinende einfach an ihre Stelle zu setzen. Die betreffenden Ausführungen werden daher im folgenden mit unwesentlichen Änderungen aus der ersten Auflage wiedergegeben; nur dadurch, dafs die sie enthaltenden Paragraphen aus später anzugebendem Grunde immer ausdrücklich als „Seins- ansicht“ überschrieben sind, soll der provisorische Charakter der Ausführungen dem Leser gegenwärtig gehalten werden. Es wird dann leicht sein, durch einige Richtigstellungen auf die mir zur- zeit einwurfsfrei erscheinende Betrachtungsweise zu gelangen.

§ 34.

Die Seinsansicht: a) Vom Beurteilungsgegenstande.

Was ich eben die Seinsansicht nannte, geht natürlichst vom Urteile aus, genauer von jener Eigenschaft des Urteils, die man vom erkenntnistheoretischen Standpunkte billig die Grundeigen- schaft des Urteils, und zugleich die Fundamentaltatsache der Erkenntnistheorie nennen könnte. Urteile ich mit Recht, dafs ich Schmerz fühle, dafs ich diesen oder jenen Wunsch habe oder dgl., so ist es eine ganz triviale Selbstverständlichkeit, dafs das Gefühl oder der Wunsch auch wirklich existiert. Dasselbe gilt von den Häusern, die ich sehe, den Wagen, deren Gerassel ich höre, den Kämpfen und Verhandlungen in und um China, an die ich denke usf. Es mag einer Prüfung bedürftig sein, ob ich ein Recht habe, in betreff der Existenz dieser Dinge affirmativ zu urteilen ; habe ich aber das Recht, läfst sich, was damit zu- letzt zusammenfallen wird , für die betreffenden affirmativen


1 In den Grazer „Untersuchungen zur Gegenstandstheorie und Psycho logie“ 8. 3 ff.


Annahmen beim Erfassen des Präsentierten. Das Meinen.


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Urteile die erforderliche Evidenz aufbringen, dann kann darüber kein Zweifel aufkommen, dafs diese Dinge auch wirklich existieren. Über den Umkreis, innerhalb dessen uns Affirmationen dieser Beschaffenheit zur Verfügung stehen, soll hiermit nicht das Ge- ringste vorbestimmt werden: nur dafs es solche Erkenntnisse gibt, wird im Hinblick auf die innere Wahrnehmung auch der weitestgehende Idealismus kaum zu bestreiten geneigt sein. Ist dies aber eingeräumt, dann braucht man sich blofs des Zu- standes zu besinnen, in dem sich der von einem bestimmten Sachverhalte Überzeugte befindet, um vor allem einzusehen, dafs es ungereimt wäre, dem Überzeugten zuzumuten, an der Tatsächlichkeit des Sachverhaltes zu zweifeln, an den er ja doch glaubt, und dafs es nicht minder ungereimt wäre, zugleich jener Überzeugung und doch auch wieder diesem Zweifel Berechtigung zuzugestehen.

Obwohl dies nun etwas so Selbstverständliches ist, dafs höchstens hyperkritische Unnatur den vergeblichen Versuch unternehmen mag, das normale Funktionieren des gesunden Menschenverstandes in dieser Hinsicht zu stören, so liegt in diesem Erfassen einer Wirklichkeit durch unser Erkennen doch etwas vor, was man, einen bekannten Ausspruch Schopenhauers abändernd, ganz wohl das Wunder in der Erkenntnistheorie, besser freilich die Grundtatsache alles Erkennens nennen könnte, für die es weder Beschreibung noch Erklärung, sondern nur jenes Hinnehmen gibt, auf das wir letzten Tatsachen gegenüber am Ende immer angewiesen sind. Zur Bezeichnung derselben meine ich das herkömmliche Wort „Transzendenz“ 1 nicht ver- meiden zu sollen: die eben erwähnte Grundeigenschaft der be- rechtigten Existenzaffirmation läfst sich demgemäfs auch als die des Transzendierens solcher Urteile gegen eine Wirklichkeit benennen. Es sei hinzugefügt, obwohl es für die nächsten Zwecke dieser Darlegungen vielleicht entbehrt werden könnte, dafs, indem den Existenzaffirmationen Bestandaffirmationen zur Seite treten, sich damit ein Gebiet eröffnet, auf dem den be- rechtigten Affirmationen zwar nicht Transzendenz im eigent- lichsten Sinne, wohl aber etwas dieser Transzendenz Verwandtes


Jetzt scheint mir der Begriff nicht mehr in jeder Hinsicht un- bedenklich; vgl. „Über die Erfahrungsgrundlagen unseres Wissens“, S. 83 f auch unten § 36 Ende.


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Siebentes Kapitel.


zukommt, für das mir dis Bezeichnung „Quasi-Transzendenz“ angemessen scheint. Die Gleichheit, welche ein Kongruenzsatz affirmiert, ist nicht eine Wirklichkeit für sich: aber das be- treffende Urteil steht hier dem „Bestände“ ganz analog gegen- über wie die innere W ahrnehmung der von ihr erfafsten psychischen Wirklichkeit.

Durch den Hinweis auf die Tatsache der Transzendenz beim berechtigten affirmativen Seinsurteil ist nun vor allem in ein- deutigster W eise festgestellt, was der Gegenstand 1 einer derartigen Erkenntnis ist. Hat man im Gegenstände einer Seinserkenntnis dasjenige vor sich, dessen Sein durch das betreffende Urteil er- kannt wird, so kann in unserem Falle der Gegenstand eben nichts anderes als jenes Wirkliche sein, gegen das das vorliegende Urteil transzendiert: in unserem obigen Beispiele macht also das Ge- fühl, der Wunsch oder was sonst mit Recht affirmiert wird, den Gegenstand des betreffenden affirmativen Urteils aus. Analoges wäre dann auch von den affirmativen Urteilen zu sagen, denen Quasi-Transzendenz zukommt: auch die Kongruenz ist Gegen- stand der oben berührten Bestanderkenntnis. Immerhin liegt hierin möglicherweise bereits eine Art Erweiterung des in seiner ursprünglichen Einfachheit vielleicht ausschliefslich auf die eigent- liche Transzendenz gestellten Gegenstandsgedankens: jedenfalls aber sind es dann wesentlich beträchtlichere Erweiterungen, welche dieser Gedanke durch seine Anwendung auch auf un- berechtigte affirmative sowie auf negative Urteile erfährt; in- zwischen ist der Zusammenhang mit dem in der Transzendenz der wahren Affirmationen Gegebenen auch hier nicht zu ver- kennen.


1 Vom Gegenstände eines Urteils ist von hier an bis zum Ende des § 37 nur im Sinne dessen die Rede, was durch das betreffende Urteil be? urteilt wird, dessen also, was vor genauerer Vertrautheit mit dem Objektiv beim Worte „Urteilsgegenstand“ allein in Betracht zu kommen pflegt (vgl. oben S. 43 f.) und sich auch dem Objektiv gegenüber als dasjenige behauptet, was der Urteilende normalerweise „meint“ (vgl. unten § 38), weshalb es oben (S. 46, 52) wiederholt als „Hauptgegenstand“ des Urteils bezeichnet worden ist, obwohl dem Urteile selbst das Objektiv gleichsam näher steht. In den nächsten Paragraphen würde also wiederholt statt „Gegenstand“ deutlicher, ja korrekter „Hauptgegenstand“ zu sagen sein. Doch dürften die Intentionen dieser Ausführungen unter Beibehaltung der vom Standpunkte der ersten Auflage noch unmifsverständlichen Ausdrucks- weise deutlicher zur Geltung kommen.


Annahmen beim Erfassen des Präsentierten. Das Meinen. 221

In welchem Sinne kann vor allem einem falschen bejahenden Urteile gegenüber von einem Gegenstände — natürlich nicht einer Erkenntnis, wohl aber eines Urteils — die Rede sein ? Dem Urteilenden freilich ist es gleich ernst mit seiner Über- zeugung, mag er übrigens in betreff dieser im Rechte sein oder nicht: aber Transzendenz ist ja im letzteren Falle sozusagen grundsätzlich ausgeschlossen. Soviel ich sehe, kann der Gegen- stand, der einem solchen Urteile gleichwohl zugeschrieben wird, nur das Ergebnis einer Art Fiktion sein, die ihre Motivierung in dem Umstande finden mag, dafs es dem Irrenden doch in so vielen Stücken gerade so zumute ist wie dem Erkennenden. Urteile ich irrig, dafs A existiert, so gelangt man zu einem Gegenstände, wie die affirmative Erkenntnis ihn hat, nur durch die Fiktion, dafs ich Recht habe. Die Fiktion, Recht zu haben, läfst sich aber durch eine Erweiterung des Gegenstandsgedankens vermeiden : man braucht eben nur auch das einen Gegenstand eines Urteils zu nennen, nach dem dieses transzendieren würde, wenn es im Rechte wäre. In diesem Sinne hat dann natürlich auch jedes falsche affirmative Urteil seinen Gegenstand.

Von hier ist nun der Weg zum Gegenstände des negativen Urteils ebenfalls nicht mehr schwer zu finden. Das berechtigte negative Urteil freilich unterscheidet sich zunächst vom berech- tigten affirmativen gerade darin in besonders auffälliger Weise, dafs es zur Transzendenz des affirmativen eine Art diametralen Gegensatzes ausmacht. Aber die eben bei den falschen Affir- mationen bewährte fiktive Behandlungsweise der Sachlage ist auch hier ohne Mühe anwendbar. Fingiert man bei der falschen Affirmation deren Wahrheit, so kann man bei der wahren Negation fingieren, dafs nicht sie, sondern eine wahre Affirmation vorliege. Und setzt man nun auch hier an die Stelle der Fiktion die Abänderung des Gegenstandsgedankens, so ist sogar die oben für das falsche bejahende Urteil getroffene Bestimmung ziemlich unverändert übertragbar. Denn auch dem negativen Urteil kann ich nun das als Gegenstand zusprechen, nach dem das Urteil transzendieren würde, wenn es statt der Negation eine berechtigte Affirmation wäre.

Es ist entbehrlich, hier auch noch den Fall des falschen negativen Urteils besonders zu erwägen. Denn es leuchtet nun- mehr sofort ein, dafs der eben geltend gemachten Fiktion oder Erweiterung nicht nur das wahre, sondern ebensogut auch


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Siebentes Kapitel.


jedes falsche negative Urteil zugänglich ist, — liefse es sich ja doch verstehen, wie einer sogar geneigt sein könnte, den in jener Erweiterung gelegenen Schritt im Falle einer falschen Negation noch weniger gewaltsam zu finden als in dem der wahren. Man sieht zugleich, wie sonach der erweiterte oder modifizierte Gegenstandsgedanke auf Urteile ganz beliebiger Beschaffenheit, gleichviel ob affirmativ oder negativ, ob wahr oder falsch, anwendbar ist, und wie man hier jenen Sinn vor sich hat, in dem der Gegenstand Sache aller Urteile ohne Aus- nahme ist. Dieser Sinn ist von der affirmativen Erkenntnis genommen, aber so wenig an die Eigenschaft der affirmativen Qualität oder ' an die Erkenntnisdignität gebunden, vielmehr schiebt die erwähnte Fiktion dieses Moment so rücksichtslos bei- seite, dafs zwei Fragen hier nicht wohl unaufgeworfen bleiben können. Was soll es im Grunde heifsen, etwa dem negativen Urteile Gegenständlichkeit zuzuschreiben, wenn damit eine Eigenschaft gemeint ist, die das Urteil unter Voraussetzungen hätte, die gegebenen Falles tatsächlich unerfüllt, ja eben um der Natur des betreffenden Urteils willen unerfüllbar sind? Was soll es weiter bedeuten, von einem Urteil zu sagen, es habe den betreffenden Gegenstand, wenn doch dieser Gegen- stand günstigen Falles (bei falschen Urteilen) blofs per accidens, ungünstigen Falles aber (bei den wahren negativen Urteilen) gar nicht existiert?


§ 35 .

Die Seinsansicht: b) Aktuelle und potentielle Gegenständlichkeit.

Die erste dieser Fragen zwingt uns zu einer präziseren Fest- stellung darüber, wer oder vielmehr was den Gegenstand eigent- lich „hat“. Ich kann von einem, der nicht turnen gelernt hat, nicht sagen, er könne turnen, auch wenn ich weifs, dafs er es könnte, wenn er es gelernt hätte. Und noch imsinniger wäre che Behaup- tung, falls ich wüfste, dafs er gar nicht imstande wäre, es zu er- lernen, wenn er nicht vorher sozusagen ein anderer Mensch ge- worden wäre. Dieser letztere, stärkere Fall ist aber der des Urteils in unseren obigen Erwägungen. Den Gegenstand, den das negative oder falsche Urteil hätte, wenn es affirmativ und wahr wäre, den hat es eben nicht, oder genauer ausgedrückt.


Annahmen beim Erfassen des Präsentierten. Das Meinen. 223

wenn ihm gleichwohl der Gegenstand in irgend einem Sinne zugeschrieben werden kann, so kann es nicht selbst dasjenige sein, an dem diese Gegenständlichkeit hängt, diese mufs viel- mehr die Eigenschaft von etwas sein, das mit dem Urteils- tatbestande verknüpft, aber von der Qualität und Richtigkeit des Urteils nicht mitbetroffen ist. Derlei findet sich denn auch wirklich an jedem Urteil: es ist die Vorstellung, ohne die von einem Urteil ja nicht die Rede sein könnte , 1 die aber, im Prinzip wenigstens, sowohl für ein affirmatives wie für ein negatives, sowohl für ein wahres als für ein falsches Urteil die „psycholo- gische Voraussetzung“ 2 abgeben kann. Dieser von Natur gleich- sam indifferenten Vorstellung läfst sich denn auch um vieles natürlicher etwas als Eigenschaft nachsagen, was zur Geltung käme, falls auf dieser Vorstellung eine berechtigte Überzeugung affirmativer Qualität zu errichten wäre : es ist wesentlich dasselbe, als wenn ich jemandem gutes Gedächtnis oder körperliche Ge- wandtheit zu einer Zeit nachsage, wo er weder das eine noch das andere betätigt. Allerdings gibt es nun doch Vorstellungen, denen gegenüber eine berechtigte Affirmation entweder durch die Natur dieser Vorstellungen ausgeschlossen oder wenigstens sozusagen durch äufsere Umstände verboten ist: und wirklich ist solchen Vorstellungen gegenüber mehr als einmal der Ver- such gemacht worden, ihnen den Gegenstand abzusprechen. Es wird sich bald genug zeigen, w^arum ein solcher Versuch abge- lehnt werden mufs: immerhin ist aber schon jetzt klar, dafs die Gegenständlichkeit eine Eigenschaft ist, die, obwohl sie ursprüng- lich unter Rücksichtnahme auf das Erkennen konzipiert wird, doch ihrer Natur nach als Sache der Vorstellung bezeichnet zu werden verdient. Wird dann gleichwohl auch dem Urteile ohne Rücksicht auf seine sonstige Beschaffenheit Gegenständlichkeit zugeschrieben, so geschieht dies streng genommen nur auf dem Umwege über die Vorstellung, auf welche das betreffende Urteil gestellt ist.

Nun ist aber noch die zweite Frage zu beantworten: wenn es auch zunächst die Vorstellungen sind, welche die Gegenstände


1 Die in gegenwärtiger Auflage vertretene Präsentationstheorie ver- langt natürlich eine Modifikation dieser Aufstellung.

2 Vgl. meine „Psychologisch ethischen Untersuchungen zur Werttheorie“, S. 33 ff.


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Siebentes Kapitel.


„haben“', was ist das eigentlich für ein „Haben“, wenn das, was die betreffende Vorstellung „hat“, dabei ganz wohl auch nicht existieren kann? Die Sachlage läfst sich unter Zuhilfenahme etwa des obigen Vergleiches mit dem Gedächtnis auf einen Blick übersehen. Wer möchte auch mit einiger Genauigkeit sagen, dafs ich diese Jahreszahl, jene Melodie „habe“, auf die ich mich vermöge meines Gedächtnisses besinnen kann? Die Ausdrucksweise: „Die Vorstellung hat einen Gegenstand“ ist also genau genommen jedenfalls eine recht ungewöhnliche. Man wird sie, da sie nun einmal so allgemein in Anwendung ist, nicht aufser Gebrauch zu setzen unternehmen: man wird aber gut daran tun, sich gegenwärtig zu halten, dafs das, was damit be- rechtigterweise gemeint werden kann, etwa besser in dem oben ohnehin schon vorübergehend gebrauchten Ausdrucke „Gegen- ständlichkeit“ zur Geltung konmt, womit, ähnlich wie mit dem Worte „Gedächtnis“, eine Art Fähigkeit der Vorstellung be- zeichnet ist, die eben, wie jene andere Fähigkeit, nur unter be- sonderen, eben den günstigen Umständen zutage tritt.

Der Gegenstandsgedanke oder genauer der Gedanke der Gegenständlichkeit ist sonach eine Art Fähigkeits- oder Dispo- sitionsgedanke. Das, woran diese Disposition sozusagen haftet, ist streng genommen die Vorstellung und nur unter deren Ver- mittlung das Urteil; das, wozu die Disposition disponiert, also das, was ich das Korrelat der Disposition genannt habe 1 , indes es neuerlich charakteristischer als deren Leistung bezeichnet worden ist 2 , ist die mit Hilfe dieser Vorstellung als psychologi- scher Voraussetzung unter sonst ausreichend günstigen Um- ständen zu erzielende Erkenntnis einer gewissen Wirklichkeit (oder Quasi-Wirklichkeit). Was ich aber die Dispositionsgrund- lage genannt habe 3 , ist hier vertreten durch den Inhalt, vermöge dessen die gegebene Vorstellung gerade diese Vorstellung, d. h. eben die Vorstellung gerade dieses Gegenstandes ist.

Mir scheint in der Tat, dafs diese Auffassung in allen wesentlichen Stücken der Wahrheit Genüge leistet, einen einzigen

1 Psychologisch-ethische Untersuchungen zur Werttheorie S. 41.

2 Von E. Martinak in seinen „Psychologischen Untersuchungen über Prüfen und Klassifizieren“, Österreichische Mittelschule Jahrg. 14, S. 7 ff. des Sonderabdruckes.

  • Vgl. Witaskk, „Beitrüge zur speziellen Dispositionspsychologie“, Arch.

f. syst. Philos. 3, S. 273 f. Auch Martinak a. a. 0.


Annahmen heim Erfassen des Präsentierten. Das Meinen.


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Punkt ausgenommen. Auch Fähigkeiten sind ohne Zweifel Tat- sachen, aber niemals Tatsachen der Wahrnehmung. Ist nicht der Gegenstand, sondern die Gegenständlichkeit das eigentlich Tatsächliche an der Vorstellung, und ist diese Gegenständlich- keit eine Fähigkeit und nichts als diese, dann ist es ausge- schlossen, dafs ich diese Gegenständlichkeit irgend einmal wahr- zunehmen vermöchte. Nun meint aber doch jeder aus Er- fahrung, noch dazu aus alltäglichster Erfahrung zu wissen, dafs sein Vorstellen auf Gegenstände „gerichtet“ ist; und mancher wird es überdies für selbstverständlich halten, dafs dieses Ge- richtetsein sogar noch ein wesentliches Moment der Gegenständ- lichkeit ausmache. Haben wir hier nicht Anforderungen vor uns, die mit dem bisher Dargelegten schlechterdings nicht in Einklang zu bringen sind?

Wenigstens in betreff des letzterwähnten Punktes hat es damit keine Gefahr, da es leicht ist, demselben durch eine Determination am Begriff der Gegenständlichkeit Rechnung zu tragen: der bisher exponierte Begriff kann passend als der der blofs potentiellen Gegenständlichkeit bezeichnet, und dieser potentiellen eine aktuelle Gegenständlichkeit gegenübergestellt werden, mit der dann nicht das blofse Gerichtet sein-können, son- dern das tatsächliche Gerichtetsein gemeint ist. Weit schwieriger scheint sich dagegen die Frage erledigen zu lassen, was man sich unter diesem aktuellen „Gerichtetsein“ eigentlich zu denken habe. Es mufs sich dabei, wie eben ersichtlich geworden ist, um etwas innerlich Wahrnehmbares handeln, und man könnte daraufhin immerhin versuchen, sich die Sache in der Weise zu- rechtzulegen, dafs das, was wir innerlich wahrnehmen, blofs der jeweilige Inhalt ist, und wir dieser Wahrnehmung dann die Interpretation zufügen, dafs diese Inhalte als präsumtive Er- kenntnismittel gewissen durch sie erfafsbaren Gegenständen zu- geordnet seien. Ich habe in der Tat eine Weile versucht 1 , mit Auskunftsmitteln dieser Art mein Auslangen zu finden ; aber die Künstlichkeit derselben vermag sich dem Blicke des Unbefangenen doch nur in sehr unvollkommener Weise zu verbergen, und so scheint es mir kein geringer Gewinn, dafs durch Hinweis auf die I atsache der Annahmen nun auch an dieser Stelle Rat ge- schafft werden kann.


1 Auch in Vorlesungen. Meinong, Über Annahmen, 2. Aufl.


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Siebentes Kapitel.


§ 36.

Die Seinsansicht: c) Der Anteil der Annahmen.

Klar ist vor allem, dafs die in Rede stehende Schwierigkeit nur in betreff der Gegenständlichkeit der Vorstellungen und der negativen Urteile vorliegt, nicht aber dort, wo es sich um affirmative Urteile handelt. Denn dafs man es den letzteren,, mögen sie übrigens wahr oder falsch sein, sozusagen ansieht, dafs durch sie ein Gegenstand, falls er nicht erfafst wird, doch jeden- falls erfafst werden soll, das versteht sich in dem Mafse von selbst, in dem es gewifs ist, dafs man sich unter dem „Erfassen“ eines Gegenstandes oder wie man es sonst mehr oder minder bildlich ausdrücken mag, überhaupt gar nichts anderes denken kann als affirmatives Erkennen. Nehme ich also in irgend einem Falle wahr, dafs ich affirmativ erkenne, was kaum anders als in der Weise möglich ist, dafs ich aufser der Tatsache, dafs ich ur- teile, auch noch die Evidenz dieses Urteiles wahrnehme, dann sagt mir die Wahrnehmung darüber, dafs ich ein Stück Wirk- lichkeit oder Quasi- Wirklichkeit erfasse, so viel, als sie mir hier- über nur irgend zu sagen imstande ist. Affirmiere ich dagegen ohne Evidenz oder selbst irrig, so kann dies an dem, was die innere Wahrnehmung in betreff der Gegenständlichkeit des vor- liegenden Urteils gleichsam zu sehen bekommen kann, nicht das Geringste ändern; denn wer wirklich überzeugt ist, ist eben überzeugt, mag er damit im Rechte sein oder nicht.

Dagegen enthält die noch sozusagen urteilsfreie Vorstellung — von den negativen Urteilen wird sogleich die Rede sein, — von einer Bezugnahme, einem Gerichtetsein auf einen Gegenstand noch gar nichts: sie ist an sich eben nur potentiell gegenständ- lich, nicht aber aktuell. Wenn wir nun von solcher Bezugnahme gleichwohl durch das Zeugnis der inneren Wahrnehmung wissen, so kann das am Ende nur so verstanden werden, dafs gegebenen Falles noch etwas anderes vorliegt als die „blofse Vorstellung“. Ein Urteil kann es nicht sein: es ist ja ausdrücklich von Vor- stellungen ohne Urteil die Rede. Was es aber sehr wohl sein kann, ist eine Annahme, eine affirmative natürlich. In der Tat, wer einer vom Urteil begleiteten Vorstellung die Gegenständ- lichkeit ansieht, der wird auch der von dem urteilsähnlichen Tatbestand der qualitätsgleichen Annahme begleiteten \ orstellung.


Annahmen beim Erfassen des Präsentierten. Das Meinen.


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das Hinstreben, die Tendenz nach dem Erfassen des Gegenstandes ansehen können. Und dafs es ein völlig natürliches Vorgehen ist, sich einen Gegenstand in der Weise vorzustellen, dafs man gleichsam „tut, als wäre er wirklich“, das wird ohne Bedenken einzuräumen sein. Nur die hiermit aufgestellte Vermutung oder Behauptung, dafs alles aktuell gegenständliche Vorstellen von affirmativen Annahmen begleitet sei, ist auffallend genug, um noch besonderer Erwägung zu bedürfen.

Zuvörderst darf nicht verkannt werden, dafs durch diese Position keineswegs behauptet ist, dafs es überhaupt keine Vor- stellung ohne Annahme gebe oder gar geben könnte. Gegen- ständlichkeit im Sinne der Fähigkeit, unter günstigen Umständen einem Urteile, vielleicht besser noch, wie sich sogleich zeigen wird, einer Annahme affirmativer Qualität zur psychologischen Voraussetzung zu dienen, also potentielle Gegenständlichkeit ist selbstverständlich davon, ob eine Annahme tatsächlich sich an die Vorstellung knüpft oder nicht,, völlig unabhängig: sie kommt allen Vorstellungen zu. Ob man dagegen von jeder Vorstellung behaupten darf, dafs sie sozusagen in gleich ausdrücklicher Weise auf einen Gegenstand gerichtet, also ob sie aktuell gegen- ständlich ist, das möchte erst durch sorgsames Befragen der Erfahrung besonders zu prüfen sein. Sehe ich recht, so ist der Fall, dafs man sich dem Vorstellen völlig passiv hingibt, ohne etwas „daraus zu machen“, also ebenso, wie man etwa ein Ge- fühl über sich ergehen läfst, vielleicht beim normalen, erwach- senen Menschen nicht gerade häufig, aber immerhin gut genug belegt. Wo die Dinge so stehen, da fehlt natürlich die An- nahme, und sie stehen so, weil die Annahme fehlt. Die Vor- stellung ist auch dann gegenständlich, man wird aber nicht eigentlich sagen können, dafs von seite des vorstehenden Sub- jektes etwas wie eine Intention vorliegt, den Gegenstand vor- zustellen.

ferner muls nun darauf hingewiesen werden, dafs die Ein- ü irung der Annahme aulser dem erwähnten Zeugnis der mneren Wahrnehmung auch den Wert hat, eine oben bereits gestreifte Schwierigkeit zu beseitigen, die sonst dem Ge- danken der Gegenständlichkeit selbst noch anhaftet. Es bleibt immerhin mifshch, einer Vorstellung wie der des runden Vier- eckes trotz des Widerstreites, den sie in sich schliefst, die Fähm- eit nachzusagen, die Grundlage zu einer affirmativen Erkennt-

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Siebentes Kapitel.


nis abzug-eben. Es ist aber noch mifslicher, darauf hin, wie es ja öfter geschehen ist, der Vorstellung des runden Viereckes jeden Gegenstand abzusprechen, indes man aas auf einen Gegen- stand „Gerichtetsein“ an dieser Vorstelluug normalerweise so gut wahrnehmen kann als an sonst einer. Nun geht ihr zwar, wie gesagt, die Eignung mit Evidenz affirmiert zu werden \ wirk- lich ganz und gar ab; dagegen durchaus nicht die Eignung, einer affirmativen Annahme zur psychologischen Voraussetzung zu dienen. Die Annahme ist ja durch den Satz des Wider- spruches in keiner Weise gebunden . 1 2 Darum empfiehlt es sich, den Gedanken der Gegenständlichkeit statt auf das Urteil auf die Annahme zu bauen. Es kann dies geschehen sowohl in betreff der blofs potentiell zu verstehenden Gegenständlichkeit als in betreff des aktuellen „Gerichtetseins“ auf einen Gegen- stand. Gegenständlichkeit definiert sich demgemäfs als die Fähig- keit der Vorstellung, Grundlage zu einer affirmativen Annahme abzugeben : auf einen Gegenstand gerichtet aber heifst demge- mäfs eine Vorstellung dann, wenn ihr Inhalt zum Inhalte einer affirmativen Annahme gemacht ist. Ohne Zweifel ist durch diese Definition der Gegenstandsgedanke, der seine Bedeutung ja doch von seinem Zusammenhänge mit der Transzendenz resp. Quasi-Transzendenz nimmt, einigermafsen abgeschwächt: die Annahme kann ja darin nur um ihrer Urteilsähnlichkeit willen das Urteil ersetzen. Dafür haben aber diese Bestimmungen die ganz unbeschränkte Anwendbarkeit auf inhaltlich wie immer be- schaffene Vorstellungen voraus.

Vorübergehend mag darauf hingewiesen sein, dafs diese Auffassung auch geeignet ist, einen traditionellen termino- logischen Gegensatz, genauer das eine Glied dieses Gegensatzes unserem Sprachgefühle, das dadurch bei etwas etymologischer

1 Hier vermutet D. H. Kerler („Über Annahmen“ S. 26) mit Recht ungenaue Ausdrucksweise. Gemeint ist die Eignung, einem affirmativen Urteil zur psychologischen Voraussetzung zu dienen. Aber Iyerler rnifs- versteht wohl den Sinn des von mir geprägten Terminus „psychologische Voraussetzung“. Diese ist stets Erlebnis, hier also die Vorstellung, nicht ihr Gegenstand.

  • Dem psychologischen Aspekt dieses Satzes wird jetzt der gegen-

standstheoretische Aspekt in verdienstlicher Schärfe entgegengestellt von J. Lukasiewicz, „Über den Satz dos Widerspruches bei Aristoteles“, im „Extrait du Bulletin de l’Acad. des Sciences de Oracovie“, November — Dezember 1909.


Annahmen heim Erfassen des Präsentierten. Das Meinen.


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Überlegung jetzt doch schon recht fremdartig berührt wird, einigermafsen näher zu bringen. Was mit der Gegenüberstellung des „immanenten“ und „transzendenten“ Objekts gemeint ist, darüber besteht ja gar kein Zweifel, und man ist an den Ge- brauch dieser Ausdrücke so gewöhnt, dafs man in der Regel gar nicht dazu kommt, sich über die partizipiale Form des Wortes „transzendent“ Gedanken zu machen. Tut man es eher ein- mal, so hält es schwer genug, diese Form zu rechtfertigen, so lange man beim „Gegenstände“ nur an das durch ein affirma- tives Urteil Erfafste oder Erfafsbare denkt. Nicht der Tisch oder Sessel „transzendiert“ ja, sondern das Urteil ist es, das, indem es sich in seiner Weise einer Wirklichkeit bemächtigt, gewissermafsen über sich hinausreicht, die Schranken der Sub- jektivität „übersteigt“. Anders, wenn wir unter „Objekt“, mehr kurz als deutlich gesprochen , das Angenommene als solches verstehen und ihm damit, hierin dem älteren Sprachgebrauchs folgend, prinzipiell innerhalb der erwähnten Schranken seinen natürlichen Platz anweisen. Dann ist es ein ganz verständliches Bild, zu sagen, dafs es innerhalb dieser Schranken verbleibe, also „immanent“ sei, so lange, potentiell oder aktuell, nichts weiter vorliegt als eben die Annahme, — dafs es aber über diese Schranken hinaus einem Stück Wirklichkeit sich gleichsam ent- gegenbewege und es im Sinne der Identität mit demselben auch erreiche, in diesem Sinne also transzendiere, wenn das berech- tigte affirmative Urteil zu Hilfe kommt. Diese Hilfe könnte natürlich wieder entweder potentiell oder aktuell gedacht und demgemäfs von einem transzendenten Objekte schon bei Vor- stellungen oder nur bei Urteilen , berechtigten affirmativen natürlich, geredet werden . 1


§ 37 .

Die Seinsansicht: d) Die Gegenständlichkeit bei

negativen Urteilen und Annahmen.

Indem wir nun aber wieder zur Tatsache des „auf einen Gegenstand Gerichtetseins“ zurückkehren, finden wir noch die


1 Am einfachsten und zugleich nachdrücklichsten scheint mir heute solchen Schwierigkeiten der Entschlufs zu begegnen, die Adjektive „imma- nent und „transzendent“, ohne ihre historische Bedeutung gering zu achten, doch mit dem Substantivum „Objekt“ oder „Gegenstand“ lieber nicht


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Siebentes Kapitel.


ausdrückliche Berücksichtigung eines Falles ausständig, der die Unerlälslichkeit, die Annahmen heranzuziehen, neuerlich in be- sonders klares Licht stellt. Wir haben gesehen, in welchem Sinne affirmative Erkenntnisse, und in welchem Sinne Vor- stellungen auf Gegenstände gerichtet heifsen dürfen : für nega- tive l rteile aber ist die analoge Frage noch unbeantwortet. Dafs die Frage auch hier aufgeworfen werden mufs, ist durch die Erfahrung aufser Zweifel gesetzt, da diese bei negativen Ur- teilen ganz ebenso deutlich auf einen Gegenstand hinweist, als dies nur irgendwo anzutreffen ist. Die Bezugnahme auf das affirmative Urteil ist aber wie schon einmal berührt, besonders schwierig, wo das Gegenteil eines solchen Urteils, ein nega- tives nämlich, tatsächlich gegeben ist. Nun ist sofort einzu- sehen, wie die ganze Schwierigkeit bei Heranziehung der An- nahmen ohne weiteres verschwindet: vor allem wichtig ist aber, dafs die Erfahrung auch ziemlich direktes Zeugnis dafür ablegt, dafs bei negativen Urteilen affirmative Annahmen wirklich be- teiligt sind.

Es ist bekannt, dafs sich die eigentümliche Stellung der Negation zur Affirmation bereits längst der Aufmerksamkeit mehr als eines Beobachters aufgedrängt hat . * 1 Man hat bemerkt, dafs es in der Natur des negativen Urteils liegt, nicht „frei ein- zusetzen“, wie die Musiktheoretiker sagen, sondern einer Art affirmativer „Vorbereitung“ zu bedürfen. Wenn A B ist, liegt hierin Anlafs genug, eventuell dem A das B im affirmativen Urteile zuzuerkennen : von A aber zu negieren, dafs es etwa C ist, dazu scheint doch nur Anlafs und Gelegenheit vorzuliegen, wenn dem urteilenden Subjekte der Gedanke ausreichend nahe getreten ist, das C vom A zu af firmieren. Dafs so die Negation

mehr zu verbinden. Eine terminologische Lücke wird so schwerlich ent- stehen. Auch die (etymologisch ja wirklich sehr naheliegende) Gefahr, das „immanente Objekt“ für psychisch zu nehmen (vgl. oben S. 85 f., Anm. 3), wäre damit ein für allemal beseitigt. Vgl. übrigens auch oben S. 219 Anm.

1 Vgl. insbesondere Sigwart in der 2. Auflage seiner Logik, S. 150 ff., namentlich aber die Anmerkung S. 154 ff. Die Punkte, in denen ich diesen Ausführungen nicht beistimmen kann, werden sich dem Leser der gegen- wärtigen Darlegungen bereits deutlich genug aufgedrängt haben, um eine besondere Hervorhebung derselben an dieser Stelle entbehrlich zu machen. Demgemäfs sind es auch nicht speziell die Positionen Sigwarts, denen im folgenden entgegengetreten wird (gegen D. H. Kbrleh, „Über Annahmen S. 28;.


Annahmen beim Erfassen des Präsentierten. Das Meinen.


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auf eine gegenstandsgleiche Affirmation zurückweist, das kommt auch in der schon berührten eigentümlichen Weise zur Geltung, in der der sprachliche Ausdruck der Negation gegenüber dem der Affirmation differenziert ist. Stünden beide einander durch- aus auf gleichem Fufse zur Seite, so wäre ja doch wohl auf ein Ausdrucksmittel für das Urteil schlechthin und dann auf Zu- taten zu rechnen, durch welche das Urteil je nach Bedarf als affirmativ oder negativ gekennzeichnet würde. Inzwischen bietet die Sprache normalerweise zunächst einen bestimmten Aus- druck für die Affirmation, der dann erst durch einen besonderen Beisatz in den Ausdruck der Negation abgeändert wird. Das an die affirmative Aussage angeschlossene „nicht“ , das die negative Aussage konstituieren hilft, bietet so eine Art äufser- lichen Beleges 1 für das Hinzutreten der Negation an die vor- gegebene Affirmation.

Nun ist aber sofort ersichtlich, dafs, wer hier so weit geht, ein affirmatives Urteil als Voraussetzung für das negative in Anspruch zu nehmen, damit den Tatsachen ganz zweifellos Ge- walt antut. Negiere ich die Existenz eines runden Viereckes, so werde ich dazu sicher Veranlassung gehabt haben, aber es mlifste doch mit seltsamen Dingen zugehen, wenn ich vorher an das Rundsein des Viereckes geglaubt hätte. Auch wo eine quaestio facti in einem negativen Urteile ihre Beantwortung findet, mag eine wirkliche Frage ganz wohl der Anlafs dazu gewesen sein, aber bei weitem nicht eine Vorwegnahme der Beantwortung durch ein affirmatives Urteil. Dagegen legt der Flinweis auf die Eventualität einer Frage im gegenwärtigen Zusammenhänge den Gedanken aufserordentlich nahe, der aufgewiesenen Über- triebenheit dadurch zu steuern, dafs die Rolle einer Voraus- setzung für das negative Urteil zwar nicht einem affirmativen Urteil, wohl aber einer affirmativen Annahme zuerkannt wird. Ohne weiteres ist dann zu verstehen, wie demjenigen, der den affirmativen Hintergrund wohl bemerkt hat, auf die Tatsache der Annahmen aber noch nicht ausdrücklich aufmerksam geworden ist, es recht schwer werden mag, diesen Hintergrund näher zu beschreiben, so dals er sich am Ende entschliefst, ihn in mehr bildlicher als genauer Ausdrucksweise geradezu als affirmatives l rteil zu benennen.

fatsachen, die seinen Beweiswert herabsetzen, verzeichnet A. Marty, „Uber Annahmen“, Zeitschr. f. Psychol. 40, S. 36.


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Siebentes Kapitel.


Auch was der sprachliche Ausdruck in der vorhin erwähnten Weise bezüglich des Verhältnisses von Affirmation und Negation zu verraten scheint, kommt so zu seinem Rechte. Der Satz „A ist B“ drückt ohne Zweifel eine Affirmation aus; aber wir wissen bereits, dafs diese Affirmation in der Regel nur bei un- abhängigen Sätzen Urteilsaffirmation, bei abhängigen Sätzen da- gegen Annahmeaffirmation ist. Wird also der Ausdruck der Negation tatsächlich durch einen Zusatz an den Ausdruck der Affirmation gebildet, so kann dies unbedenklich so gedeutet werden, dafs die Affirmation der Negation gegenüber ein natür- liches Prius ausmacht; aber es darf billig dahingestellt bleiben, ob diese Affirmation eine Urteils- oder eine Annahmeaffirmation ist, da dort, wo es sich nur um die innere Konstitution des negativen Satzes, nicht aber um seine Stellung zu anderen Sätzen handelt, die Frage, ob abhängig oder unabhängig, überhaupt keinen Belang haben kann. Ergibt nun aber weiter die direkte Erfahrung, dafs von einem Überzeugungsumschlag beim Ein- tritte des negativen Urteils normalerweise nicht zu reden ist, so gelangt man eben zu dem Ergebnis, dafs dasjenige, was das negative Urteil sozusagen als dessen natürliches Antecedens vorbereitet , nichts anderes als eine affirmative Annahme sein kann.

Dürfte es durch das Obige für erwiesen gelten, dafs jedes negative Urteil seiner Natur nach eine affirmative Annahme als Antecedens mit sich führt, so hätte damit die im vorhergehenden nachdrücklich vertretene Heranziehung der Annahme zur Gegenstandsdefinition eine kräftige Stütze erhalten. Dafs das negative Urteil ganz ebensogut auf einen Gegenstand gerichtet erscheint wie das affirmative, kann nicht im mindesten befremden, wenn diesem „Gerichtetsein“ der Tatbestand einer affirmativen Annahme wesentlich ist. Dieser Tatbestand findet sich ja dann am negativen Urteil bereits als dessen Voraussetzung "sor, indes das affirmative Urteil der affirmativen Annahme gegenüber selbst nur eine Art Superplus darstellt.

Inzwischen ist die Darlegung in betreff des auf einen G egen- stand Gerichtetseins immer noch in einem Punkte lückenhaft. Wir verstehen jetzt, wie dieses Gerichtetsein von der grofsen Überzahl der Vorstellungen zu behaupten ist, auch, wie es von allen Urteilen, affirmativen wie negativen, gilt. Wie ist es aber mit jenem Tatbestände bewandt, der uns hier allenthalben das


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Verständnis erst ermöglicht hat, wie stellt es in betreff jenes- Gerichtetseins bei den Annahmen selbst? Dafs man es den An- nahmen so wenig absprechen kann als anderen psychischen Tatsachen , ist selbstverständlich ; und dals hierfür bei den affirmativen Annahmen eine neuerliche Legitimation entbehrlich ist, versteht sich nicht minder: jenes „Gerichtetsein“ und affir- mativ Annehmen ist ja, wenn das Bisherige richtig ist, im Grunde eine und dieselbe Tatsache. Nun stehen aber den affirmativen Annahmen auch negative gegenüber : wie ist die Stellung beschaffen, welche diese dem Probleme der Gegenständ- lichkeit gegenüber einnehmen? Sehe ich recht, so beantwortet sich diese Frage an der Hand der Erfahrung einfach dahin, dafs nicht nur das negative Urteil, sondern auch die negative An- nahme eine vorangehende Affirmation verlangt, von der hier noch selbstverständlicher ist, dafs sie nicht wohl anderen Charakter als den der Annahme an sich tragen wird. Immer- hin kommt der negativen Annahme gegenüber auch die Mög- lichkeit des affirmativen Urteiles als Ausgangspunkt iveit mehr als beim negativen Urteil in Frage; die affirmative Annahme aber bleibt sozusagen das Minimum, für das jedesmal gesorgt sein wird.


§ 38.

Zur Selbstkritik. Die Aufser sei ns ansich t.

Warum ich geglaubt habe, die in den vier letzten Para- graphen gemäfs der ersten Auflage dieser Schrift niedergelegte Auffassung als „Seinsansicht“ charakterisieren zu können, bedarf wohl kaum einer besonderen Rechtfertigung. Einen Gegenstand im ganz eigentlichen Wortsinne sollen ja dieser Auffassung zufolge Vorstellungen doch nur dann haben, wenn sie auf Existierendes oder Bestehendes, also zusammenfassend, wenn sie auf Seiendes gerichtet sind. Aber ebenso deutlich scheint mir jetzt, dafs sich diese Auffassung im Verlaufe ihrer Durchführung von diesem Ausgangspunkte loszulösen beginnt. Denn für gegenständlich mufs sie auch Vorstellungen gelten lassen, die auf seiende Gegen- stände gerichtet wären, wenn das Sein dieser Gegenstände eben stattfände, und potentiell gegenständlich sind sogar auch solche Vor- stellungen, die nicht einmal auf Seiendes gerichtet, sondern blofs so beschaffen sind, dafs sie unter günstigen Umständen wenig-


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Siebentes Kapitel.


stens im eben angegebenen fiktiven Sinn darauf gerichtet sein könnten. Darin liegt mehr als eine blolse „Abschwächung“ 1 der Ausgangsbestimmung der Gegenständlichkeit. Denn besteht diese im „Haben“ des Gegenstandes und mufs der „gehabte“ Gegen- stand ein seiender sein, dann hat eben die Vorstellung in keinem jener Fälle von Fiktion einen Gegenstand und es ist eigentlich nicht mehr recht abzusehen, weshalb sie trotz ihrer Angewiesen- heit auf die Fiktion immer noch gegenständlich heifst; im Grunde ist sie dann eine Vorstellung ohne Gegenstand, und diejenigen verfuhren folgerichtiger, die eine Vorstellung wie die vom goldenen Berg oder gar die vom runden Viereck kurzweg gegen- standslos nannten.

Erscheint mir dies gleichwohl auch jetzt den Tatsachen durchaus entgegen, lehren mich diese vielmehr nach wie vor mit gleicher Deutlichkeit, dafs wenn ich an ungetrübtes Menschen- glück oder an das Perpetuum mobile denke, meine Gedanken so gewifs auf „etwas“, d. i. auf einen Gegenstand gerichtet sind, als wenn es sich dabei um das alltäglichste Stück Wirklichkeit handelte, so ist die obige Auffassung von dem im Eingang dieses Kapitels erwähnten „Vorurteil zugunsten des Wirklichen“ oder wenigstens des Seienden nicht freizusprechen. Ist der Gegenstand als solcher aufserseiend 2 und erkennen wir dies, so liegt schon darin ein Erfassen des Gegenstandes uneingeengt durch die Seinsschranken. Mit der Loslösung des Gegenstands- gedankens von der Tatsächlichkeit entfällt die Nötigung, die Er- kenntnis in den Mittelpunkt der Betrachtung zu stellen und damit manches wenig Natürliche 3 , ohne das die Verbindung mit diesem Zentrum nicht wohl herstellbar war. Und statt die Gegen- ständlichkeit erst am Ende der Untersuchung 4 als Eigenschaft der Vorstellung herauszustellen, kann man nun die Darlegung

1 Im Sinne der Bemerkung oben S. 228.

2 Vgl. oben S. 79 f.

3 Auf solches weist jetzt mit Recht auch D. H. Kerler hin („Über An- nahmen“ S. 23 ff.), immerhin aber nicht ohne Mifs Verständnisse. Nament- lich dafs ich negative Objektive nicht gelten liefse (S. 24), war auch schon für die erste Auflage irrig: ich habe nur dort das Objektiv überhaupt noch nicht ausreichend herangezogen. — Auf weitere Mängel meiner in Rede stehenden Darlegungen einzugehen, die nur des Zusammenhanges wegen auch jetzt nicht beseitigt worden konnten, wird entbehrlich sein. gl- übrigens unten S. 242 f., 274 f.

4 Vgl. oben S. 228.


Annahmen beim Erfassen des Präsentierten. Das Meinen.


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mit dem Hinweis auf diese schon vor genauerem Eingehen be- sonders naheliegende Tatsache beginnen.

Ist nämlich fürs erste klar, dafs unser intellektuelles Ver- hältnis zu den Gegenständen nicht kurzweg darin gelegen ist, dafs wir die Gegenstände erkennen oder, was für viele Fälle richtiger gesagt sein wird, dafs wir über die Gegenstände oder noch besser von den Gegenständen etwas erkennen, dann wird dieses intellektuelle Verhalten zu den Gegenständen statt durch das Wort „Erkennen“ besser durch ein farbloseres zu ersetzen sein, als das sich etwa der im bisherigen schon oft angewendete Ter- minus „Erfassen“ empfehlen mag. Für den Anfang dieses Er- fassens kann man dann ganz charakteristisch „Ergreifen“ sagen und in diesem Sinne behaupten, dafs, wenn man etwas hinsicht- lich eines bestimmten Gegenstandes intellektuell ausmachen will , es vor allem nötig ist, ihn intellektuell zu „ergreifen“, womit dann übrigens nicht gesagt sein soll, dafs dieses Ergreifen der anderweitigen intellektuellen Bearbeitung des Gegenstandes jedesmal zeitlich vorhergehen mufs. Einen Gegenstand haben resp. gegenständlich sind dann Erlebnisse einfach, sofern sie dazu dienen, den betreffenden Gegenstand zu erfassen, und die Hauptfrage ist nun die, welcher Beschaffenheit Erlebnisse dieser Art eigentlich sind.

Niemand wird Bedenken tragen, als solche Erlebnisse die Vorstellungen namhaft zu machen; kommt die Tatsächlichkeit dabei prinzipiell nicht in Frage, so scheint ja nicht mehr nötig, als sich die Gegenstände eben vorzustellen. Wir fragen zunächst noch nicht, ob wirklich Vorstellungen allemal unerläfslich sind, wohl aber, ob in den vielen Fällen, wo sie zweifellos vorliegen, sie allein für das Erfassen des Gegenstandes ausreichen. Eine ganz einfache Erwägung beweist eigentlich schon das Gegenteil: Erfassen ist jedenfalls ein Tun; das Vorstellen, ganz losgelöst von allem, was etwa auf Grundlage des Vorstellens psychisch zu verwirklichen sein mag, ist ein völlig passiver Zustand so gut wie das I ühlen 1 : wo also ein Gegenstand erfafst wird, mufs zum Vorstellen noch ein anderes Erlebnis hinzugekommen sein.

Doch hätte ein derartiges am Ende gar nur definitorisches Herauspräparieren eines rein passiven Vorstellungserlebnisses


Näheres über diese von mir längst vertretene Position vgl. jetzt bei St. W itaskk, „Grundlinien der Psychologie“, S. 84 f.


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Siebentes Kapitel.


\\ cuig genug zu bedeuten, lielse sich das tatsächliche Vorkommen eines solchen Erlebnisses nicht in der Erfahrung aufzeigen und daian auch sogleich konstatieren, dafs dabei vom Erfassen eines Gegenstandes tatsächlich nicht geredet werden kann. In ge- wissem Sinne mag ja ein über die Passivität nicht hinausgehendes A orstellen als Ausnahme gelten ; aber es ist doch eine weit weniger seltene Ausnahme, als man auf den ersten Blick glauben könnte. So hat zwar jede Empfindung die Eignung, ihren Gegen- stand, der passend Empfindungsgegenstand genannt worden ist 1 , zu erfassen ; wie wenig solches aber allemal auch geschieht, be- weist die Fülle dessen, was sich unter normalen Umständen auf der Peripherie der Netzhaut abbildet und insofern indirekt ge- sehen wdrd, ohne dafs die betreffenden Gegenstände, die unsere Empfindung hier tatsächlich verursachen, in unserem psychischen Leben irgendwie als Gegenstände zur Geltung kommen. Auch die uns umgebenden Geräusche und vieles, was uns die soge- nannten niederen Sinne darbieten, empfinden wir nicht anders 2 ; allfälligen Zweifeln daran, ob unter solchen Umständen wohl überhaupt empfunden wird, begegnen nicht selten ausdrückliche Erfahrungen über Wirkungen solcher Erlebnisse, z. B. über den störenden Einflufs sogenannter Nebenvorstellungen beim Ver- gleichen . 3 Häufig sind diese Wirkungen übrigens wohlbekannt, ja beabsichtigt: die gehörte Rede z. B. verstehen wir oft genug, ohne dafs uns das Gehörte selbst, die empfundenen Klänge, Ge- räusche und was auf sie aufgebaut ist, gegenständlich „zum Be- wufstsein“ käme 4 , so dafs man nicht selten schon unmittelbar nachher zwar über den Sinn der Rede Bescheid weifs, keineswegs aber über die AVorte. Bei gelesenen Wörtern geht es oft genug


1 St. Witasek, „Grundzüge der Ästhetik“, S. 36 ff.

2 Vgl. z. B. A. Messer, „Empfindung und Denken“, Leipzig 1908, S. 40 ff. (auch S. 56 f .), der nur freilich, wenn ich das Eisenbahnbeispiel richtig ver- stehe, eigentlich etwas anderes als die Empfindungsgegenstände im Auge hat. Ich verweise auf das genannte Buch vor allem als auf eine besonders leicht zugängliche Zusammenfassung einerseits der Positionen E. Hosserls, andererseits der in den letzten Jahren durch geführten Würzburger l nter- suchungen über das „Denken“, denen die folgenden Darlegungen vielfältige Anregungen verdanken, ohne dafs ich dieselben im einzelnen allemal zu verbuchen wütete oder beim skizzenhaften Charakter des folgenden Diver- gierendes in meiner Auffassung polemisch zu begründen imstande wäre.

3 Vgl. St. Witasek, „Grundlinien der Psychologie“, S. 246.

1 E. Hüsserl, „Logische Untersuchungen“, Bd. LI S. 40 f. u. ü.


Annahmen beim Erfassen des Präsentierten. Das Meinen.


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auch nicht anders, auch die Notenzeichen treten für den geübten Spieler meist ganz zurück usw. Mit einem Worte: es gibt Emp- findungen genug, die unter den besonderen Umständen, unter denen sie auftreten, dem Erfassen ihrer Gegenstände nicht dienen, selbst dann nicht, wenn sich ihnen, wie beim Zuhören und Lesen, unsere Aufmerksamkeit, freilich in ganz eigener Weise, zuwendet . 1 Auch an Einbildungs Vorstellungen ist Ähn- liches zu konstatieren, so namentlich bei Partialvorstellungen, die zum Zwecke der Bildung von Abstractis vernachlässigt weiden. So lehrt denn die direkte Erfahrung, dafs blofses Vorstellen, als dessen Spezialfall hier Empfinden herangezogen wurde, zum Er- fassen von Gegenständen unzureichend ist.

Minder direkt, aber nicht minder stringent ist ein anderer Nachweis derselben Sache. Es war seinerzeit darauf hinzuweisen, wie an jeder Vorstellung dem relativ invariablen Vorstellungs- akte ein im ganzen mit dem Gegenstände, genauer Objekte, Variables als Inhalt gegenübersteht .’ 2 Das impliziert eine gewisse Zuordnung zwischen Inhalten und Objekten; es ist nun für unsere gegenwärtige Frage wichtig, dafs diese Zuordnung in dem Sinne keine unter allen Umständen ungestörte ist, dafs sehr wohl zu verschiedenen Inhalten derselbe Gegenstand, zn gleichen In- halten verschiedene Gegenstände gehören können. Hier kommt es insbesondere auf diesen zweiten Fall an. Am auffälligsten wird er repräsentiert durch die Verschiedenheit der Ergebnisse von Aus- und Einwärtswendung der nämlichen Vorstellung , 3 ver- möge der das eine Mal etwas Physisches, z. B. ein Berg, das andere Mal ein Psychisches, etwa die Vorstellung des betreffenden Berges oder gar der Inhalt dieser Vorstellung, als Gegenstand erfafst wird. Nicht minder wichtig sind die verschiedenen Grade von Genauigkeit, mit denen derselbe Inhalt verwendet werden kann, um Gegenstände zu erfassen, deren Verschiedenheit im extremen Falle sogar den Gegensatz phänomenaler und nou- menaler Gegenstände in sich fassen zu können scheint . 4

Es ist natürlich klar, dafs diese Verschiedenheiten in der Erfassungsleistung nicht auf Rechnung des unverändert bleibenden


1 Vgl. dagegen Messer a. a. 0. S. 120 f.

2 Vgl. oben S. 85 f.

Vgl. „Über die Erfahrungsgrundl. unseres Wissens“, S. 58 f.

  • A. a. O., S. 96 ff.


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Siebentes Kapitel.


\ 01 Stellungsinhaltes zu setzen sind, an dieser Leistung also aufser dem Vorstellen noch irgend etwas anderes beteiligt sein mufs.

Dieses Hinzukommende ist schon der vorwissenschaftlichen Psychologie so wenig entgangen, dafs das tägliche Leben bereits einen Ausdruck dafür besitzt, auf den sich die Theorie merk- würdig lange zu besinnen versäumt hat. Von einem unver- standenen Worte, einer unklaren Redewendung kann man sehr wohl aufzuklären Anlafs haben, was damit „gemeint“ sei. Auch einer Geberde oder sonst einem Zeichen gegenüber mag man nach der „Meinung“ fragen ; und wer den A anredet, jedoch vom B Antwort erhält, mag zu konstatieren Anlafs haben, dafs er den A „gemeint“ habe. Ohne Zweifel handelt es sich bei Wendungen dieser Art stets um ein Gerichtetsein auf einen Gegen- stand, und es ist daher mindestens eine ganz statthafte Über- tragung, nun auch von Vorstellungen, durch die ein Gegenstand tatsächlich erfafst wird, zu sagen, es werde mit ihnen etwas ge- meint. Das Moment der Absichtlichkeit, das sicherlich manchem der Anwendungsfälle des Ausdruckes „meinen“ anhaften wird, kann dabei, da es eben nur für manche Fälle zutrifft, ganz wohl unübertragen bleiben, gleichwie man sich durch den wesentlich anderen Sinn, in dem man das „Meinen“ und die „Meinung“ dem Urteilen, Glauben u. dgl. als etwas Unvollkommeneres an die Seite setzt, hier nicht beirren zu lassen braucht. Das vor- ausgesetzt, hat man zunächst jedenfalls eine sehr charakteristische Ausdrucks weise gewonnen, wenn man sagt, nur jene Vorstellungen erfassen wirklich und aktuell einen Gegenstand, bei denen oder mit denen etwas gemeint wird, indes denjenigen, bei denen dies nicht geschieht, nur potentielle Gegenständlichkeit zugesprochen werden kann. Zugleich findet man sich nun vor die ganz ein- fach zu formulierende Frage gestellt, welcher Art das Erlebnis ist, das uns hier unter dem Namen des Meinens entgegentritt.

Eines ist sofort klar: wir haben es dabei sicher nicht mit Passivität, sondern mit Aktivität zu tun. Aber w r elcher Art ist diese Tätigkeit? Es ist natürlich gar nicht selbstverständlich, dafs es unter allen Umständen möglich sein miifste, darauf eine bessere Antwort zu geben als man etwa auf die Frage zur V er- fügung hätte, was Vorstellen, was Urteilen oder was Annehmen sei. Das Meinen könnte eben ein psychisches Erlebnis sui generis darstellen. Es wäre aber wie überall auch hier ein tlieo-


Annahmen heim Erfassen des Präsentierten. Das Meinen.


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retischer Gewinn, wenn man mit dem bereits Bekannten an letzten Tatsachen auskommen könnte, und ich versuche im folgenden zu zeigen, dafs dies auch beim Meinen zu leisten ist..

Den Weg hierzu weist uns, wenn ich recht sehe, das Er- kennen, und wir dürfen uns diesem Führer selbst dann anvertrauen, wenn eben zuvor betont werden mufste, dafs es auch nicht- tatsächlichen Gegenständen gegenüber zwar (wenigstens cum grano salis verstanden) kein Erkennen, wohl aber ein Erfassen, also eben ein Meinen gibt. Beim Erkennen denkt man, wio wiederholt zu erwähnen war, mit Vorliebe an das Erfassen der Wirklichkeit; es liegt also sofort die Frage nahe, ob wir wohl sagen könnten, worin mein Erlebnis besteht, wenn ich etwa meinen Freund X in Worten oder Gedanken „meine“. In der Tat ist hier einfach zu antworten: das intellektuelle Ergreifen einer Wirklichkeit ist ja die charakteristische Leistung unserer Wirklichkeitserkenntnis resp., wo die Umstände für ein Erkennen im strengsten Sinne nicht günstig genug sind, des mindestens richtigen Wirklichkeitsurteils. So wird es denn beim „Meinen“ des Freundes nur auf meine berechtigte oder doch wahrheits- gemäfse Überzeugung, auf mein Urteil ankommen, dafs der Freund existiert, ähnlich wie ich Wirklichkeiten durch Wahr- nehmungsurteile ergreife resp. meine, die ebenfalls nichts weiter als Existentialurteile sind, wobei Existentialurteile nur nicht mit dem Hinzuurteilen eines Quasi- Attributes „Existenz“ verwechselt werden dürfen, jenen „Existentialprädikationen“, deren oben als eines höchst unvollkommenen Ersatzes für das eigentliche Existentialurteil zu gedenken war . 1 Ich meine also den Freund, indem ich der Tatsache eingedenk bin, dafs er existiert.

Wie wird es nun weiter zugehen, wenn ich etwa den Gegen- stand „rechtwinkliges Dreieck“ ergreife, um mich, vielleicht zum Zwecke trigonometrischer Feststellungen, gewissen Eigenschaften desselben zuzuwenden? Um ein Daseiendes handelt sichs dies- mal so wenig als sonst in der Geometrie, dafür aber um Be- stehendes. Das Meinen eines Bestehenden als solchen kann demgemäfs nicht wohl in etwas anderem als in dem Fällen eines evidenten oder doch wahren Bestandurteiles (und etwa dessen dispositionellen Folgetatsachen) bestehen.

Das Dargelegte ist nun auch in einer etwas anderen Weise


Vgl. § 20.


1


240


Siebentes Kapitel.


zu exponieren, in der das gegenständliche Moment noch mehr in den Vordergrund tritt. Man kann nämlich sagen: Die Ob- jekte Fieund oder Dreieck erfasse ich in einem und gewisser- mafsen durch einSeinsobjektiv, das seinerseits durch ein Urteil •erfafst ist. Hinsichtlich dieses Objektivs ist sogleich auffällig, dafs, um es zu erfassen, nicht noch einmal ein Meinen erforder- lich ist. Was die Vorstellung für sich allein nicht zustande bringt, leistet das Urteil ohne weiteres: es erfafst seinen Gegen- stand, eben das Objektiv; und man pflegt das nicht wiederum „Meinen zu nennen. Ich „meine“ den Freund, aber normaler- weise nicht zugleich seine Existenz. Wie nun schon früher be- merkt, steht das Vorstellen dem Objekt einigermafsen analog gegenüber wie das Urteilen dem Objektiv: wie das Urteilen das Objektiv, so erfafst das Vorstellen das Objekt unmittelbar, nur sozusagen unvollständig, indem es noch einer obligatorischen Hilfe durch ein mittelbares, durch das Objektiv hindurchgehen- •des Erfassen bedarf. Augenscheinlich ist es dieses mittelbare Erfassen, das zum „blofsen Vorstellen“ hinzukommen mufs, um aus diesem das Meinen des betreffenden Objektes zu machen. Wie wenig aber das Meinen auf den Fall des Vorstellens resp. auf Objekte sich beschränken mufs, das ist nun sogleich an dem für das Meinen unerlässlich befundenen Objektiv selbst zu er- kennen. Wie bemerkt, mufs dasselbe nicht, aber es kann sehr wohl auch seinerseits gemeint werden. Man vermag eben auch ein Objektiv mittelbar zu erfassen, durch ein anderes Objektiv höherer Ordnung hindurch. Ich meine wirklich nicht mehr den Freund, sondern die Existenz des Freundes, wenn ich behaupte, dafs diese Existenz Tatsache sei.

Wir haben bisher ausschliefslich Fälle in Erwägung gezogen, wo das das Erfassen des Objekts vermittelnde Objektiv ein tat- sächliches war. Wie aber, wenn ein solches nicht zu Gebote steht? Wenn der Erfassende darüber im Irrtum ist, wird das an der Hauptsache kaum Erhebliches ändern können. Wer also in gutem Glauben von Spirits, „Astralleibern“ u. dgl. redet, der „meint“ auch diese Objekte unter Zuhilfenahme von Existenz- urteilen, nur eben Objekte, deren Objektiven die Tatsächlichkeit fehlt. Wie aber, wenn jemand etwa das „Phlogiston“ meint, um darüber das Urteil zu fällen, dafs es dergleichen nicht gibt, oder wenn er, gleichviel aus welchem Anlafs, ein Objekt „meint“, an das er denkt, ohne dabei die Frage nach dessen Existenz


Annahmen heim Erfassen des Präsentierten. Das Meinen.


241


oder Nicht-Existenz überhaupt in Betracht zu ziehen? Nach ■dem Gange, den unsere Untersuchungen in den früheren Kapiteln genommen haben, wird hierin niemand einen Grund sehen, zu vermuten, dafs da Objektive beim Meinen weniger beteiligt sein müfsten. Nur soviel ist natürlich sicher, dafs unter den ge- gebenen Umständen diese das Meinen gleichsam vermittelnden Objektive unmittelbar nicht durch Urteile erfafst sein können. Und damit ist uns im Sinne einer nun schon oft bewährten ■Schlufsweise die für den Hauptvorwurf der gegenwärtigen Schrift wieder fundamental wichtige Einsicht eröffnet, dafs in solchen Fällen beim Erfassen der Objekte aufser den Vorstellungen die Annahmen eine ganz wesentliche Rolle spielen. Der direkten Empirie ist das auch durchaus gemäfs. Dafs man, um an etwas zu denken, sich „in die Lage versetzt, als wäre es“, entspricht in vielen Fällen unserer deutlichen Erfahrung: es gibt gewifs -auch minder deutliche, bei denen sich aber von der geringeren Deutlichkeit meist mit Rücksicht auf Dauer und Umgebung der betreffenden Erlebnisse unschwer Rechenschaft geben läfst.

Wir gelangen so zu dem Ergebnis, dafs jenes ps}mhische Tun, das sich auf Grund des passiven Vorstellens realisieren mufs, wenn durch das Vorstellen dessen Objekte erfafst werden sollen, kurz dafs das Meinen entweder Urteilen oder Annehmen ist, genauer Seinsurteilen oder Seinsannehmen. Dürfen wir, was uns oben schon als plausibel entgegengetreten ist, dort, w r o Urteilen vorliegt, gleichsam a potiori auch auf impliziertes Annehmen •erkennen, so läfst sich kürzer sagen : alles Meinen ist Annehmen. Wir gelangen so, wie man sieht, im wesentlichen zu einem durch- aus ähnlichen Resultate wie oben auf Grund dessen, was dort die „Seinsansicht“ genannt worden ist. Weil aber im Gegensatz hierzu das eben Angeführte doch gerade auf die Voraussetzung- gebaut war, dafs die Gegenständlichkeit der Vorstellungen auch im strengen Sinne über den Bereich des Seienden hinausgeht, kann man hier von einer Aufserseinsansicht in betreff der Gegen- ständlichkeit reden. Doch hätte es, wenn man sich einmal für die Aufserseinsansicht entschieden hat, keinen Zweck, die Termini „Seins- und Aufserseinsansicht“ festzuhalten. Ich habe mich ihrer hier nur in den Paragraphenüberschriften bedient, um ein Mifs- verständnis darüber nicht aufkommen zu lassen, dafs in den vier vorangehenden Paragraphen die Ausführungen der ersten

Meinong, Über Annahmen, 2 . Aufi. 16


242


Siebentes Kapitel.


Auflage hauptsächlich zum Zwecke der Überprüfung und Richtig- stellung wiedergegeben waren.

Charakteristischer, nur nicht im Gegensätze zu den Aus- führungen der ersten Auflage, könnte man die hier vertretene Ansicht etwa als Annahmeansicht bezeichnen. Wer ihr zu- zustimmen geneigt ist, wird nicht zu verkennen brauchen, dafs die Behauptung, Meinen sei im wesentlichen soviel wie Annehmen, zurzeit noch nicht für ebenso sicher festgelegt gelten darf, als die in früheren Kapiteln dieses Buches entwickelten Positionen der Annahmelehre. Und da natürlich auch eine Monographie über Annahmen weder Anlafs noch Recht hätte, deren Ver- breitungsgebiet gröfser erscheinen zu lassen, als eben den Tat- sachen entspricht, so möchte ich hier nicht unerwähnt lassen, dafs mir auch mindestens ein Anhaltspunkt dafür begegnet ist, die Natur des Meinens in etwas anderem als im Annehmen zu suchen. Nur kommt man dabei sogleich mit einer anderen von mir schon oben 1 als ungelöst bei Seite gesetzten Schwierigkeit in Berührung, die übrigens freilich bei einer „Aufserseins“-Ansiclit nahe genug liegt: ich meine eben das Problem des Aufserseins. Man denke sich dieses einmal, was oben ja nicht ohne weiteres abzuweisen war, in der Weise gelöst, dafs sich das Aufsersein wirklich als eine Art positiven Seins herausstellt , so dafs es irgendwie dem Bestände und der Existenz beizuordnen wäre als eine dritte Art Seinsobjektiv. Dann wäre es natürlich Sache geeigneter Urteile, es zu erfassen; die Eignung würde denselben durch die besondere Beschaffenheit ihres Inhaltes gewährleistet. Könnte dann das Meinen nicht statt in Annahmen in solchen dem Erfassen des Aufserseins dienenden Urteilen gesucht werden ? Es gibt nämlich eine Hinsicht, in der Aufsersein und Meinen eine höchst auffallende Übereinstimmung aufweisen. Schon seinerzeit wurde hervorgehoben, dafs das Aufsersein die füi ein Sein doch höchst seltsame Eigentümlichkeit aufweist, dafs diesem Positivum kein Negativum gegenübersteht. Nun scheint jeden- falls Tatsache, dafs alles bisher betrachtete Meinen von Natur affirmativ ist 2 , indes die negativen Objektive, welcher Art immer


1 Oben S. 79 f.

2 Soweit dies die natürliche Priorität der Affirmation vor der Negation als Konsequenz mit sich führt, d. h. unter Einschränkung auf die c ' n8 ^ objektive, halte ich die diesbezügliche, im § 37 als Teil der „Seinsansicht


Annahmen beim Erfassen des Präsentierten. Das Meinen. 243

sie sonst sein mögen, kein derartiges Erfassen vermitteln. In- zwischen wird die Bedeutung dieser Koinzidenz, die natürlich einigermafsen zu denken gibt, meines Dafürhaltens reichlich wett gemacht durch die Dunkelheit, die einstweilen dem Aufsersein und seiner allfälligen Erfassungsweise anhaftet, während mir der sonstige Gesamtaspekt durchaus zugunsten der Annahmen zu sprechen scheint. So meine ich einstweilen der Annahmelehre Dienste zu leisten, wenn ich nun auch im folgenden den Fragen des Meinens noch ein wenig nachgehe.

Im nächsten Zusammenhänge mufs hier aber sogleich einer Unvollkommenheit der Annahmeansicht gedacht werden, die bei ihrer Weiterausbildung hoffentlich verschwinden wird. Als einen Grund dafür, das Erfassen von Objekten nicht nur dem passiven Vorstellen allein zuzuschreiben, hatte ich früher die Tatsache zu erwähnen, dafs derselbe Inhalt dem Erfassen verschiedener Gegenstände dienen kann. Zum Beleg dafür wurde einstweilen 1 auf Ein- und Auswärtswendung sowie auf die Verschiedenheit der Genauigkeitsgrade hingewiesen. Man darf nun billig fragen, ob die Heranziehung der Annahmen (oder auch Urteile) der- artige Verschiedenheiten verstehen lehrt. Es mufs eingeräumt werden, dafs dies zurzeit noch in nur äufserst bescheidenem Mafse der Fall ist. Nur soviel ist durch den obigen Versuch ge- leistet, dafs, während das Vorstellen für sich allein für derartige Veränderlichkeiten überhaupt keinen Raum darzubieten schien, man nun an etwas wie verschiedene Richtungen denken kann, von denen her gleichsam das Annehmen an den Vorstellungs- inhalt angreifen mag, und allenfalls auch an verschiedene Stärken, in denen dieses Angreifen sich vollzieht. Es versteht sich indes, dafs mit so vagen Gedanken sich die Theorie auf die Dauer nicht zufrieden geben könnte.

Als Grundlage für das Meinen ist im Bisherigen fast aus- schliefslich zunächst von Vorstellungen die Rede gewesen; es wird indes kaum der Schein entstanden sein, dafs nur Vorstellungen in dieser Weise funktionieren können. Denn einmal können ja


wiedergegebene Position auch heute für sachgemäfs. Aber ebenso sicher scheint mir jetzt, dafs die Übertragung auf Soseinsobjektive nicht in jedem Sinne statthaft ist; vgl. unten 8. 274 f.

’ Auf anderes Einschlägiges kommen wir weiter unten zurück, vgl. 8. 276 f.


16 *


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Siebentes Kapitel.


nicht nur Vorstellungen einwärts gewendet werden, sondern nicht minder gut andere elementarere und komplexere Erlebnisse, also insbesondere auch Urteile, Gefühle und Begehrungen. Dann aber können, wie übrigens oben schon berührt wurde, auch Ob- jektive gemeint werden. Sucht man nach einem Begriff, der einigermai'sen die Eignung besitzt, ein derartiges Vielerlei zu umfassen, so bietet sich dazu, soviel ich sehe, nichts Brauch- bareres dar als der schon oben 1 geprägte, freilich recht farblose Gedanke der Präsentation. Präsentation besagt eben gar nichts anderes als dies, dafs ein Erlebnis dem Meinen, d. h. also An- nehmen, einen Gegenstand darbietet, indem das Meinen an diesem Erlebnis als Grundlage angreift. Hat das Erlebnis einen eigenen (unmittelbaren) Gegenstand, der beim Vorstellen ein Objekt, beim Urteilen ein Objektiv ist, so präsentiert es entweder diesen Gegen- stand oder sich selbst. Es kommen dann noch die besonderen Komplikationen hinzu, die unter dem Namen der Auswärts- wendung von Phantasieerlebnissen von mir an anderer Stelle be- reits kurz behandelt worden sind 2 , auf die jedoch an diesem Orte nicht eingegangen werden kann.

Das Meinen selbst wurde bereits oben als mittelbares Er- fassen eines Gegenstandes charakterisiert. Nun ist noch nachzu- tragen, dafs nicht jedes solche Erfassen durch ein Objektiv hin- durch einen Fall des Meinens darstellt, sondern nur eines, durch das ein Gegenstand intellektuell ergriffen und etwa der so er- griffene Gegenstand festgehalten wird. Was man z. B. sieht, daran denkt man, das „meint“ man normalerweise ; man braucht aber darum, wie wir wissen, an die Wirklichkeit eines etwa bild- lich Dargestellten noch nicht zu glauben. Hört man nun, es sei etwas Wirkliches und glaubt man daraufhin an die Wirklichkeit des Abgebildeten, so hat man in diesem hinzugekommenen Glauben sicherlich ein mittelbares Erfassen der gesehenen Gegen- stände, deren Abbildung zur Vereinfachung beliebig naturgetreu vorausgesetzt sei, vor sich. Dennoch wird man dieses nachträg- lich hinzukommende Glauben nicht leicht mehr zum Meinen rechnen. Ebenso mufs, wer zur Erkenntnis gelangt, dafs ein ihm bekannter Sagenstoff vielleicht ganz wider Erwarten historisch ist, diesen Stoff, genauer die sagenhaften Geschehnisse, bereits


1 Vgl. § 4 u. ü.

2 „Über die Frfahrungsgrundlagen unseres Wissens“, S. 75 ff,


Annahmen beim Erfassen des Präsentierten. Das Meinen.


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gemeint haben, um nun den Glauben gleichsam hinzufügen zu können, und dieser Glaube gehört nicht mehr zum Meinen. Auf das Ergreifen also kommt es an, das dann immerhin auch sofort mit Hilfe des Urteils erfolgen mag. Daraus erklärt sich die oben schon erwähnte Tatsache, dafs ein solches Meinen nie nega- tiven Charakter haben kann. Negieren, gleichviel ob im Sinne blofsen Annehmens oder auch Urteilens, ist niemals Ergreifen. Aber ich muls das ergriffen haben, von dem ich glauben, oder auch nur annehmen soll, dafs es nicht sei. Um also zu urteilen oder anzunehmen, dafs es „nicht regne“ (dies so verstanden, dafs zu gewisser Zeit an gewissem Orte kein Regen existiere), mufs man eben zuerst einmal den Gegenstand „Regen“ ergreifen, an ihn denken, ihn meinen: in einer affirmativen Seinsannahme, und mehr als sie braucht nicht vorzuliegen 1 , wird .kaum eine un- empirische Komplikation zu erblicken sein. Es wird also wohl aufrecht bleiben können, dafs die Seinsnegation in gewissem Sinne die Seins- Affirmation voraussetzt: nur etwa das Sosein hierin dem Sein gleichzustellen, wird sich uns unten 2 als kaum mit den Tatsachen vereinbar ergeben.

Kommt es nun aber nicht auch vor, dafs wir Gegenstände ergreifen, ohne dafs dabei einem Seinsobjektiv eine so wesent- liche Bedeutung zukäme wie in den eben betrachteten Fällen des Meinens? Ich denke etwa an eine bestimmte Rose, „meine“ sie also in der beschriebenen Weise. Nur weifs ich nicht, ob sie weifs oder rot war, und frage mich oder jemand anderen danach. Dabei mufs ich doch die Gegenstände „weifs“ resp. „rot ergreifen. Mufs ich sie zu diesem Ende besonders als seiend annehmen ? Ich kann in der Erfahrung davon nichts finden. Die Annahme freilich „die Rose ist weifs“, oder auch „die Rose ist rot“, ist, wie wir seinerzeit gesehen haben, für das 1 lagen unerläfslich : sie dürfte aber auch, soviel ich sehe, zum Erfassen der genannten Gegenstände, soweit dieses hier erforder- lich ist, ausreichen. Ob man dieses Ergreifen ebenfalls noch „Meinen nennen will, ist vielleicht Sache terminologischer Kon- vention. Jedenfalls hat man es wieder mit einem Erfassen durch em Objektiv hindurch zu tun, das der Aktivität in Gestalt von rteil oder Annahme auch hier ihren Anteil sichert. Nur ist


1 Gegen D. H. Kkhi.hr „Über Annahmen 11 , S. 28 f. 5 Kap. VIII § 45.


246


Siebentes Kapitel.


dieses Objektiv kein Seins- sondern ein Soseinsobjektiv, und dies legt die Frage nahe, ob dem Sosein nicht auch in Fällen ganz deutlichen Meinens noch eine besondere Bedeutung zukommen möchte, in der dann zugleich ein besonderer Anteil von Soseins- urteil und Soseinsannahme zur Geltung käme. Das nächste Kapitel soll, zunächst unter dem Gesichtspunkte einer ganz andersartigen Fragestellung, darüber Aufschlufs zu gewinnen versuchen.


247


Achtes Kapitel.

Annahmen bei Komplexen. Weiteres Uber das Meinen.


§ 39 .

Anschaulich und U n a n s c h a u 1 i c h. Der einfachere

Fall.

Wir haben im vorigen Kapitel gesehen, dafs eine Vor- stellung oder sonst ein präsentierendes Erlebnis, um aktuell auf einen Gegenstand gerichtet sein zu können, einer Annahme be- darf. Es läfst sich nun zeigen, dafs dem Annehmen noch ganz besondere Funktionen Vorbehalten sind für den theoretisch spe- ziellen, in praxi aber kaum eine Spezifikation ausmachenden Fall, dafs dieser Gegenstand ein Komplex ist. Wir wollen, um uns hiervon zu überzeugen, von der genaueren Würdigung eines Gegensatzes unseren Ausgang nehmen, der trotz seiner sich allenthalben in Psychologie und Erkenntnistheorie aufdrängenden Bedeutung immer noch zu den unzureichend untersuchten Dingen zählt. Jedermann weifs aus täglicher Erfahrung, dafs unser Vor- stellen bald den Charakter des Anschaulichen, bald den des Un- anschaulichen an sich trägt, dafs man manchmal geradezu die Wahl hat, ob man sich mit einer unanschaulichen Vorstellung zufrieden geben oder sich zum anschaulichen Vorstellen des- selben Gegenstandes durcharbeiten will, dafs man sich aber frei- lich auch» oft genötigt findet, sich mit ersterer Vorstellungsweise zu bescheiden, falls man sie um gewisser auch ihr zukommender Vorzüge willen nicht etwa ausdrücklich anstrebt. Uns liegen hier derlei /weckmäfsigkeitsmomente und deren Erwägung fern ; dagegen dürfte es sich uns als förderlich erweisen, die Frage aufzuwerfen, worin denn eigentlich das Wesen des anschaulich Vorstellens gegenüber dem des unanschaulich Vorstellens besteht.


248


Achtes Kapitel.


An anderem Orte 1 habe ich eine Charakteristik dieses Gegensatzes durch Berücksichtigung des Umstandes zu gewinnen versucht, dafs beim unanschaulichen Vorstellen gegenständliche Bestimmungen zur Anwendung gelangen, die streng genommen unter einander unverträglich sind, indes beim anschaulichen Vorstellen nur verträgliche Bestandteile zum Komplex des an- schaulich vorgestellten Gegenstandes vereinigt auftreten. Hört einer — wir halten uns fürs erste an ein möglichst einfaches- Paradigma — etwa die Worte „ein Kreuz, das rot ist“, so kann er darauf in der Weise reagieren, dafs er die abstrakten Vor- stellungen „Kreuz“ und „rot“, überdies etwa eine gleichfalls ab- strakte Vorstellung von der Zusammengehörigkeitsrelation, die diese beiden Bestimmungen verbinden soll, konzipiert und aus diesem Material in geeigneter Weise einen Komplex bildet. Verlangt dabei jede der abstrakten Vorstellungen das, was ich an anderer Stelle 2 das konkrete Substrat genannt habe, d. h. kann ich das Kreuz in abstracto nicht vorstellen, ohne es- dabei doch, wenn auch in gewissem Sinne nur per accidens, an bestimmtem Orte , in bestimmter Gröfse , in bestimmter Farbe usw. vorzustellen, desgleichen das Rot nicht, ohne dafs auch an ihm ein bestimmtes Orts-, Gröfsen-, Gestalt-Datum usw. haftete, so ist leicht ersichtlich, dafs, wenn nicht etwa besonders darauf Bedacht genommen wird, weder der am Kreuze mitvor- gestellte Ort mit dem des Rot zusammenfallen, noch die dem Rot zufällig gegebene Gestalt die Kreuzesform, noch die dem Kreuze gegebene Farbe die oder gar diese bestimmte rote sein wird usw. Mit einem Wort : die mit den Abstractis, die hier zu einem Komplex Zusammentreffen, zufällig mitgegebenen Substrate werden in der Regel Aveder unter einander noch mit den ihnen fremden 3 unter den vorgegebenen Abstractis zusammenstimmen, und die in dieser Weise beschaffene komplexe Vorstellung heifst dann unanschaulich im Gegensätze zu einer etAva direkter An-


1 „Phantasievorstellung und Phantasie“ in der Zeitschrift für Philo- sophie und philosoph. Kritik 95, S. 213. Vgl. auch St. Witasek, „Über will- kürliche Vorstellungsverbindung“, Zeitschr. f. Psychol. 12, S. 197 ff.

2 Hume- Studien 1.

3 Ich meine diejenigen, die andere Substrate haben, im Beispiel \om roten Kreuze also etwa die Kreuzesform, die mit dem räumlichen Substrate der Rot-Vorstellung unverträglich ist,' Avenn dieser etwa zufällig die Vor- stellung einer roten Kreisscheibe zugrunde liegt.


Annahmen hei Komplexen. Weiteres über das Meinen.


249


schaumig entstammenden oder ihr nachgebildeten Vorstellung, in der das Rot sogleich gewissermafsen in Kreuzesform oder auch die Kreuzesform sogleich gewissermafsen in roter Farbe und beides in betreff unwesentlicher Bestimmungen an identische Sub- strate geknüpft auftritt. In diesem Falle sagt man, das rote Kreuz werde anschaulich vorgestellt.

Ich glaube auch heute nicht, dafs sich gegen die Richtigkeit dieser Ergebnisse Erhebliches einwenden läfst, — davon abgesehen, dafs das gute Zutrauen auf die Unerläfslichkeit jenes „konkreten Substrates“ sich gegenüber den psychologischen Forschungen der letzten Jahre nicht mehr hat behaupten können. Und sofern es sich, wo dieser allerdings fundamental wichtige Umstand nicht in Frage kommt, nur um ein Kriterium handelt, mit dessen Hilfe sich Anschauliches von Unanschaulichem in möglichster Schärfe unterscheiden läfst, wird zum mindesten dahingestellt bleiben müssen, ob man leicht auf anderes wird hinzuweisen haben, das dieser Forderung in gleichem Mafse Genüge leistete. Damit verträgt sich aber aufs beste, dafs gleichwohl die eben repro- duzierte Bestimmung in das Wesen des in Rede stehenden Gegensatzes so gut wie gar keinen Einblick gewährt, so wenig etwa, als die Schwingungszahlen, durch die sich die verschiedenen absoluten Tonhöhen schärfer als durch was immer für sonstige Hilfsmittel präzisieren lassen, dem Tauben etwas über die Eigenart der betreffenden Tonhöhen verraten. Dafs nun die vorliegende Bestimmung des Gegensatzes von Anschaulich und Unanschaulich wirklich an diesem Mangel leidet, ist im Grunde schon ohne weiteres ersichtlich. Es verrät sich indes auch daian, dafs dabei für die Anschaulichkeit eigentlich nur eine negative Kennzeichnung zustande kommt, obwohl jeder Un- befangene den für die Anschaulichkeit wesentlichen Tatbestand zum mindesten nicht weniger positiv finden wird als den der Unanschaulichkeit. Ebenso bezeichnend ist es ferner, dafs die Charakteristik sich zwar an das gegenständliche Moment hält, dabei aber doch vorwiegend solches gegenständliches Material heranzieht, das der zu charakterisierenden abstrakten Vorstellung so unwesentlich ist, dafs es nach berechtigtem Herkommen dem Gegenstände derselben gar nicht zugezählt wird. Auch wo man tatsächlich aufserstande ist, das Kreuz anders als farbig und die rote larbe anders als in Verbindung mit irgend einer Ausdehnung und insofern auch in einer bestimmten Gestalt vorzustellen, ge-


250


Achtes Kapitel.


hört doch in den Gegenstand der abstrakten Vorstellung „Kreuz“ nichts von Farbe, und in den Gegenstand der abstrakten Vor- stellung „Rot“ nichts von Gestalt. Ein Widerstreit also, bei dem derlei „Substrate“ entweder ausschliefslich beteiligt oder doch wesentlich mitbeteiligt sind, kann zwar eine wichtige und mar- kante Begleittatsache der Unanschaulichkeit ausmachen, in keinem Falle aber die zu beschreibende Haupttatsache selbst.

An die letzten Erwägungen schliefst sich nun ganz von selbst auch die Frage, ob überhaupt Aussicht ist, eine vom eben bezeichneten Mangel freie Charakteristik des Anschaulichen und Unanschaulichen aus dem Gegenstände der betreffenden Vor- stellung heraus zu gewinnen. Man erhält eine Antwort auf diese Frage durch Berücksichtigung der Tatsache, dafs ich das rote Kreuz unseres Beispieles sowohl anschaulich als unan- schaulich vorzustellen imstande bin. Fürs erste freilich mag es gerade im Hinblick auf das oben Besprochene nahe liegen, von der unanschaulichen Vorstellung des roten Kreuzes zu sagen, das Kreuz, das da vorgestellt werde, sei nicht rot, und das Rote, das da vorgestellt werde, nicht kreuzförmig. Aber dieses scheinbare Paradoxon findet seine einfache Erledigung, wenn man sich daran erinnert, wie häufig man dort von „Vor- stellen“ schlechtweg spricht, wo man genauer von „anschaulich Vorstellen“ reden müfste. Denn in der Tat, was im Falle un- anschaulicher Vorstellung des roten Kreuzes anschaulich vorgestellt wird, ist ja wirklich ein Kreuz von anderer Farbe und ein Rotes von anderer Gestalt als der verlangten. Natür- lich ist nun aber eine so enge Anwendung des Wortes „\ er- stellen“ nirgends weniger am Platze, als wo es eben gilt, auch noch einer anderen Erfassungsweise im Vergleiche mit der an- schaulichen gerecht zu werden. Gibt es neben der anschaulichen Vorstellung des roten Kreuzes auch noch eine unanschauliche, so liegt bereits in diesem Ausgangspunkte aller weiteren Ei- wägungen nicht etwa blofs implizite, sondern ganz und gai explizite die Anerkennung der Tatsache beschlossen, dafs eben auch die unanschauliche Vorstellung eine Vorstellung vom loten Kreuze ist, welche dieses somit ganz ebenso wie die anschauliche Vorstellung zum Gegenstände hat. Kann aber ein und dei selbe Gegenstand sowohl in anschaulicher als in unanschaulicher \ oi- stellung erfafst werden, so scheint aufser Zweifel, dals dei Gegen stand es nicht sein kann, der den in Rede stehenden Unterschied


Annahmen hei Komplexen. Weiteres über das Meinen.


251


an sich trägt t-- der Gegensatz zwischen anschaulicher und un- anschaulicher Vorstellung scheint sonach ein aufsergegen stand li eher sein zu müssen.


§ 40 .

Zusammensetzung und Zusammenstellung.

Was sonach einer Charakteristik mit Hilfe der Gegenstände widerstrebt, könnte einer Beschreibung von der Seite der Inhalte her leichter zugänglich sein. Freilich fehlt jeder Anhaltspunkt für die Vermutung, dafs die Partialgegenstände „Kreuz“ und „Rot“ bei anschaulicher Vorstellung des roten Kreuzes anderer Inhalte bedürften als bei unanschaulicher. Aber indem wir uns hier ganz von selbst auf die Partialgegenstände und so auf die Partialinhalte geführt finden, drängt sich ebenso von selbst der Weg unserer Beachtung auf, der der Lösung der vorliegenden Schwierigkeit offen stehen könnte. Es ist ja möglich, dafs die- selben Partialinhalte sich zu verschiedenartigen Ganzen, genauer zu verschiedenen Realkomplexen 1 vereinigen , dafs sie sonach, eben weil es immer noch die nämlichen Teilinhalte sind, auch immer noch demselben Gegenstände zugeordnet bleiben, und dennoch wegen der Verschiedenheit der zwischen ihnen existie- renden Realrelationen als verschiedene Vorstellungen, wenn auch eben eines und desselben Gegenstandes, gelten müssen.

Und in der Tat kann die Frage, ob eine Vorstellung an- schaulich oder unanschaulich sei, sofern hier einfachheitshalber zunächst blofs der Fall des direkten Vorstellens 2 in Betracht ge- zogen wird, nur bei komplexen Gegenständen aufgeworfen werden, die natürlich allemal auf komplexe Inhalte hin weisen. An

die Verschiedenheit von Realrelationen zwischen Inhalten zu appellieren, dazu findet man sich auch schon gegenüber ganz anderen Tatsachen gedrängt: bei der „Vorstellungsproduktion“, vermöge deren eventuell aus den Vorstellungen derselben Inferiora die Vorstellung einmal dieses, einmal jenes Superius resultiert, kann es ja nicht wohl auf anderes als auf die Herstellung ver-


1 Vgl. meine Ausführungen „Über Gegenstände höherer Ordnung“ in der Zeitschr. f. Psychol. 21, S. 198 ff.

2 Über den Gegensatz des direkten und indirekten Vorstellens vgl. Eume- Studien 2, S. 871, auch unten S. 284.


252


Achtes Kapitel.


schiedener Realrelationen zwischen den fundierenden Vorstellungen, genauer zwischen deren Inhalten hinauskommen . 1 Ebenso kann man den Unterschied von Anschaulich und Unanschaulich in dem Umstande begründet finden, dafs eventuell dieselben Teil- inhalte zu zweierlei Realkomplexen zusammentreten können, denen eine im ganzen von der Beschaffenheit der die Bestand- stücke ausmachenden Inhalte unabhängige Bedeutung zukommt. Die Verschiedenheit des unmittelbaren Aspektes, der sich in jedem dieser beiden Fälle der inneren Wahrnehmung darbietet, kommt unter dieser Voraussetzung ohne weiteres zu seinem Rechte.

Es wäre nun natürlich wünschenswert, auch etwas zur Charakteristik dieser beiden Komplexionen resp. Relationen 2 bei- tragen zu können; und wirklich versprechen vielleicht in dieser Hinsicht die natürlichen Bedeutungen zweier Ausdrücke etwas zu leisten, die sich mir zur Kennzeichnung des in Rede stehen- den Gegensatzes einst ganz ungerufen dargeboten haben. Zwar habe ich selbst sie später in der Besorgnis, zu Mifsverständnissen Anlafs zu bieten, wieder aufgeben zu sollen gemeint 3 ; sie sind aber dann doch wieder von anderer Seite beifällig aufgenommen worden . 4 Ich hatte die Verbindung der die anschauliche und die un anschauliche Vorstellung ausmachenden Partial Vorstellungen beziehungsweise ausgeführte und blofs angezeigte Vorstellungs- verbindung genannt 5 : und es hat ja wirklich den Anschein, als ob man bei der blofs unanschaulichen Vorstellung des roten Kreuzes gleichsam vor einer Aufgabe Halt machte, die nur der- jenige löst, der es zur anschaulichen Vorstellung des roten Kreuzes bringt. Aber näher besehen steckt hinter dem anscheinend Charakteristischen solcher Ausdrucksweise nur die auch schon in dem oben abgelehnten exklusiven Gebrauche des Wortes „Vor- stellen“ hervortretende Bevorzugung der Anschaulichkeit vor der


1 Vgl. „Über Gegenstände höherer Ordnung usw.“, S. 200 ff., nunmehr insbesondere R. Ameseder, „Über Vorstellungsproduktion“ (Nr. VIII der Grazer Untersuchungen zur Gegenstandstheorie und Psychologie), S. 494 ff.

2 Über das Prinzip der Koinzidenz von Komplexion und Relation vgl. „Über Gegenstände höherer Ordnung usw.“, S. 193, genauer präzisiert von E. Maoly in den „Untersuchungen zur Gegenstandstheorie des Messens“ (Nr. J1I der Grazer Unters, z. Gegenstandsth. u. Psych.), S. 153 f.

1 Vgl. „Über Phantasievorstellung und Phantasie“, S. 207 f.

1 H. Cornelius, Psychologie, Leipzig 1897, S. 60 resp. 432.

ft Hume- Studien 2, S. 99.


Annahmen hei Komplexen. Weiteres über das Meinen.


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Unanschauliehkeit, die auf die gröfsere Leistungsfähigkeit zurück- geht, welche der anschaulichen Vorstellung normalen Erkenntnis- bedürfnissen gegenüber eigen ist. In der Tat, denkt man sich die anschauliche Vorstellung als das Ziel, dem alle Vorstellungs- tätigkeit selbstverständlich zustrebt, dann bedeutet die unan- schauliche Vorstellung eines Gegenstandes die noch ungelöste Aufgabe, das Analogon zu der „blofs angezeigten“ Rechnungs- Operation. Natürlich leistet aber dieses rechnerische Gleichnis nichts mehr zur Kennzeichnung der Sachlage, sobald man von solch sozusagen teleologischer Betrachtungsweise Abstand nimmt.

Es ist mir auch sonst keine W eise bekannt, in der die beiden Inhaltskomplexionen, auf die wir uns hingeführt gefunden haben, anders als etwa unter Heranziehung neuer indirekter Momente beschrieben werden könnten. Das schon oben benutzte Gleichnis von der Tonhöhe und den Schwingungszahlen bewährt sich so- nach nicht nur in betreff der durch letztere blofs indirekt erziel- baren Charakteristik, sondern auch in betreff der ersterer an- haftenden Unbeschreibbarkeit. Und gleichwie es trotz dieser Unbeschreibbarkeit nicht anginge, die in der Tonempfindung oder Tonvorstellung im engeren Sinne vorliegende Tatsache etwa gegenüber der der Präzisierung freilich viel zugänglicheren Tatsache der Schwingungszahl zu vernachlässigen oder gar ganz zu ignorieren, ebenso bedeutet es ein gleichviel wie bescheidenes Mehr an Wissen, wenn wir den dem anschaulichen und un- anschaulichen V orstellen eigentümlichen Tatbestand als zwei ver- schiedene Weisen erkennen, in denen Inhalte sich komplizieren können, auch wenn wir aufserstande bleiben sollten, das Wesen dieser beiden Komplexionsformen noch näher zu beschreiben.

Was dagegen noch geleistet werden kann , ist eine an- gemessene Benennung dieser beiden Komplexionsformen: die deutsche Sprache stellt dazu , wenn mein Sprachgefühl mich nicht täuscht, ziemlich ungesucht zwei Termini zur Verfügung. Wir haben gesehen, dafs der Gegensatz von Anschaulich und Unanschaulich an Vorstellungen von Komplexen gebunden ist . 1


Eine Art feeitenstück zu diesem Gegensätze bietet der des direkt und indirekt Vorgestellten. Insofern die Anschauung nur direkte Vor- stellungen liefert, mag man geneigt sein, die indirekte Vorstellung gleich- falls unanschaulich zu nennen. In diesem Sinne dürfte dann natürlich auch eine einfache Vorstellung, etwa die einer Tonhöhe oder was sonst


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Achtes Kapitel.


Man kann auch umgekehrt sagen: jede Vorstellung eines kom- plexen Gegenstandes ist in betreff des Gegensatzes von Anschau- lich und Unanschaulich bestimmt, was natürlich durchaus nicht in sich schliefst, dafs jedes komplexe Objekt sowohl anschaulich als un anschaulich miifste vorgestellt werden können. Die Be- stimmung innerhalb dieses Gegensatzes vollzieht sich, wenn das eben Dargelegte im Rechte ist, je nach der Verbindung, in der die Teilinhalte auftreten; diese Verbindung aber präsentiert sich entweder als eine sozusagen natürliche, wie sie sich uns ohne Zutun dort darbietet, wo wir einen komplexen Gegenstand wahr- nehmen, oder als eine relativ künstliche, unter normalen Um- ständen erst durch unsere intellektuelle Tätigkeit zustande ge- brachte. Die erste Verbindung wird man billig eine engere nennen dürfen gegenüber der zweiten, loseren; und ist es an- gemessen, im ersten Falle von einer Zusammensetzung der inhaltlichen Bestandstücke zu reden, so mag im zweiten Falle der Ausdruck „Zusammenstellung“ nicht unpassend angebracht sein. Mit Hilfe dieser Termini läfst sich das Ergebnis der bis- herigen Untersuchungen auch so zusammenfassen : Vorstellungen können in zwei verschiedenen Weisen zu komplexeren Vor- stellungen zusammentreten : sie können Vorstellungszusammen- setzungen, aber auch blofs Vorstellungszusammenstellungen bilden. Im ersten Fälle wird der durch den Vorstellungskomplex erfafste Gegenstand anschaulich, im zweiten Falle unanschaulich vor- gestellt.

Für die beiden so benannten Weisen des Zusammentretens von Vorstellungen hat die Sprache ziemlich deutliche Ausdrucks- mittel . * 1 Hält man die Worte „rotes Kreuz“ und „Kreuz, das rot ist“ nebeneinander, so wird man kaum Bedenken tragen, in der ersten Wendung eher den Ausdruck eines anschaulich, in der zweiten Wendung eher den Ausdruck eines unanschaulich


der Einfachheitsforderung entsprechen mag, anschaulich zu nennen sein. Von solcher Erweiterung des Wortgebrauchs darf indes hier abgesehen werden.

1 Dafs hier Benennung und Ausdruck in eine Art Gegensatz treten, kann befremden, weil es herkömmlich ist, die Namen selbst als „Aus- drücke“ zu bezeichnen. Aber im Sinne der Ausführungen des zweiten Kapitels ist dies eben eine Ungenauigkeit, die nur unter besonderen Um- stünden, wie sie namentlich beim sekundären Ausdruck vorzuliegen pllegen, beseitigt ist.


Annahmen hei Komplexen. Weiteres über das Meinen.


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vorgestellten Komplexes zi i erkennen, dort also den Ausdruck für eine Zusammensetzung, hier für eine Zusammenstellung. Dafs sich in dieser Richtung kaum ein Zweifel einstellt, hat seinen einfachen Grund darin, dafs der anschaulichen Vorstellung im allgemeinen ein simultanes, dem unanschaulichen Vorstellen ein sukzessives Erfassen der Teilgegenstände eigentümlich ist, letzteres aber der Schwerfälligkeit der Umschreibung mittels eines Relativsatzes besser entspricht. Inwieweit die Sprachgeschichte diese Auffassung verifiziert, mufs ich natürlich hier wie bei allen vorhergehenden Gelegenheiten, das Zeugnis der Sprache zu Rate zu ziehen, dahingestellt sein lassen. Soviel sagt aber jedem ein Blick auf den heutigen Tatbestand, dafs von einem konsequenten Auseinanderhalten der beiden Ausdrucksmittel derzeit gewifs nicht die Rede sein kann. Möchte auch der Relativsatz im ganzen seltener als Ausdruck für anschauliches Vorstellen angewendet werden, so trägt doch niemand Bedenken, sich des kürzeren adjektivischen Ausdruckes auch für unanschauliche Vorstellungen zu bedienen. Immerhin sind aber die beiden Ausdrucksweisen natürlich genug, um sie einer vorübergehenden Konvention im Interesse theoretischer Auseinanderhaltung zugrunde zu legen. Ich will daher im folgenden dort, wo von einer Zusammensetzung gehandelt werden soll, den adjektivischen Ausdruck nach dem Paradigma „rotes Kreuz“ anwenden, dagegen den Relativsatz nach dem Paradigma „Kreuz, das rot ist“ für die Bezeichnung von Zusammenstellungen Vorbehalten. Weil aber für letztere auch die adjektivische Ausdrucksform eine so häufig angewendete ist, so empfiehlt es sich, für manche Gelegenheiten doch auch für Zusammenstellungen eine adjektivische Bezeichnungsweise sich offen zu halten: ich will mich hierfür in nun allerdings noch mehr konventioneller Weise der Wendung „rot seiendes Kreuz“ als Paradigma bedienen. Es versteht sich indes, dafs diese Konvention nur auf Fälle beschränkt ist, wo von Zusammen- setzungen oder Zusammenstellungen als Gegenständen unserer Untersuchung zu reden ist, dafs es mir sonst aber völlig fern liegt, durch Anwendung des einen oder des anderen dieser Aus- drucksmittel dem Leser etwas darüber mitteilen zu wollen, ob der »Sinn meiner Darlegungen an dieser oder jener Stelle unter Anwendung anschaulicher oder unanschaulicher Vorstellungen \on mir konzipiert worden ist oder gar vom Leser meinem Wunsche nach konzipiert werden soll.


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Achtes Kapitel.


§ 41 .

Die logische Indifferenz der Zusammenstellungen.

Vielleicht haben die vorstehenden Ausführungen wie manche vorher auf den ersten Blick den Eindruck einer Digression vom -eigentlichen Thema dieser Untersuchungen gemacht und erst die Schlufsbemerkungen wieder einen gewissen Zusammenhang mit diesem Thema vermuten lassen. Hoffentlich weicht nun jeder Verdacht einer ungerechtfertigten Abschweifung bei näherer Betrachtung der Sachlage, die bei den Zusammenstellungen ge- geben ist. Unter den mancherlei Momenten nämlich, durch die sich diese von den Zusammensetzungen unterscheiden, treffen wir eine uns längst als für unsere Zwecke fundamental wichtig bekannte Tatsache an: die Bestimmbarkeit im Sinne des Gegen- satzes von Ja und Nein. Ich kann die Vorstellungen der Gegen- stände „Kreuz“ und „Rot“ unanschaulich nicht nur zur Vor- stellung des „Kreuzes, das rot ist“, sondern auch zur Vorstellung des „Kreuzes, das nicht rot ist“, vereinigen, und das unanschau- liche Vorstellen hat diese Freiheit vor dem anschaulichen voraus. Denn anschaulich kann ich freilich leicht ein Kreuz vorstellen, dem man dann die Eigenschaft, rot zu sein, mit Recht ab- sprechen darf, etwa weil es blau oder weifs ist. Aber dieses „nicht rot sein“ selbst zu erfassen, dazu bietet keinerlei An- schauung und keine anschauliche Vorstellung die Möglichkeit: es ist ausschliefslich das unanschauliche Vorstellen, dem solches überlassen bleibt.

Im Hinblick auf Früheres ist es nun leicht, aus diesen Tat- sachen die erforderlichen Konsequenzen zu ziehen. Es ist zu- nächst selbstverständlich, dafs für den Gedanken an das „Kreuz, das nicht rot ist“, unmöglich das Vorstellen allein auf kommen kann: die hier vorliegende Negation ist nicht Sache des Vor- stellens. Weil aber weiter der in Rede stehende Gedanke vor- erst auch noch kein Urteil bedeutet, so kann kein Zweifel daran bestehen, dafs bei der un anschaulichen Vorstellung des „nicht rot seienden Kreuzes“ eine Annahme, selbstverständlich eine von negativer Qualität, eine konstitutive Rolle spielt. Dann kann aber die Vorstellung des „Kreuzes, das rot ist‘ , sich von dei Vorstellung des „Kreuzes, das nicht rot ist“, unmöglich nui dadurch unterscheiden, dafs darin sonst alles so ist ■wie an


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dieser, und nur die Negation fehlt. Sonst müfste ja in der Vor- stellung des „Kreuzes, das nicht rot ist“, neben diesem Kreuze auch ein „Kreuz, das rot ist“, gegeben sein, was niemand wird behaupten wollen. Es folgt daraus ganz in Analogie zu früheren Ergebnissen, dafs, so gut die Vorstellung des „Kreuzes, das nicht rot ist“, eine Negation verlangt, auch für die Vorstellung eines „Kreuzes, das rot ist“, eine Affirmation konstitutiv sein mufs : so wie aber dort kein negatives Urteil, sondern blofs eine negative Annahme erforderlich ist, ebenso natürlich auch hier zwar kein affirmatives Urteil, wohl aber eine affirmative Annahme. Darin ist nun aber ohne weiteres das wichtige Ergebnis beschlossen, dafs die „Zusammenstellung“ an sich sozusagen logisch indifferent ist. Die Zusammenstellung der Vorstellungen „Kreuz“ und „Rot“ (natürlich nebst der einer passenden Relation) entscheidet noch nichts darüber, ob das Kreuz rot oder nicht rot, das Rot kreuz- förmig oder nicht kreuzförmig vorgestellt wird.

Damit ist gesagt, dafs die Zusammenstellung für sich allein überhaupt noch nicht ausreicht, die Gegenstände der zusammen- gestellten Vorstellungen zu einem komplexen Gegenstände zu verknüpfen. Dies bringt vielmehr erst die daran sich schliefsende Annahme zustande, die vermöge ihrer bejahenden oder ver- neinenden Qualität der durch sie erst vollendeten Komplexion zugleich den affirmativen oder negativen Charakter aufdrückt, den unanschauliche Vorstellungen stets an sich tragen. Es folgt daraus weiter, dafs, wo immer man eine unanschauliche Vor- stellung antreffen mag, bei derselben jedesmal eine Annahme mitbeteiligt ist, und dafs sie erst durch die Annahme „unanschau- liche V orstellung“ wird — vorher haben wir eben nur eine Zu- sammenstellung von Vorstellungen.

Es drängt sich dem gegenüber die Frage auf, wie es denn in beti eff. der Annahmen bei anschaulichen Vorstellungen be- wandt sei. Wir haben bereits gesehen, dafs solchen Vorstellungen sozusagen die Beweglichkeit zwischen Ja und Nein abgeht: Ver- einige ich einmal die Bestandstücke „Rot“ und „Kreuz“ in an- schaulicher Weise, so kommt jederzeit nur ein rotes Kreuz zu- stande und me dessen Gegenteil. Man könnte das, um der Analogie zu den unanschaulichen Vorstellungen möglichst nahe zu bleiben, nun so auffassen, dafs sich an Zusammensetzungen jedesmal eine affirmative Annahme schliefse. Der in Rede stehende affirmative Charakter dieser Vorstellungen käme indes

Meinong, Über Annahmen, 2. Aufl. 17


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Achtes Kapitel.


soweit nur er in Betracht gezogen wird, auch zu seinem Rechte, wenn die Zusammensetzung es ihrer Natur nach ausschliefst, dai's sich an die zusammengesetzten Inhalte eine andere Annahme oder ein anderes Urteil knüpft als eben eine Affirmation. Einer nur affirmativ verwertbaren Vorstellungskomplexion wird ja mit Fug affirmativer Charakter auch dann zugesprochen werden können, wenn die Verwertung gerade unterbleibt.

Immerhin könnte nun von hier aus der Versuch gemacht werden, die oben zu einem gewissen Abschlüsse geführte Unter- suchung mit der Frage noch einmal aufzunehmen, ob man nicht auch die unanschauliche Vorstellung ähnlich auffassen und da- durch auch beim Unanschaulichen sich das Heranziehen der An- nahmen ersparen könnte. Besteht der affirmative Charakter der anschaulichen Vorstellung nur darin, dafs die dieser Vorstellung eigene Komplexionsform eine andere intellektuelle Behandlung als die im Sinne einer Affirmation nicht zuläfst, warum könnte der affirmative Charakter der einen, der negative Charakter einer anderen unanschaulichen Vorstellung nicht ebenfalls darauf zurückgeführt werden, dafs die im einen Falle vorliegende Vor- stellungskomplexion eben ihrer Natur nach nicht anders als affirmativ, die im zweiten Falle nicht anders als negativ be- handelt werden kann? Wie man sofort sieht, liegt der grofse Unterschied darin, dafs auf dem Gebiete des Unanschaulichen eben Beides vorkommt: ich kann unanschaulich sowohl ein Kreuz vorstellen, das rot, als eines, das nicht rot ist. Eignet also allen unanschaulichen Vorstellungen dieselbe Komplexionsform, eben das, was oben durch den Ausdruck „Zusammenstellung“ be- zeichnet werden sollte, dann ist es von vornherein ausgeschlossen, dieser Form analog der Zusammensetzung einen den Gegensatz von Ja und Nein auch nur indirekt betreffenden Charakter zuzusprechen.

Dagegen ist allerdings durchaus nicht von vornherein selbst- verständlich, dafs alles unanschauliche Vorstellen sich unter An- wendung einer und derselben Komplexionsform vollzieht, ge- nauer also, dafs beim Vorstellen des Kreuzes, das nicht rot ist, keine anders geartete Komplexion in Anwendung kommt als beim Vorstellen des Kreuzes, das rot ist. Befrage ich aber hierüber die Erfahrung, so ergibt sich mir fürs erste, dafs mir eine Verschiedenheit der Komplexionsform bei unanschaulichen A 01- stellungen überhaupt nirgends begegnet, vollends keine, die mit dem affirmativen und negativen Charakter solcher Vorstellungen


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zusammenginge. Ich verfahre, so viel ich bemerken kann, mit den Vorstellungen „Kreuz“ und „Rot“ ganz in derselben Weise, mag ich nun ein rot seiendes oder ein nicht rot seiendes Kreuz unanschaulich vorstellen wollen. Und ein Beleg dafür, dafs die psychische Sachlage weitgehende Verschiedenheiten nicht wohl aufweisen kann, darf der Häufigkeit der Verwechselungen entnommen werden, denen unanschaulich Vorgestelltes bezüglich des darin gegebenen Ja oder Nein im täglichsten Leben aus- gesetzt ist, sei es beim Wiedererzählen eines nicht Erlebten, sondern nur Gehörten, sei es beim Ausführen unanschaulich erfafster Aufträge, sei es sonst. Es kommt hinzu, darf sogar, weil vor allem auffällig, besondere Überzeugungskraft bean- spruchen, dafs, wer an das Kreuz denkt, das nicht rot ist, sich der in diesem Gedanken mitbeteiligten Negation ganz direkt bewufst ist. Er weifs, dafs er nicht blofs einen Gedanken kon- zipiert, der keiner anderen als einer Behandlung im Sinne einer Negation fähig wäre, sondern dafs die Negation in dem Gedanken bereits vorliegt.

Minder handgreiflich liegen die Dinge ja ohne Zweifel beim „Kreuz, das rot ist“ und seinesgleichen. Aber man wird es vielleicht selbst hier bereits der direkten Erfahrung gemäfser finden, auch für anschauliche Vorstellungen normalerweise eine wirkliche und nicht blofs fakultative Affirmation in Anspruch zu nehmen, als sich in betreff der unanschaulichen Vorstellungen affirmativen Charakters mit der blofsen Bejahungsmöglichkeit zufrieden zu geben. Bei Wahrnehmungsvorstellungen ist diese Affirmation im Wahrnehmungsurteil ohnehin fast ausnahmslos vertreten, indes sie bei anderen anschaulichen Vorstellungen da- gegen natürlich auch eine Annahme sein könnte.

§ 42 .

Der kompliziertere Fall.

Wie man sieht, genügen schon wenige Schritte auf dem Wege einer kaum im bescheidensten Sinne theoretisch zu nennenden Betrachtung, um hinsichtlich des einfachsten, zwei Komponenten sozusagen nicht überschreitenden Falles von Un- anschaulichkeit auf den obligatorischen Anteil der Annahmen geführt zu werden, der der Eventualität der Anschaulichkeit schon durch die Ergebnisse des vorigen Kapitels gesichert wäre. Der Versuch, theoretisch tiefer zu dringen und so zu etwas be-

17 *


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Achtes Kapitel.


friedigenderem Verständnis für die Funktion des Annehmens bei den in Rede stehenden intellektuellen Leistungen zu gelangen, knüpft besser an den komplizierteren Fall an, bei dem aufser den beiden Terminis auch noch die Relation zwischen ihnen als eventuell vorgegeben in Betracht kommt.

Gesetzt, man finde sich, gleichviel aus welchem Anlasse, vor die Aufgabe gestellt, zwei gegebene Gegenstände A und B in einer vorgegebenen Relation R vorzustellen, z. B. Grün und Gelb in der Relation der Verschiedenheit. Vor allem ist ohne weiteres klar, dafs auch diese Aufgabe sich prinzipiell in den zwei verschiedenen Weisen lösen läfst, die wir als die der An- schaulichkeit und der Unanschaulichkeit kennen; und wie leicht insbesondere die zweite Weise zu realisieren ist, erhellt einfachst daraus, dafs die Aufgabe in ihrem Sinne bereits jedermann ge- löst hat, sobald er die Aufgabenstellung auch nur versteht, was übrigens natürlich oben auch schon für die Verbindung der beiden Gegenstände Rot und Kreuz zu behaupten gewesen wäre. Weiter ist gegen Anwendung der oben gebildeten Begriffe der Zusammensetzung und Zusammenstellung auch auf den gegen- wärtigen Fall keine Einwendung zu erheben. Aber der Umstand, dafs die jetzt vorgegebenen drei Termini A, B und R dabei keinesfalls auf gleichem Fufse behandelt werden könnten, macht besonders spürbar, wie wenig mit dem blofsen Hinweis auf Realrelationen zwischen Inhalten geleistet sein dürfte und drängt zu der noch weiter gehenden Fragestellung, ob die Lösung der Aufgabe, mag sie nun anschaulich oder unanschaulich erfolgen, mit blofsen Mitteln des Vorstellens ihr Auslangen zu finden über- haupt imstande sei.

Und in der Tat ist eben dies die Frage, die hier aufgeworfen sein soll. Kann ich mir wirklich „vorstellen“, dafs sich A und B in der Relation R befinde? Denn darauf führt ja bereits das erste Nachdenken, dafs, um diese Forderung zu erfüllen, mindestens das blofs gleichzeitige Vorstellen von A, B und R sicher nicht ausreicht. Wer etwa an die Verschiedenheit zweier Singstimmen denkt, indes sein Auge auf einer grünen Wiese mit gelben Blumen ruht, stellt gewifs Grün, Gelb und Verschiedenheit zu- gleich vor : dennoch denkt er keineswegs an die Verschiedenheit von Blumen und Wiese, resp. von Gelb und Grün, leistet also gewifs nicht, was die zuvor für Gelb und Grün gestellte Aul- gabe verlangt. Es scheint eben darauf anzukommen, dafs das R


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dem A und B gleichsam nahe genug gebracht werde, dafs man also B selbst in der richtigen Relation zu A einerseits, B anderer- seits vorstelle. Aber so einfach diese Forderung sich anläfst, so gewifs führt sie zu einer fehlerhaften unendlichen Reihe. Ist nämlich etwa B' die eben zuletzt eingeführte Relation, so ist das Mittel, das dazu dienen soll, A und B in der Relation B vor- zustellen, nichts anderes als die Erfüllung ganz der nämlichen, eben erst zu lösenden Aufgabe für A und B gegenüber B\ sowie für B und B gegenüber R' 1 : damit ist aber das Problem natür- lich nur zurückgeschoben, indem nun die weitere Frage, wie etwa A und B in dieser Relation B' vorzustellen sei, auf eine weitere Relation B" zwischen A und B! weist u. s. f. in infinitum. Fehlerhaft aber wäre eine so gebildete unendliche Reihe, weil jeder Schritt auf dem hier zurückzulegenden Wege auf eine Vor- aussetzung des vorhergehenden Schrittes führt, die realisiert sein müfste, ehe man ein Recht hätte, den Ausgangspunkt der ganzen Reihe für realisiert zu halten, womit natürlich gesagt ist, dafs eine solche Realisierung überhaupt nicht eintreten kann. Unsere Aufgabe, A und B in der Relation B zu denken, bleibt also un- lösbar, so lange wir es mit nichts anderem als mit dem Hinzu- denken neuer Relationen versuchen.

Es liegt nun nahe, zu erwarten, das, was sich sonach durch einen gegenständlichen und daher eigentlich inhaltlichen Zusatz zu den vorgegebenen Vorstellungen des A, B und B nicht leisten läfst, möchte durch eine Operation an diesen Inhalten zu er- reichen sein, durch welche diese Inhalte in eine geeignete Real- relation 2 zueinander gebracht würden. Es ist ja ganz natürlich zu vermuten, damit A und B in der Relation B vorgestellt werde, sei erforderlich, dafs sich die A - Vorstellung und die B- A^orstellung zur B - Vorstellung in einem bestimmten Verhältnisse befinden. Überdies ist dies augenscheinlich der Gesichtspunkt, der bereits oben bei der Gegenüberstellung von Zusammen- setzung und Zusammenstellung einigermafsen zur Geltung ge- langt ist, sofern zur Konzeption des Komplexes „rotes Kreuz“

1 Es sei hier der Einfachheit wegen die an sich sicher plausible Vor- aussetzung gemacht, dafs, wenn sich A und B in der Relation R befindet, R zu A in gleicher Relation steht wie zu B. Sollte es damit einmal anders bewandt sein, so kann das die Beweiskraft der obigen Erwägungen natür- lich unmöglich berühren.

Vgl. „Über Gegenstände höherer Ordnung usw.“ a. a. O. S. 198 ff.


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Achtes Kapitel.


resp. „rot seiendes Kreuz“ im Sinne des Koinzidenz-Prinzips 1 die Konzeption der Glieder in Relation wesentlich ist. Aber so wenig inhaltlichen Komplexionen und Relationen ein gewisser Anteil an der Konzeption von Komplexionen und Relationen zugeordneter Gegenstände abzusprechen sein wird, so wenig ist abzusehen , wie auf diesem Wege alles , was nach der gegen- ständlichen Seite hin erforderlich ist, zu leisten wäre. Um aber darüber völlig klar zu sein, wie es hier geradezu die Hauptsache ist, für die die theoretische Erledigung noch aussteht, dazu ist erforderlich, das Verhältnis zwischen Vorstellung, genauer Inhalt und zugehörigem Gegenstand noch etwas näher ins Auge zu fassen.


§ 43 .

Relation zwischen Inhalt und Gegenstand. Die

Adäquatheit.

Es ist diesmal die Beschaffenheit der charakteristischen Re- lation zwischen Inhalt und zugehörigem Gegenstand, auf die es zunächst ankommt. Selbstverständlich darf man über die Natur dieser Relation am besten von wirklichen Erkenntnisfällen Auf- schlufs erwarten, von den Fällen also, wo tatsächlich ein Sein, gleichviel ob Existenz oder Bestand, durch eine Vorstellung mit Hilfe einer berechtigten Affirmation erfafst wird. Es handelt sich also um Vorstellungen, die man, hier wie auch sonst die Existenz gegenüber dem Bestände in ungerechtfertigtem Mafse bevorzugend, als der von ihnen erfafsten Wirklichkeit adäquat zu bezeichnen sich längst gewöhnt hat, so dafs die für uns einer genaueren Charakteristik bedürftige Relation zwischen Vorstellung und Gegenstand auch Relation der Adäquatheit genannt werden könnte. Auch an einer Art herkömmlicher Vormeinung über die Natur dieser Relation fehlt es dann nicht: es scheint ja fast selbstverständlich, dafs, wer die Wirklichkeit erkennen, also auch vorstellen soll, wie sie eben ist, seinem Ziele um so näher kommen wird, je näher die Vorstellungen der vorzustellenden Wirklichkeit stehen. Adäquatheit wäre demnach so viel als Übereinstimmung der Vorstellung mit der Wirklichkeit, und man weifs, welche Rolle das so bestimmte Erkenntnisziel in der idea- listischen und nichtidealistischen Erkenntnistheorie und Meta-

Vgl. oben S. 252, Anm. 2.


1


Annahmen bei Komplexen. Weiteres über das Meinen. 263

physik gespielt hat und, wenn auch unter ab und zu etwas ab- geänderten Schlagwörtern, noch heute spielt.

Nun ist es aber vor allein vielleicht keine der am Niedrig- sten zu bewertenden Früchte einer prinzipiellen Auseinander- haltung von Gegenstand und Inhalt, dafs dieselbe in der eben gekennzeichneten Auffassung der Adäquatheit ein Mifsverständ- nis erkennen läfst, das sich eben nur da einstellt, wo diese Aus- einanderhaltung versäumt wird. Es ist nämlich allerdings richtig bis zur Trivialität, dafs, wenn ich einen viereckigen Tisch durch mein Denken erfassen will, ich mir denselben z. B. nicht rund denken darf, auch nicht oval, sondern eben nur viereckig. Heifst dies aber etwa, dafs zu. diesem Ende meine Vorstellung selbst, näher ihr Inhalt viereckig sein müsse, oder beschränkt sich die Forderung nicht vielmehr darauf, dafs meine Vorstellung, wenn sie zu keinem Irrtum führen soll, eben die Vorstellung eines Viereckigen, d. i. eben eines viereckigen Gegenstandes sein mufs? Näher besehen ist die verlangte Übereinstimmung also durchaus nicht die zwischen meiner Vorstellung und der be- treffenden Wirklichkeit, sondern die zwischen dem Gegenstände meiner Vorstellung und der Wirklichkeit, indes die Erwägung, dafs die Vorstellung resp. ihr Inhalt weder rund noch oval noch viereckig, weder ausgedehnt noch auch nur physisch sein kann, vielmehr ihrer Natur nach unvermeidlich psychisch ist, einen der handgreiflichsten Beweisgründe dafür abgibt, dafs man es im Inhalte und im Gegenstände einer Vorstellung mit toto genere verschiedenen Tatsächlichkeiten zu tun zu haben pflegt. 1 Durch derlei Erwägungen ist aber zugleich die Forderung der Überein- stimmung oder auch nur Ähnlichkeit zwischen Inhalt und Gegen- stand mindestens für alle Vorstellungen physischer Gegenstände als unerfüllbar dargetan; und wer dies einmal erkannt hat, wird auch nicht mehr viel Mühe darauf zu wenden brauchen, um einzusehen, dafs für eine solche Forderung im Wesen des Er- kennens, soweit uns dieses erfafsbar ist, auch nicht die Spur einer Legitimation angetroffen werden kann. Die Vorstellung bietet mir, sofern sie einem evident affirmativen Urteile zur Grundlage dienen kann, ein Mittel dar, mich einer Wirklichkeit eventuell natürlich auch einer nicht „existierenden“, sondern blols „bestehenden“ Quasiwirklichkeit — gleichsam zu be-


1 „Über Gegenstände höherer Ordnung“ S. 187 f.


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Achtes Kapitel.


mächtigen, sie intellektuell zu erfassen: wir können aber diese erkannte Wirklichkeit oder Quasi Wirklichkeit dann nicht unserer Vorstellung von derselben sozusagen noch einmal und auf gleichem F ufse zur Seite stellen, um die beiden Tatbestände auf Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten zu vergleichen. Eine Vor- stellung ist einer Wirklichkeit oder Quasiwirklichkeit gegenüber adäquat, sofern es eine evident gewisse Affirmation gibt, die sie gleichsam legitimiert: darauf hin für den Inhalt der Vorstellung bestimmte Ähnlichkeiten oder Unähnlichkeiten der ihr zugeord- neten Wirklichkeit gegenüber in Anspruch zu nehmen, dafür fehlt zurzeit, soviel ich sehe, jeder Anhaltspunkt.

Die Konsequenzen dieser Aufstellung für die Auffassung der sogenannten äufseren Wahrnehmung habe ich an anderem Orte 1 etwas eingehender darzulegen versucht. Was ich dagegen ebenda 2 hinsichtlich der inneren Wahrnehmung ausgeführt habe, kann, wie mir mit Recht entgegengehalten worden ist 3 , das im obigen gegen den Ähnlichkeitscharakter der Adäquatheitsrelation Dargelegte eher in Frage zu stellen als zu bekräftigen scheinen. Aber es steht eben nicht bei mir, wie die Tatsachen sich der Beschreibung darbieten. Dafs der Inhalt und sein Gegenstand qualitativ weit auseinanderliegen, wenn jener, wie unvermeidlich, j>sychisch, dieser aber physisch ist, daran ist nichts zu ändern. Fällt andererseits vermöge der Selbstpräsentation der inneren Erlebnisse der sich in dieser Weise dem Erkennen dar- bietende Quasiinhalt mit dem zu erfassenden Gegenstände im Gegenwärtigkeitspunkte zusammen, so ist daraus zu entnehmen, nicht dafs Inhalt und Gegenstand einander ähnlich sein mufs, sondern nur, dafs die beiden ähnlich sein können bis zur Iden- tität als Grenze. Und sofern diese Identität die Konstanz der Zuordnung von Inhalt und Gegenstand im Sinne einer Not- wendigkeit garantiert, kann darin in ganz verständlicher Weise ein Zuverlässigkeitsvorzug gelegen sein. Die allgemeine Eigen- schaft allen Erkennens, über sich hinaus zu „transzendieren", wird selbst durch die Identität im Gegenwärtigkeitspunkte nicht in F rage gestellt, denn das Erkenntniserlebnis ist etwas anderes als jenes Quasiinhaltserlebnis, das das Erkennen hier sozusagen

1 „Über die Erfahrungsgrundlagen unseres Wissens“, S. 91 ff.

2 A. a. O. S. 64 ff.

  • Von E. Dürr im Literaturbericht des „ Archiv f. d. ges. Psychologie

13, S. 30.


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mit seinem Objekt, material versorgt. Die Verschiedenheit wird dort besonders auffällig, wo dieses Material und daher auch das es präsentierende (genauer selbstpräsentierende) Erlebnis von Hans aus nichts so Unselbständiges wie etwa ein Vorstellungs- inhalt, sondern z. B. ein Gefühl oder ein Begehren ist.

Wie es freilich zugeht, dafs das Adäquatheitsverhältnis zwischen Inhalt und Gegenstand besteht, einmal wenn so grofse Ähnlichkeit, ein andermal, wenn so grofse Unähnlichkeit vorliegt, darauf mufs ich zur Zeit die Antwort schuldig bleiben. Es liegt natürlich nahe, die verschiedene Erkenntnissituation der Einwärts- und Auswärtswendung dafür verantwortlich zu machen, und darauf die Hoffnung zu bauen, aus der Verschiedenheit der Adäquatheitsverhältnisse hier und dort einmal einen Anhalt zur Charakteristik von Einwärts- und Auswärtswendung selbst ge- winnen zu können. Ich mufs es mir versagen, auf diese wich- tigen Probleme näher einzugehen ; vielmehr habe ich an das oben gewonnene, zunächst negative Ergebnis die für die gegen- wärtigen Untersuchungen unentbehrliche Frage zu knüpfen, ob wir über diese Negation nun nicht auch noch durch eine positive Bestimmung in betreff der Beschaffenheit der Relation zwischen Inhalt und den durch diesen erfafsten Gegenstand hinauszu- kommen imstande sind.

Allzu weittragenden Hoffnungen freilich wird man sich einer latsache gegenüber, die das Gepräge einer, um nicht zu sagen der erkenntnistheoretischen Grundtatsache so deutlich an sich trägt, nicht hingeben dürfen; aber in einer Hinsicht zum aller- mindesten scheint mir eine nähere Bestimmung unserer Adäquat- heitsrelation schon heute ohne das geringste Bedenken statthaft: ich meine die Einordnung dieser Relation in die eine der beiden das Gesamtgebiet der Relationen ausmachenden Hauptklassen der Ideal- und Realrelationen. Ganz einfache Erwägungen geben hierüber Aufschlufs. Ist das, was ich erkenne, selbst real, näher ein Stück Wirklichkeit, so wird diese durch mein Erkennen doch ganz gewifs in keiner Weise real berührt, wie hier mit nicht allzu grolser, für den Augenblick aber wohl ausreichender Präzision gesagt werden mag. Das Erkannte braucht aber überdies gar nicht etwas Wirkliches zu sein: die Einsicht in eine Gleichheit, eine Möglichkeit u. a. hat ja Ideales zum Gegenstände. Der Erkenntnisakt nebst dem ihm zugrunde liegenden Inhalte frei- lich ist jederzeit real: aber Reales kann zu Idealem nie in einer


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Achtes Kapitel.


Real-, sondern nur in einer Idealrelation stehen. Ist aber das Verhalten des Erkennens zum Erkannten von der realen oder idealen Beschaffenheit des letzteren unabhängig, dann ergibt sich auch für den realen Erkenntnisgegenstand, dafs das Er- kennen zu ihm nur in einer Idealrelation stehen kann, womit das zuvor als „reale Unberührtheit“ Bezeiehnete nichts als eine neue Verifikation erhält. Eine solche bietet schliefslich auch der allgemeine Aspekt der uns im Erkennen jederzeit entgegen- tretenden Sachlage. Dazu, dafs unser intellektuelles Tun eine Wirklichkeit oder Quasi Wirklichkeit erreiche, dazu müssen, das drängt sich doch eigentlich schon recht kunstloser Erwägung auf, gewisse qualitative Bedingungen erfüllt sein einerseits von Seite des in Frage kommenden Erlebnisses, dann aber auch von Seite der betreffenden Wirklichkeit oder Quasiwirklichkeit : Beide müssen ihrer Beschaffenheit nach sozusagen zueinander passen. Ein solches „Passen“ mufs natürlich bei weitem keine Ähnlich- keit oder gar Gleichheit sein; aber noch viel weniger wird man darin eine Realrelation suchen können, und man wird schwerlich fehlgehen, wenn man in der herkömmlichen Ansicht von der Beschaffenheit der „Adäquatheit“ als einer Art Ähnlichkeit mindestens die Anerkennung der idealen Natur dieser Relation ■erblickt.


§ 44 .

Die gegenständliche Bedeutung von Realrelationen

zwischen Inhalten.

Ich habe bisher, wie oben bereits angekündigt, nur die Re- lation der affirmativen Erkenntnis zu ihrem Gegenstände in Er- wägung gezogen. Wir können nun aber natürlich ganz allge- mein sagen: Die Relation zwischen der Vorstellung und ihrem Gegenstände, genauer zwischen Inhalt und zugeordnetem Gegen- stände ist eine Idealrelation, gleichviel welcher näheren Be- schaffenheit, und dieses Ergebnis wirft alles für die gegen- wärtigen Zwecke erforderliche Licht auf unsere Ausgangsfrage, ob irgendwelche Realrelationen zwischen dem A-Inhalte, R- Inh alte und /^-Inhalte imstande sein könnten, die Stellung dieser drei Inhalte im Erkennen derart zu modifizieren, dafs denselben statt der drei Gegenstände A, B und 11 nur noch der eine Gegen- stand „A und B in Relation ß“ oder etwa auch „Relation R zwischen A und ß“ gegenüberstände.


Annahmen bei Komplexen. Weiteres über das Meinen.


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Man kann die Frage leicht beantworten, wenn man ihr eine allgemeinere Form gibt, welche dann gestattet, an Stelle der Adäquatheits-Relation, wie man nun die Relation zwischen Inhalt und Gegenstand ganz ohne Einschränkung nennen könnte, eine uns sonst geläufigere Idealrelation als Beispiel zu substituieren. Verallgemeinert aber lautet die Frage etwa so: Können Idealrelationen, in denen zwei oder mehr vorgegebene Gegenstände zu anderen Gegenständen stehen, dadurch modifiziert werden, dafs jene vorgegebenen Gegenstände untereinander in irgendwelche Realrelationen treten? Im Beispiele also: ich

denke an eine Farbe X und einen, durchaus nicht punktuell zu verstehenden Ort Y. Jene Farbe hat natürlich ihre Ähnlich- keiten und Unähnlichkeiten gegenüber den verschiedenen anderen Farben; ebenso der Ort seine Lage- und Distanz-Relationen zu anderen Orten. Wird sich nun an diesen Relationen der Farbe zu den Farben, des Ortes zu den Ortern oder auch beider zu beliebigen anderen qualitativ bestimmten Tatbeständen etwas ändern, wenn ich die Farbe X an den Ort Y bringe? Niemand wird Bedenken tragen, mit Nein zu antworten. Verallgemeinert aber heilst dies: Idealreiationen werden durch Realrelationen, in die ihre Glieder eingehen, in keiner Weise mitbeeinflufst, was im Grunde selbstverständlich genug ist, da ja die Idealrelationen an Gliedern bestimmter Beschaffenheit ein- für allemal mit Not- wendigkeit haften, durch die sozusagen äufseren Schicksale der Glieder sonach nicht mitbetroffen werden können.

Nun ist aber auch die Adäquatheit eine Idealrelation : der A-Inhalt, R-Inhalt und R-Inhalt können selbst als Gegenstände 1 betrachtet werden, die nebst anderen Idealrelationen auch die Relationen der Adäquatheit zu den Gegenständen A, B resp. R auf'weisen. Es ist nun klar, dafs man mit diesen Inhalten an- fangen mag, was man will; solange man ihre Beschaffenheit nicht ändert, d. h. andere Inhalte aus ihnen macht, kann man auch ihre Idealrelationen nicht ändern; und sind sie nicht schon


Dafs liigr die Inhalte als Gegenstände auftreten, könnte leicht den in solchen Untersuchungen Ungeübten im ersten Augenblick verwirren. Es liegt darin aber weder ein Fehler noch eine Schwierigkeit: Gegenstand ist ja alles Erfafsbaro, folglich im besonderen auch der Inhalt, wie im gegenwärtigen Zusammenhänge besonders deutlich wird, in dem wir uns mit dem Gegenstände „Inhalt“ ja nun schon eine Weile zu beschäftigen, ihn also zu erfassen und zu beurteilen haben.


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Achtes Kapitel.


von allem Anfänge an zu dem Gegenstände „Relation R zwischen A und B “ in Adäquatheits-Relation gestanden, so ist diese Re- lation auch nicht durch relativ äufserliche V eränderungen an ihnen gleichsam zu erwerben.

Damit möchte der Nachweis erbracht sein, dafs zu einer Vorstellung des Gegenstandes „Relation R zwischen A und B il oder „ A und B in Relation R u von dem vorgegebenen A-Inhalte, iMnhalte und R-Inhalte aus weder durch einen neu hinzu- tretenden Inhalt noch durch Stiftung von Realrelationen zwi- schen diesen vorgegebenen Inhalten zu gelangen ist. Weil aber ein Drittes mit den in Rede stehenden Inhalten nicht vorge- nommen werden kann, ohne den Bereich des Vorstellens dabei zu überschreiten, so mag man billig besorgen, durch Obiges be- reits zu viel bewiesen zu haben, sofern damit dargetan ist, dafs es überhaupt keinen Vorstellungsinhalt gibt, der sich einem der eben wieder namhaft gemachten komplexen Gegenstände zu- ordnen liefse. Man wird indes an diesem Ergebnis keinen An- stofs zu nehmen brauchen, wenn sich herausstellt, dafs, was man zunächst freilich von den Vorstellungen allein als deren aus- schliefsliche Leistung zu erwarten geneigt ist, sich sehr wohl dann, aber auch nur dann leisten läfst, w 7 enn man neben dem Vorstellen nun neuerlich noch das Urteil oder ein ihm aus- reichend Verwandtes heranzieht.

§ 45.

Seins- und Soseins meinen.

Es dürfte kaum gelingen, hinsichtlich des Dargelegten zu einiger Klarheit zu gelangen, ohne zuvor noch einmal auf die Tatsachen zurückzukommen, die uns bereits im vorigen Kapitel unter dem Namen des „Meinens“ beschäftigt haben. Wir haben es für das Meinen charakteristisch gefunden, dafs durch das- selbe Gegenstände (zunächst Objekte) gewissermafsen durch ein Objektiv hindurch erfafst werden, in dem sie stehen. Dieses Objektiv war in den Fällen, die uns im vorigen Kapitel be- schäftigt haben, zunächst ein Seinsobjektiv. Das nun, was im gegenwärtigen Zusammenhänge zunächst festzustellen ist, besteht darin, dafs dem Meinen aufser den Seins- auch ganz wohl So- seinsobjektive dienen können.

Zieht man, um hierüber klar zu werden, ein beliebiges kate-


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gorisches Urteil von der Form „M ist N“ in Betracht, z. B. den Sinn des Satzes „mein Schreibtisch ist viereckig“, so erkennt man zunächst ohne weiteres am Subjekt M den Tatbestand des uns aus dem vorigen Kapitel geläufigen „Meinens“ : das Er- greifen dessen, über das geurteilt sein soll, erfolgt durch die M- Vorstellung, die in einem Seinsobjektiv erfafst wird, zu welch letzterem Ende im Schreibtischbeispiel ein Existenzurteil dient. Nun bemerkt man aber leicht, dafs hier zum Meinen des Sub- jektsgegenstandes auch das N herangezogen werden kann. Für solches anderes Meinen ist der kategorische Satz freilich nicht der adäquate Ausdruck, solange er Hauptsatz bleibt. Anders schon, wenn man ihn zum Relativsatze macht. Sage ich „mein Tisch, der viereckig ist“, so kann damit (etwa zur Unterschei- dung von meinem runden Tisch) ein Ergreifen deutlich voll- zogen sein, bei dem die jetzt in den Nebensatz gestellte Soseins- bestimmung eine ganz wesentliche Rolle spielt. Noch deutlicher tritt der Umstand, dafs auch das N dem Meinen dienen kann, dann hervor, wenn man dafür sorgt, dafs diese Funktion nicht, wie in der Wendung n M, das N ist“ geschieht, durch den An- teil des M verdunkelt wird. Nimmt man dem M alle Bestim- mungen, so dafs an deren Stelle gleichsam nur der Raum für Bestimmungen übrig bleibt, — sagt man also „etwas, das N ist“ oder „das, was N ist“, so wird alles Bestimmen einzig und allein durch das N besorgt: die A T - Vorstellung ist jetzt hinsichtlich der Funktion, die Vorstellungsgrundlage für das Meinen abzugeben, ganz und gar an die Stelle der M - Vorstellung getreten. Aber, wie deutlich ersichtlich, doch nicht so, dafs nun N direkt in jenem Seinsobjektiv erfafst würde, in dem zuvor M stand. N bewahrt Heimeln seine charakteristische Stellung als „bestimmender Gegenstand“ 1 oder „Determinator“ 2 in dem Soseinsobjektiv, dem er von Anfang an zugehört hat, und kann dem Meinen, dem vorher M gedient hat, nur durch Vermittlung des Soseinsobjek- tivs dienstbar gemacht werden. Das N meint, dem Sosein nach, vie man wohl sagen könnte, etwas, das dem Sein nach dann

Vgl. E. Mally in Nr. III der Grazer „Untersuchungen zur Gegen- standtsth. u. Psychol.“, 8. 130.

2 Eln von R - Bujas geprägter Ausdruck, mitgeteilt in dem Vortrage uber _ «Sprachwissenschaft und Gegenstandstheorie“; vgl. „Verhandlungen der 50. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner in Graz 1009“ Leipzig 1910, 8. 177.


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Achtes Kapitel.


noch in der uns aus dem vorigen Kapitel bekannten Weise ge- meint werden mufs. Die beiden sich so uns darbietenden Fälle des Meinens kann man also ganz verständlich als Seinsmeinen und Soseinsmeinen auseinanderhalten.

Die Charakteristik des Soseinsmeinens sei noch durch den Hinweis darauf vervollständigt, dafs nicht nur das Prädikat eines gegebenen Satzes, mehr kurz als genau gesprochen, dazu dienen kann, das Subjekt, sondern auch umgekehrt das Subjekt dazu, das Prädikat zu meinen. Wieder wird das Bestimmen, das sich diesmal vom Subjekte her vollzieht, deutlicher, wenn man statt des Prädikates N sozusagen den leeren Platz dafür in Gestalt jenes „etwas“ setzt, was zunächst ergibt : „M ist etwas“. Wenden wir dies nun so: „etwas, das am 31 ist“, oder „etwas, das das Genus zu 31 abgibt“ oder dgl. so ist die bestimmende Funktion des 31 und damit die Tatsache klar, dafs hier das Soseinsmeinen sich in ähnlicher Weise des 31 bedient, wie oben des N, wobei die eine Weise des Soseinsmeinens immerhin eine Art Inversion der anderen darstellt.

Sucht man, um dem Soseinsmeinen nun in seinen Anwen- dungen etwas näher zu treten, nach Beispielen dafür, so findet man sich schon gewöhnlicher Wahrnehmung gegenüber vor die Frage gedrängt, ob man es dabei nicht etwa bereits mit Fällen obligatorischer Soseinsmeinung zu tun habe. Wirklich ist ja das, was wir wahrnehmen, nicht der „Empfindungsgegenstand 1 ’, etwa Schwarz, Warm u. dgl., sondern das Schwarze, Warme u. dgl. 1 Hier läfst aber der innere Aspekt solcher Erlebnisse keinen Zweifel daran aufkommen, dafs man es nicht mit einer Kombi- nation von Seins- mit Soseinsmeinen, sondern mit einer relativ recht ursprünglichen, d. h. namentlich durch Abstraktion noch recht unberührten Gestalt des Seinsmeinens zu tun hat. Gegen- stand der Wahrnehmungsvorstellung ist das eigentliche, nur durch Seinsmeinen, genauer durch das Existenzurteil zu er- fassende Konkretum, während es die auf das Elementare ten- dierende Natur des Empfindungsbegriffes mit sich bringt, dafs der Empfindungsgegenstand Farbe, Wärme, Ton usw. eine aus jenem Konkretum herausabstrahierte Eigenschaft darstellt. Kon- kreta also sind das eigentliche Gebiet des reinen Seinsmeinens.

Dagegen kommt das Soseinsmeinen überall dort zu seinem

1 Vgl. „Über die Erfahrungsgrundlagen unseres Wissens“, S. 26 ff.


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Rechte, wo wir, was ja die Regel ist, Gegenstände unter Ver- mittlung ihrer mehr oder minder abstrakt vorgestellten Eigen- schaften erfassen. Ganz ausdrücklich ist das in substantivierten Adjektiven wie „das Schwarze“, „das Kalte“ der Fall, womit doch deutlich nichts anderes gesagt sein kann, als „etwas, das schwarz“, oder „etwas, das kalt ist“. Und wie wichtig hier der Unterschied ist, der zwischen dem blofsen Meinen der Eigen- schaft und dem des die Eigenschaft etwa tragenden Dinges be- steht, erhellt einfachst daraus, dafs z. B. Schwarz niemals schwer sein kann, das Schwarze dagegen, etwa die Kohle sehr wohl. Dafs es dann mit Gegenständen wie Sessel oder Tisch, Kugel oder Würfel auch nicht .anders bewandt sein wird, und ebenso mit allen anderen Dingen, die wir mit Hilfe der Wörter, resp. ihrer Bedeutung erfassen, versteht sich. Denn was diese Wort- bedeutungen differenziert, sind zunächst die betreffenden Eigen- schaften; diese müssen auf das Ding bezogen werden, das sie charakterisieren sollen, und das kann nicht anders als durch So- seinsmeinung geschehen.

Zum Kohlenbeispiel verdient vielleicht noch bemerkt zu werden, dafs auch der Gegenstand „etwas, das schwarz ist“ die Prädikation der Schwere nicht gestattet, solange man in ihm nicht mehr erfafst als eben dieses Schwarze. Zunächst ist ja „etwas, das schwarz ist“ und „etwas, das schwer ist“ durchaus zweierlei, und erst, wenn ich mit dem „etwas, das schwarz ist“, einen Gegenstand meine, der neben der Schwärze auch noch andere Eigenschaften hat resp. haben kann, erst dann kann die Position „das Schwarze ist schwer“ der Wahrheit gemäfs sein. Durch blofses Soseinsmeinen ist der gemeinte Gegenstand von eventuellen weiteren Bestimmungen gleichsam abgeschlossen ; erst sofern beim Meinen Ergänzungen, wenn auch nur unbestimmt, in Aussicht genommen werden, erscheint er gleichsam offen, so dafs man daraufhin von offen und geschlossen gemeinten, kürzer von offenen und geschlossenen Gegenständen reden könnte.

übrigens kann das Soseinsmeinen beim Erfassen nicht nur von Dingen, sondern auch von Eigenschaften in Anwendung kommen, sofern, was ja prinzipiell durchaus nicht auszuschliefsen ist, auch Eigenschaften wieder Eigenschaften haben. „Etwas, das hell, gesättigt ist“ u. dgl. kann ja ganz wohl eine Farbe, sonach eine Eigenschaft sein.

Auf den Fall der oben erwähnten Inversion weist die Be-


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deutung solcher Wörter hin, bei denen nicht ein Ding durch seine Eigenschaft, sondern umgekehrt die Eigenschaft nach dem Ding gekennzeichnet ist, an dem sie sich vorfindet. Menschlich, ge- bieterisch, laienhaft nennen wir, was am Menschen, am Gebieter, am Laien sich als dessen charakteristische Eigenschaft vorfindet.

Im bisherigen wurde das Soseinsmeinen fast ausschliefslich an Fällen des Wieseins beleuchtet. Dafs es nun auch beimWas- sein 1 anzutreffen ist, versteht sich ; ich verzichte darauf, hier mehr ins Detail einzugehen, da den Hauptinteressen der gegen- wärtigen Untersuchungen eine andere Frage um vieles näher liegt. Wir wissen nämlich nun sicher genug, dafs neben dem Seinsobjektiv auch dem Soseinsobjektiv eine ganz wesentliche Rolle beim Meinen von Gegenständen zukommt: aber Soseins- objektive sind so wenig wie Seinsobjektive die erfassenden Er- lebnisse selbst, diese Erlebnisse aber sind natürlich bei Sein wie Sosein dem Meinen gleich konstitutiv. In welcher Weise also, das ist die Frage, werden beim Soseinsmeinen die Soseinsobjektive unmittelbar erfafst ?

Die Alternative : entweder durch Urteilen oder durch An- nehmen , bedarf im gegenwärtigen Stadium unserer Unter- suchungen keine Rechtfertigung mehr. Was aber ferner den Anteil des Urteilens am Soseinsmeinen anlangt, so liegt es nahe, sich durch die Analogie zum Seinsmeinen bestimmen zu lassen. Meine ich also etwa „den Erfinder der Schreibmaschine“, so mag es ziemlich selbstverständlich scheinen, dafs, da ich nicht nur an dessen Existenz, sondern auch daran glaube, dafs eben er die Schreibmaschine erfunden habe , ich mich beim Meinen nicht nur eines Seins-, sondern auch eines Soseinsurteils zu bedienen berechtigt bin. Nun stöfst aber eine solche Auffassung ziemlich unerwartet schon hier auf eine Schwierigkeit. Ich kann dem fraglichen Gegenstände, wenn ich ihn erst einmal ergriffen habe, ohne Zweifel die Bestimmung „Erfinder der Schreibmaschine" mit Recht zuurteilen, d. h. mit Hilfe eines Urteilserlebnisses zuschreiben, ja ein solches Urteil kann in unserem Falle geradezu tautologischen Charakter an sich tragen. Aber wenn es gilt, den Gegenstand erst zu ergreifen, und zwar durch ein gewisses So- seinsobjektiv, wie könnte da ein Urteil über dieses Sosein dem


1 Über Wiesein und Wassein vgl. E. Mali.ys „Untersuchungen zur Gegenstandstlieorie des Messens“, a. a. 0. S. 135 f.


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Erfassen des Gegenstandes als Mittel dazu gleichsam vorausgehen? Beim blofsen Seinsmeinen hat die Verwendung eines Urteils auf Grundlage einer irgendwie gegebenen Vorstellung Leine Schwierig- keit. Nicht minder kann das Seinsmeinen, wo es mit dem So- seinsmeinen verknüpft ist, durch Urteil vollzogen werden. Aber die Grundlage, die sonst das Vorstellen abgibt, mufs in unserem Beispiele durch das Erfassen eines Soseinsobjektivs erst bei- gestellt sein, und für dieses Erfassen scheint das Urteilen denn doch noch zu früh zu kommen.

Übrigens wollen wir uns auch bei dieser, wohl der Klärung noch sehr bedürftigen Sache nicht aufhalten. Das Dargelegte leistet nämlich auf alle Fällefmindestens dies, dafs man nun ohne weiteres einsieht, wie wenig das Soseinsobjektiv dort geurteilt sein kann, wo das Sein des Gemeinten unausgemacht bleibt oder gar negiert wird. Freilich, der „Berg, der von Gold ist“, ist sicher golden, und der Akkumulator von geringem Gewicht, den man so gerne hersteilen möchte, ist sicher leicht, obwohl jener so wenig existiert wie zurzeit dieser. Man könnte daraufhin wieder vermuten, die betreffenden Soseinsobjektive „der Berg ist von Gold“ und „der Akkumulator hat geringes Gewicht“ seien durch Urteile zu erfassen. Aber ohne jeden Vorbehalt kann diesmal, wie zuvor, gesagt werden: das Sosein, durch das ich einen Gegenstand erst ergreife, kann ich diesem nicht bereits zuurteilen, weil ich zu diesem Ende ihn schon ergriffen haben mufs. Ist dies einmal geschehen, dann gelten von ihm die, wenn man so sagen darf, Ergreifungsobjektive analytisch im KANTschen Sinne. Vor dem Ergreifen aber, oder auch, indem ich eben er- greife, fehlt mir noch die Fühlung mit den Tatsachen; die Er- greifungsobjektive können nicht geurteilt, sondern nur ange- nommen werden.

Eine verifizierende Anwendung findet das eben gewonnene Ergebnis in der Lehre von der Definition, — verifizierend insofern, als diese Lehre dadurch den unbefriedigenden Charakter verlieren dürfte, den sie bisher immer nicht abzustreifen vermocht hat, da die Frage, ob die Definition ein Urteil sei oder was sonst, sich untei den bislang verfügbaren Gesichtspunkten nicht wollte be- antworten lassen. Da es doch nicht anging , Definieren ein- fach unter Vorstellen zu rangieren, meinte man sich an jene Urteile über Worte oder Sachen halten zu müssen, die man bei Konzeption der Begriffe von Nominal- und Realdefinition im

Meinong, Über Annahmen. 2 . Aull. 18


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Auge hatte. Derlei Aufstellungen mögen nun eventuell ganz; erwünschte Nebenleistungen der Definition ausmachen; dafs sie den Kern dessen nicht darstellen, was man in der Definition vor sich hat, darüber kann man sich am Ende doch nicht täuschen. Als dieser Kern aber können, soviel ich sehe, nur zwei, theoretisch voneinander sehr verschiedene, praktisch freilich stets zusammen- fallende Leistungen angesehen w T erden. Wer definiert, gibt ent- weder das Soseinsobjektiv an, mit dessen Hilfe er einen Gegen- stand „bildet“, „auf baut“ oder wie man sonst metaphorisch sagen mag (metaphorisch, weil Gegenstände von uns nicht gemacht, sondern nur aus der unendlichen Fülle des Aufserseienden heraus- gegriffen werden können), zuletzt also: das Soseinsobjektiv, mit dessen Hilfe man den Gegenstand ergreift . 1 Oder die Definition ist die Angabe jenes Soseinsobjektivs, das, indem es die Charak- teristik des bereits ergriffenen oder herausgegriffenen Gegenstandes konform mit dem, was ich eben das Ergreifungsobjektiv genannt habe, namhaft macht, die tautologische Geltung des analytischen Urteils für sich in Anspruch nehmen kann. In diesem zweiten Sinne ist die Definition dann natürlich jederzeit ein Urteil; in der ersten Auffassung ist sie aber eben so gewifs niemals ein Urteil, sondern allemal eine Annahme.

Abschliefsend können wir also jedenfalls sagen: dem Seins- meinen steht ein Soseinsmeinen zur Seite. Konnten wir das. Seinsmeinen als Annehmen bezeichnen, sofern dieses ja auch in den Urteilen enthalten, aufser dem urteilenden aber ein blofs annehmendes Seinsmeinen empirisch aufs beste bezeugt ist, SO' spielt beim Soseinsmeinen das Annehmen eine noch mehr be- herrschende Rolle, indem Ergreifen durch Soseinsurteil wahr- scheinlich überhaupt ausgeschlossen ist.

Vom Seinsmeinen unterscheidet sich das Soseinsmeinen noch in der wichtigen Hinsicht, dafs, während negatives Seinsmeinen nicht wohl in Wirklichkeit Vorkommen könnte, gegen Soseins- meinen mit Hilfe negativer Annahmen nicht das mindeste ein- zuwenden ist. Die Gegenstände, die wir ergreifen, können eben sowohl positiv als negativ charakterisiert sein, ln sehr allgemeiner Gestalt ist uns dieses negative Soseinsmeinen schon an einer


1 Und zugleich durch dieses Ergreifen „vorbestimmt“, vgl. meine Ab- handlung „Über Urteilsgefühle, was sie sind und was sie nicht sind“ im Archiv f. d. ycs. Psychol. 6, S. 48 f.


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früheren Stelle der gegenwärtigen Darlegungen begegnet. Jene „negativen Begriffe“, an denen uns zuerst die Unzulänglichkeit blofsen Vorstellens für das Erfassen mancher Gegenstände deut- lich wurde 1 , geben sich uns nun ohne weiteres als durch negative Soseinsobjektive charakterisiert zu erkennen, deren Bedeutung für die Kennzeichnung des Gemeinten hier ganz wie bei dem eben zuvor herangezogenen Paradigma „das, was N ist“ dadurch besonders deutlich wird, dafs das (diesmal negativ) Gemeinte zunächst anderweitiger Bestimmungen entbehrt. „Non-A“ besagt eben nichts anderes als „etwas, das nicht A ist“, oder auch „das, was nicht A ist“. Man übersieht jetzt, ein wie hoffnungsloses Beginnen es eigentlich war, das seinerzeit als „Negativum N“ Bezeichnete 2 3 * durch die Mittel „blofsen Vorstellens“ ergreifen zu wollen.

Dafs nicht nur Seins- sondern auch Soseinsobjektive beim Ergreifen von Gegenständen eine Rolle spielen, kann demjenigen nicht auffallen, der der Tatsache eingedenk ist, wie doch eigent- lich nicht das Sein, sondern das Sosein das Wesen der Gegen- stände konstituiert. Alles Meinen kann ja wie erwähnt als eine Art Auswahl betrachtet werden, die aus der unendlichgradig un- endlichen Fülle des Aufserseienden auf Grund vorgegebener Be- stimmungen getroffen wird. Diese Bestimmungen sind zuletzt Eigenschaften, also Sosein, und man könnte es eher bemerkens- wert finden, dafs ein Ergreifen vermöge blofsen Seins, d. h. ohne explizite Inanspruchnahme des Soseins möglich ist. Man wird eben vermuten müssen, dafs schon in den Daten blofsen Vor- stellens zusammen mit der auf sie gegründeten Seinsmeinung Soseinsobjektive mindestens impliziert sind. Nehme ich z. B. die Türe meines Zimmers wahr, so erlebe ich da zunächst zweifellos ein Ergreifen durch Seinsmeinung; aber niemand wird in Ab- rede stellen, dafs in diesem Erlebnisse Soseinsbestimmungen wie Braunsein, Rechteckigsein usw. impliziert sind, ja dafs sich der ganze durch die Wahrnehmung seinsgemeinte 8 Gegenstand in Soseinsobjektive wie „etwas, das braun ist“, „etwas, das recht- eckig ist“ usw. mufs auflösen lassen, etwa mit Ausschlufs eines

1 Oben Kap. I, § 2.

2 Mit dem N unseres obigen Paradigmas hat es natürlich nichts ge- mein: die Übereinstimmung im gewählten Symbol ist eine ganz zufällige.

3 Derlei freilich barbarische Ausdrücke werden in ihrer Kürze hoffent-

lich einige Rechtfertigung finden.


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noch näher zu untersuchenden Restes, der sich in dem hier vielleicht nicht in gröfster Allgemeinheit verwendeten „etwas“ zu verbergen scheint. Andererseits haben wir ja gesehen, wie das Soseinsmeinen aufs engste mit dem Seinsmeinen verknüpft ist, so dafs der ganze Gegensatz der zunächst als Seins- und Soseins- meinen sich darstellenden Fälle mindestens vielfach auf den des impliziten gegenüber dem expliziten Soseinsmeinen sich reduzieren dürfte, wo dann freilich in dieser Implikation noch ein eigen- artiges Problem der Lösung harrte.

Wie es damit aber auch bewandt sein mag, soviel ist ohne weiteres durchsichtig und darf, nachdem uns die Zusammen- gehörigkeit von Inhalt und Gegenstand bereits in anderer Hin- sicht beschäftigt hat \ hier nicht ganz unerwähnt bleiben, dafs die Enge eben dieser Zusammengehörigkeit dadurch in ganz neuen Hinsichten gelockert wird. Einmal nämlich ist es klar, dafs es bezüglich des zu ergreifenden Gegenstandes einen Unterschied machen mufs, ob ein Inhalt die Grundlage einer Seins- oder einer Soseinsmeinung ausmacht. Manchmal freilich wird da- durch nichts Sonderliches in der Sachlage geändert sein. Ob ich z. B. in die Vorfrühlingslandschaft vor meinem Fenster hinausblickend, sage: „dies existiert“, oder: „es existiert etwas, das den Komplex der von mir gesehenen qualitativen und quanti- tativen Daten an sich trägt“, „es existiert etwas, das so ist“, wo das „so“ ebenso auf den direkten Anblick bezogen ist, wie zuvor das „dies“, das wird wohl auf dasselbe hinauskommen. Anders, wenn ich einmal die Farbe Schwarz durch Seinsmeinen erfasse, ein andermal denselben Inhalt dazu benutze, an „etwas, das schwarz ist“, kürzer „ein Schwarzes“ zu denken. Wie grofs der Unterschied des dort und hier Gemeinten ist, erhellt besonders deutlich, wenn man statt des unbestimmten „ein Schwarzes“ be- stimmtere Gegenstände heranzieht, die durch eine solche Meinung mitgetroffen sind, also etwa „eine Tafel, die schwarz ist“, ,,ein Hut, der schwarz ist“ usf. Mitbetroffen, insofern mitgemeint, sind aber alle Gegenstände, die mit dem Objekt, das in dci fraglichen Soseinsmeinung den Determinator ausmacht, ein So- seinsobjektiv von der Art der eben angeführten konstituieren. Was es Einschlägiges an tatsächlichen, natürlich positiven, Ob- jektiven gibt, liegt dem zugrunde, was man in der Logik als


1 Oben Kap. V, § 20, auch Kap. VIII, § 43.


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„Umfang“ kennt. Gegenstandstheoretisch wichtig dürfte aber sein, dafs man auf diesen „Umfang“ nicht in jedem Sinne an- gewiesen ist, d. h. dafs das Meinen von der Schranke der Tat- sächlichkeit absehen könnte. Neben dem tatsächlichen Objektiv „Pech ist schwarz“ gibt es ja (im Sinne des Aufserseins) auch Objektive wie etwa „Milch ist schwarz“. Nimmt man ein solches Objektiv an, so kann natürlich mit „ein Schwarzes“ auch Milch gemeint werden, — eine Erweiterung der Grenzen des Meinens, die wegen des darin besonders deutlich auftretenden Anteils der Annahmen hier nicht unerwähnt bleiben durfte. Von den mancherlei Gegenständen, die so demselben Inhalte gegenüber- stehen, nimmt der durch Seinsmeinen zu erfassende, der für einen gegebenen Inhalt bei voller Genauigkeit immer nur einer sein kann, gegenüber den übrigen eine deutliche Ausnahme- stellung ein, der man dadurch Rechnung tragen kann, dafs man diesen durch Seinsmeinen zu erfassenden Gegenstand den nächsten, che durch Soseinsmeinen zu erfassenden Gegenstände die ent- fernteren Gegenstände des betreffenden Inhaltes (oder etwa auch Quasiinhaltes) nennt.

Gleichwie sonach sehr viele, eventuell unendlich viele ver- schiedene Gegenstände dem selben Inhalt (etwa dem Schwarz- inhalt) gegenüberstehen, so kann nun andererseits derselbe Gegenstand, eine Schultafel etwa, sowohl mit dem Inhalte der Vorstellung „Schwarz“ als mit dem der Vorstellung „Viereckig“ ergriffen werden, da die Tafel sowohl ein Schwarzes als ein Viereckiges ist. Das hindert natürlich gar nicht, dafs immer noch Schwarz und Viereckig zwei verschiedene Gegenstände sind; ja auch „ein Schwarzes“ und „ein Viereckiges“, beide „geschlossen“ genommen, sind verschieden. Gleichwohl ist das Soseinsobjektiv „ein Schwarzes ist viereckig“ (wobei „ein Schwarzes“ natürlich „offen“ gemeint sein mute) tatsächlich: mit den beiden Inhalten vird also unter günstigen Umständen doch auch ein und der- selbe Gegenstand gemeint. Und gewifs wäre es nicht natürlich, nur die Schultafel „Gegenstand“, dagegen „ein Schwarzes“ und „ein Viereckiges“ Inhalte zu nennen. Dennoch ist dies (z. B. in Husserls öfter zitiertem Beispiel des „Siegers von Jena“ und „Besiegten von Waterloo“) geschehen, und hat, wenn ich recht sehe, eine natürliche Auseinanderhaltung der Termini „Inhalt“ und „Gegenstand“ sowie die ausreichend allgemeine Anwendung < es letzteren Ausdruckes resp. die Einsicht in die natürliche


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Allgemeinheit des Gegenstandsgedankens in besonderem Mafse erschwert.


§ 46 .

Die Meinaufgaben und deren Lösung.

So skizzenhaft die Ausführungen sind, durch die im vorigen Paragraphen die Aufstellungen des vorangehenden Kapitels über die Natur des Meinens zu ergänzen versucht wurden, sie haben sicher ausgereicht, um keinen Zweifel daran offen zu lassen, dafs es in der Hauptsache Meinaufgaben waren, von denen die Unter- suchungen des gegenwärtigen Kapitels ihren Ausgang genommen haben. In der Tat gehört es zum Alltäglichsten in unserem intellektuellen Leben, dafs wir uns vor solche Aufgaben gestellt finden. Sowohl die Wahrnehmungsvorstellungen, die die um- gebende Wirklichkeit im wachen Subjekte auslöst, können unter diesen Gesichtspunkt gestellt werden, als auch was sonst an Vorstellungen und ihnen analog funktionierenden Erlebnissen sich aus äufseren oder inneren Anlässen dem Bewufstsein dar- bietet. Ganz besonders kommen die intellektuellen Suggestions- mittel der Sprache in Betracht, denen gegenüber das Verstehen wohl ausnahmslos eine Leistung in betreff angemessenen Meinens darstellen wird. Und auch darüber sind wir nun ohne weiteres im klaren, dafs, sowie Meinaufgaben im allgemeinen in zwei ver- schiedenen Weisen gelöst werden können, nämlich durch Seins- meinen und durch Soseinsmeinen , ebenso auch die Lösungs- ergebnisse hauptsächlich zwei charakteristische Gestalten werden aufweisen müssen, je nachdem dabei die eine oder die andere Weise des Meinens den Hauptanteil an der Charakteristik in An- spruch nehmen darf.

Doch ehe wir dem etwas mehr ins einzelne nachgehen, müssen wir nun noch einmal auf die in den vorangehenden Paragraphen verhandelte Frage zurückkommen, wie es angesichts der Idealität der Adäquatheitsrelation möglich sein soll, Inferiora in Relation oder Komplexion zu erfassen. Scheint es doch, dals hierzu nur zwei Wege offen stehen können, einmal der, zu den Inferioren Vorstellungen noch die geeignete Superiusvorstellung hinzuzufügen, dann der, die Inferioren vorstell ungen untereinander und etwa noch mit der betreffenden Superiusvorstellung in eine geeignete Realrelation zu setzen. Beides mulsten wir als gleich


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unzulänglich erkennen. Die Sachlage zeigt sich nun aber in einem günstigeren Lichte, sobald wir in Rechnung ziehen, dafs hier neben dem Vorstellen allemal noch ein (Urteilen oder) An- nehmen wesentlich mitbeteiligt ist. So dunkel nämlich das Wesen des Erfassens von Gegenständen für uns bleiben mufs, wir können uns doch mindestens das eine sehr wohl denken, dafs es für das, was durch die Operation des Ergreifens gleich- sam getroffen wird, durchaus nicht einerlei sein dürfte, in welchen Realrelationen die den Ausgangspunkt ausmachenden Inhalte zueinander stehen. Die Einsicht hierein ist von einem wirklichen Einblick in den Vorgang und gar in dessen Differenzierungen noch sehr weit entfernt, und es mufs künftiger Forschung Vor- behalten bleiben, zu ergeben, ob in so fundamentaler Sache eine Annäherung an das Ziel besseren Verständnisses überhaupt zu hoffen ist. Bei den hier obwaltenden Schwierigkeiten wird man es aber doch schon als einen nicht allzu gering anzuschlagenden Erlös der Hereinziehung des Meinens resp. der Annahmen be- zeichnen dürfen, dafs wir der Tatsache des Erfassens von Gegen- ständen höherer Ordnung nicht mehr wie einem völlig undurch- schaubaren Paradoxon gegenüberstehen.

Fehlt es aber sonach zurzeit an jedem genaueren Wissen darüber, wie das Annehmen resp. das Urteilen es gleichsam an- fängt, das zu leisten, was das Vorstellen ahein zu leisten aufser- stande ist, so darf es als besonders erwünschte Bestätigung der dargelegten Auffassung gelten, dafs man, wie B. Russell mit Recht hervorgehoben hat 1 , auf dem Wege einer einfachen Er- wägung rein gegenstandstheoretischer Art zu demselben Ergebnis gelangen kann. Ein Gegenstand von der Form „A und B in Komplexion Ä“ läfst nur etwa vermöge der abgekürzten sprach- lichen Bezeichnungsweise verkennen, dafs ein Objektiv an ihm ganz obligatorischen Anteil hat. Es tritt sprachlich hervor, wenn man etwa sagt: „A, das mit B einen gewissen Komplex ausmacht“, oder „der Komplex, den A und B ausmachen“ oder dgl. Der lall der „Relation R zwischen A und B “ stellt schon nach dem Koinzidenzprinzip auch seinerseits eine komplexe Tatsache dar, und darf jedenfalls ganz nach Analogie des Komplexes hier in Betracht gezogen werden: wirklich besagt ja „Relation R zwischen


1 „Meinong’s theory of complexes and assumptions“, II, Mind. N. S. IS, 8. 346 ff., vgl. auch oben § 20.


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A und 2?“, unverkürzt ausgesprochen, wieder nur etwa „ R , das zwischen A und B besteht“, oder „A, das zu B in Relation R steht“ oder dgl. Allgemein also: wo ein Komplex vorliegt, dort liegt auch ein Objektiv als integrierendes Moment daran vor, und wer den Komplex erfassen will, kann das nicht anders, als indem er auch das Objektiv erfafst. Daraus wird nun fürs erste direkt verständlich, warum das Vorstellen den Komplexen im eben verwendeten weitesten Sinn, also, wie man dafür auch sagen kann, den Gegenständen höherer Ordnung gegenüber, falls diese nicht etwa durch Abstraktion einmal ihres komplexen Charakters zu entkleiden sind, versagt. Weiter aber wissen wir, dafs, wo es gilt, Objektive zu erfassen, nur durch Urteil oder Annahme Rat zu schaffen ist, und entnehmen überdies den Erwägungen des vorigen Paragraphen, warum Urteile für die uns beschäftigende Frage in so vielen Fällen aufser Betracht bleiben müssen. Übrigens sind es natürlich nur die Soseinsannahmen, denen hier der Hinblick auf die gegenstandtstheoretische Sachlage unmittelbar zustatten kommt : was wir in den Komplexen angetroffen haben, sind ja Soseinsobjektive. Der Umstand aber, dafs wir Soseins- objektive auch in Seinsobjektiven mindestens impliziert gefunden haben, so dafs die Evidenz für diese ohne weiteres die Evidenz für jene mit sich führt, — dieser Umstand läfst es, so dunkel an der Sache auch noch vieles bleiben mag, im ganzen doch nicht mehr durchaus unverständlich erscheinen, wenn wir nun unter gewissen Umständen die Funktion der Soseinsannahmen durch Seinsannahmen (resp. -urteile) ersetzt finden.

Wenden wir uns nunmehr dem namentlich im Anfänge dieses Kapitels besprochenen Gegensätze des Anschaulichen und Unanschaulichen zu, so versteht sich zunächst, was gewifs auch bereits von selbst auffällig geworden sein wird, dafs zu dessen Charakteristik der Hinweis auf den Gegensatz von Zusammen- setzung zu blofser Zusammenstellung auch auf dem Gebiet des oben als einfacher bezeichneten Falles, wo wir zunächst auf ihn geführt wurden, so lange keine Dienste leisten kann, als die eben wieder berührte Idealität der Adäquatheitsrelation die Real- relationen zwischen den Teilinhalten als für die Beschaffenheit des zu erfassenden Superius belanglos zu erweisen droht. Ist diese Schwierigkeit durch den Erweis der Beteiligung der An- nahmen am Erfassen beseitigt, so ist nun doch auch nicht zu verkennen , dafs der Gegensatz des Anschaulichen und Unan-


Annahmen bei Komplexen. Weiteres über das Meinen. 281

schaulichen, und zwar in seinem Auftreten nicht nur im so- genannten einfacheren, sondern nicht minder auch im kompli- zierteren Fall deutlicher als durch den Hinweis auf Zusammen- setzung und Zusammenstellung durch den auf Seins- und Soseins- meinen charakterisiert wird.

Halten wir uns zunächst an den „einfacheren Fall“, der oben durch das „rote Kreuz“ und „das Kreuz, das rot ist“ repräsentiert war. Man sieht sofort, dafs hier die Anschaulichkeit mit dem Seinsmeinen bei blofs implizierten Soseinsobjektiven, die Un- anschaulichkeit dagegen mit dem expliziten Soseinsmeinen zu- sammengeht. Das „rote Kreuz“ bietet mir mit sicherster Anschau- lichkeit die Anschauung selbst, für die das sozusagen reine Seins- meinen charakteristisch ist. Die Teilinhalte, deren nächste Gegen- stände „Rot“ und „Kreuzförmig“ ausmachen, sind hier „zusammen- gesetzt“ im prägnanten Sinne und das scheint die Bedingung zu sein, unter der sich die Seinsmeinung des gegenständlichen Kom- plexes, der die Soseinsobjektive impliziert, gleichsam bemächtigen kann. Gelingt es der psychischen Aktivität des Subjektes einmal auch ohne Wahrnehmungshilfe, die ihm unzusammengesetzt vor- gegebenen Teilinhalte zusammenzusetzen, dann kann es den Komplex „rotes Kreuz“ anschaulich erfassen auch ohne Wahr- nehmung. Ganz anders natürlich beim „Kreuz, das rot ist“. Hier zeigt der Nebensatz „das rot ist“ die Soseinsmeinung wenigstens hinsichtlich des Rotseins ganz unverhüllt, und inwieweit statt des zunächst sich wohl als seinsgemeint dar- bietenden Objektes „Kreuz“ nicht genauer „etwas, das kreuzförmig ist“ oder dgl. zu setzen wäre, läfst sich aus den Worten natürlich nicht entnehmen. Zum allermindesten also ist das Soseinsobjektiv „Rotsein des Kreuzes“ ganz sicher beteiligt. Die Inhalte „Rot“ und „Kreuz“ finden sich hier nur in Zusammenstellung, und diese scheint unter allen Umständen und ganz unabhängig von der Beschaffenheit der im Objektiv auftretenden Objekte erziel- bar zu sein. Denn dies ist ja die Weise, in der die Inhalte ver- bunden auftreten, schon wenn eine Rede nur oberflächlichst ver- standen wird, wie solches auch etwa dem „Viereck, das rund ist“ gegenüber ohne weiteres geleistet werden ka nn . Nicht minder zeigt sich hier, da es sich eben um explizite Soseinsobjektive handelt, die Positivität dieses Objektivs durchaus nicht erforderlich. So gut wie „das Kreuz, das rot ist“ erfasse ich, und offenbar mit wesentlich denselben Mitteln, auch „das Kreuz, das nicht rot


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ist“. Ebenso begreiflich ist andererseits aber, dafs eine Erfassungs- weise, die die Soseinsobjektive nur impliziert, nicht sowohl posi- tive als negative Objektive implizieren kann. Wirklich sind von der Anschaulichkeit die negativen Soseinsobjektive ausgeschlossen. Der Gegensatz zum Unanschaulichen kommt aber auch noch darin zur Geltung, dafs Anschaulichkeit sich durchaus nicht hin- sichtlich beliebiger Teilgegenstände erzielen läfst. Die „Zusammen- setzung“ stellt eben sozusagen bestimmte Forderungen an das zu verbindende gegenständliche resp. inhaltliche Material, und diese Forderungen sind so strikte, dafs man im Gelingen der Zusammensetzung, also im Zustandekommen der Anschaulichkeit ein durchaus zureichendes Kriterium der Möglichkeit erblicken darf, indes man umgekehrt die Unmöglichkeit oft „Unverein- barkeit“ genannt und mit dem Mifslingen der Veranschaulichung ganz ernstlich verwechselt hat.

Was ich oben den komplizierteren Fall genannt habe — komplizierter ist er zunächst nur durch Einführung eines dritten durch einen besonderen Vorstellungsinhalt repräsentierten Ter- minus R, der beim einfacheren Falle entbehrlich ist — zeigt nun im Grunde kaum mehr etwas Eigenartiges, gestattet nur etwas mehr Wechsel in der Betrach tungs- resp. Benennungsweise. Ist im Sinne des seinerzeit gebrauchten Beispieles etwa Rot und Grün gegeben, wird ferner durch ausdrückliche Vergleichung der Inhalt der Vorstellung „Verschieden“ produziert, so kommt dabei dieser Inhalt zum Rot- resp. Grüninhalt in eine solche Position, genauer Realrelation, dafs sich nun das, was man als „Verschiedenheit zwischen Rot und Grün“ auszudrücken pflegt, sozusagen auf einen Blick, richtiger in einem evidenten Seins- urteil erfassen läfst. Das was demgemäfs „ist“, kann man dann auch als „Rot und Grün in Verschiedenheit“, oder minder natür- lich auch als „Rot in Verschiedenheit von Grün“ resp. „Grün in Verschiedenheit von Rot“ bezeichnen, je nachdem man die Auf- merksamkeit noch dieser oder jener Seite des komplexen lat- bestandes zuwendet. Im Wesen hat man jedesmal das nämliche vor sich, eben die anschauliche Weise, die beiden Fundamente in Relation zu erfassen. Um nun auch den Gegenfall des unan schaulichen Erfassens wieder unter den Gesichtspunkt des So- seinsmeinens zu bringen, muls man sich nur noch von der be- sonderen Beschaffenheit der Objektive überzeugen, die im eben konstatierten Seinsmeinen implizite mitgetroffen sein müssen.


Annahmen bei Komplexen. Weiteres über das Meinen.


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Es handelt sich dabei zunächst um die Eigenart des oben mit R bezeichneten Gegenstandes, den man gewöhnlich Relation nennt, indes mir aus einem an anderem Orte 1 angegebenen Grunde die Benennung „der Relat“ jetzt angemessener scheint. Was ein solcher Relat, wie uns ihn etwa der Gegenstand „Ver- schieden“ 2 darbietet, eigentlich ist, durch eine Definition klar zu machen, wird sicher nicht gelingen. Aber eine charakteristischeste Eigentümlichkeit solcher Gegenstände besteht ohne Zweifel darin, dafs sie das Wie in Wieseinsobjektiven 3 4 * ausmachen, deren Be- stimmungsgegenstand * oder „Determinand“ ö nicht, wie etwa bei Rot oder Grün selbstverständlich ist, wesentlich nur durch einen, sondern durch wenigstens zwei Gegenstände ausgemacht wird. Rot tritt an den verschiedensten Dingen als Eigenschaft auf, aber doch an jedem für sich, ohne nach einem zweiten zu ver- langen; verschieden dagegen kann weder Rot noch ein Rotes allein sein, es mufs noch ein zweites hinzukommen und die Ver- schiedenheit kommt dann diesen beiden zusammen in einer ganz eigenen Weise zu, wie man sie eben nur beim Relat resp. bei der Relation antrifft. Anders, aber hinsichtlich der Pluralität der Determinanden verwandt, steht es beim Komplex: ein Paar zu sein, kommt natürlich weder dem Manne noch der Frau für sich zu, sondern nur beiden ; man sieht nebenbei, dafs es hier nicht auf das Wie, wie beim Relat, sondern auf das Was an- kommt. Von Eigentümlichkeiten dieser Art abgesehen ist nun aber das Objektiv „A und B ist R“ ein Soseinsobjektiv wie jedes andere. Auch sein Erfassen kann als Soseinsmeinen sich dar- stellen, nur, dafs dann das Gemeinte weder A für sich noch B für sich, sondern eben A und B zusammen ist. Daneben aber gibt es dann naturgemäfs auch ganz wohl ein Soseinsobjektiv, das das A allein oder auch das B allein mit dem Relat R ver- bindet, sobald dieser letztere durch das bezügliche andere Glied der Relation bestimmt ist. Ich kann von Rot nicht sagen, es


In den Grazer „Untersuchungen zur Gegenstandstheorie und Psycho- logie“, 8. 142 Anm. 2.

„Verschiedenheit“, sofern dies, wie oben (vgl. § 10) bemerkt, soviel besagt als „Verschiedensein“, ist die „Relation“ zu diesem Relat.

Vgl. E. Mally in Nr. III der Grazer „Untersuchungen zur Gegen- standsth. u. Psych.“, S. 185 f. 8

4 E - Mally, a. a. 0. 8. 130.

8 Nach R - Bwas, vgl. oben S. 269, Anm. 2.


284


Achtes Kapitel.


sei verschieden kurzweg, sehr wohl aber, es sei von Grün ver- schieden. Ebenso natürlich ist dann auch Grün von Rot ver- schieden; und auch Objektive dieser Art können dem Soseins- meinen zugrunde liegen , das diesmal wieder nur auf A resp. nur auf B gerichtet ist. Nichts ist alltäglicher und für die Erkenntnispraxis bedeutungsvoller als dieses Ergreifen eines Gegenstandes durch eine Relation hindurch, dem im Prinzip ohne Zweifel auch eine durch die Komplexion hindurch an der Seite steht. Ich habe diese Weise des Erfassens schon vor vielen Jahren 1 2 unter dem Namen des „indirekten Vorstellens“ dem gewöhnlichen Soseinsmeinen wie dem Seinsmeinen als „direktem Vorstellen“ entgegengesetzt: es spricht für die Wichtigkeit der Sache wie für die Natürlichkeit der von mir vorgeschlagenen Benennung, dafs sich für dieselbe Sache dasselbe Wort nun wiederholt bei Forschern einstellt, die eine Beeinflussung durch mich, wenn sie vorläge, sicher literarisch vermerkt hätten. -

Dies einmal ins Reine gebracht, steht nichts mehr im Wege, nun auch das unanschauliche Erfassen von „A und B , das in der R-Relation steht“ unter den Gesichtspunkt des Soseinsmeinens zu bringen. Natürlich stehen auch hier die erforderlichen Objek- tive positiver wie negativer Qualität ganz ohne Rücksicht auf die Beschaffenheit von A, B und R zur Verfügung, d. h. in un- anschaulicher Erfassungsweise sind auch hier alle Meinaufgaben ohne weiteres lösbar, was darin zur Geltung kommt, dafs man sie ohne weiteres versteht. Natürlich ändert sich auch nichts Charakteristisches an der Sachlage, wenn die Meinaufgabe in den möglichen anderen Formulierungen auftritt, indem etwa von „Verschiedenheit zwischen Rot und Grün“, oder „Rot, das von Grün verschieden ist“ oder dgl. geredet wird.

Speziell zur Angelegenheit des Gegensatzes von Anschaulich und Unanschaulich in beliebiger Anwendung mufs hier noch auf zweierlei hingewiesen werden. Zu Beginn dieses Kapitels schien sich zu ergeben, dafs dieser Gegensatz keinesfalls den Gegenstand betreffen könne, da günstigen Falles dasselbe sowohl anschaulich als unanschaulich zu erfassen ist. Wir wissen jetzt, seit uns der

1 Hume-Studien 2, S. 87 f . ; schon oben § 20 und § 40, war davon die Rede.

2 So bei K. Bühler, vgl. insbesondere dessen Habilitationsschrift „Über Gedanken“ (1907), S. 63 ff., wo sogar (S. 64) mein Vergleich vom „An- zeigen“ und „Ausführen“ (vgl. oben S. 252) anklingt.


Annahmen hei Komplexen. Weiteres über das Meinen.


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Unterschied näherer und entfernterer Gegenstände desselben In- haltes bekannt ist, dafs sehr wohl derselbe Gegenstand durch verschiedene Inhalte, deren entfernterer Gegenstand er ist, erfafst werden kann, wo bei den Inhalten naturgemäfs jedenfalls ver- schiedene nächste Gegenstände in Frage kommen. Was nun das anschauliche und unanschauliche Erfassen anlangt, so hat sich in der Tat herausgestellt, dafs von einer Verschiedenheit der Gegenstände hier wirklich insofern geredet werden mufs, als das eine Mal Seins-, das andere Mal Soseinsobjektive charakteristisch beteiligt sind. Nur der Gedanke an die Implikation der Soseins- objektive in das Seinsobjektiv des anschaulichen Erfassens er- öffnet eine gewisse Aussicht, den Schein so grofser Verschieden- artigkeit einigermafsen abzuschwächen. — Das andere, worauf hier nur ganz im Vorübergehen hingewiesen werden kann, ist dies, dafs durch das in diesem Kapitel Dargelegte nicht behauptet sein will, dafs man von anschaulich und unanschaulich nicht auch noch im Hinblick auf Gegensätzlichkeiten redet, die unter den Gegensatz von Seins- und Soseinsmeinen nicht ohne weiteres subsumierbar erscheinen. Wer dem Anschauen das begriffliche Denken gegenüberstellt, für den kann 1 leicht der Mangel an einem ,. anschaulichen Substrat“ mafsgebend sein, den er in letzterem Falle zu verspüren meint. Wie schon einmal berührt, steht die heutige Psychologie einer solchen Eventualität durchaus nicht mehr so ablehnend gegenüber, als es mir selbst einst sachgemäfs schien . 2 Es würde uns aber viel zu weit vom Vorwurfe dieser Untersuchungen abführen, wollten wir versuchen, auch dieser Seite des Anschaulichkeitsproblems hier nachzugehen.

Insofern aber die Untersuchungen der beiden letzten Kapitel doch zunächst die Aufgabe hatten, den Anteil der Annahmen am Erfassen der Gegenstände herauszustellen, wo es sich um das Meinen der letzteren handelt, ist unser Hauptergebnis nun kurz so zusammenzufassen : Dafs Vorstellungsinhalte und sonstige präsentierende Erlebnisse gegenständlich sind, bedeutet zunächst nur eine potentielle Gegenständlichkeit, die zur aktuellen wird erst durch Hinzutreten einer Aktivität, vermöge deren der be-

Soweit ihn dabei nicht schon die normalerweise komplexe Natur dos dann ganz im bisherigen Sinne „unanschaulich“ erfafsten Begriffsgegen- standes bestimmt, vgl. G. Spengleb, „Meinongs Lehre von den An- nahmen usw.“, Wiener Gymnasialprogramm 1903, S. 12.

2 HüME-Studien I.


286


Achtes Kapitel.


treffende Gegenstand als Material eines Objektivs erfafst, d. h. gemeint wird. Und zwar läfst sich jeder Inhalt resp. jedes präsentierende Inhaltsäquivalent zum Ergreifen seines nächsten Gegenstandes verwenden , was durch Seinsmeinen geschieht. Aufserdem aber kann der betreffende Inhalt oder Quasiinhalt auch noch durch Soseinsmeinen auf entferntere Gegenstände gerichtet werden. Seins- wie Soseinsmeinen ist als unmittelbares Erfassen von Objektiven Urteil oder Annahme. Vielfach ist beim Seins- wie Soseinsmeinen durch die besondere Sachlage das Ur- teilen ausgeschlossen: hier ist das Meinen dann ausschliefslich auf das Annehmen angewiesen. Sofern man dagegen ein Recht hat, auch jedes Urteil als ein Erlebnis zu betrachten, das einen Annahmetatbestand sozusagen a potiori impliziert, insofern könnte man auch sagen: alles Meinen ist in letzter Linie Annehmen, und das Annehmen ist überall anzutreffen, wo Gegenstände, sei es nächste, sei es entferntere, intellektuell erfafst werden.


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Neuntes Kapitel.

Zur Begelmmgs- und Wertpsychologie.


§ 47 .

Vorbemerkung.

Wir haben im fünften Kapitel gesehen, dafs eine Annahme jedem Begehrungsakte als dessen „psychologische Voraussetzung“ ebenso oder doch, um Widerstrebungen nicht ganz unberücksichtigt zu lassen, fast ebenso gewifs wesentlich ist als das Gerichtetsein auf ein Objektiv. Dies gilt zunächst nur von der sozusagen fertigen Be- gehrung, legt aber die Frage nahe, ob die Annahme nicht bereits an der entstehenden Begehrung beteiligt sein möchte. Dabei mag der eben wieder gebrauchte Ausdruck „psychologische Vor- aussetzung“, dessen Einführung 1 geradezu den Zweck hatte, innerhalb statthafter Grenzen eine gewisse Unbestimmtheit in der Betrachtungsweise zu ermöglichen, darauf hinweisen, dafs es sich hier nicht darum handelt, den Gegensatz des Zugleich und Nacheinander bis zur äufsersten Strenge zu urgieren. Sowie es in betreff des Verhältnisses zwischen Vorstellungen und Gefühlen, auf das ich die in Rede stehende Bezeichnungsweise zuerst an- gewendet habe, dem Wesen der psychologischen Voraussetzung keineswegs entgegen ist, dafs eventuell Vorstellung und Gefühl gleichzeitig auftreten, so braucht, wer die Annahme als psycho- logische Voraussetzung der Begehrung in Anspruch nimmt, es durchaus nicht für ausgeschlossen zu halten, dafs unter Umständen das Objektiv resp. die es tragende Annahme mit der Begehrung zugleich „ins Bewufstsein“ tritt. Gegenwärtig aber handelt es sich ausschliefslich um jene Fälle, wo das Objektiv bereits früher gegeben ist als die dann darauf gerichtete Begehrung, und wo der Denkakt, durch den das Objektiv gegeben ist, als Teilursache


1 Vgl. meine „Psychol.-eth. Untersuchungen zur Werttheorie“, S. 34.


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Neuntes Kapitel.


für das Zustandekommen der Begehrung, in diesem Sinne also als Begehrungsmotiv angesehen werden mufs. Dafs dieser Denk- akt unter normalen Umständen wieder nichts anderes sein kann als eine Annahme, ist ungefähr ebenso einleuchtend, als es sich uns oben als sachgemäfs herausgestellt hat, für die bereits exi- stierenden Begehrungen Annahmen in Anspruch zu nehmen ; und es wäre überflüssig, bei dieser Sache besonders zu verweilen, träte an dieser Stelle die Angelegenheit der Annahmen nicht in Beziehung zu dem vielverhandelten Problem der Begehrungs- motivation, ja durch dieses hindurch zu dem noch fundamen- taleren Problem von der Natur der Begehrung, — und käme nicht auch in diesem Zusammenhänge der Gewinn zur Geltung, der für die Psychologie in der Erkenntnis liegt, dafs es Annahmen gibt. Es ist insofern keine Abschweifung vom Hauptthema, oder mindestens keine schwerer zu rechtfertigende als es die Unter- suchungen vorhergehender Kapitel waren, wenn im folgenden etwas näher auf einige Fragen der Begehrungs- und Gefühls- psychologie eingegangen wird.

Immerhin wird aber der Eindruck, als verliefsen wir den Gegenstand der Hauptuntersuchung, diesmal in besonderem Mafse zu besorgen sein. Denn die theoretische Aufgabe, der ich durch die folgenden Darlegungen etwas näher treten möchte, findet ihren herkömmlichen Ausdruck in der Frage nach dem Anteil des Gefühls an den Begehrungen. Um aber zu würdigen, was die Annahmen in dieser Richtung zu leisten vermögen, ist von einiger Rücksichtnahme auf den Stand der Theorie, wie er sich ohne Heranziehung der Annahmen ergeben hat, nicht wohl ab- zusehen. Immerhin denke ich nicht daran, alle in Frage kommenden Möglichkeiten hier auch wirklich zu erwägen ; in der Hauptsache genügt der Hinweis auf die einschlägigen Dar- legungen Chr. von Ehrenfels’ 1 , die sich zudem in wesentlichen Punkten mit den kritischen Ausführungen berühren, durch die ich bereits in Universitäts Vorlesungen aus der ersten Hälfte der achtziger Jahre 2 meinen damaligen Standpunkt zu präzisieren

1 Zuerst in der Schrift „Über Fühlen und Wollen“, Wien 1887, dann in der Umarbeitung dieser Schrift, die in den ersten Band des „Systems der Werttheorie“ aufgenommen ist. Es dürfte so ziemlich für alle Zwecke ausreichen, auch wohl den Intentionen des Autors am besten entsprechen, wenn man sich an diese zweite Bearbeitung hält.

2 Insbesondere im Wintersemester 1884/85.


Zur Begelirungs- und Wertpsychologie.


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bestrebt war. Dabei nehme ich gern die Gelegenheit wahr, die ■ablehnende Stellung gegenüber Ehbeneels’ Lösungsversuch, zu der ich mich bereits vor Jahren bekannt habe \ wenigstens den Hauptgedanken dieses Versuches gegenüber zu begininden. Zu diesem Ende wird schon gelegentlich aut die Annahmen ausdrück- lich Bezug zu nehmen sein ; immerhin sei aber im Interesse des- jenigen Lesers, der von der Unhaltbarkeit des „Gesetzes der relativen Glücksförderung“ und seiner Konsequenzen sich bereits selbst überzeugt hat oder sonst abgeneigt ist, im gegenwärtigen Zusammenhänge auf diese Sache einzugehen, darauf hingewiesen, dafs die auf die Ablehnung einer solchen Gesetzmäfsigkeit ge- stützte Fortführung der die Annahmen ausdrücklich betreffenden Untersuchung mit § 53 anhebt.

§ 48.

Das Begehren als „relativ glückfördernde“

Vorstellung.

Dafs das Begehren in seinem Auftreten eng an das Fühlen geknüpft sei, das gilt der Vulgärpsychologie als eine selbstver- ständliche Sache. Nichts scheint natürlicher, als dafs ich begehre, was mich und weil es mich erfreut; und man sollte daraufhin vermuten, der psychologischen Theorie mtifste es ein Leichtes sein, in ausreichender Strenge die Gesetzmäfsigkeit zu formulieren, die sich bereits der aufsertheoretischen Beobachtung so ungesucht aufgedrängt hat. Inzwischen sind der theoretischen Bearbeitung

1 Psych.-etli. Unters, zur Werttheorie, S. 10 Anm.

2 Einen dem Endergebnisse nach übereinstimmenden Standpunkt hat inzwischen auch H. Schwarz eingenommen in der Abhandlung „Die empi- ristische Willenspsychologie und das Gesetz der relativen Glücksförderung“, Vierteljahrsschr. f. wiss Philos., Jahrgang 1899, S. 205 ff. Ehrenfels’ „Ent- gegnung“ findet sich in demselben Bande der Vierteljahrsschrift, S. 261 ff. Vgl. nun auch H. Schwarz, „Psychologie des Willens“, S. 155 ff. Hoch liegen die in dieser Kontroverse berührten Dinge mir teilweise, wenigstens subjektiv, als Grundlage für die Würdigung der EHRENFELSschen Position ferner; teilweise scheinen Schwarz’ Angriffe auch mir nicht einwurfsfrei. Dies gilt aber nicht von der Unanwendbarkeit der EHRENFELSschen Auf- fassung auf Widerstrebungen, auf die hingewiesen zu haben (vgl. Schwarz in der Vierteljahrsschr. a. a. 0. S. 220f.) ich für ebenso richtig als -wichtig halte, nur dafs in dieser Unanwendbarkeit Ehrenfels selbst bei seiner An- sicht von den Widerstrebungen (vgl. oben S. 164 f. Anmerkung 3) keinen Mangel erblicken kann.

Meinong, Über Annahmen, 2. Aufl.


19


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Neuntes Kapitel.


hier unerwartete Hindernisse in den Weg getreten; insbesondere wollte es bisher immer noch nicht gelingen, in betreff der Relation, in der sich hier Fühlen und Begehren beisammen befinden, einen befriedigenden Aufschlufs zu gewinnen. Mag man Lust als das einzige „eigentliche“ Begehrungsobjekt auf- fassen, oder von dem sonst wie immer beschaffenen Begehrungs- objekt verlangen, seine Vorstellung müsse stets von Lust oder von der Aussicht auf die im Verwirklichungsfalle zu gewärtigende Lust begleitet sein, mag man es vollends mit irgend einer Art Wesensidentität zwischen Fühlen und Begehren überhaupt ver- suchen, immer gerät man mit gerechten Forderungen, sei es der Empirie, sei es der Theorie in unvermeidlichen Konflikt. Dafs unter solchen Umständen einem Versuche, neue Wege einzu- schlagen, die äufsere Berechtigung nicht abzusprechen ist, steht aufser Zweifel : einen solchen V ersuch hat Ehrenfels durch Auf- stellung seines „Gesetzes der relativen Glücksförderung“ tat- sächlich gemacht, und es gilt nun, zu demselben in betreff seiner inneren Berechtigung Stellung zu nehmen. Als Substrat der nachfolgenden kritischen Erwägungen setze ich hierher vor allem die einschlägigen Hauptgedanken in der Form, in der sie mir zu eigen zu machen, mir am besten gelungen ist. Von der Meinung des Autors hoffe ich dabei nicht abzuweichen : sollte es mir gleichwohl wider Willen begegnet sein, so sei betont, dafs es mir bei der folgenden Polemik so wenig wie bei anderen literarischen Diskussionen der letzten Jahre 1 um eine Würdigung persönlicher Leistungen, sondern ausschliefslich um die Erkenntnis der Sache zu tun ist, so dafs Unrichtigkeiten in der Wiedergabe hier nur insofern in Betracht kämen, als die zu erwägende Position dadurch geschwächt würde.

Was das Begehren mit dem Gefühl zu tun hat, die Weise also, in der diese beiden Erlebnisse miteinander verbunden auf- treten, erfährt durch Ehrenfels selbst die nachstehende 1 ormu- lierung: Jeder Akt des Begehrens „fördert bei seinem Eintritte den Glückszustand im Vergleiche zu demjenigen Zustand, wie er für den Fall des Ausbleibens des betreffenden Aktes sich ein-


1 Vgl. „Über Gegenstände höherer Ordnung usw.“ a. a. 0. S. 183, 205; übrigens auch „Abstrahieren und Vergleichen“ in Bd. XXI \ derselben Zeitschrift S. 35, und „Über die Stellung der Gegenstandstheorie usw.“,. Vorwort.


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Zur Begehrungs- und Wertpsychologie.

stellen würde“. 1 Unter „Glücksförderung“ ist sowohl Steigerung des Lust- als Herabsetzung des Unlustzustandes des Begehrenden zu verstehen. Der an sich vielleicht nicht sehr deutliche Beisatz „relativ“, demgemäfs das in Rede stehende Gesetz eben „Gesetz der relativen Glücksförderung“ benannt ist , soll darauf auf- merksam machen, dafs nicht eine Förderung im Vergleich mit dem der Begehrung unmittelbar vorhergehenden wirklichen, sondern eine Förderung im Vergleich mit einem dem Begehren gleichzeitigen, aber nicht wirklichen sondern nur hypothetischen Zustand des Begehrenden gemeint ist, dem Zustande nämlich, wie er ohne Eintreten des Begehrens und an dessen Statt sich hätte einstellen müssen.

Nun geht es aber nicht wohl an, sich mit diesem Gesetze zu beschäftigen, ohne der psychologischen Perspektive zu gedenken, die es zu eröffnen scheint, der Aussicht nämlich auf eine Art Analyse des Begehrens und ein darauf sich stützendes tieferes Eindringen in das Wesen desselben. Erwägungen wie die nach- stehenden sollen zu diesem Ziele führen.

Vor allem läfst sich im Sinne Ehuenfels’ an den Begeh- rungen das Moment noch näher bezeichnen, an dem ihre im obigen Gesetze konstatierte glückfördernde Bedeutung hängt. Was man begehrt, wird nicht „schlechthin“ sondern ausdrücklich als wirklich oder nicht- wirklich vorgestellt, genauer: es wird in das „Kausalgewebe der subjektiven Wirklichkeit“ „ein- resp. ausge- schaltet“. 2 Die Vorstellung dieser Ein- oder Ausschaltung ist es nun, die glückfördernd wirkt, was übrigens nicht ausschliefsen soll, dals „beim positiven Begehren . . . meist auch schon mit der schlechthinigen Vorstellung des Objektes eine relative Glücks- förderung verbunden“ ist. Und auch umgekehrt läfst sich sagen : „Überall wo die Vorstellung der Ein- oder der Ausschaltung eines Objektes in die oder aus der subjektiven Wirklichkeit eine relative Glücksförderung mit sich führt, ist auch ein — positives oder negatives — Begehren vorhanden“. 8 Solches Zusammen-


' n System der Werttheorie“, Bd. I, S. 32. Dem ganzen Wortlaute nach handelt der angeführte Satz freilich nur vom „Streben und Wollen“, indes der Autor mit Recht auch das Wünschen unter die Begehrungen einbegreift. Dals das Gesetz aber auch für das Wünschen und sonach für alles Be gehren gelte, findet sich ausdrücklich betont a. a O S 39 f s A. a. 0. S. 217 f.

' 1 Ebenda S. 219.


19 *


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Neuntes Kapitel.


treffen läfst die Identität der zusammentreffenden Tatbestände vermuten und für diese Vermutung finden sich noch die folgenden Bekräftigungen.

Man wird nicht von Begehren reden, wenn das, was man so nennt, sich nicht gegenüber Konkurrierendem im Bewufstsein behauptet; auch der Motivenkampf kommt in der Weise zur Entscheidung, dafs das betreffende Begehrungsobjekt entweder sich behauptet oder verdrängt wird . 1 Nun kennt Ehrenfels aber Gesetzmäfsigkeiten, welche gestatten, diese Fähigkeit der Begehrungen, sich zu behaupten, einerseits dem Momente der Ein- oder Ausschaltung, andererseits dem der Glücksförderung zuzuschreiben und so diese beiden Eigenschaften der Begehrungen als deren wesentlichen Kern darzutun.

Eine dieser Gesetzmäfsigkeiten statuiert Ehkenfels abermals unter dem Namen eines „Gesetzes der relativen Glücksförderung“ 2 , obwohl sie von dem oben so genannten unbeschadet der Mög- lichkeit, dafs die Anwendungsgebiete der beiden Gesetze teilweise Zusammentreffen könnten, völlig verschieden ist. Das erhellt angesichts der von Ehbenfees vertretenen Begehrungstheorie weniger daraus, dafs sich dieses neue Gesetz als Vorstellungs- gesetz präsentiert, als daraus, dafs dadurch nicht, wie im ersten Gesetze dieses Namens, einer bestimmten Klasse von Tatsachen die Eigenschaft zugesprochen erscheint, glückfördernd zu sein, vielmehr für gewisse glückfördernde Tatsachen, die glückfördern- den Vorstellungen nämlich, die Eigenschaft in Anspruch ge- nommen wird, anderen Vorstellungen gegenüber sich in einer Vorzugsstellung zu befinden, und zwar nicht so sehr in betreff ihres Auftauchens als ihres Verbleibens im Bewufstsein. „Die angenehmeren Vorstellungen erhalten einen Kraftzuschufs im Kampf um die Enge des Bewufstseins“ 3 : das ergibt nicht nur die direkte Empirie, sondern „auch physiologisch läfst sich das Gesetz von der relativen Glücksförderung als ein gleichsam in der Natur der Sache gelegenes begreifen “. 4

Ganz Ähnliches wie von den glückfördernden Vorstellungen gilt nun ferner von solchen, deren Objekte als wirklich oder nicht


1 Vgl. a. a. 0. S. 231 ff. und später.

2 Ausdrücklich so bezeichnet z. B. S. 191 f.

  • A. a. 0. S. 190.

4 Ebenda S. 195 ff.


Zur Begehrungs- und Wertpsychologie.


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wirklich vorgestellt, also in „das Kausalgewebe der subjektiven Wirklichkeit ein- oder ausgeschaltet“ werden. Auch ihnen kommt ein „Kraftzuschufs“ zu nach dem Gesetze, „dafs die Phantasie in besonderer Weise an demjenigen haftet, welches als mit dem stets gegenwärtigen Komplex der Ich- Vorstellung in kausaler Ver- bindung stehend vorgestellt wird “. 1 Man täte unrecht, darin eine Wirkung des Urteils zu sehen, da dieses auch fehlen kann, der Einflufs des Urteils aber „immer über den Weg einer Ein- oder Ausschaltung in oder aus dem Kausalgewebe der subjektiven Wirklichkeit“ geht . 2

Hat sonach ganz allgemein sowohl Glücksförderung als jene Ein- oder Ausschaltung stets Kraftzuschufs zu bedeuten, haben wir ferner bei den Begehrungen sowohl Glücksförderung als Ein- oder Ausschaltung angetroffen, so erscheint es nun auch nicht gewagt, diesen Faktoren jene Widerstandskraft beizumessen, die sich gleichfalls an den Begehrungen aufweisen liefs. In diesen Faktoren aber geradezu das ganze Wesen des Begehrens zu sehen, dazu findet sich unser Autor durch „fast unüberwind- liche Schwierigkeiten“ genötigt, die der Anerkennung eines eigenartigen Begehrungstatbestandes entgegenstehen sollen 3 , so- wie durch den Umstand, dafs die innere Wahrnehmung für einen solchen Tatbestand das Zeugnis versagt. Ehrknfels fafst dem gern äfs seinen Standpunkt in die Worte zusammen : „Ein besonderes psychisches Grundelement „„Begehren““ (Wünschen, Streben oder Wollen) gibt es nicht. Was wir Begehren nennen , ist nichts anderes , als die — eine relative Glücks- förderung begründende Vorstellung von der Ein- oder Aus- schaltung irgend eines Objektes in das oder aus dem Kausal- gewebe um das Zentrum der gegenwärtigen konkreten Ich- Vor- stellung “. 4


§ 49 .

Das Zeugnis der inneren W a h r n e li m u n g.

Ich beginne die kritische Erwägung des Dargelegten mit einem kurzen Hinweise auf die eben erwähnten drei „Schwierio--

— — . £5

1 A. a. 0. S. 205.

2 Ebenda S. 207.

1 A- a. 0. S. 245 ff. Auf die Natur dieser Schwierigkeiten, — unser Autor zahlt deren drei auf, — kommen wir sogleich unten zurück 1 A. a. 0. S. 248 f.


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Neuntes Kapitel.


keiten“, denen übrigens auch unser Autor nur eine ganz vorüber- gehende Behandlung zuteil werden läfst. Dafs das Begehren des Mittels um des Zweckes willen vom Urteil über den Zu- sammenhang zwischen Zweck und Mittel abhängig ist 1 , das ist, soviel ich sehe , keine Schwierigkeit , sondern eben Tatsache. Ist ferner das Begehren, wenn es nicht gemäfs der von Ehren- eels vertretenen Ansicht einem Teile seines Wesens nach rela- tive Glücksförderung ist, doch jedenfalls von dieser abhängig, so mag es immerhin befremdlich erscheinen, wie diese eben blofs „relative“ Glücksförderung, also „die Differenz zwischen einem tatsächlichen und einem nur möglichen Gefühlszustande, einem tatsächlichen Element, einem aktuellen psychischen Phänomene Existenz und Intensität verleihen sollte “. 2 Aber es ist nicht abzusehen, warum für diese Schwierigkeit gerade derjenige auf- kommen müfste, der für die Existenz besonderer Begehrungs- akte eintritt, und nicht der, dessen Darlegungen jenes „Gesetz“ der relativen Glücksförderung erst glaubhaft machen sollen. Ebenso mag, wer Glücksförderungs- und Kraftzuschufsgesetze im oben dargelegten Sinne für erwiesen hält, sich die Frage vorlegen, ob dann das, was man gewöhnlich für Willenserfolge nimmt, überhaupt noch einer besonderen Ursache bedarf . 3 Wen aber Ehrenfels’ Ausführungen eben nicht überzeugt haben, der wird auch hierin keine Schwierigkeit erblicken, mit der sich abzufinden, ihm obläge.

Nicht zu übergehen ist dagegen natürlich das Zeugnis der inneren Wahrnehmung, und ich darf in dieser Hinsicht vor allem nicht unterlassen, zu betonen, dals dieses Zeugnis für mich ganz anders lautet als für unseren Autor. Freilich, dafs das Begehren einfach oder unzurückführbar sei, das sagt die innere Wahrnehmung mir so wenig, als sie sonst jemandem derlei Aufschlüsse zu geben imstande wäre. Dafs aber an dem Bilde, das mir die innere Wahrnehmung von meinem Begehren entwirft, von der „glückfördernden Ein- oder Ausschaltung ganz erstaunlich wenig zu erkennen ist, das darf nicht ungesagt bleiben. Darin liegt natürlich für mich sehr viel, für den Gegnei aber allerdings sehr wenig Überzeugendes, und es darauf hin so-


1 Vgl. a. a. 0. 8. 245 f.

2 A. a. 0. S. 24ß.

3 A. a. O. S. 247 f.


Zur Begehrungs- und Wertpsychologie.


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gleich damit zu versuchen , die Psychologie des gegnerischen Irrtums zu konzipieren, schiene mir doch nur in besonderen Aus- nahmen ein statthaftes Vorgehen.

Angesichts dieser Sachlage, die jedem als unüberwindliches Verständigungshindernis nur zu wohl bekannt ist, darf es als ein besonderer Glücksfall gelten, wenn der Appell an die innere Wahrnehmung nun doch eine diskutierbare Seite aufweist. Sie scheint mir darin zu liegen, dafs auch der Gegner kaum in Ab- rede zu stellen geneigt sein wird und der Erfahrung gegenüber auch nicht wohl in Abrede stellen kann, dafs uns normalerweise die innere Wahrnehmung vom Vorhandensein unserer Begeh- rungen Kenntnis gibt. Dies könnte aber in keinem einzigen Falle geschehen, wenn Ehkenfels’ Charakteristik des Begehrens zuträfe, näher, wenn jene „relative Glücksförderung“ ein Kon- stitutivum des Begehrens ausmachte. Es wurde oben 1 eine Stelle wiedergegeben, aus der erhellt, wie unser Autor selbst diese Glücksförderung als Differenz zwischen einem Wirklichen und einem Möglichen beschreibt; auch sonst wird oft und nachdrück- lich genug auf die in diesem besonderen Sinn „relative“ Natur der hier in Frage kommenden Glücksförderung hingewiesen. Was aber nicht wirklich sondern nur möglich ist, genauer, .was unter Umständen stattfinden mtifste, die tatsächlich nicht ver- wirklicht sind, darüber gibt die innere Wahrnehmung natürlich keinen Aufschlufs.

Und was hat nun die in Rede stehende Ansicht an die Stelle der sonach von ihr ausgeschlossenen Wahrnehmbarkeit der Be- gehrungen zu setzen? Um zu einer Überzeugung darüber zu gelangen, ob in einem bestimmten Falle „relative Glücksförde- rung“ vorliege oder nicht, dazu werden Überlegungen erforder- lich sein, von denen leicht vorherzusehen ist, dafs sie sich minde- stens in vielen Fällen recht kompliziert gestalten müfsten. Ehren- fels selbst, dem die vorliegende Frage keineswegs fremd ist, beantwortet sie durch den Hinweis darauf, „dafs wir gelegent- lich des Auftauchens“ der die betreffenden Begehrungen aus- machenden „Vorstellungen im Bewufstsein sowie auch der Schwankungen an Lebhaftigkeit und Anschaulichkeit, denen sie vermöge der steten Störungen des Gleichgewichtes in den ander- weitigen 1 endenzen des Vorstellungslaufes ausgesetzt sind, eine


1 Vgl. S. 290.


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Neuntes Kapitel.


parallelgehende Veränderung in unserem absoluten, aktuellen Glückszustand beobachten “. 1 Damit aber wäre fürs erste das Begehrungsgesetz der „relativen Glücksförderung“ wenigstens für alle Fälle wahrnehmbaren Begehrens in ein Gesetz der „ab- soluten Glücksförderung“ übergegangen. Dann aber müfste, wer wissen wollte, ob er begehre oder nicht, einen Vergleich zwischen seinem jetzigen und seinem früheren Lustzustande anstellen. Nun weifs aber normalerweise niemand von solchen oder sonstigen Überlegungen, wenn er sich übrigens auch seines Be- gehrens gar wohl bewufst ist. Ich kann nicht umhin, durch das Gesagte die Sache der EHRENFELs’schen Begehrungstheorie be- reits für entschieden zu halten.

§ 50 .

Das Vorstellungsgesetz der „relativen Glücks- förderung“.

Wenden wir uns nun aber ganz ausdrücklich den beiden „Glücksförderungs“-Gesetzen zu und zwar zunächst dem auf das Vorstellen bezüglichen, das zugleich, in gewissem Sinne sogar deutlicher, als ein „Kraftzuschufs“- Gesetz zu bezeichnen wäre. Natürlich kommt das eben berührte Verhältnis aller „relativen Glücksförderung“ zur direkten Empirie auch hier im Sinne eines die Feststellung der Induktionsinstanzen erschwerenden Um- standes in Betracht ; aber mehr als eine Erschwerung liegt hier nicht darin, da die Instanzen ja möglicherweise auf einem in- direkten Wege zu gewinnen sind. Wirklich beruft sich Ehren- fels darauf, „dafs immer die angenehmeren resp. weniger unan- genehmen Phantasievorstellungen länger an dauern, als man es lediglich vom Standpunkte der Gewöhnung und Ermüdung aus erwarten sollte“, und dafs dieselben „sich auch ohne einen hierauf gerichteten inneren Willensakt länger und lebhafter erhalten, als unter übrigens gleichen Umständen die gleichgültigen oder gar die unangenehmen“ Vorstellungen . 2 Wer aber über diese an sich schon offenbar nicht ganz einfachen Sachverhalte gern noch etwas näheren Aufschlufs hätte, erhält darauf im 'S oraus einen nicht eben vielversprechenden Bescheid. „Es wäre über-


1 System der Werttheorie, Bd. I, S. 252.

2 A. a. 0. S. 189 f.


Zur Begehrungs- und Wertpsychologie.


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flüssig 1 ', fährt der Autor fort x , „für dieses Gesetz von allum- fassendster Bedeutung Beispiele anzuführen; wer dasselbe auf Grund seines psychologischen Überblickes anzuerkennen sich gezwungen sieht, dem werden sich solche in Fülle ergeben, und wer es leugnet, der wird durch Beispiele nicht überwiesen werden; denn der einzelne Fall vermag nichts anderes zu zeigen, als dafs diese und jene relativ angenehme Vorstellung so und so lange im Bewufstsein verbleibt. Dafs sie nicht so lange ver- bleiben könnte, wenn sie nicht angenehm wäre, — diese Über- zeugung kann nur auf Grund jener weitausblickenden, auf der psychologischen Phantasie beruhenden Induktion gewonnen werden, welche jeder für sich besorgen mufs“. Die „psycho- logische Phantasie“ in allen Ehren : aber die summarische Be- rufung auf sie möchte in einem Falle denn doch allzu summa- risch sein, in dem der Autor selbst nachträglich auf Gegen- instanzen aufmerksam zu machen hat, von denen er sicher zu- geben wird, dafs sich mindestens darüber streiten lasse, ob es ihm gelungen sei, sie zu beseitigen oder nicht.

Näher handelt es sich auch da um die Würdigung ziemlich alltäglicher Tatsachen. Jeder hat an sich bereits erfahren, dafs sich nicht nur Angenehmes sondern auch Schmerzliches mit grofsem Nachdruck aufdrängen und behaupten kann. Melancho- lisch Disponierte verweilen auffallend oft und lang bei trüben Gedanken. Auch dafs man von Vorstellungen „geplagt“ werden kann, für die das Attribut „schmerzlich“ viel zu gut wäre, die aber um so gewisser für lästig bis zur Unerträglichkeit gelten dürfen, hat jedermann oft genug erfahren. Ehreneels’ Inter- pretation des Verhaltens des Melancholikers mag dahingestellt bleiben: er meint, einem solchen wären eben die trüben Ge- danken angenehm' 2 ; ich kann mich schwer der Vermutung entschlagen, die heiteren Gedanken möchten ihm doch noch an- genehmer sein, wenn er die trüben nur erst los werden könnte. Dagegen kann an Ehreneels’ Stellungnahme zu den beiden anderen Punkten hier nicht vorübergegangen werden, ohne auf die Besonderheit dieser Stellungnahme ausdrücklich hinzuweisen. Es wird von unserem Autor für solche Fälle eben eingeräumt, dafs „die von der relativen Glücksförderung herstammenden Einwirkun-


1 A. a. 0. S. 190.

2 A. a. 0. S. 194,


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Neuntes Kapitel.


gen oft paralysiert“ werden, und vermutet, „dafs es aufser den be- kannten noch andere wahrscheinlich rein physiologische Teil- ursachen gibt, welche den Vorstellungslauf beeinflussen “. 1 Der- gleichen Möglichkeiten in Aussicht zu nehmen, ist an sich gewifs ganz einwandfrei, wenn man es etwa mit einem so sichergestellten Gesetze zu tun hat, wie dem Gravitations- oder Trägheitsgesetz, auf deren Analogie sich Ehbenfels beruft. Fliegt ein Stein nach aufwärts, so werde ich freilich daraufhin am Fallgesetze noch nicht irre werden, zumal wenn ich schon etwas vom Werfen gehört habe. Aber beim „Gesetze der relativen Glücksförderung“ gilt es ja eben erst festzustellen, ob es dergleichen überhaupt gibt, und da läfst sich die uns vorliegende Beweisführung wohl in die nachstehende Formel fassen: Es gibt Erfahrungen, die für ein solches Gesetz sprechen; es gibt freilich auch solche, die da- gegen sprechen : diese letzteren werden aber anders, in einer vor- erst noch unbekannten Weise zu deuten sein und verschlagen darum nichts. Bei dieser Lage der Dinge 2 wird denn doch wohl eine nähere Untersuchung abzuwarten sein, ehe man sich ent- scheidet.

Den Anfang einer solchen Untersuchung finde ich in der Ab- handlung „Über den Einflufs der Gefühle auf die Vorstellungs- bewegung“ von R. Saxingeb 3 , der sein Ergebnis in dem Satze for- muliert: „Das längere Beharren der Vorstellungen und das öftere Auftauchen derselben im Bewufstsein beruht . . . , insoweit über- haupt Gefühle in Betracht kommen, stets auf einer Einwirkung aktueller Gefühle. Diese Einwirkung geht sowohl von Lust- als auch von Unlustgefühlen aus. Und zwar sind die Lustgefühle in dieser Beziehung nicht anders gestellt als die Unlustgefühle. Nicht die Qualität, sondern die Intensität der Gefühle ist das für den Einflufs der Gefühle auf die Vorstellungsbewegung mafs- gebende Moment “. 4 Die Akten werden durch diese Aufstellung voraussichtlich noch nicht geschlossen sein: doch kann ich für jetzt nicht umhin, dieses Ergebnis den mir bekannten latsachen


1 A. a. 0. S. 194.

2 Die an sich recht ansprechend konzipierte physiologische Hypothese S. 195 ff. ist natürlich kein Beweis. Auch möchte ich ihre Würdigung lieber dem physiologischen Fachmanne überlassen.

1 Zeitschrift für Psychologie 27, S. 18 ff.

4 A. a. O. S. 28.


Zur Begehrungs- und Wertpsychologie.


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erheblich gemäfser zu finden als das Vorstellungsgesetz der „relativen Glücksförderung“ .


§ 51.

Das Begehrungsgesetz der „relativen Glücks- förderung“.

Nach dem Vorstellungsgesetze von der relativen Glücks- förderung ist nun auch das Begehrungsgesetz von der relativen Glücksförderung einer kurzen kritischen Erwägung zu unter- ziehen. Die sozusagen methodologische Schwierigkeit, dafs wir strenggenommen in keinem einzigen Falle völlig sicher wissen, ob „relative“ Glücksförderung wirklich vorliege, hat natürlich auch hier ihre Anwendung. Indes mag in diesem Falle das Auskunfts- mittel gelten, dafs von absoluter Glücksförderung doch wohl auf relative geschlossen werden darf. Ist uns also während der Be- gehrung besser zumute als vor derselben, dann mag ja wirk- lich im ganzen wenig Triftiges gegen die Vermutung zu sagen sein, dafs es wohl auch mit der relativen Glücksförderung seine Richtigkeit haben werde, d. h. dafs es uns zur Zeit der Be- gehrung ohne diese minder gut zumute wäre als tatsächlich der Fall ist: wir haben ja überdies bereits gesehen 1 , dafs unser Autor in betreff der Begehrungswahrnehmung von diesem Ge- sichtspunkte Gebrauch macht.

Aber wenn so tatsächlich nur die absolute Glücksförderung empirisch greifbare Instanzen darbietet, warum handelt das Ge- setz nicht von der absoluten Glücksförderung, warum vielmehr gerade von dem, was der Empirie gar nicht zugänglich ist? Was damit gewonnen wird, läfst sich freilich leicht sagen: es ist die Möglichkeit, dort, wo ein Begehren ohne absolute Glücks- förderung auftritt, immer noch einen dem Gesetze günstigeren Sachverhalt in betreff der relativen Glücksförderung zu ver- muten. Wirklich ist man so davor gesichert, durch die Em- pirie widerlegt zu werden. Wird aber solcher Mangel an Gegen- instanzen nachdrücklicher zugunsten des Gesetzes sprechen, als es etwa für eine Theorie der Farbenempfindungen sprechen mag, wenn ein Blinder keine ihr entgegenstehenden Erfahrungen aufzuweisen hat?


1 Vgl. oben S. 295 f.


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Neuntes Kapitel.


Was also zugunsten unseres Gesetzes vorliegt, wird am Ende doch nur etwa in die Form folgender Erwägung zu bringen sein: Es gibt Begehrungen, die ziemlich wahrscheinlich mit relativer Glücksförderung Zusammengehen; das sind die Be- gehrungen mit absoluter Glücksförderung. Man mag daraufhin die Eventualität eines Gesetzes relativer Glücksförderung ins Auge fassen. Es gibt aber auch Begehrungen ohne absolute Glücksförderung : dafs sie auch ohne relative Glücksförderung wären, läfst sich nicht wohl behaupten, freilich hauptsächlich deshalb, weil wir zurzeit überhaupt kein rechtes Mittel in der Hand haben, über relative Glücksförderung anders als auf dem Umwege über die absolute Glücksförderung etwas zu erkennen. Die Möglichkeit eines Gesetzes der relativen Glücksförderung kann also immerhin in Erwägung gezogen werden: es aber einigermafsen wahrscheinlich zu machen, möchte unter diesen Umständen auf alle Fälle recht schwer halten.

Natürlich wird für denjenigen, der trotz so ungünstiger Sachlage sich doch gern eine Ansicht bilden möchte, die relative Häufigkeit der dem vermuteten Gesetze günstigen Fälle gegen- über den uncharakteristischen Fällen von Belang sein: Näheres hierüber aber hat unser Autor, der gerade in dieser Sache über- haupt mit dem Hinweis auf konkrete Tatsachen sehr zurück- haltend ist, meines Wissens beizubringen unterlassen. Nun ist ein aus dem Ganzen der persönlichen Erfahrungen ohne theoretische Hilfsmittel versuchter Überschlag hier gewifs eine nichts weniger als vertrauenswürdige Sache. Soll ich gleichwohl einen wagen, so kann ich das Ergebnis dem in Rede stehenden Gesetze keines- wegs günstig finden. Mir begegnen ja ohne Zweifel Begehrungen mit „absoluter Glücksförderung“, also in gewöhnlicher Redeweise ausgedrückt solche Begehrungen, die von einem Gefühle der Befriedigung oder dgl. begleitet sind, das man mit der Begehrung in Zusammenhang zu bringen keinen Anstand nehmen wird. Es scheinen zumeist Fälle zu sein, wo die gewöhnliche Auffassung in der Begehrung selbst einen Schritt zur Verwirklichung des Be- gehrens sieht und daraufhin diese Verwirklichung hofft, also zu- nächst beim zuversichtlichen Wollen. Es gibt auch ein V tinschen, das von Hoffnung begleitet ist: die Vulgärauffassung wird hier nicht glauben, dafs das Hoffen vom Wünschen komme, doch soll dies an dieser Stelle weiter nicht urgiert werden. Solchen


Zur Begehrungs- und Wertpsychologie.


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Begehrungen mit Lustgefühlen 1 steht nun aber eine ganz be- trächtliche, mir scheint geradezu eine erdrückende Menge von Wollungen und Wünschen gegenüber, an denen begleitende Ge- fühle entweder überhaupt nicht wahrzunehmen sind, oder wo diese unverkennbar Unlustcharakter haben. Ich glaube nicht, dafs unter solchen Umständen statthafterweise auf die günstigen Fälle ein auch die so zahlreichen undeutlichen Fälle umfassendes Gesetz gegründet werden könnte.

Ich habe bisher die Begehrungen ohne begleitende Gefühle und die von Unlust begleiteten Begehrungen als „undeutliche“ zusammengefafst und nur ihrer Anzahl nach in Betracht gezogen. Es mufs nun aber schliefslich doch auch die Frage aufgeworfen werden, ob dadurch im Entgegenkommen gegen die Theorie der „relativen Glücksförderung“ nicht bereits zu weit gegangen war. Es sind die mit Unlust verknüpften Begehrungen, welche in diesem Sinne noch besonders erwogen werden müssen. Man kann sie analog den wiederholt erwähnten Begehrungen mit „absoluter Glücksförderung“ als solche mit „absoluter Glücks- schädigung“ bezeichnen und dann auch weitere Analogien geltend machen. Wenn es nämlich recht ist, absolute Glücksförderung als Anzeichen für relative zu behandeln, so wird ähnliches für die Glücksschädigung kaum mehr als billig sein. Dann sind aber Begehrungen mit absoluter Glücksschädigung nicht mehr blofs undeutliche Fälle: sie sind vielmehr Gegeninstanzen gegen das Gesetz von der relativen Glücksförderung.

Es gewinnt unter solchen Umständen natürlich noch erhöhten Belang, ob es Begehrungen mit absoluter Glücksschädigung auch wirklich gibt: aber mir scheint, die Erfahrung läfst auch bei sorgsamster Prüfung keinen Zweifel hierüber aufkommen. Den Wollungen mit guter Zuversicht stehen solche mit schlechter gegenüber : oder sollte, wer den Kampf gegen Mächte, an deren Besiegbarkeit er kaum glauben kann, gleichwohl aufnimmt, dabei glücklicher sein, als wer sich resigniert in das nahezu Unvermeid- liche fügt? Deutlicher noch ist aber hier das Wünschen: wen die Sehnsucht nach einem Unerreichbaren überkommt, der ist in der Regel um ein Leid reicher und nicht um eine Freude.


1 Das Gewicht dieser Instanzen wird zum Überflufs noch von Ehren- fels selbst abgeschwächt, vgl. a. a. 0. S. 37, dazu H. Schwarz in der Viertel- jahrsschrift f. miss. Pliilos. 1899, S. 222 f.


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Neuntes Kapitel.


W arum hätte man sonst so oft in der Wunschlosigkeit das wahre Glück zu sehen versucht ? Ich meine keineswegs, dafs man darin recht hatte : aber das Gesetz von der relativen Glücksförderung ist, auf alle Begehrungen bezogen, das entgegengesetzte Extrem, das mir sonach nicht nur unbewiesen und schwer wahrscheinlich zu machen, sondern direkt den Tatsachen entgegen und deshalb unannehmbar scheint.

Ist das über die beiden Gesetze von der relativen Glücks- förderung Ausgeführte richtig, dann fallen mit diesen beiden Gesetzen natürlich zugleich auch die beiden Hauptstützen der Begehrungsreduktion, die sich uns überdies bereits unter einem anderen Gesichtspunkte 1 als unhaltbar herausgestellt hat. Ganz nebenbei sei hier noch berührt, dafs mir bei dieser auch auf die Eigenschaft des Begehrens, sich in der „Enge des Bewufstseins“ zu „behaupten“, mehr Gewicht gelegt erscheint, als sie verdienen dürfte. Speziell die Lösung des Motivenkon fl i k tes so zu denken, dafs der Sieger sozusagen der Beharrlichere, der Besiegte einfach der Verdrängte wäre, scheint mir den Tatsachen durchaus nicht immer gemäfs. Mit dem Kinde freilich, das Unerfüllbares wünscht, wird man am leichtesten fertig, indem man es „auf andere Ge- danken bringt“, wie man zu sagen pflegt. Der Erwachsene aber kommt über Gegenmotive sicher nicht nur in der Weise hinweg, dafs er „auf sie vergifst“ ; auch die Versuchung hat der noch nicht wirklich überwunden, der ihr nicht ins Auge sehen kann, ohne wieder wankend zu werden.


§ 52.

Die „Einschaltung“ in die „subj ektive Wirklichkeit“.

Es ist in den bisherigen kritischen Erwägungen von der „Ein- und Ausschaltung in das und aus dem Kausalgewebe der subjektiven Wirklichkeit“ mit keinem Worte die Rede gewesen. Ein Eingehen auf sie schien mir entbehrlich, soweit es sich nur um die Stellungnahme zur Begehrungsreduktion handelte. Nun mufs aber diese „Ein- und Ausschaltung“ um ihrer selbst willen noch besonders zur Sprache kommen als derjenige Punkt der in Rede stehenden Ausführungen Ehbenfels’, der mit dem Haupt-


1 Vgl. oben § 49.


Zur Begelirungs- und Wertpsychologie.


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gegenstände unserer den Annahmen zugewendeten Untersuchung in nächstein Konnex steht.

Fürs erste freilich habe ich auch in dieser Sache Einwen- dungen zu erheben. Dafs eine solche „Ein- oder Ausschaltung“ jeder Begehrung wesentlich sei, mufs ich angesichts der Er- fahrung aufs bestimmteste in Abrede stellen, wenigstens solange wir unter jener Ein- und Ausschaltung das meinen, was diese Worte bedeuten und was auch der vom Autor gegebenen Be- schreibung gemäfs ist . 1 Es wird ja gewifs Vorkommen, dafs der Begehrende das, was er begehrt, in irgend einer Kausalrelation zu sich selbst denkt: darin aber auch nur die Regel zu sehen,, schiene mir schon für die Durchschnittswollungen oder gar -wünsche des täglichen Lebens äufserst gewagt. An Ausnahms- losigkeit einer solchen Regel aber ist, wenn ich einigermafsen recht sehe, entfernt nicht zu denken. Freilich, wer etwa eine Turnübung bewältigen will, die ihm bisher nicht gelungen ist,, dem ist es sehr wesentlich, dafs er derjenige sei, dem sie nun gelingt. Anders schon beim Experimentator, der etwa einen Gashahn aufdrehen oder die Stärke eines elektrischen Stromes,, mit dem er eben arbeitet, durch Vorschaltung eines Widerstandes herabsetzen will. Noch mehr, wenn einer will, dafs etwas, allen- falls auf seine Anordnung, geschehe, oder gar, wenn er blofs Wünsche hat, zu deren Realisierung er gar nichts beizutragen vermag. An irgend einen Kausalzusammenhang mit sich selbst zu denken, wird ihm dabei in tausend Fällen ganz fern liegen,, und wo er daran denkt, wird das oft genug ganz unwesentlich sein. In völlig unverkennbarer Weise aber scheint mir die Empirie verlassen, sofern sich unser Autor auf Beispiele wie das folgende beruft: „Wenn ich wünsche, dafs Sokrates von seinen Richtern frei gesprochen worden sein, oder dafs Beethoven die neunte Symphonie zu hören bekommen haben möchte, so bringe ich in der Vorstellung diese Vorgänge in kausale Verbindung mit Dingen und Ereignissen, die ich als real ansehe und ent- wedei (wie in den angeführten Beispielen) als mitbestimmende- Ui Sachen gegenwärtiger Realitäten, in welchen auch mein Ich enthalten ist, oder doch als Wirkungen von gemeinsamen Ur-


’ Ander8 ’ wenn man unter dem Namen der Ein- und Ausschaltung etwas ins Auge fafst, das auf diese Benennung eigentlich keinen Anspruch hat. Wir kommen darauf sogleich unten zurück.


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Neuntes Kapitel.


Sachen, oder als mögliche gemeinsame Ursachen künftiger Wirkungen, alles in bezug auf die gegenwärtige subjektive Wirk- lichkeit verstanden, betrachte “. 1 Kausalbeziehungen solcher Art mögen sich freilich an allen Begehrungsobjekten ausfindig machen lassen: wenigstens hat man schon oft behauptet, dafs strengge- nommen alles mit allem in Kausalrelation stehen müsse. Ich kann freilich auch diese Notwendigkeit nicht einsehen. Wie dem indes auch sei, in einem Falle wie dem von Sokrates oder Beethoven denkt der Begehrende normalerweise eben an Sokrates oder Beethoven, aber nicht an sich, und ich könnte auch gar nicht absehen, wie da durch Hinzutreten des Gedankens an mich etwas, was noch nicht Begehrung wäre, zur Begehrung werden oder ihr auch nur näher kommen könnte.

Aber auch noch in einer zweiten Hinsicht mufs ich der „Ein- und Ausschaltung“ die Bedeutung abstreiten, die Ehreneels ihr beimifst. Sie soll, wie wir sahen, dasjenige sein, was hinzutritt, wenn wir einen Gegenstand nicht nur „schlechthin“, sondern „als wirklich oder unwirklich vorstellen“. Nun dürften jedoch die Untersuchungen, die wir in den früheren Kapiteln dieser Schrift durchgeführt haben, uns in den Stand setzen, vor allem zu er- kennen, dafs der Gegensatz, um den es sich hier handelt, doch nicht blofs eine Angelegenheit der Vorstellungen ist. Ohne weiteres zuzugeben ist freilich, dafs sich in dem Zusatze „wirk- lich“ oder „nicht- wirklich“ nicht etwa ein Urteil verrät 2 : ist aber „wirklich“ so viel als tatsächlich „existierend“, dann sind wir damit jedenfalls vom Objekt zum Objektiv übergegangen und wissen nun auch, dafs dieses, falls kein Urteil vorliegt, durch eine Annahme erfafst sein mufs. Ob aufserdem eventuell noch ein Gedankenschritt hinzukommt, vermöge dessen das „als wirk- lich oder als existierend Vorgestellte“ das Sein (Helleicht im Sinne der oben wiederholt berührten 3 , immer etwas seltsamen „Existential- prädikation“), als Attribut zugewiesen erhält, kann hier unerwogen bleiben: das Wesentliche liegt in der Annahme, die jedenfalls auch für sich allein ausreicht. „Als wirklich oder nicht wirklich vorstellen“ heifst also genauer nichts anderes als affirmativ oder negativ annehmen : das theoretische Bedürfnis aber, aus dem


1 System Bd. I, S. 218.

2 Vgl. a. a. 0. S. 202 f.

3 Vgl. insbesondere S. 141.


Zur Begehrungs- und Wertpsychologie.


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heraus Ehrenfels der gewöhnlichen Weise, einen Gegenstand „schlechthin“ vorzustellen noch zwei andere Vorstellungsweisen desselben Gegenstandes zur Seite stellen zu müssen meinte, ist ein an sich vollkommen berechtigtes, und es steht zu hoffen, dafs unser Autor selbst durch den Hinweis auf die Annahmen diesem Bedürfnisse befriedigend Rechnung getragen finden wird.

Natürlich entfällt damit zugleich jeder Anlafs, sich in dieser Sache auf das auch der direkten Empirie gegenüber wieder äufserst fragwürdige Auskunftsmittel der „Ein- und Ausschaltung“ einzulassen. Wird diese aber hier durch die affirmative und negative Annahme ersetzt, dann liegt die Frage nahe, ob dieser Ersatz nicht auch die Unzukömmlichkeiten gut zu machen im- stande wäre, um deren willen eben zuvor den Begehrungen ein regelmäfsiges Zusammengehen mit „Ein- oder Ausschaltungen“ nicht zugeschrieben werden konnte. In der Tat, versuchen wir es mit diesem Ersätze, so kommen wir zu einem durchaus richtigen, uns aber immerhin schon bekannten Ergebnisse. Dafs eine Begehrung mit einer Annahme Hand in Hand geht, das fanden wir 1 ja nahezu zusammenfallend mit der Tatsache, dafs jedes Begehren sein Objektiv hat, d. h. auf Sein resp. Nicht- Sein seines Objektes gerichtet ist, einer Tatsache, von der bereits erwähnt werden konnte 2 , dafs sie auch unserem Autor nicht ent- gangen ist.


§ 53 .

Die Annahmen bei der Begehrungsmotivation.

Erweisen sich die Annahmen sonach als geeignet, den Be- dürfnissen Rechnung zu tragen, aus denen die so fragwürdige Konzeption der „Ein- und Ausschaltung“ hervorgegangen sein dürfte, so hoffe ich nun aber vor allem zeigen zu können, dafs durch Berücksichtigung der Annahmen auch die Lücke aus- zufüllen ist, welche durch die obige Ablehnung des Begehrungs- gesetzes der „relativen Glücksförderung“ nun neuerlich in das Verständnis der Beziehungen zwischen Fühlen und Begehren gerissen scheint. Vielleicht stellt sich dabei noch heraus, dafs auch das genannte Begehrungsgesetz trotz seiner sonstigen Mängel an einem wichtigen Punkte mit der Empirie eine Fühlung hat.


1 Vgl. oben Kap. V, § 25.

2 Oben S. 164, Anm. 1. Meinong, Über Annahmen, 2. Aufl.


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Neuntes Kapitel.


die bei Heranziehung der Annahmen gleichfalls auch ohne In- anspruchnahme jenes Gesetzes ebensogut und besser hergestellt werden kann . 1

Wir gehen dabei am besten noch einmal von dem aus, was bereits die vorpsychologische Beobachtung über das Verhältnis des Fühlen s zum Begehren für ausgemacht nimmt. Es kommt in der Bereitwilligkeit zur Geltung, mit der man die Frage, warum man dies oder jenes begehre, durch den Bescheid für erledigt hält, „weil es mir Freude macht“, oder „weil es mir an- genehm ist“, wohl auch „weil ich Wert darauf lege“ u. dgl., so dafs man eine solche Beantwortung zwar um ihrer Selbstver- ständlichkeit willen für nicht eben aufschlufsreich , um so ge- wisser aber für unangreifbar richtig hält. Fast ebenso selbst- verständlich möchte dabei dem theoretisch Naiven auch dies sein, dafs, wenn er sagt, er begehre das A , weil es ihm erfreu- lich ist, er mit diesem „es“, dem also, was ihm angenehm ist, nicht etwa das Begehren 2 , sondern ganz gewifs in irgend einer Weise das Begehrte resp. das zu Begehrende meint; und hier- über wäre es gewifs niemals zu einer Unsicherheit gekommen, wenn sich diese „Weise“ hätte leichter angeben lassen. Hier aber eben liegt die alte Schwierigkeit: das Begehrte kann mich noch nicht erfreuen, weil es als zu Begehrendes noch nicht ver- wirklicht ist, Erwartungsfreude kann es auch nicht sein, weil ich es besten Falles erst erwarten kann, wenn ich einmal begehre, insbesondere will; die Freude an der blofsen Vorstellung genügt ebenfalls nicht, und die allerlei künstlichen Auswege, in die man sich durch das Versagen der natürlichen hineingedrängt findet, führen auch nicht zu besserem Ziel.

Nun sind wir aber in der Lage, den mancherlei bereits er- wogenen Eventualitäten noch eine weitere, bisher unerwogene an die Seite zu setzen. Es handelt sich ja doch zunächst um die psychologische Beschreibung des Zustandes, in dem sich das Subjekt vor dem Zustandekommen der Begehrung befindet, und da weifs auch wieder bereits die vorpsychologische Erfahrung, dafs man, ehe man etwa zu einem Entschlüsse gelangt, sofern man nämlich einigermafsen Zeit hat, „sich’s zu überlegen“, sich


1 Vgl. unten § 56 am Ende.

  • Insofern zeugt eigentlich schon das vorthooretische Denken recht

nachdrücklich gegen eine Motivation im Sinne der „Glücksförderung .


Zur Begehrungs- und Wertpsychologie.


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vor allem in die durch die Wollung zu verwirklichende Sachlage hineindenkt, d. h. sich klarzumachen sucht, „wie es wäre, wenn“ sich bereits verwirklicht hätte, was wirklich zu machen eben innerhalb unserer Willenssphäre liegt oder doch zu liegen scheint. Und wo es sich statt des Wollens um blofses Wünschen handelt, wird zwar ein ausdrückliches, zumal ein absichtliches „Überlegen“ so leicht nicht stattfinden; aber bevor sich einer ein „Luftschlofs“ wünscht, mufs er es eben erbaut haben, und dabei wird der Gedanke daran, „wie es wäre, wenn . . .“, kaum zu vermeiden sein. Nun ist uns aber die Natur eines solchen Gedankens bereits wohlbekannt: es ist kein Urteil, aber auch keine blofse Vorstellung ; mit einem Worte, es ist eine Annahme. Wir haben oben schon gesehen, dafs, wer begehrt, das Begehrte nicht nur vorstellt, sondern es zum Gegenstände einer Annahme machen mufs, durch welche das dem Begehren wesentliche Objektiv gegeben wird. Es steht damit in gutem Einklänge, wenn sich nun herausstellt, dafs das Objektiv bereits vor dem Begehren zwar nicht unter allen Umständen gegeben sein mufs, wohl aber mindestens überall da gegeben ist, wo man Grund hat, von einem dem Begehren naturgemäfs vorhergehenden Motivations- vorgange zu reden.

Nun ist es aber mit der Annahme, dafs das präsumtive Be- gehrungsobjekt existiere resp. nicht existiere 1 , dafs es im Existenz- falle „so sei“ resp. „nicht so sei“, natürlich noch nicht abgetan. Es liegt nahe, zu vermuten, der in Rede stehenden Annahme müsse noch eine zweite zur Seite gehen in betreff der Weise, wie die angenommene Existenz oder Nicht-Existenz, das ange- nommene Sosein oder Nichtsosein, das Gefühls verhalten des Subjektes in Anspruch nehmen möchte. Beide Annahmen könnten dann im Sinne der Relation von Grund und Folge miteinander verbunden sein. Aber das Ganze wäre doch nichts anderes als was man, freilich ohne auf die dabei den Annahmen zu- fallende wichtige Rolle zu achten, unter dem Namen des hypo-


1 Die Zeitbestimmung mufs dabei nicht etwa jedesmal die Gegenwart sein: bei Wollungen kann sie es nicht einmal. Ich kann nur Künftiges wollen, künftige Existenz oder Nicht-Existenz: die zugehörige Annahme mufs sich demgemäfs ebenfalls auf die Zukunft beziehen, auf jene nämlich, der dann eventuell das Wollen zugewandt ist. Wünschen kann dagegen auch Gegenwärtiges oder Vergangenes betreffen und darum auch durch Annahmen motiviert sein, die auf Gegenwart oder Vergangenheit gehen.

20 *


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Neuntes Kapitel.


thetischen Urteils längst mit in Betracht gezogen hat. Kurz gesagt: das Motiv der Begehrung wäre dann die Reflexion darüber, wie es dem Subjekt zumute sein möchte, falls das Gewollte oder Gewünschte erreicht wäre. In der Tat werden ja solche Reflexionen unter besonderen Umständen Vorkommen: für die Regel aber zeigt die Erfahrung doch ein Beteiligtsein nicht von Reflexionen über Gefühle, sondern von Gefühlen selbst; und damit scheinen wir trotz Heranziehung der Annahmen zuletzt doch wieder vor die alte Schwierigkeit gestellt zu sein.

Und dem wäre wirklich so und müfste, soviel ich sehe, auch so bleiben, legte nicht die Erkenntnis, dafs es ein Urteils- artiges gibt, das gleichwohl nicht Urteil ist, die Frage nahe, ob es nicht auch ein Gefühlsartiges geben könnte, das die quali- tative Gegensätzlichkeit des Gefühls ebenso aufweist, wie die Annahme die qualitative Gegensätzlichkeit des Urteils an sich trägt. Es ist das natürlich eine Frage, die einer ebenso ein- gehenden Untersuchung bedarf wie jene, durch die ich die Tat- sächlichkeit der Annahmen erwiesen zu haben hoffe. Die Auf- gabe wäre aber viel zu weitaussehend, als dafs ich im gegen- wärtigen Zusammenhänge an sie herantreten könnte. Dennoch habe ich schon in der vorigen Auflage dieses Buches einige erste Aufstellungen in dieser Sache nicht unterlassen zu sollen gemeint. War doch zu erwarten, dafs es kein ganz uncharakteristisches Licht auf die Annahmen werfen müfste, falls sich wahrscheinlich machen liefs, dafs es auch auf aufserintellektuellem Gebiet etwas den Annahmen Verwandtes gibt. Heute befinde ich mich in der wesentlich günstigeren Lage, mich bereits auf mehr als eine ein- schlägige Untersuchung an anderen Orten 1 stützen zu können:

1 Hierher darf ich wohl in erster Linie die lichtvollen Ausführungen St. Witaseks in seiner Ästhetik S. 110 ff., sowie in seiner Psychologie S. 329 ff. zählen, unbeschadet einer ziemlich prinzipiellen Auffassungs- verschiedenheit, auf die ich unten (§ 55) zurückkomme. Vgl. aufserdem : R. Saxinger, „Über die Natur der Phantasiegefühle und Pliantasiebegelirungen“ in den Grazer Untersuchungen zur Gegenstandstli. u. Psychol. S. 579 ff. ; R. Saxinger, „Beiträge zur Lehre von der emotionalen Phantasie“ in der Zeitschr. f. Psychologie u. Physiol. d. Sinnesorgane 40, S. 145 ff.; E. Schwarz, „Über Phantasiegefühle“ im Archiv f. systemat. Philosophie 11 S. 481 ff.; auch einigermafsen meine Darlegungen in der Schrift „Über die Erfahrungs- grundl. unseres Wissens“, S. 75 ff. Wertvolles mehr zur Empirie als zu der mit Vorbedacht möglichst wenig präjudizierten theoretischen Grund- auffassung finde ich jetzt auch in H. Siebecks feinsinnigen Ausführungen


Zur Begehrungs- und Wertpsychologie.


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vielleicht gelingt es mir, durch die folgenden, auch diesmal not- gedrungen nur skizzenhaften Darlegungen der Aveiteren Erforschung eines gleich den Annahmen, ja noch mehr als diese vernach- lässigten Tatsachengebietes förderlich zu sein.

§ 54 .

Phantasiegefühle und Phantasiebegehr ungen.

Die Einfühlung.

Beim Versuche einer ersten Charakteristik des Tatbestandes der Annahmen haben Avir uns Aviederholt darauf hingedrängt gefunden, diese als psychische Tatsachen zu beschreiben, die eine Art ZAA'ischenstellung zAvischen Vorstellung und Urteil einnehmen. Ich meine nun in ganz analogem Sinne behaupten zu müssen, dafs es auch psychische Tatsachen gibt, denen eine Art Mittelstellung ZAvischen Vorstellungen und Gefühlen zu- geschrieben Averden mufs. 1 Am deutlichsten belehren hierüber Erlebnisse an Kunstwerken, ich meine Erlebnisse, die, so all- täglich und bekannt sie Avaren, der Psychologie und Ästhetik bisher doch, Avenn ich nicht irre, eine ungelöste Crux geblieben sind, und schon dadurch die Vermutung nahelegen, es mtifste sich um ein Stück eigenartiger und in ihrer Eigenartigkeit doch noch nicht gehörig geAvürdigter psychischer Wirklichkeit handeln. In der Tat, jene „Furcht“ und jenes „Mitleid“, oder was sonst die Tragödie zu „erAvecken“ die Aufgabe haben mag, Avas sind sie eigentlich? Eine Furcht, bei der man sich im Grunde doch

über „Grundfragen zur Psychologie und Ästhetik der Tonkunst“, Tübingen 1909, von S. 14 ab. Ganz neue Wege (namentlich genetischer Betrachtung) Aveist der Lehre von den Phantasiegefühlen (sowie der damit eng ver- bundenen Annahmelehre) W. M. Urban in seinem hinsichtlich Darstellung wie Kritik gleich beachtenswerten Buche „Valuation, its nature and laws“, London 1909 (zu den Grundfragen vgl. insbesondere S. 48, 115 ff., 133 ff., 137 ff., 245 ff., 250 ff.). Dafs es eine nicht blofs vorstellende „Nachbildung von Gefühls- und Willensakten“ gibt, hat W. Dilthey, Avie mir erst nach Erscheinen der ersten Auflage dieses Buches bekannt geAVorden ist, bereits 15 Jahre vor dieser Publikation konstatiert (in der Abhandlung „Die Ein- bildungskraft des Dichters“, S. 345 der „Philosophischen Aufsätze, Ed. Zeller zu seinem 50jährigen Doktorjubiläum gewidmet“, Leipzig 1887, angeführt von B. Groethuyskn, in der Zeitschr. f. Psychol. 34, S. 202 Anm. 7). PI. Sie- becks erwähntes Buch scheint auf Verwandtes bei E. v. Hautmann hin- zuweisen, dem ich nur zurzeit nicht nachgehen kann.

1 Vgl. übrigens unten § 65.


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gar nicht fürchtet, ein Mitleid, das näher besehen eigentlich doch gar kein Weh verspüren läfst, sind das noch „Gefühle“, wie man sie in der Psychologie zunächst zu behandeln pflegt? Dafs manchem, namentlich einem solcher Dinge noch Ungewohnten, im Theater ab und zu wirkliche Furcht oder noch leichter wirkliches Mitleid beikommen mag, soll hier natürlich nicht in Abrede gestellt werden: aber dafs, was einem solchen begegnet, weder das normale, noch das dem Kunstwerke gegenüber sozu- sagen adäquate Verhalten ist, darüber ist ja ebenfalls nicht leicht jemand im Ungewissen . 1

Deutlicher und allgemeiner als in der klassischen Gegenüber- stellung von Furcht und Mitleid tritt die Zweiheit der hier be- sonders in Betracht kommenden Erlebnisgruppen in St. Witaseks Gegenüberstellung der „Einfühlungs- und Anteilsgefühle“ 2 , wie sie sich dem Kunstwerk gegenüber unter günstigen Umständen einstellen, zutage. Darf nun die Angelegenheit des ästhetischen Anteils schon durch das eben über Mitleid Angedeutete für aus- reichend beleuchtet gelten, so ist es in betreff der Einfühlung ganz instruktiv, sich der Tatsache zu erinnern, dafs Witasek in einer älteren Arbeit 3 die herkömmlichen Auffassungen der Ein- fühlung unter die beiden Begriffe „Aktualitätsansicht“ und „Vor- stellungsansicht“ ordnen konnte, von denen jene das Wesen der Einfühlung im direkten Erleben der betreffenden Gefühle, diese im blofsen Vorstellen derselben sieht. Denn das sind die beiden extremen Positionen, die sich der Empirie gegenüber nahezu unmittelbar von selbst verbieten. Dies ist für die Aktualitäts- ansicht besonders deutlich, wenn man sie nur ohne unstatthafte Abschwächungen, durch die man sie natürlich der Wirklichkeit näher bringen kann, ausdenkt. Das kann der ergreifendsten Tragödie, dem packendsten Roman gegenüber jedermann ohne


1 „Eine grofse Verschiedenheit der Individuen“, bemerkt mit Recht B. Groethuysen, „ergibt sich daraus, ob sie sich leicht durch den Inhalt blofser Annahmen rühren lassen, oder ob ein Urteil als psychologische Voraussetzung des Mitgefühls notwendig ist. Im allgemeinen wird die Regel gelten, dafs je höher der Mensch gebildet ist, desto weniger er siih durch einen (ingierten Sachverhalt zu Mitleidsgefühlen, wie sie die V iiklic.h- keit erregt, hinreifsen läfst“ („Das Mitgefühl“, Zeitsehr. f. Psychol. 34-, S. 26.1).

2 Ästhetik S. 148 und sonst.

3 „Zur. psychologischen Analyse der ästhetischen Einfühlung“, Zeitschr. f. Psychol. 25, S. 1 ff.


Zur Begehrungs- und Wertpsychologie.


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weiteres direkt konstatieren: -wäre es anders, wären die dar- gestellten Leiden, die die dargestellten Freuden allenthalben so sehr überwiegen, wirklich selbsterlebte, so hätte die ernste Kunst ein ganz unvergleichlich kleineres Publikum, falls sie überhaupt eines hätte. Versucht man es nun aber daraufhin mit der Gegenansicht, die die Einfühlung streng genommen in Vor- stellungen aufzulösen, also jeden Gefühlscharakters zu entkleiden tendiert, so kann man sich, vorerst auch ohne der Vorstellbar- keit von Gefühlen 1 überhappt nachzufragen, ganz einfach der Erfahrung gegenüber hinsichtlich des Unzureichenden solcher Betrachtungsweise keinen Täuschungen hingeben. Postuliert die Aktualitätsansicht in gewissem Sinne zweifellos zu viel, so postu- liert die Vorstellungsansicht ebenso zweifellos zu wenig . 2 Dafs ich mich dem Kunstwerke gegenüber nur vorstellend und etwa annehmend verhielte 3 , das widerspricht meinen deutlichen Er- fahrungen in der Regel auf das entschiedenste. Wenn ich z. B. im zweiten Teile von Björnsons „Über unsere Kraft“ miterlebe, wie Elias Sang sich selbst und seine Gegner seinem redlichen Willen und seinem Drange nach dem „Unermefslichen“ opfert, so fühle ich deshalb jenen Drang noch nicht in mir, noch weniger ereignet sich in mir die ganze Stufenleiter von Gefühlen, von der heroischen Gefafstheit herab bis zur sinnlos feigen Todes- furcht, wie sie der Intention des Dichters gemäfs bei den ver- schiedenen Teilnehmern der dem Tode verfahenen Versammlung dem Zuschauer vor die Augen zu führen ist; aber dafs sich dabei in mir neben intellektuellen Vorgängen auch ganz Wesent- liches zuträgt, das anderswohin als in das emotionale Gebiet nicht zu rangieren ist, darüber scheint mir jeder Zweifel ausgeschlossen. Das „Miterleben“, so gewifs es nicht wörtlich zu interpretieren ist, bedeutete für Vorstellen und Annehmen allein denn doch eine viel zu lebhaft gefärbte Metapher.

Ein minder direkt empirischer Einwand gegen die „Vorstellungs- ansicht“ soll hier nicht unerwähnt bleiben, weil von der ihm zu-


Lber „Gefühlsvorstellungen“ vgl. die sehr dankenswerte Literatur- zusammenstellung bei B. Groethuysen, „Das Mitgefühl“ a. a. 0. S. 201 ff auch S. 193, 248, 262 f.

Vgl. auch K. Groos, „Der ästhetische Genufs“, Giefsen 1902, S. 209.

Von den eigentlichen „ästhetischen“ Gefühlen des Gefallens und Mifsfallens und was damit zusammenhängt, sei hier ausdrücklich abgesehen ; wir kommen sogleich unten auf sie zurück.


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Neuntes Kapitel.


gründe liegenden Betrachtungsweise doch an den verschiedensten Stellen der gegenwärtigen Schrift Anwendung gemacht worden ist. Ist es richtig, dafs die innere Wahrnehmung nicht auf Wahr- nehmungsvorstellungen der inneren Erlebnisse, sondern auf deren Selbstpräsentation im Gegenwärtigkeitspunkte gegründet ist , 1 so kann jenseits der Gegenwärtigkeitsgrenze an die Stelle des sich selbst präsentierenden Gefühles nicht wohl eine Vor- stellung dieses Gefühles treten, um so eher ein Gefühlsartiges, das, durch kontinuierlichen Übergang aus dem Gefühle ent- sprungen, als repräsentierender Quasiinhalt die selbst präsen- tierende Funktion des Ausgangsgefühles vertreten kann . 2 Darf man ferner das Erfassen psychischer Erlebnisse ganz im allge- meinen nach der Analogie des Erfassens eigener Erlebnisse be- handeln, so ergibt dies zunächst, dafs von einem Vorstellen des Psychischen im allgemeinen und daher auch der Gefühle im besonderen überhaupt nicht zu reden sein wird . 3 Zugleich ist damit als Ersatz für Gefühlsvorstellungen auf etwas Gefühls- artiges hingewiesen, das gleichwohl, da es sich dabei zunächst nicht um Selbstpräsentation handelt, in gewissem Sinne Vor- stellungsfunktionen zu verrichten hat.

Wie hoch oder niedrig immer man nun die Stringenz dieser der Bewährung sicher noch in mehr als einer Hinsicht bedürf- tigen Aufstellungen einschätzen mag, jedenfalls weisen sie ganz ebenso in die Mitte zwischen Vorstellen und Fühlen, wie der Gesamteindruck der Vorstellungs- und der Aktualitätsansicht, von denen oben zu sagen war, dafs diese gewissermafsen zu viel, jene zu wenig behaupte. Zugleich springt die Analogie zu den ersten noch ziemlich unbestimmten Gedanken, auf Grund deren wir den Annahmen eine Stellung zwischen Vorstellen und Ur- teilen angewiesen haben, in die Augen. Sind die Annahmen ein Urteilsartiges, das wie Urteil aussieht und doch noch kein Urteil ist, so sind wir jetzt auf ein Gefühlsartiges geführt, das ebenfalls einigermafsen nach Gefühl aussieht, und insbesondere die Gegensätzlichkeit von Lust und Unlust an sich trägt wie die Annahme die Gegensätzlichkeit von Affirmation und Negation, und das gleichwohl noch kein volles Gefühl ist. Das Analogon

1 Vgl. „Über die Erfahrungsgrundl. unseres Wissens“ S. 72 ff.

2 A. a. 0. S. 75.

3 Zweifel in dieser Hinsicht äufsert auch K. Groos, „Der ästhetische Genufs“, a. a. 0.


Zur Begehrungs- und Wertpsychologie.


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zu dem, was als „Überzeugungsmoment“ durch sein Hinzutreten zu der Annahme aus dieser gleichsam das Urteil macht, weifs ich freilich zurzeit nicht anzugeben und kann nur hoffen, dafs künftige Analyse hierin erfolgreicher sein wird.

Die Gefühlsähnlichkeit kommt an dem, was hier sonach vorliegt, nicht nur in betreff des Gegensatzes von Lust und Un- lust zur Geltung, sondern auch darin, dafs den mancherlei bereits in der Vulgärpsychologie als „verschiedene Gefühle“ be- handelten Erlebnissen auch hier ganz deutliche Parallelfälle zur Seite stehen, deren Verwandtschaft sich in der Anwendbarkeit übereinstimmender Benennungen verrät. So behauptet der Un- befangene in durchaus natürlicher Ausdrucksweise, Freude und Trauer, Furcht und Hoffnung „mit“ den Personen des Dramas zu erleben. Solchen Aussagen kommt ohne Zweifel das Über- einstimmende an intellektuellen Voraussetzungen sowie der Parallelismus zwischen Urteil und Annahme nicht wenig zu statten. Aber das genügt nicht: der Zuschauer erlebt wirklich etwas in sich. Das ist weder Freude noch Trauer, weder Furcht noch Hoffnung im eigentlichen Sinne, aber etwas Ähnliches, so dafs jedermann die Anwendung der nämlichen Ausdrücke, wenn er sie auch sofort als uneigentlich verspürt, doch ohne weiteres versteht.

Um aber einem naheliegenden Mifsverständnis hier sogleich vorzubeugen, sei ausdrücklich betont, dafs durch das eben Ge- sagte nicht etwa die Eigenart der „ästhetischen Gefühle“ ge- kennzeichnet sein soll, denen ich das Recht, für Gefühle im strengen und eigentlichen Sinne des Wortes zu gelten, keines- wegs absprechen möchte. Es ist aber auch leicht, sie von den eben besprochenen Tatsachen auseinander zu halten . 1 Man redet ja selbst heute, in der Zeit so weitgehender Reform- freudigkeit in ästhetischen Dingen, von Kunstgenufs, Freude am Kunstwerk u. dgl., und nimmt auch nicht leicht Anstand, die Eignung zur Erweckung solcher Gefühle etwa der Tragödie zuzuschreiben. Aber was wir im „Trauerspiel“ ästhetisch mit- erleben, ist ja „Trauriges“. Jene Kunstfreude, das Wohlgefallen am Kunstwerk und was sonst damit in eine Gruppe zusammen- gehört, kurz eben die „ästhetischen Gefühle“ sind sonach etwas


1 Vgl. Witasek, „Zur psychologischen Analyse der ästhetischen Ein- fühlung“, Zeitschr. f. Psychol. 25, S. 44 ff., Ästhetik S. 99 ff.


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Neuntes Kapitel.


ganz anderes als jene Tatsachen, für deren Anerkennung seitens der Theorie durch diese Ausführungen eingetreten wird : es sind echte Gefühle, an deren Zustandekommen diesen gefühls- artigen Tatbeständen als deren psychologischen Voraussetzungen zusammen mit den Annahmen ein ganz hervorragender Anteil zukommen wird.

Neu in die theoretische Bearbeitung eintretende Tatsachen bieten, da die Sprache dafür zumeist nicht vorgesehen hat, in der Regel Benennungsschwierigkeiten. Im Falle der Annahmen hat sich die Sprache uns ungewöhnlich entgegenkommend ge- zeigt; in betreff der eben statuierten gefühlsartigen Tatsachen ist man hingegen auf künstliche Benennung angewiesen. Nicht alle Eignung hierzu würde dem Worte „Scheingefühl“ fehlen; aber es ist dabei eine Umdeutung des gewöhnlichen Wortsinnes kaum zu entbehren. Vor allem aber scheint mir für die Wahl eines anderen Terminus der Umstand mafsgebend, dafs es einen später zu erwähnenden 1 Gesichtspunkt gibt, unter dem die sich vielleicht auch schon um ihrer selbst willen empfehlende Be- zeichnung „Phantasiegefühle“ besonders angemessen sein dürfte. Ich mufs auch in dieser Sache hier auf tieferes Eingehen ver- zichten, werde aber immerhin mich für den nächsten Bedarf des Ausdruckes „Phantasiegefühl“ bedienen.

Doch scheint mir zur auch nur ersten Würdigung der so benannten Tatsachengruppe unerläfslich, hier einen Umstand noch mit in Betracht zu ziehen, der zwar sozusagen aufserhalb derselben gelegen ist, gleichwohl aber eine Art neuer Garantie für die Richtigkeit der auf sie hinführenden Beobachtungen in sich schliefst. Wenigstens steht zu erwarten, dafs man an der Existenz der Phantasiegefühle zu zweifeln sich um so weniger veranlafst finden wird, je zwingendere Gründe man antrifft, auch auf dem Gebiete der Begehrungen etwas Analoges zu statuieren, dafs demgemäfs dann auch auf den Namen „Phantasiebegehrungen“ Anspruch hat. Dafs dem aber wirklich so ist, dafür ergeben sich die deutlichsten Belege wieder aus dem Verhalten zur Kunst. Von Lesern „spannender“ Romane kann man nicht selten hören, dafs sie einen bestimmten Ausgang „wünschen“, und auch Bühnen- vorgängen gegenüber kommen Begehrungen dieser Art ab und zu zum Ausdruck. Man pflegt letzteres gern als grobes Mifsver-


Vgl. unten Kap. X, § 65.


Zur Begehrungs- und Wertpsychologie.


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stehen der Situation zu verspotten und mag dabei oft genug im Rechte sein. Nur mufs doch eingeräumt werden, dafs ähnliche Regungen auch demjenigen keineswegs fremd sind, der übrigens weit davon entfernt ist, Dichtung mit Wahrheit zu verwechseln. Die „Unvernünftigkeit“ eines Begehrens, das im Grunde doch ganz und gar nicht der Wirklichkeit zugewendet heifsen kann, sieht ein solcher dann bestens ein : aber diese Einsicht kann dem Eintreten des als Begehren geschilderten Verhaltens so wenig Eintrag tun, dafs man eben billig fragen darf, ob man es hier nicht wieder blofs mit einem begehrungsartigen Tatbestände, einer Scheinbegehrung oder lieber Phantasiebegehrung zu tun habe. Ich stehe nicht an, auch hier mit Ja zu antworten: der urteilsfähige Romanleser hat für die Personen des Romans ganz ebenso Wünsche, als er Gefühle für sie hat: und diese Wünsche sind streng genommen genau so wenig eigentliche Wünsche, als jene Gefühle eigentliche Gefühle sind. Man wird dann, was so das relativ passive V erhalten zur Kunst lehrt, leicht auch an mehr aktivem Verhalten zu ihr bestätigt finden: dem Schau- spieler zumal wird es oft genug zu wenig sein, blofs anzu- nehmen, dafs er fühle oder begehre, und so verschieden seine Position dem Kunstwerke gegenüber sonst im A^ergleich mit der des Zuschauers sein mag, die eine Übereinstimmung wird doch bestehen, dafs auch bei ihm nicht nur Phantasiegefühle, sondern auch Phantasiebegehrungen zu ihrem Rechte gelangen. Ich ver- kenne natürlich keineswegs, dafs auch in dieser Sache die Detail- untersuchung erst einsetzen mufs. Für jetzt aber kann ich mich der Vermutung nicht entschlagen, dafs es kein ganz geringer Anteil an unserem Verhalten zu Kunstwerken sein wird, also wieder kein ganz geringer Anteil an jener „Einfühlung“, was auf die Rechnung dieser Phantasiebegehrungen zu setzen sein möchte. Den nächsten Bedürfnissen der weiteren Untersuchungen stehen übrigens die Phantasiebegehrungen fern, und nur am Ende dieser Schrift wird sich Anlafs finden, noch einmal auch auf sie zurückzukommen.


§ 55 .

Phantasiegefühle als A n n ah m e g e f ü h 1 e.

Es soll nicht versucht werden, die Aufstellungen des vorigen Paragraphen zu verwerten, ehe mit einigen Erwägungen der Tat-


316


Neuntes Kapitel.


Sache Rechnung getragen ist, dal's ein Forscher, dem oben ein besonderer Anteil an der Weiterbildung der Lehre von den Phantasiegefühlen zugeschrieben werden durfte, gegen die im vorangehenden neuerlich vertretene theoretische Grundauffassung dieser Erlebnisse Widerspruch erhoben hat. St. Witasek, der von der Eigenart der Phantasiegefühle die anschaulichste Schilde- rung gegeben hat, die wir zurzeit besitzen 1 , meint gleichwohl der Inanspruchnahme einer besonderen Art emotionaler Erlebnisse entraten zu können, da es ausreiche, in den Phantasiegefühlen gewöhnliche Gefühle zu sehen, deren Eigentümlichkeit nur in ihren psychologischen Voraussetzungen bestehe, indem bei ihnen dort Annahmen vorliegen, wo man es bei Ernstgefühlen mit Ur- teilen zu tun hat . 2 Phantasiegefühle wären sonach Annahme- gefühle im Gegensätze zu Urteilsgefühlen; einer Monographie über Annahmen wäre demgemäfs ein Eingehen auf diese Gefühle besonders nahegelegt. Aber soviel ich sehe, gelangen in dieser Auffassung die Tatsachen eben doch nicht zu ihrem Rechte; immerhin dürfte sich überdies in der Folge zeigen, dafs auch für die Erkenntnis des Wesens der Annahmen die Einsicht in ihren Parallelismus zu den Phantasiegefühlen, wie ich diesen oben darzulegen versucht habe, nicht ohne Belang ist. So wird es nicht überflüssig sein, hier kurz zu motivieren, weshalb ich meine ursprüngliche Ansicht über die Natur der Phantasiegefühle trotz Witaseks Einwendungen aufrecht erhalten mufs.

Witasek beruft sich aufser, was gewifs unanfechtbar ist, auf die lex parsimoniae vor allem darauf, dafs Phantasiegefühle tat- sächlich allemal Annahmegefühle seien und ebenso Annahme- gefühle Phantasiegefühle, indem alle Gefühle, die Annahmen zu Voraussetzungen haben, Phantasiegefühle seien und umgekehrt alle Phantasiegefühle Annahmen zu Voraussetzungen haben. Aber sollte es damit selbst seine Richtigkeit haben, so könnte solcher Koinzidenz doch nur symptomatische Bedeutung zu- kommen, die gegen das Zeugnis direkter Empirie nicht aufzu- kommen imstande wäre, und an solchen Zeugnissen scheint mir kein Mangel zu sein. Man mag unser Verhalten zur Heldin dei Gretchentragödie Mitleid nennen: aber was ich einem unglück- lichen Mädchen gegenüber fühle, dessen wirklich erlebte Schick-


1 Ästhetik S. 115 ff., Psychologie S. 330f.

2 Vgl. insbesondere Ästhetik S. 120 f., Anna.


Zur Begelmmgs- und Wertpsychologie.


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sale mir in ausreichend eindrucksvoller Weise bekannt werden, das ist von jenem „ästhetischen Mitleid“ nicht nur dem Grade nach, sondern auch qualitativ grundverschieden. So überzeugend indes solcher Appell an die eigenen Erlebnisse unter günstigen Umständen sein kann, so wenig eignet er sich, wo die Umstände ungünstig sind, zur Diskussion. Es sei daher auf die von Witasek in Anspruch genommene Koinzidenz mit ein paar Worten eingegangen.

Entspricht es also den Tatsachen, dafs alle Phantasiegefühle Annahmen zur psychologischen Voraussetzung haben? Bin ich im Rechte gewesen, die Erinnerung an vergangene psychische Eigenerlebnisse als Auswärtswendung von Phantasieerlebnissen zu beschreiben 1 , dann dient mir im besonderen zur Erinnerung an ein vergangenes Gefühl ein gegenwärtiges Phantasiegefühl. War das Gefühl, an das ich mich erinnere, ein sinnliches Ge- fühl, z. B. Zahnschmerz, so kann das ihm zugeordnete Phanta- siegefühl unmöglich ein Annahmegefühl sein. War es ein Wert- gefühl, so kann ich mich seiner auch dann erinnern, wenn ich das Urteil, das damals psychologische Voraussetzung meiner Freude oder Trauer war, auch heute noch aufrecht erhalte: es kann z. B. die Erinnerung an den ersten Schmerz über eine Todesnachricht sein, die ich auch heute noch für wahrheits- gemäfs halte. Auch hier wird von einer Annahme als Voraus- setzung nicht die Rede sein können. Allgemein wird man wohl sagen müssen: das, was wir jetzt Annahmegefühle genannt haben, macht gewifs eine hervorragend wichtige Art der Phan- tasiegefühle aus. Aber wie sie den Urteilsgefühlen, so sind andere Phantasiegefühle anderen Ernstgefühlen zugeordnet, die nicht Urteilsgefühle sind oder, falls sie es doch sind, nicht da- durch aus Ernstgefühlen zu Phantasiegefühlen werden, dafs das ihre psychologische Voraussetzung ausmachende Urteil sich in eine Annahme umwandelt. Das Gebiet dieser Annahmegefühle ist also ein bei weitem engeres als das der Phantasiegefühle.

Könnte man nun aber wenigstens umgekehrt behaupten, dafs alle Annahmen, die als Gefühlsvoraussetzungen sich betätigen, Phantasiegefühle mit sich führen? Hinsichtlich der Instanzen, die mir auch diese These zu widerlegen scheinen, mufs ich gegen eine ziemlich fundamentale Position der WiTASEKschen Ästhetik,

1 „Über die Erfahrungsgrundl. unseres Wissens“, S. 75 ff.


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Neuntes Kapitel.


ja dadurch implizite sogar gegen Witaseks allgemeine Charakte- ristik der ästhetischen Gefühle Stellung nehmen. Ich meine nämlich deutliche Erfahrungen in Menge dafür zu besitzen, dafs mir einfachere wie kompliziertere Zustände und Vorgänge ge- fallen“ können so gut wie ein Ornament oder eine Melodie. Es handelt sich dabei um Objektive, zu deren Erfassen, da ihre Tatsächlichkeit natürlich keine Rolle spielt, durchaus keine Urteile erforderlich sind. Ich denke natürlich an unser Ver- halten zu den „redenden“ Künsten. Was uns hier ästhetischen Eindruck macht, sind, so scheint mir, doch wohl die Objektive, sofern sie durch Annahmen erfafst sind. Die betreffenden ästhe- tischen Gefühle könnten daraufhin mit Fug Annahmegefühle heifsen; sie sind aber natürlich nicht Phantasie-, sondern ganz zweifellos Ernstgefühle.

Solcher Auffassung steht nun aber, wie eben angedeutet, Witaseks Behauptung entgegen, dafs Objektive streng genommen gar keine ästhetischen Gegenstände seien, dafs sich ihnen daher keine ästhetischen Gefühle zuwenden könnten. Zwar zählt er in der ersten provisorischen Liste „ästhetischer Elementargegen- stände“ die Objektive noch auf 1 , aber nur, um dann später ihren definitiven Ausschlufs aus dieser Liste eingehender be- gründen zu können . 2 Einen schon ganz äufserlichen Nachweis für die ästhetische Indifferenz des Objektivs führt er aus der Möglichkeit, einen in poetischer Diktion ästhetisch wirksamen Satz bei unverändertem Sinne, also auch unverändertem Objektiv, in einen völlig reizlosen umzuwandeln . 3 Tiefer dringt das Argu- ment, Gefühle, die Objektive zum Gegenstand hätten, könnten am Ende doch nur Wertgefühle sein . 4 Hinzu kommt, was Witasek meines Wissens nicht ausdrücklich formuliert hat, dafs, wenn Objektive ästhetische Gegenstände sind, seine Grundposition, dafs alle ästhetischen Gefühle Vorstellungsgefühle seien, sich in ihrer Allgemeinheit nicht mehr aufrechthalten läfst.

Von diesen drei Beweisgründen stützt sich der erste ohne Zweifel auf eine Tatsache, die in der beliebten Schulaufgabe, Gedichte „in Prosa zu übersetzen“, bereits tausendfältige Verifi-


1 Ästhetik, S. 53 ff.

2 A. a. 0. S. 67 ff.

3 A. a. 0. S. 169 f.

4 A. a. 0. S. 176 f.


Zur Begehrungs- und Wertpsychologie.


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kation erfahren hat: vom poetischen Gehalt der betreffenden Gedichte bleibt bei dieser Prozedur ja in der Tat zumeist nichts mehr übrig. Aber ist dabei auch wirklich allemal das Objektiv unverändert geblieben? Wer gewissen Objektiven ästhetische Dignität zuspricht, meint damit sicher nicht das Objektiv nach Abzug seines Objektenmaterials, auch nicht das Objektiv in einer gewissen Beiläufigkeit, der gegenüber es auf Modifikationen hinsichtlich des Materials innerhalb weiterer Grenzen nicht an- kommt. Es kann sehr leicht sein, dafs die ästhetische Bedeutsam- keit sich von solchen Bestimmungen am Material abhängig er- weist, eben denen, auf die sich auch Witasek beruft, — und dafs gleichwohl das Objektiv der eigentliche ästhetische Gegen- stand bleibt.

Der zweite Punkt zwingt mich, vorübergehend dem Gange der bisherigen Darlegungen vorzugreifen und etwas heranzuziehen, von dem erst unten in § 57 die Rede sein wird. Gefühle, die auf Objektive gehen, meint Witasek, sind Wertgefühle, in unserem Falle, wo es sich um Annahmen als Voraussetzungen handelt, sogar Wertphantasiegefühle. Wo bleibt da noch Raum für ästhetische Ernstgefühle? In welcher Weise sollen diese dann noch den Wertgefühlen gegenüber differenziert sein? Ich gestehe, dieser wichtigen Frage nur eine Vermutung entgegen- setzen zu können, noch dazu eine, der gemäfs Aufstellungen modifiziert werden müfsten, für die ich selbst früher eingetreten bin. Ich habe oft betont, dafs Wertgefühle Existenzgefühle sind, meinte aber doch auch Soseinsobjektive als eigentliche Wert- objektive gelten lassen zu dürfen. 1 Wie nun, wenn man in dieser Beziehung doch etwas genauer sein und konstatieren miifste : Wertgefühle richten sich ihrer Natur nach durchaus auf das Sein, zunächst die Existenz, natürlich auf die Existenz eines Soseienden, auf dessen Eigenschaften, insofern also dessen So- sein, es immer noch sehr ankommt, — aber zuletzt eben doch immer und ganz grundsätzlich auf Existenz. Gerade dies tun dagegen die ästhetischen Gefühle ganz und gar nicht : sie gehen auf das Sosein, per accidens auch wohl auf das Sosein eines Existierenden, aber zunächst doch immer auf das Sosein, und zwar so eindeutig, dafs die Betrachtungsweise, von der aus die ästhetischen Gefühle ausgelöst werden, eine ganz prinzipiell


1 „Über Urteilegefühle usw.“ im Archiv f. d. ges. Psychol. (i, S. 34 ff.


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Neuntes Kapitel.


daseinsfreie heifsen kann. Mir scheint diese Daseinsfreiheit den Tatsachen in ganz auffallender Weise gemäfs: nirgends ist der Umstand, dafs dies oder jenes existiert, Sache ästhetischen Ver- haltens, vielmehr stets umgekehrt dies, dafs etwas, das auch ein Existierendes sein kann, so und so beschaffen ist, indes sich das Wertgefühl allemal dem Umstand zuwendet, dafs ein gewisses so und so Beschaffenes existiert. Ist dem so, dann ist die von Witasek aufgeworfene Frage einfach so zu beantworten: Urteil und Annahme machen, auch wo Aktgefühle ausgeschlossen sind, noch nicht das Wesen des Wertgefühles aus, denn die Ent- scheidung hängt noch an der Natur des Objektivs. Geht das Gefühl wesentlich auf Sein, so ist es ein Wert-, geht es wesent- lich auf Sosein, so ist es ein ästhetisches Gefühl, und vom An- nahmegefühl gilt cum grano salis das nämliche. Es bliebe dann immer noch eine wichtige, übrigens kaum ganz unverständliche Eigentümlichkeit der Soseinsgefühle, dafs bei ihnen der Über- gang von Urteil zu Annahme nicht dieselbe Bedeutung hätte wie bei den Seinsgefühlen.

Damit wäre nun zugleich eine Aussicht eröffnet, auch über die dritte Schwierigkeit hinauszukommen, d. h. Witaseks all- gemeine Charakteristik der ästhetischen Gefühle ihrem Meritum nach doch aufrecht zu erhalten. Es ist zunächst aufser Frage, dafs es ästhetische Gefühle genug gibt, die sich etwa auf eine Farbe, eine Gestalt oder dgl., also auf Objekte (genauer Eigen- schaften) sonach fürs erste auf kein Objektiv richten. Wir haben aber oben 1 in den Eigenschaftsbestimmungen Impli- kationen von Soseinsobjektiven erkannt. Könnte man daraufhin, wenn man solche Implikationen ausdrücklich einbezieht, nicht vielleicht von allen ästhetischen Gefühlen sagen, dafs sie auf Soseinsobjektive, wenn nicht explizite, so doch implizite, gerichtet sind? Sollte es möglich sein, den Tatsachen der „inneren Schön- heit“ auch ohne Appell an das anschauliche „Vorstellen“ der eigenen Einfühlungs- und gar Anteilsgefühle gerecht zu werden, so würde mir das als ein besonders erwünschter Gewinn er- scheinen . 2

Indem ich mich aber wieder zu der Frage der Phantasie-


1 Vgl. § 45 f.

2 Vgl. meine Anzeige von Witaseks Ästhetik in der Deutschen Literutui- zeitung 1904, Sp. 2727 f.


Zur Begelirungs- und Wertpsychologie.


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gefiihle zurückwende, darf ich aus dem Dargelegten wohl jeden- falls die Summe ziehen, dafs die Koinzidenz zwischen Phantasie- und Annahmegefühl schwerlich bestehen dürfte. Man wird daher Grund haben, bei Annahmegefühlen ganz ebenso wie bei Urteils- gefühlen im Bedarfsfälle Ernstgefühle von Phantasiegefühlen ausdrücklich auseinanderzuhalten. Ob die sonach, wie ich hoffe, doch wohlbeglaubigten Phantasiegefühle den Ernstgefühlen in allen Stücken so gegenüberstehen wie die Annahmen den Urteilen, das ist natürlich eine ganz andere Frage. Das emotionale Gebiet hat doch ganz gewifs seine Besonderheiten. Sollte es Witasek daher, wie ich glaube, gelungen sein, einen interessanten Punkt namhaft zu machen, an dem die Phantasiegefühle aus der Ana- logie zu den Annahmen sozusagen herausfallen x , so wird darin doch kaum ein Argument gegen die hier vertretene Auffassung der Phantasiegefühle zu erblicken sein.

§ 56.

Phantasiegefühle als Begehrungsmotive.

Ich kann mich nun in betreff dessen, was mich zu den obigen Ausführungen veranlafst hat, kurz fassen. Was man, wie mir scheint, bisher immer übersehen hat, wenn man die Frage nach der Motivationsrelation zwischen Fühlen und Be- gehren aufwarf, das sind die Phantasiegefühle in ihrer Eigenart. Ist der Begehrung eines bestimmten Objektes dessen Vorstellung vorhergegangen, zusammen mit der dem in Frage kommenden Objektiv zugewandten Annahme, dann wird auf diese Annahme ganz ähnlich wie auf die beim Erfassen eines Kunstwerkes sich einstellenden Annahmen durch ein Phantasiegefühl reagiert, und diesem Phantasiegefühle ist in erster Linie jene das Begehren „sollizitierende“ Kraft beizumessen, die man dem Gefühle zuzu- sprechen sich gewöhnt hat trotz der Schwierigkeiten, in die man dadurch immer wieder geriet. Dafs alle diese Schwierigkeiten dem Phantasiegefühle gegenüber entfallen, da es ein gegen- wärtiges, in seiner Weise ganz wirkliches Gefühl ist, das gleich- wohl nicht erst auf die vielleicht dem Begehren vor behaltene Realisierung des Objektes sich angewiesen findet, an das es sich knüpft, das leuchtet nun auf den ersten Blick ein.

1 Ästhetik, S. 118 f. Anm.

Meinong, Über Annahmen, 2 . Aufl. 21


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Neuntes Kapitel.


Auch einfache Gesetzmäfsigkeiten, welche die Qualität der I hantasiegefühle mit der Qualität der durch sie motivierten Be- gehrungen in Zusammenhang bringen, ergeben sich nun fast von selbst. Im einfachsten Falle führt das lustartige Phantasiegefühl auf eine Begehrung im engeren Sinne, das unlustartige auf eine Widerstrebung. Komplizierter gestaltet sich die Sache natürlich, wenn mehr als Ein Objekt sich gleichsam dem Begehren dar- 'bietet, oder eigentlich bereits, wenn zwar nur Ein Objekt vor- liegt, das betreffende Individuum aber sozusagen gründlich genug ist, sowohl den Existenz- als den Nicht-Existenzfall, sowohl den Soseins- als den Nichtsoseinsfäll in betreff des fraglichen Objektes zu berücksichtigen, genauer also, in betreff dieses Objektes so- wohl die affirmative als die negative Annahme zu machen und so das sich an jede dieser Annahmen knüpfende Phantasiegefühl auszulösen. Den Vorwurf der Überflüssigkeit möchte ein solches Vorgehen gewifs nicht jedesmal verdienen, da das Ver- halten gegenüber Existenz und Nicht-Existenz, Sosein und Nicht- sosein, wenn auch keineswegs voneinander unabhängig, doch schon dadurch wesentlichen Variationen ausgesetzt ist, dafs dem Subjekte einmal das Positive, das andere Mal das negative Ob- jektiv das „Gewohntere“ sein kann.

Auf einen eigentlichen Konflikt wird man auf diesem Wege noch nicht leicht gelangen; um so leichter, wenn mehrere Ob- jekte untereinander gleichsam in Konkurrenz treten. Auch hier wird, wenn es etwa zwischen A und B zu wählen gilt, das ein- fachste, aber zugleich primitivste Vorgehen das sein, sich mit den beiden Existenzannahmen und den daran sich knüpfenden Phantasiegefühlen zu begnügen : man „denkt sich“ eben, wie es wäre, wenn A, und wie es wäre, wenn B verwirklicht vorläge. Gründlicher aber ist es wieder, zugleich dem Umstande Rech- nung zu tragen, dafs mit der Existenz des A die Nicht-Existenz des B verknüpft ist und umgekehrt. Ob dann die so auftreten- den Phantasiegefühle nach Mafsgabe ihres Intensitätsverhält- nisses oder auch anderer Umstände sogleich zu einer nur mehr dem Einen Objekte zugewendeten Begehrung führen, oder viel- leicht jedes Phantasiegefühl sozusagen seine Begehrung auslöst und dann erst die verschiedenen einander so entgegentretenden Begehrungen (resp. Widerstrebungen) sich gegeneinander zu be- haupten versuchen, das mufs wohl noch besonderer Untersuchung überlassen bleiben. So viel aber scheint mir sicher , dafs die


Zur Begehrungs- und Wertpsychologie.


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Komplikationen, die eintreten würden, falls der Konflikt ohne Inanspruchnahme von Annahmen und Phantasiegefühlen aus- schliefslich vor dem Forum der Intelligenz ausgetragen werden müfste, und die Ehrenfels im wesentlichen richtig, wenn auch immerhin mit etwas lebhaften Farben, geschildert hat 1 , normaler- weise, d. h. wenn die betreffenden Überlegungen nicht doch einmal angestellt werden, nunmehr entfallen. Damit wird aber zugleich eines der Argumente, ja vielleicht geradezu der in der Empirie am besten gegründete unter den Beweggründen, gegen- standslos, die sonst zur Akzeptierung einer Aufstellung von der Art des Gesetzes der „relativen Glücksförderung“ geneigt machen konnten.

§ 57 .

Vom Motivationsgesetz zur Wertdef inition.

Es wäre vielleicht anspruchsvoller als billig, wollte ich die im vorigen Paragraphen doch nur in erstem Umrisse vorgeführte Gesetzmäfsigkeit, von der auch noch ganz unausgemacht ge- blieben ist, ob und in welchem Mafse alle Begehrungen sich ihr fügen, ohne weiteres zum „Motivationsgesetz“ erheben. Viel- mehr hat die für die folgenden Ausführungen gewählte Über- schrift nur die Bestimmung, auch äufserlich an die eben zuvor in der Anmerkung erwähnte polemische Schrift Ehrenfels’ an- zuknüpfen, da mir das oben Dargelegte den natürlichen Aus- gangspunkt zu bieten scheint zu einer kurzen Würdigung der Stellung, welche der genannte Autor in dieser Schrift und sonst bei Weiterführung der Arbeiten zur psychologischen Grund- legung der Werttheorie meinen Fundamentalaufstellungen gegen- über eingenommen hat. Von Nebensächlichem und vollends von Äufserlichkeiten, in bezug auf welche so ziemlich jeder Gegner ohne grofse Kunst ins Unrecht zu setzen ist, soll natürlich auch hier nach Möglichkeit abgesehen werden, zumal in dieser Kontro- verse keiner von uns seinen Ehrgeiz darein gesetzt hat, auf dem anfangs eingenommenen Standpunkte möglichst starr zu ver- harren, und es übrigens wenig für sich hätte, den Widerpart erst ausdrücklich auf Mängel im kleinen hinzuweisen, auf die er voraussichtlich längst selbst aufmerksam geworden ist.

1 „Von der Wertdefinition zum Motivationsgesetz“, Archiv f. systemat. Philos. 2, S. 114.


21 *


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Neuntes Kapitel.


Die Frage, die ich hier zwar nicht zum Austrag zu bringen hoffe, aber doch dem Austrage näher führen möchte, betrifft das Wesen dos Wortes, oder wenigstens die Natur der psychischen Geschehnisse, an die der Wertgedanke tatsächlich anknüpft. Ich hatte gemeint, das für alle Werttatsachen charakteristische Ver- halten in der Weise gefunden zu haben, wie man durch seine Gefühle zur Wirklichkeit als solcher Stellung nimmt: diese Wirk- lichkeitsge fühle hatte ich darum als die eigentlichen Wertgefühle bezeichnet, den Wert selbst aber in der Fähigkeit eines Exi- stierenden zu finden gemeint, unter ausreichend günstigen Um- ständen solche „Werthaltungen“ sozusagen auf sich zu ziehen . 1 Demgegenüber ist Ehbenfels für die Begehrungen als grund- legende Tatsache eingetreten: ihm zufolge wäre Wert-haben so viel als Begehrt- werden oder wenigstens Begehrt-werden-können . 2 Und dafs der Wert mit dem Begehren enger verknüpft sein möchte, als ich ursprünglich vermutet hatte, darauf wurde ich nun bald selbst aufmerksam, nachdem mir die Rolle klar ge- worden w r ar, die bei unserem Werthalten neben der Existenz auch die Nichtexistenz des Wertobjektes spielt . 3 Daraufhin hat Ehben- fels die Definition „Wert ist Begehrbarkeit“ für auch meiner- seits akzeptiert genommen , 4 immerhin aber dieser Begehrungs- definition des Wertes eine Gefühlsdefinition an die Seite gestellt , 5 * die der m einigen gegenüber Modifikationen auf weist, von denen er in einigen unwesentlicheren Punkten zwar später wieder zu- rückgekommen ist , 8 nicht ebenso in betreff dessen, was mir immer noch als das eigentliche Zentrum der ganzen Frage er- scheint. Diese Nebeneinanderstellung der beiden Definitionen hat indes den Eindruck, dafs die Begehrungs- und die Gefühls- theorie des Wertes denn doch Gegensätze seien, zwischen denen man zu einer Entscheidung wird gelangen müssen, nicht zu ver- wischen vermocht. Wirklich sind seither zugunsten sowohl der einen als der anderen Weise, die Werttheorie zu begründen,


1 Psychol.-eth. ' Unters, zur Werttheorie S. 25.

2 Zuerst in den Artikeln über „Werttheorie und Ethik“, Vierteljahrs- Schrift f. wi8s. Philos., Jahrg. 1893, S. 89 resp. 209.

3 Vgl. meine Ausführungen „Über Werthaltung und Wert“ im Archiv f. systemat. Philos. 1, insbesondere S. 340 f.

4 System der Werttheorie Bd. I, S. 53, Anm. 2.

6 A. a. 0. S. 54 ff.

  • System der Werttheorie Bd. II, S. 262 ff.


Zur Begehrungs- und Wertpsychologie.


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Stimmen laut geworden 1 : mir selbst aber bot erst die gegen- wärtige Schrift (in ihrer ersten Auflage) Gelegenheit, vor allem zu konstatieren, dafs mir bei der Abfassung der Arbeit „Über Werthaltung und Wert“ nichts ferner gelegen hat als die Ab- sicht, einer auf das Begehren gestellten Wertdefinition Konzes- sionen zu machen, — Gelegenheit zugleich, auseinander zu setzen, welche Stellung gegenüber der EHRENFELSschen Doppel- definition und insbesondere gegenüber den an meiner Präzi- sierung des Wertbegriffes vorgenommenen Abänderungen resp. den diesen zugrunde liegenden Einwendungen mir durch die Natur der Sache geboten scheint.

Nur weniger Worte bedarf die Prinzipienfrage, die angesichts des Versuches einer Doppeldefinition eine Beantwortung heischt: ist von zwei Definitionen für dieselbe Sache nicht jedenfalls eine zu viel? Wenn man bedenkt, wie vielerlei man durch Auf- stellung einer Definition kann leisten wollen, wie vielerlei Wege überdies zur Gewinnung einer richtigen Definition sich darbieten können, so wird man diese Frage im allgemeinen sicher nicht mit ja beantworten. In diesem Sinne habe ich auch bereits in den „Psychologisch-ethischen Untersuchungen“ der Eventualität einer „künstlichen“ Wertdefinition, wie ich hoffe, ausreichende Gerechtigkeit widerfahren lassen 2 ; damit war aber zugleich schon ausgesprochen, dafs es mir zunächst um die „natürliche“ Definition zu tun sei, um die, nicht blofs um eine. Genauer : wer fest- stellen will, was der Wert ist, wird sich vor allem darüber Rechenschaft geben müssen, woran man tatsächlich denkt, wenn man den Dingen Wert beimifst oder abspricht. Ist das Wort „Wert“ nicht mehrdeutig oder sonst von unsicherer Anwendung, so kann es auf diese Frage nur Eine richtige Antwort geben, wodurch dann ja nachträgliche definitorische Abänderungen und Präzisierungen im theoretischen oder auch praktischen In-


1 Vgl. die Zusammenstellung und Stellungnahme bei M. Reischle, „Werturteile und Glaubensurteile“, Halle a. S. 1900, S. 27 ff. — jetzt ins- besondere bei W. M. Urban, „Recent tendencies in tlie psycliological theory of value , Psycliological Bulletin 4 (1907), Nr. 4. — Der in der gegenwärtigen Schrift eingenommene Standpunkt hat besonders wirksame Vertretung ge- funden durch die Abhandlung W. v. Liels, „Gegen eine voluntaristische begründung der Werttheorie“, Nr. N der Grazer „Untersuchungen zur Gegenstandstheorie und Psychologie“, S. 527 ff.

2 A. a. 0. S. 25 Anm.


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Neuntes Kapitel.


teresse keineswegs ausgeschlossen sind. Aber es müssen eben erst nachträgliche sein, d. h. man muls die Eigenart des in Unter- suchung genommenen Tatsachengebietes erst einmal im Wesent- lichen klargestellt haben, wenn man nicht Gefahr laufen will, eben dieser Eigenartigkeit unter den Händen verlustig zu werden. In diesem Sinne hatte ich mir die Analyse des Wertgedankens zur ersten Aufgabe gemacht: diese kann also nur entweder auf das Begehren oder auf das Gefühl, aber keineswegs sowohl auf das eine als auf das andere führen.

Ist nun ferner die Bestimmung: „Wert ist Begehrbarkeit“ an sich annehmbar? Ich habe zu dieser Frage eigentlich be- reits an der eben erwähnten Stelle der „Untersuchungen“ Stellung genommen und zwar eine keineswegs geradezu ablehnende. Dagegen hat sich mir später ein Gesichtspunkt aufgedrängt, unter dem mir die in Rede stehende Position dann lange als un- annehmbar erschienen ist und der darum auch hier nicht un- erwähnt bleiben mag. Dafs Ehbenfels sich bei der Wert- definition statt des einfacheren Gedankens der Begehrtheit lieber des Gedankens der Begehrbarkeit bedient, ist durch die Rück- sicht darauf veranlafst , 1 dafs man, was schon verwirklicht ist oder war, nicht zum Gegenstände eines Begehrens machen, wohl aber dem Existierenden sowie auch dem Vergangenen Wert bei- messen kann. Derlei hat also eventuell Wert, ohne begehrt zu sein; kann man aber, was man aus den angegebenen Gründen eben nicht zu begehren imstande ist, doch noch begehrbar nennen? Wenn nicht, so haben wir es da mit Wertgegenständen zu tun, die nicht nur nicht begehrt, sondern ebensowenig begehrbar sind: die durch Einführung der „Begehrbarkeit“ vorgenommene Korrektur wäre insofern erfolglos.

Nun finden wir weiter den Sinn dieser Korrektur durch nachstehende Interpretation beleuchtet : „Wert schreiben wir den- jenigen Dingen zu, welche wir entweder tatsächlich begehren oder doch begehren würden, falls wir nicht von ihrer Existenz überzeugt wären “. 2 Dagegen ist in der Tat formell nichts ein- zuwenden, sofern die Bedingung, „falls wir nicht von ihrer Existenz überzeugt wären“, statthaft ist. Kann ich aber noch begehrbar nennen, was nur begehrbar wäre unter einer Be-


1 Vgl. System, Bd. I, S. 52 f.

  • A. a. 0. S. 26.


Zur Begehrungs- und Wertpsychologie.


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dingung, die unter den vorliegenden Umständen unerfüllbar ist ? Wäre einem Vergangenen in dieser Weise Begehrbarkeit zu- sprechen nicht ebensogut, als wollte man einen Rhombus des- halb ein Quadrat nennen, weil er ohne Zweifel die Eigenschaften eines Quadrates hätte, wenn seine Winkel nicht schiefe, sondern rechte wären?

Ich habe, wie berührt, diesen Einwand lange für ent- scheidend gehalten: es sei nun kurz darauf hingewiesen, warum er mich heute nicht mehr überzeugt. Begehrbarkeit ist natür- lich so viel als Fähigkeit, begehrt zu werden: Fähigkeit aber kann zwar ohne Bedenken in irgend einer Weise dem, das fähig ist, als eine Art Eigenschaft zugeschrieben werden; allein sie nimmt den übrigen und zunächst so zu nennenden Eigen- schaften gegenüber doch eine deutliche Ausnahmestellung ein. Im Hinblick auf diese ist vor allem der Vergleich mit dem Rhombus nicht beweisend. Wie wenig man sich in der Tat be- hindert fühlt , eine Disposition zu einer Zeit ins Auge zu fassen, wo einer Aktualisierung derselben Hindernisse im Wege stehen, zeigt am eindringlichsten der Gedanke an „Raphael ohne Hände“, wenn man auch vielleicht in der Praxis Anstand nehmen wird, einem Radfahrer auch noch nach dauernder Läh- mung seiner Beine nachzusagen, dafs er „radfahren könne“. In unserem Falle aber kommt noch vor allem in Betracht, dafs der Umstand, um deswillen es nicht zur Aktualisierung der „Begehr- barkeit“ kommt, die Existenz dessen ist, dem das Begehren sich sonst zuwenden könnte : nach den Ausführungen früherer Kapitel wird gewifs besonders wenig Neigung vorliegen, das Objektiv „Existenz“ auf gleichem Fufse mit irgend einer Eigenschaft des Existierenden zu behandeln, die dann etwa ein Aktualisierungs- hindernis für die in Betracht kommende Disposition oder Fähig- keit abgeben könnte. Ich werde mir also wohl auch Ehkeneels’ argumentum ad hominem 1 gefallen lassen und von einer sozu- sagen apriorischen Bekämpfung seiner auf das Begehren ge- stellten Wertdefinition Abstand nehmen müssen.

Anders möchte sich dagegen die Sache stellen, sobald der empirische Weg eingeschlagen wird. Schon das tägliche Leben weifs, dafs es aktive und passive Naturen unter den Menschen gibt, was speziell auf emotionalem Gebiete darin zur Geltung


1 Arch. f. aystemat. Philos. 2, S. 106 unten.


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Neuntes Kapitel.


0


kommt, dafs in betreff der allgemeinen Disponiertheit zum Fühlen einerseits und zum Begehren andererseits eine gewisse Unab- hängigkeit der Veränderlichkeit besteht. Es gibt also z. B. Men- schen, welche die Last, die ihnen das Leben etwa auflegt, gar wohl spüren, es aber gleichwohl unterlassen, sich dieser Last zu widersetzen. Sollte für solche Menschen das Glück keinen Wert, das Lnglück keinen Unwert haben? Beispiele dieser Art weisen aber nur besonders deutlich auf das hin, was mir die Beobach- tung im Grunde bei jedem Verhalten gegenüber Wertobjekten zu beleuchten scheint, nämlich, dafs dabei jederzeit in erster Linie die Gefühle und nur in zweiter die Begehrungen in Frage kommen. Insofern drängen die Tatsachen nun doch wieder zur Gefühlsdefinition des Wertes hin, und wir haben zu erwägen, was Ehrenfels gegen die von mir versuchte Bestimmung der- selben einwendet.

Sehen wir von Nebensächlichem ab, auf das ja auch E hr en- fels selbst kein Gewicht mehr legt 1 , so handelt es sich da um den Versuch, den Anteil an den Wertgefühlen, den ich der Über- zeugung von der Existenz oder Nichtexistenz, resp. vom Sosein des Wertobjektes beimesse, „der möglichst anschaulichen, lebhaften und vollständigen Vorstellung vom Sein oder Nichtsein des Objektes“ 2 zuzuschreiben, der das Urteil zwar förderlich aber keineswegs wesentlich wäre. 3 Man möchte sich solcher Formu- lierung gegenüber in besonderem Mafse dazu hingedrängt fühlen, in betreff der hier in Anspruch genommenen „Vorstellung“ von Sein resp. Nichtsein auf die früher durchgeführten Untersuchungen über Annahmen und Objektive zurückzuverweisen. Indes dürfte auch ohne Berufung auf diese Ergebnisse der in Bede stehende Versuch als erfolglos dargetan sein, wenn sich zeigen liefse: 1. dafs Werthaltungen ohne Urteil überhaupt nicht auftreten, mag es übrigens mit der „Lebhaftigkeit usw.“ der verfügbaren Vorstellungen wie immer bewandt sein, 2. dafs Werthaltungen auch ohne besondere Lebhaftigkeit der Vorstellungen sehr wohl anzutreffen sind, 3. dafs der Grundcharakter der Werthaltung, sozusagen deren Vorzeichen, in sein Gegenteil umschlägt, wenn ein eben solcher Umschlag in betreff des Urteiles erfolgt, indes


1 System Bd. II, S. 262 ff.

2 System Bd. I, S. 62.

s A. a. 0. S. 57 ff.


Zur Begelirungs- und Wertpsychologie.


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Veränderungen in der Lebhaftigkeit der Vorstellungen nirgends zu ähnlichen Ergebnissen führen.

§ 58.

Noch einmal die Phantasiegefühle. Wertung gegenüber Werth alt ung.

Ich beginne mit dem dritten Punkt, indem ich zum Erweise des darin Behaupteten auf alltäglichste Erfahrungen Bezug nehme. Gesetzt etwa, ein Sammler alter Musikinstrumente habe um vieles Geld eine Geige erstanden, bei der es ihm, wie in solchen Fällen die Regel, nicht auf den Ton, sondern nur auf die Echtheit und allenfalls auch auf das wohlerhaltene Äufsere ankommt. Stolz auf seinen Besitz weist er denselben einem Kenner vor, mufs sich aber von diesem sagen lassen, dafs er eine neue Nachahmung für ein altes Original genommen habe. Welche Veränderung hat sich, falls der Sammler dem Sach- verständigen glaubt, in seinem Werthalten vollzogen? Eben noch meinte er ein echtes Instrument zu besitzen : nun hat er plötzlich erkannt, dafs er ein solches nicht besitzt. Ein blofses Vor- st eilen erst des Seins, dann des Nichtseins dieses Besitzes ist das, auch wenn sonst nichts dagegenspräche, sicher nicht: noch da er an seinen Besitz glaubte, konnte er ganz wohl an die Möglichkeit etwa eines Verlustes und demgemäfs eines „Nicht- besitzes“ gedacht und sich daraufhin seines Besitzes erst recht gefreut haben. Diesmal aber ist’s kein blofses „sich denken“ 1 , sondern ein nur zu deutliches Glauben, und zwar ein Glauben entgegengesetzter Qualität im Vergleiche mit dem, das vorher die Werthaltung des Instrumentes begleitete und das, wenn man den nun erfolgten Gefühlswechsel in Betracht zieht, doch wohl mehr als blofse Begleittatsache gewesen sein mufs. Das Beispiel ist zugleich so gewählt, dafs gar kein Grund vorliegt, eine Ver- änderung in betreff der Lebhaftigkeit der Vorstellungen vor und nach der bedeutungsvollen Mitteilung des Sachverständigen zu vermuten. Das Instrument ist während der ganzen Verhandlung über seine Echtheit in Wahrnehmungsvorstellungen gegeben, mindestens diesen immer zugänglich: die erst affirmierte, dann negierte Echtheit aber ist der Konzeption durch eine Wahr- nehmungsvorstellung überhaupt nicht fähig.


1 Genauer natürlich „annehmen“.


330


Neuntes Kapitel.


Dem Beispiele mit möglichst lebhaften und anschaulichen Vorstellungen sei eines an die Seite gestellt, in dem zunächst Einbildungsvorstellungen beteiligt sind, also von Natur wenig „lebhafte“ Vorstellungen, für deren Anschaulichkeit zudem mindestens keine Garantie zu leisten wäre. In unsicheren Zeiten geschieht es bekanntlich nicht eben selten, dafs einer Geld und sonstige kostbare Habe durch Verstecken, insbesondere etwa Vergraben sich zu sichern versucht. Man erwäge nun die Ver- schiedenheit der Gemütslage, in der der Eigentümer eines solchen verborgenen Schatzes an diesen denkt, einerseits, solange er ihn in Sicherheit glaubt, und andererseits, wenn er erfährt, dafs der- selbe aufgefunden und geraubt worden sei. Es wäre hier immerhin möglich, dafs die Nachricht von der Plünderung die Vorstellung des verlorenen Gutes lebendiger macht: man braucht nun aber nur noch anzunehmen, die Plünderungsnachricht, nachdem sie eben eingetroffen, stelle sich als falsch heraus, um einen neuer- lichen Gefühlsumschlag vor sich zu haben, der diesmal mit einer augenblicklichen Veränderung in betreff der Lebhaftigkeit der Vorstellungen sicher nicht mehr verbunden sein kann.

Der eben betrachtete Fall kann zugleich bereits als Beleg für die zweite der oben aufgestellten Thesen gelten. Und man wird dies um so bereitwilliger einräumen können, je öfter man tatsächlich mit Gütern, d. i. Wertobjekten zu tun hat, die sich entweder schwer oder wohl auch gar nicht durch anschauliche Vorstellungen erfassen lassen, wie etwa Ehre, öffentliche Wohl- fahrt, Fortschritt und vieles andere. Dagegen verdient die erste unserer drei Behauptungen , deren Unverträglichkeit mit der EHRENFELSschen Auffassung besonders deutlich in die Augen fällt, eine besonders sorgfältige Erwägung, weil sie auf den ersten Blick so wenig die Erfahrung für sich zu haben scheint, dafs ein mehr oder minder deutliches Gefühl für diese Diskrepanz vielleicht dasjenige gewesen ist, was manchem die Gefühlstheorie des Wertes in erster Linie als nicht recht vertrauenswürdig hat erscheinen lassen. In der Tat wird meine Aufstellung: „Wert- haltung ist Existenzgefühl“ bereits in der Anwendung, die ich ihr in den „Untersuchungen zur Werttheorie“ gegeben habe, dem Einwande begegnet sein, dals es ja auch solchen Dingen gegenüber ein Wertverhalten gibt, die nicht existieren. Oder besteht das „Entbehren“ nicht geradezu darin, dafs man aut etwas „Wert legt“, das nicht existiert, so dafs man dessen


Zur Begehrungs- und Wertpsychologie.


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Existenz eben begehrt? Darin mufs nichtsogieich ein Argument auch zugunsten der Begehrungstheorie des Wertes gefunden werden: ich lege auf Vieles Wert, ich „schätze“ Vieles, das ich darum noch durchaus nicht begehre. Aber das Auseiuander- fallen von Existenz , genauer von wenigstens vermeintlicher Existenz einerseits, Wertgefühlen andererseits tritt hier deutlich zutage. Vollends unverkennbar scheint sich dieses geltend machen zu müssen, wenn es mir, wie meines Wissens von keiner Seite bestritten worden ist, gelungen sein sollte, in dem Aufsatze über „Werthaltung und Wert“ noch nachträglich zu beweisen, dafs für die Bestimmung der Wertgröfse nicht nur der Existenz- sondern auch der Nichtexistenzfall in Frage kommt . 1 Denn handelt es sich zugleich sowohl um Existenz als um Nicht- existenz, so kann sicher nicht erforderlich sein, dafs das Wert- subjekt mit dem Wertobjekt in betreff dieser beiden, mit ein- ander ja unverträglichen Eventualitäten durch je ein Urteil ver- bunden sei. Ich kann ja nicht zugleich an die Existenz und an die Nichtexistenz glauben : ist die Überzeugung aber in Hinsicht auf die eine der beiden Möglichkeiten entbehrlich, so liegt es nahe genug zu fragen, warum sie denn auch nur für eine un- erläfslich sein müfste.

Wie wenig mir selbst die einschlägigen Tatsachen zur Zeit der Niederschrift meiner werttheoretischen Aufstellungen fremd waren, beweist der Umstand, dafs ich in der eben erwähnten Nachtragsabhandlung darauf hingewiesen habe , dafs Wert- haltung und Wert unter anderem auch insofern nicht zusammen- fallen, als es normalerweise geradezu untunlich ist, den Wert eines Objektes sozusagen in seiner Totalität durch Eine Wert- haltung zu erfassen . 2 Gleichwohl mufs ich heute anerkennen, dafs, indem ich als eine Art Ersatz hierfür auf das Urteil über die Werthaltungen hingewiesen habe, die sich im Nichtexistenz- resp. Existenzfalle des betreffenden Objektes einstellen würden 8 , in meinen werttheoretischen Aufstellungen eine Lücke geblieben ist, die vielleicht nicht zum geringsten Teile dazu beigetragen haben könnte, manchem der neueren Bearbeiter der Wertprobleme den Aufbau der Werttheorie vom Gefühle aus unbefriedigend erscheinen zu lassen.

1 A. a. 0. im Archiv f. systemat. Philos. 1, S. 332 ff.

2 A. a. 0. S. 342.

3 A. a. 0. S. 343 ff.


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Neuntes Kapitel.


Nun hat mich aber dazu, diese Dinge gerade an dieser Stelle zur Sprache zu bringen, vor allem der Umstand ver- anlagst, dafs ich mich jetzt durch den Hinweis auf die An- nahmen und die sich an diese unter Umständen an schliefsenden „Phantasiegefühle“ in den Stand gesetzt glaube, die Lücke aus- zufüllen und dadurch der Gefühlstheorie des Wertes alle nur irgend zu wünschende Vorhältigkeit zu geben. Fürs erste ist es sicherlich kein erfahrungsfremdes Theorem, weit eher der Hinweis auf eine bis zur Trivialität selbstverständliche Sache, dafs der Arme, der auf Reichtum, oder der Kranke, der auf Gesundheit „Wert legt“, dabei nicht nur die Bedeutung der ihm so wohl vertrauten Abwesenheit dieser Güter fühlt, sondern sich eventuell auch in die Lage des Besitzenden oder des Ge- sunden „versetzt“, was, wie wir wissen, intellektuell eine An- nahme, emotional eines der oben besprochenen Phantasiegefühle zu bedeuten hat. Umgekehrt wird auch der Besitzende oder Gesunde den Wert dessen, was er vor so Vielen voraus hat, erst dann richtig erfassen können , wenn er sich nicht nur intellektuell, sondern auch emotional in die Lage des Nicht- besitzenden, des Kranken hineinphantasiert. Endlich aber wird es ein Wertverhalten auch gegenüber „blofs vorgestellten“, genauer unbeurteilten Gegenständen geben können, ohne ihrer etwa der Zukunft angehörenden Existenz oder Nichtexistenz etwas zu präjudizieren, und dennoch im Hinblick sowohl auf Existenz als auf Nichtexistenz. Indem man sowohl Existenz als Nicht- existenz annimmt und auf jede dieser Annahmen durch ein Phantasiegefühl reagiert, ist das betreffende Objekt in unmittel- barster Weise nach seinem subjektiven Werte gewürdigt. Es bleibt dabei natürlich dem einzelnen unbenommen, den Sach- verhalt auch rein intellektuell zu erfassen, indem er dem be- treffenden Objekte die Fähigkeit zuerkennt, Wertgefühle resp. die diesen entsprechenden Phantasiegefühle auf sich zu ziehen; doch ist dies ein Umweg, der voraussichtlich nur ausnahmsweise beschriften werden wird.

Darf ich sonach hoffen, in dem eben erörterten Sinne auch die erste der obigen drei Thesen einer bejahenden Beantwortung zugeführt zu haben, so finde ich insofern an meiner Behauptung „Wertgefühle sind Existenz- (resp. Nichtexistenz-) Gefühle“ nach wie vor nichts zurückzunehmen. Was mir bei Aufstellung dieser Behauptung aber noch unbekannt war, und die sorgfältigste Be-


Zur Begehnmgs- und Wertpsychologie.


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rücksichtigung verlangt, ist die Tatsache, dafs die Objektive Existenz und Nichtexistenz, resp. Sosein und Nichtsosein nicht nur durch das Urteil sondern auch durch die Annahme erfafst werden können, und demgemäfs die Wertgefühle sich nicht nur als Urteilsgefühle sondern eventuell auch als Annahmegefühle oder genauer gefühlsartige Zustände darstellen, durch die das Subjekt dort auf Annahmen reagiert, wo im Urteilsfalle sich die Werthaltungen einzustellen pflegen.

Diesen Quasigefühlen gegenüber, in denen wir einen speziellen Fall dessen haben erkennen müssen, was oben als „Phantasiegefühl“ zu benennen sich empfahl, drängt sich natür- lich neuerlich das Bedürfnis auf, welches neu beobachteten Tat- sachen gegenüber zu so vielen Verlegenheiten führt, das Be- dürfnis nach einer angemessenen Benennung. Da der vor- theoretische Sprachgebrauch mir ein den besonderen Tatbestand einigermafsen charakterisierendes Wort nicht darbietet, so will ich versuchen, aus der babylonischen Sprachenverwirrung in be- treff der philosophischen Terminologie, unter der alles wissen- schaftliche Arbeiten auf philosophischem Gebiete immer noch in so hohem Mafse leidet 1 , einmal vorübergehend eine Art Vorteil zu ziehen, indem ich einen der hier von der Sprache zur Ver- fügung gestellten Ausdrücke zunächst nach vorwiegend subjek- tivem Dafürhalten auswähle , obwohl ich dadurch dem von Ehrenfels und insbesondere von F. Krüger 2 bereits in prak- tische Anwendung gebrachten Wortgebrauche einen neuen ent- gegensetzen mufs. Von den drei zunächst in Frage kommenden Ausdrücken „Werten, Werthalten, Bewerten“ 3 habe ich die beiden letzteren bereits in meinen früheren Veröffentlichungen durch Anwendungsvorschläge zu bestimmen versucht : ausdrücklich und wiederholt habe ich Werthalten als das durch die Überzeugung vom Dasein oder Nichtdasein eines Objektes ausgelöste Gefühl


1 Und naturgemäfs immer mehr leiden wird, bis durch Konvention aller oder doch der meisten Fachgenossen unter unvermeidlicher Selbst- entäufserung des einzelnen Wandel geschaffen sein wird. In den be- treffenden Beschlüssen des VI. internationalen Psychologenkongresses in Genf darf man jetzt wohl den ersten Schritt zur Annäherung an dieses Ziel begrüfsen.

2 „Der Begriff des absolutwertvollen“, Leipzig 1898, namentlich S. 30 ff.

  • Vgl. die kleine Zusammenstellung bei Ehhenfels, System Bd. I,

S. 70 f.


334


Neuntes Kapitel.


bezeichnet, mehr vorübergehend Bewerten als das blofs intellek- tuelle Erfassen eines Wertes, kurz als Werturteil. Der Ausdruck „Werten“ dagegen, der meinem ganz persönlichen Sprach- gebrauche aus irgend einem zufälligen Anlasse besonders fremd geblieben ist 1 , hat sich mir infolgedessen für weitere Ver- wendung frei erhalten 2 , und ist mir nunmehr als einzig in diesem Sinne verfügbarer Terminus willkommen, um den durch die obigen Feststellungen wachgerufenen Ausdrucksbedürfnissen in einer mindestens nicht sprachwidrigen Weise Genüge zu leisten. Ich will also das Verhalten desjenigen als „Werten“ bezeichnen, der auf die Annahme von der Existenz oder Nichtexistenz eines Objektes mit dem oben wiederholt besprochenen Phantasiegefühl reagiert. Wertung ist dann das Seitenstück zur Werthaltung, von dieser dadurch unterschieden, dafs das dieser letzteren wesent- liche Urteil durch eine Annahme, das ihr wesentliche Urteils- gefühl durch ein Annahme-Quasigefühl, eben durch ein Phantasie- gefühl, ersetzt ist. Dafs diese Festsetzung nicht von aller Will- kürlichkeit frei ist, darüber gebe ich mich, wie berührt, durchaus keiner Täuschung hin : aber mir scheint, dafs es ohne jede Will- kürlichkeit oder Konvention in keinem Falle abgehen kann, wo es versucht werden soll, drei einander vortheoretisch so nahe- stehende Ausdrücke im theoretischen Interesse zu differenzieren. Aufserdem scheint mir aber die Hoffnung begründet, dafs die- jenigen, die „Wertung“ und „Werthaltung“, wie dies doch bisher die Regel war, promiscue anzuwenden sich gewöhnt haben, meinem Vorschläge in dem Mafse leichter beipflichten können, in dem sie an den von ihnen bisher promiscue benannten Tatsachen die im Hinweis auf Annahme und Phantasiegefühl gegebene Be- schreibung sachgemäfs finden.

Solche Ausdrucksweise vorausgesetzt, kann ich nun kurz

1 Daher noch die Anmerkung 1 auf S. 343 meines Aufsatzes „Über Werthaltung und Wert“.

  • M. Reischle referiert insofern nicht ganz genau, wenn er es als meine

Ansicht bezeichnet, „dafs die Wertungen selbst nur durch ein Werturteil zustande kommen“ und zum Belege dafür meine Behauptung zitiert: „V> enn ich ein Objekt bewerte, so geschieht dies, indem ich ihm Wert zuerkenne, also ein Werturteil fälle“ (M. Reischle, „Werturteile und Glaubensurteile“ S. 20 f.). Das an sich unwichtige Versehen kann gerade a. a. 0., nachdem der Verfasser unmittelbar vorher Wertung mit Werthalten identifiziert hat, zu einer Verkennung dos Grundgedankens meiner Werttheorie Anlafs geben.


Zur Begehrungs- und Wertpsychologie.


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sagen: ich war im Unrecht, wenn ich meinte, dafs alle Wert- gefühle oder besser alle Weisen, den Wert anders als einfach intellektuell, d. h. durch Bewertung zu erfassen, auf Wert- haltungen, also auf Urteilsgefühle zurückgehen. Den Wert- haltungen stehen eben noch die Wertungen zur Seite, und diesen kommt jenen gegenüber sogar eine Art Vorzug insofern zu, als sie beim emotionalen Erfassen einer Werttatsache niemals ganz fehlen dürfen, falls nicht ein wesentliches Moment unberück- sichtigt bleiben soll, indes die Werthaltungen unter Umständen völlig entfallen können, unter denen sich dann die Wertungen allein als ausreichend erweisen. Es liegt dies daran, dafs eben für den Wert die Rücksichtnahme auf Existenz sowohl als Nichtexistenz erforderlich ist, das Subjekt aber zu gegebener Zeit höchstens eines dieser beiden Objektive durch ein wirk- liches Urteil zu ergreifen versuchen kann. Diesem einen Ob- jektiv entspricht dann die Werthaltung, indes zum anderen nur eine Wertung gehören kann, die hier eben an Stelle der dem Subjekt unzugänglichen Werthaltung eintret en mufs. Dagegen kann es sehr wohl sein, dafs das Subjekt weder für die Existenz noch für die Nichtexistenz eine Überzeugung zur Verfügung hat: dann stehen dem Subjekte immer noch für beide Eventuali- täten Annahmen und Phantasiegefühle, also Wertungen zu Ge- bote, und die oben 1 besprochene Motivationskraft dieser Quasi- gefühle wird nicht am wenigsten dasjenige sein, was den Zu- sammenhang zwischen Wert und Begehren zu einer so auf- fälligen Tatsache gemacht hat.

Vielleicht wird es nach dem Gesagten befremden, wenn ich nun gleichwohl die Behauptung, dafs das Grunderlebnis allen Wertes 2 die Werthaltung sei, nicht gleichfalls zugunsten der Wertung zu modifizieren bereit bin. Das liegt an dem eigentüm- lichen Verhältnisse, in dem sich die Phantasiegefühle zu den

1 Vgl. § 56.

2 An dieser Stelle meine ich das, immerhin vorerst noch ganz sub- jektive Bekenntnis nicht unterdrücken zu dürfen, dafs mir der Übergang von dem Grunderlebnis zum Werte selbst heute nicht mehr so einfach vollziehbar scheint, wie noch zur Zeit der Abfassung der ersten Auflage. Wer sich gewöhnt hat, den intellektuellen Psychologismus im hellen Lichte gegenstandstheoretischer Betrachtungsweise zu sehen, der kann an der Frage nicht mehr vorübergehen, ob es nicht auch einen emotionalen Psychologismusjgibt. Daraufhin die Aufstellungen der ersten Auflage ab- zuändern, hat mir indes, wieder subjektiv, verfrüht geschienen.


336


Neuntes Kapitel.


ihnen zugeordneten eigentlichen Gefühlen befinden, und das dem zwischen Annahme und Urteilen oder auch zwischen Einbildungs- und Wahrnehmungsvorstellungen durchaus analog ist. Annahme wie Einbildungsvorstellung spielen im psychischen Leben die Rolle von stellvertretenden Tatsachen, die ihre Bedeutung zu- letzt doch vor allem den Wahrnehmungsvorstellungen resp. Ur- teilen entlehnen, die sie unter Umständen zu ersetzen die Auf- gabe haben. Ebenso scheinen mir Wertungen und Wert- haltungen 1 sozusagen nicht auf gleicher Linie zu rangieren, in- dem das Eintreten der Wertungen vielmehr eben darin seine Legitimation findet, dafs den Werthaltungen niemals sowohl Existenz als Nichtexistenz zugänglich, dagegen unter Umständen Eines w T ie das Andere mangels des erforderlichen Wissens oder doch Urteilens des Subjektes diesem verschlossen ist. Wo also Wertungen an Stelle von Werthaltungen auftreten, da geschieht dies sozusagen im Namen der letzteren, und diese sind es, an die der Wertgedanke seiner Natur nach doch zuletzt immer wieder anknüpft . 2 Eine Bestätigung dieser Auffassung macht sich geltend, wo die Wirklichkeit nicht hält, was die Phantasie versprach, indem durch das Urteil nicht jene Gefühle ausgelöst werden, die den durch vorhergehende Annahmen hervorgerufenen Phantasiegefühlen zugeordnet sind. Man redet da von Täuschung, womit w r ohl anerkannt ist, dafs unter den Phantasiegefühlen, zu- nächst also Wertungen im Grunde doch die eigentlichen Gefühle, also zunächst Werthaltungen „gemeint“ waren.

Es dient vielleicht der Klärung, zugleich der zusammen- fassenden Heranziehung früherer Aufstellungen, wenn hier zum Schlüsse den Werthaltungen und Wertungen noch einmal die ästhetischen Gefühle gegenübertreten. Diese wie jene sind nicht Akt-, sondern Inhaltsgefühle 3 ; aufserdem aber sind die ästheti-

1 Über die stellvertretende Bedeutung der Phantasieerlebnisse beim Spiele vgl. K. Lange, „Das Wesen der Kunst“, 2. Auf!., S. 628 ff., auch 618f.

2 Wie man sieht, liegt mir ganz fern, die natürliche Verbindung zwi- schen „wahrem Wert“ und wahren Objektiven resp. Urteilen lockern zu wollen. B. Rüssels Hinweis auf diese Verbindung (Meinong's theory of complexes and assumtions“, Mind. N. S. 13, S. 352 Anm.) erinnert zwar in sehr beachtenswerter Weise daran, dafs Annahmen bei Werterlebnissen nicht für alle Urteile als Ersatz eintreten können, beweist aber nichts dagegen, dafs ihnen der oben gekennzeichnete Anteil an den Werterleb- nissen zukommt.

s Vgl. Witasbk Ästhetik S. 195 ff.


Zur Begehrungs- und Wcrtpsychologie.


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sehen Gefühle Ernstgefühle wie die Werthaltungen und (wenig- stens ihrer nächsten Natur nach) Annahmegefühle wie die Wertungen. Diese eigentümliche Mittelstellung könnte leicht damit in Zusammenhang stehen, dafs die Wertgefühle zunächst Seinsgefühle, die ästhetischen Gefühle zunächst Soseinsgefühle zu sein scheinen . 1 Übrigens dürfte aus dem eben Gesagten nicht geschlossen werden, dafs Phantasiegefühle nicht auch auf ästhetischem Gebiete Vorkommen: der suggestive Einflufs z. B. der vom ästhetischen Verhalten der räumlichen und zeitlichen Umgebung oder besonders suggestionskräftiger Persönlichkeiten auszugehen pflegt, wird sich wohl immer zuerst als „Phantasie- gefühlssuggestion“ geltend machen. Dafs es aber schliefslich Phantasiegefühle nicht nur im Gebiete der Inhalts- sondern auch der Aktgefühle gibt, das scheint mir 2 jeder Fall zu beweisen, wo wir uns vergangener physischer Schmerzen erinnern oder von solchen Schmerzen bei anderen Kenntnis nehmen. Der Gegensatz von Ernst- und Phantasiegefühl beherrscht eben das Gesamtgebiet der Gefühle in gleicher Weise wie der von Urteil und Annahme das Gesamtgebiet der den Objektiven als Er- fassungsmittel gegenüberstehenden intellektuellen Erlebnisse, und andererseits, worauf hier freilich nicht mehr eingegangen werden kann, der Gegensatz von Ernst- und Phantasiebegehrung das Gesamtgebiet der Begehrungen beherrscht.

1 Vgl. oben § 55 gegen Ende.

2 Gegen Witasek a. a. 0. S. 199, 202.


Meinong, Über Annahmen, 2. Aufl.


22


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Zehntes Kapitel.

Ergebnisse. Bausteine zu einer Psychologie der Annahmen.


§ 59 .

Zur Beschreibung des Annahmeerlebnisses.

Akt und Inhalt.

Es mufste im Verlauf der vorstehenden Untersuchungen wiederholt darauf hingewiesen werden, dafs ihr Fortgang zur Einbeziehung ziemlich verschiedenartiger Probleme genötigt hat. So hätte nun auch eine zusammenfassende Übersicht über die Ergebnisse dieser Untersuchungen hier ziemlich verschieden- artiges zu registrieren, dessen Wert nicht nur von dem Mafse abhängig zu sein brauchte, in dem es speziell der Erforschung der Annahmen förderlich war. Im gegenwärtigen Kapitel aber sollen die Annahmen als der eigentliche Vorwurf dieser Darlegungen zur ausschliefslichen Berücksichtigung gelangen. Es soll also im folgenden versucht werden, das Wesentliche dessen, was im Bis- herigen in betreff der Annahmen festgestellt worden sein möchte, in sachlich geordneter Folge zu überschauen und wohl auch noch um einiges weiter zu führen. Es soll dies unter drei Ge- sichtspunkten geschehen. Vor allem soll zusammengestellt werden, was einer charakterisierenden Beschreibung der neuen Erlebnisklasse dienlich sein könnte. Dann aber soll die Position genauer präzisiert werden, in der sich die Annahmen ihrer psychologischen Umgebung gegenüber befinden, und zwar einer- seits ihrem wirklichen Vorkommen nach, andererseits aber auch der Stellung und Bedeutung nach, die ihnen in einer möglichst natürlichen Systematik des psychischen Geschehens wird zu- kommen müssen.

Indem ich mich hier zunächst der ersten dieser drei Auf- gaben zuwende, scheint mir zur Aufsuchung der wichtigsten Eigenschaften der Annahme ein willkommener Gesichtspunkt


Ergebnisse. Bausteine zu einer Psychologie der Annahmen.


339


durch den Umstand nahe gelegt, dafs wir in derselben ja jeden- falls ein dem Urteil in mehr als einer Hinsicht ähnliches psy- chisches Geschehnis kennen gelernt haben. Nun ist freilich, wie ich glaube, die Urteilstatsache in ihrer charakteristischen Eigen- artigkeit in der Psychologie bei weitem noch nicht zu der ihr gebührenden Geltung gelangt. Aber ohne Zweifel ist doch das Urteil im Vergleich mit der Annahme das um vieles besser Ge- kannte, und es ist zu erwarten, dafs wenn wir nun die für das Urteil wesentlichen Momente eines nach dem anderen vornehmen und daran die Frage knüpfen, ob auch bei der Annahme etwas Analoges anzutreffen sein möchte, doch einige der für die Eigenart der Annahmen wesentlichen, wenn nicht geradezu die wesentlichsten Momente zur Sprache kommen werden.

Und da sind denn vor allem zweifellose Übereinstimmungen zu konstatieren. Das zeigt sich schon hinsichtlich der psycho- logischen Voraussetzung, deren das Urteil so wenig entraten kann wie die Annahme, da beides unselbständige Erlebnisse sind. Als solche Voraussetzung ist beim Urteile die Vorstellung längst anerkannt; wir haben es wahrscheinlich gefunden, dafs die Vorstellung noch durch andere „präsentierende“ Erlebnisse ersetzt werden kann , 1 und haben in der Tat im Vorhergehenden Gelegenheit genug gehabt, uns zu überzeugen, dafs es damit bei der Annahme ebenfalls nicht anders bewandt ist. Näher ist es bei Urteil wie bei Annahme die Leistung der psychologischen Voraussetzung, das „Material“ gleichsam zur Verarbeitung zu präsentieren : beim Urteil redet man darauf hin von Beurteilung ; für die Annahme haben wir die Bezeichnung „Beannahmung“ nicht ganz verwerflich gefunden. Das Material ist einteilig oder zweiteilig, je nachdem es in einem Seins- oder in einem Soseins- objektiv erfafst wird: auch dieses trifft natürlich von der An- nahme nicht weniger zu als vom Urteil. Nur soweit das Präsen- tierte ein Tatsächliches ist und als solches erfafst werden soll, steht die Annahme hinter dem Urteil charakteristisch zurück. Sogleich unten wird dieser Umstand noch einmal zu be- rühren sein.

Gehen wir von der psychologischen Voraussetzung zum Er- lebnisse selbst über. Es zu einer wirklich befriedigenden Defi- nition des Urteils zu bringen, darauf scheint die Psychologie,


1 Vgl. § 4, 20.


22 *


340


Zehntes Kapitel .


zurzeit 1 wenigstens, ganz ebenso verzichten zu müssen, als sie nicht daran denkt, eine Definition der Vorstellung zu geben, oder es ihr bisher geglückt ist, das Gefühl oder die Begehrung zu definieren. Auch bei der Annahme dürften die Dinge für eine Definition nicht günstiger stehen, und darum gibt es hier zur ersten Kemntnisnahme dessen, was unter einer Annahme zu verstehen ist, nichts als den Hinweis auf die direkte Empirie der inneren Wahrnehmung. Diese praktische Undefinierbarkeit, wie man ganz wohl sagen könnte , 2 hindert den Psychologen keineswegs am Urteile durch Abstraktion gewisse charakteristische und in bestimmter Weise variable Momente herauszuarbeiten: es steht zu erwarten, dafs es damit auch bei der Annahme nicht anders bewandt sein wird. Eine gewisse Direktive gewährt dabei der Umstand, dafs sich das Verhältnis zwischen Urteil und An- nahme, wie sich uns schon am Anfänge dieser Untersuchung auf drängen konnte , 3 durch eine fast definitionsartige Aufstellung präzisieren läfst, indem man etwa sagt : „Annahme ist Urteil ohne Glauben“, oder natürlich ebenso gut: „Urteil ist Annahme unter Hinzutritt des Glaubens“ oder ähnlich. Definiert ist in dieser Weise genau besehen natürlich die Annahme so wenig wie das Urteil; aber es ist damit schon ziemlich deutlich vorgegeben, wie weit ungefähr die Urteilsähnlichkeit bei der Annahme reichen kann.

Das Urteilen ist jederzeit ein Tun im Gegensatz zu dem Leiden, d. h. jenem passiven Verhalten, das uns etwa im Fühlen, aber streng genommen auch im Vorstellen entgegentritt 4 : an diesem Aktivitätscharakter hat das eben berührte Glaubens- oder Überzeugungsmoment sicher seinen Anteil, aber doch nicht so, dafs mit seinem Fortfall auch die Aktivität verloren ginge: das Annehmen ist ein Tun so gut wie das Urteilen. Ebensowenig hegt im Mangel an Glauben ein Hindernis, bei den Annahmen so gut wie beim Urteil Akt, der übrigens mit Aktivität nichts zu tun hat, und Inhalt auseinanderzuhalten. Wirklich bewährt sich der Gesichtspunkt dieses Gegensatzens auch bei den An-

1 Ob für alle Zeiten, wird dermalen wohl unausgemacht bleiben müssen.

2 Theoretisch wäre sie, wenn das Wesen des Urteils resp. der An- nahme eine Definition ausschliefsen sollte, was möglich ist, wofür ich aber keinen Beweis antreten könnte.

5 Vgl. oben Kap. I, § 1.

4 Vgl. Höflbr, Psychologie, S. 16. Witasek, Psychologie S. 81 ff.


Ergebnisse. Bausteine zu einer Psychologie der Annahmen. 341

nahmen bestens zur Übersicht über die ihnen eigentümliche Sachlage.

Indem ich beim Inhalt beginne, brauche ich nicht neuerlich zu konstatieren, dafs mit Urteilsinhalt und ebenso mit Annahme- inhalt nicht der Inhalt gemeint ist, durch den etwa die Voraus- setzungsvorstellungen das Material präsentieren: dergleichen ist jederzeit nichts als Vorstellungsinhalt. Aber die Analogie zum Vorstellungsinhalt bleibt immerhin auch beim Urteils- resp. An- nahmeinhalt insofern gewahrt, als bei Vorstellungen der Inhalt das dem variablen Vorstellungsgegenstande, dem Objekte in be- sonderem Mafse Zugeordnete bedeutet, beim Urteil und der An- nahme ebenso das an diesen Erlebnissen ihrem Gegenstände, dem Objektiv in besonderem Mafse Zugeordnete. Und wie der Vorstellungsinhalt durch das Objekt, so charakterisiert sich denn auch Urteils- und Annahmeinhalt am besten durch das Objektiv: dafs hinsichtlich des Objektivs in der Regel zwischen Urteil und Annahme ein Unterschied nicht besteht, Urteil und Annahme also hinsichtlich ihres Inhaltes übereinstimmen, davon haben wir uns in den verschiedensten Zusammenhängen zu überzeugen Gelegenheit gehabt. So gibt es denn Seins- wie Nichtseins-, Seins- wie Soseins-, Existenz- wie Bestandannahmen. Nur in betreff der Tatsächlichkeit und der damit in so naher Beziehung stehenden Möglichkeit stehen die Dinge etwas komplizierter, so dafs es sich empfehlen wird, davon sowie von der Evidenz bei den Annahmen in einem besonderen Paragraphen zu handeln. Davon vorerst abgesehen dürfen wir sagen, dafs hinsichtlich der gegenständlichen resp. inhaltlichen Seite eine recht weitgehende Übereinstimmung zwischen Urteil und Annahme zu konsta- tieren ist . 1

Den Übergang vom Inhalt zum Akt mag der eben vom Inhaltsstandpunkte aus herangezogene Gegensatz des Seins- und Soseinsobjektivs gewinnen helfen, von dem ich nicht unerwähnt lassen möchte, dafs ich mich des Eindruckes nicht recht erwehren


1 Die Übereinstimmung erscheint C. Stumpf so grofs, dafs er darauf- hin die ganze Klassenverschiedenheit von Annahme und Urteil in Zweifel zieht („Erscheinungen und psychische Funktionen“, Abhandlungen der k. preufs. Akademie d. Wiss. Berlin 1907 S. 30, Anm.). Dagegen erklärt A. Mäht?: „Nur was die sog. Annahmen von den Urteilen unterscheiden soll, verstehe ich, nicht was ihnen als Gattungscharakter gemein sein soll“ („Über , Annahmen'“, Bd. 40 der Zeitschr. f. Psychol ., S. 17).


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kann, er müfste aufser für den Inhalt doch auch für den Akt etwas zu bedeuten haben, wogegen der Möglichkeit nach ja sicher nichts einzuwenden ist. In der ersten Auflage dieses Buches 1 habe ich hinsichtlich der diese beiden Objektivarten erfassenden Urteile von einer thetischen und einer synthetischen Funktion derselben reden zu dürfen gemeint. Auf die Gegenstände bezogen sind die dabei angewendeten, bekanntlich nichts weniger als neuen Bilder eigentlich recht irreführend : es liegt nicht in der Macht eines Urteilenden als solchen, Gegenstände zu „setzen“ ; und mag andererseits darin, dafs ich über zwei Gegenstände A und B etwa in der Form „A ist B“ urteile, wirklich eine Art Ver- bindung zwischen diesen beiden Gegenständen gelegen sein, die herzustellen und wieder zu unterbrechen Sache meines Tuns ist, so hat man die „Synthesis“ kaum je so anspruchslos gemeint. Dennoch verrät sich in solchen Bildern eine V erschiedenheit der Sachlage, für die der Inhalt allein schwerlich wird aufkommen können. Etwas, was Urteil und Annahme voneinander trennte, liegt aber hierin keinesfalls: wir konnten ja schon eben zuvor Seins- und Soseinsobjektive für beide Erfassungsweisen in An- spruch nehmen.

Abgesehen von diesem noch durchaus ungeklärten Punkte jedoch sind wir im Akte offenbar zu jener Seite der Urteils- resp. Annahmetatsache gelangt, wo wir die eigentlichen Ver- schiedenheiten zwischen diesen Erlebnissen anzutreffen erwarten dürfen. Was zunächst am Urteilsakte in die Augen springt, das ist das quantitative Moment daran. Nicht jene „Quantität", die die Logik dem Urteile im Gegensätze zu seiner „Qualität“ zu- zuschreiben sich gewöhnt hat: diese „Qualität“ betrifft, wie wir wissen, das Geurteilte, jene „Quantität“ das Beurteilte, so dafs Beides, die „Qualität“ enger, die „Quantität“ etwas entfernter dem Inhaltsbereiche zugehört. Jetzt aber handelt es sich um jenes quantitative Aktmoment, das man als das Mehr und Weniger an Gewifsheit des Urteilens kennt und über dessen Variabilität kein Zweifel besteht. Steht nun dieser Variabilität eine analoge bei der Annahme zur Seite? Bei der engen Beziehung, die zwischen den Gewifsheitsgraden und den Wahrscheinlichkeits- graden beim Urteil anzutfeffen ist, kann man, da die direkte


1 In dem, wie mir scheint, jetzt überflüssig gewordenen § 34 der ge- nannten Auflage.


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Erfahrung von der fraglichen Veränderlichkeit bei den Annahmen nichts aufzuweisen scheint, zu einer Antwort zu gelangen hoffen, indem man nachsieht, ob das Gebiet der Wahrscheinlichkeiten den Annahmen etwa verschlossen ist. Es wäre das in der lat sehr auffallend, und ist denn auch, wie man leicht konstatieren kann, sicher nicht der Fall.

Am deutlichsten erkennt man dies so ziemlich überall dort, wo man sich einigermafsen theoretisch mit der Bestimmung von Wahrscheinlichkeiten beschäftigt. Nichts ist da natürlicher als etwa zu sagen: „Aus einem Sacke mit weifsen und schwarzen Kugeln sei zehnmal hintereinander stets Weifs gezogen worden: unter dieser Voraussetzung bestehe daher eine gewisse Wahrschein- lichkeit dafür, auch das elfte Mal Weifs zu ziehen“. Die Aufgabe mag dann sein, diese Wahrscheinlichkeit unter gewissen näher anzugebenden Voraussetzungen numerisch zu bestimmen. Natür- lich handelt es sich um die Wahrscheinlichkeit, die aus den vor- gegebenen Voraussetzungen folgt. Woran hängt aber, wenn man so sagen darf, diese Wahrscheinlichkeit? Man wird viel- leicht sofort an das unter den gegebenen V oraussetzungen gültige Urteil denken, das natürlich nur eine Vermutung sein könnte. Aber diese Vermutung liegt ja in Wahrheit gar nicht vor, sondern hätte nur unter den vorgegebenen Voraussetzungen ihre Gültig- keit. Offenbar müssen hier Erwägungen Platz greifen, wie sie bei der Untersuchung der Schlüsse aus suspendierten Prämissen resp. der hypothetischen Urteile anzustellen waren 1 und hier nicht neuerlich darzulegen sind. Nicht blofs die Prämissen sind, psychologisch besehen, nur Annahmen, sondern ebenso auch die conclusio. Die Konklusionsannahme aber ist es, der gegenüber von gröfserer oder geringerer Wahrscheinlichkeit die Rede ist; und darin liegt die Tatsache beschlossen, dai's Unterschiede dieser Art nicht nur auf Urteile, sondern nicht minder auf Annahmen zu beziehen sind.

Man kann also sagen: die Wahrscheinlichkeiten sind dem Annehmen durchaus nicht unzugänglich ; wird nun aber daraus wirklich etwas hinsichtlich des Auftretens verschiedener Annahme- stärken zu folgern sein? Zunächst ist sofort deutlich, dafs, so leicht der Zusammenhang zwischen Wahrscheinlichkeitsgraden und Graden des Glaubens oder auch Graden der Urteilsstärke


1 Vgl. oben Kap. VI.


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herzustellen ist, so schwer ein solcher in betreff allfälliger An- nahmestärken auszudenken wäre. Immerhin vielleicht nicht zum Geringsten deshalb, weil man sich unter solchen „Graden des Annehmens“ so gar nichts Anschauliches denken kann; und dies wieder darum, weil uns die Erfahrung in bezug auf Fälle ver- schiedener Annahmestärke völlig im Stiche zu lassen scheint. So wird also am Ende doch nichts übrig bleiben, als erfahrungs- gemäfs zu konstatieren, dafs das Analogon zur Stärkevariabilität des Urteils bei der Annahme fehlt: das Verhältnis der Annahmen zur Wahrscheinlichkeit soll sogleich unten noch einmal zur Sprache kommen.

Natürlich wird man nun aber den Urteilsakt nicht für nur quantitativ charakterisiert halten, und ohne Zweifel den Unter- schied zwischen Urteil und Annahme zunächst auf die Akt- qualität beziehen dürfen ; es wäre nichts Auffallendes, wenn eine nähere Beschreibung dieses Unterschiedes untunlich sein sollte. Hier eröffnet indes der Umstand, dafs das Urteil sich in so natür- licher Weise als der gewissermafsen reichere Tatbestand darstellt gegenüber der Annahme als dem ärmeren, die Aussicht, noch einen Schritt weiter zu gelangen. Es hat sich uns wiederholt als völlig natürlich ergeben, vorerst ohne jeden Anspruch auf Exaktheit zu sagen : in der Annahme haben wir im Grunde das Nämliche vor uns wie im Urteil, nur sozusagen um das Uberzeugungs- oder Glaubensmoment weniger. Man könnte jetzt immerhin versuchen, das genau zu meinen in der Position: die Annahme ist eine Art Grenzfall des Urteiles, charakterisiert durch den Null wert der Überzeugungsstärke . 1 Es würde darin zugleich die Behauptung liegen, Urteil und Annahme stimme im übrigen nicht nur dem Inhalte, sondern auch dem Akte nach überein, was aber natürlich nicht selbstverständlich ist, so dafs es noch durchaus eines näheren Erweises bedürftig bliebe.


1 Vgl. E. Liljeqvist, „Meinongs allmänna värdeteori“, Göteborg 1904, S. 105 f. Anm. A. Mart* meint freilich, „Damit würde der Überzeugungs- charakter aufhören, ein blofses Moment an einem Akte, er müfste selbst ein Akt, ein reales Akzidens der Seele oder vielmehr ein Akt am Akte sein, was alles ganz unannehmbar ist“ („Über , Annahmen “, in Bd. 40 der Zeitschr. f. Psychol., S. 11). Aber am Ende werden derlei Schwierigkeiten vielleicht doch zu überwinden sein.


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§ 60 .

Fortsetzung: Evidenz.

Besonders sorgfältige Erwägung verdient nun noch die Frage, ob die an den Urteilen, wie wir wissen, erkenntnistheoretisch so fundamentale Tatsache der Evidenz auch bei den Annahmen ihresgleichen hat, genauer, ob es bei den Annahmen etwas der Urteilsevidenz ausreichend Ähnliches gibt, dafs man daraufhin sich berechtigt finden kann, auch von Annahmeevidenz zu reden. Auf den ersten Blick mag man hier sehr bestimmte Neigung verspüren, mit „Nein“ zu antworten und diese Antwort mit dem Hinweis darauf zu begründen, dafs es ja ganz und gar Sache meiner Willkür ist, ob ich einen bestimmten Gegenstand zum Gegenstand einer Annahme mache oder nicht, und ob im ersten Falle die Annahme affirmative oder negative Qualität erhält. In der Tat, wenn man sich gewöhnt hat, das Urteil viel- leicht in höherem Mafse, als der Erfahrung entspricht, für un- beeinflufsbar durch Wünschen und Wollen zu halten, so mag das in erster Linie darin seine Ursache haben, dafs man beim Urteilen sogleich an das Erkennen, also zuletzt an das evidente Urteilen denkt, die Evidenztatsache aber ihrer eigensten Natur nach die Möglichkeit auszuschliefsen scheint, dafs das Begehren in irgend- einer Weise Macht über sie haben könnte.

Es ist beachtenswert, dafs eine derartige Betrachtungsweise zwei ganz verschiedene Momente heranzieht, indem es sich hier einerseits um die direkte, andererseits um eine sehr indirekte Konstatierungsweise der Evidenz beim Urteile handelt. Ob ein vorliegendes Urteil Evidenz hat oder nicht, das sagt mir unter günstigen Umständen die innere Wahrnehmung. Oft kann ich jedoch hierüber auch etwas feststellen, wenn ich mich an die ebenso unzweifelhafte als wichtige Tatsache halte, dafs niemand das Gegenteil dessen glauben kann, was er einsieht. Darin liegt ja, dafs das Gegenteil dessen, was ich glaube, mir niemals evident sein kann. Könnte ich alles glauben, so läge darin ein Beweis dafür, dafs mir überhaupt kein Urteil evident ist.

Es ist nun der oben ausgesprochenen Vormeinung durchaus gemäls, dafs, mag man hinsichtlich der Annahmen den Weg direkter empirischer Feststellung oder den beim Urteil bewährten indirekten Weg über das Gegenteil einsehlagen, man ganz aufs er-


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stände ist, ein Annahmeerlebnis namhaft zu machen, dem man füi sich allein irgend etwas wie Evidenz nachzusagen vermöchte, oder das für sich allein etwa seinem Gegenteil gegenüber irgend etwas an Evidenz voraus hätte. Solcher Annahmen freilich, denen wahre oder falsche, evidente oder evidenzlose Urteile zugeordnet sind, gibt es natürlich die Fülle. Aber die Tatsache, dafs das Urteil „A ist B u evident wahr oder auch evident falsch ist, ist völlig verschieden davon, ob der Annahme „A ist B“ Evidenz zukommt oder nicht. Dies ausreichend fest im Auge behalten, läfst sich also sagen : es gibt keine Annahme, die vor anderen Annahmen, für sich allein betrachtet, einen Evidenzvorzug auf- zuweisen hätte, und auch keine, gegen die, für sich allein be- trachtet , vom Standpunkte irgendeiner Evidenzforderung aus Einwendungen zu erheben wären. Insofern ist unserem Annehmen keinerlei Evidenzschranke gesetzt: es gilt das Prinzip unbe- schränkter Annahmefreiheit.

Seltsamerweise steht nun aber dieser Freiheit in betreff iso- lierter Annahmen eine ganz unverkennbare Gebundenheit gegen- über, wenn man eine oder mehrere Annahmen als vorgegeben betrachtet und dann weitere Annahmen auf sie bezieht. Habe ich einmal angenommen, dafs A B sei, dann steht es mir nicht mehr frei , auch noch anzunehmen , dafs irgendeines dieser A nicht B sei, — es wäre denn, dafs ich die ersterwähnte Annahme zuvor aufgebe oder doch unberücksichtigt lasse. Man kann diese Tatsache etwa in dem Satze aussprechen: Annahmen sind zwar, absolut betrachtet, ausnahmslos frei, sie können aber gleichwohl relativ gebunden sein. Es fragt sich nun nur, wie die Tatsache relativer Gebundenheit genauer zu beschreiben ist. Sie ist uns in unseren bisherigen Untersuchungen wiederholt begegnet, und die Auffassung derselben als Evidenz oder doch evidenzartige Tatsache hat sich uns dabei wohl in ungezwungenster Weise aufgedrängt. Es wird aber am Platze sein, hier ausdrücklich nachzufragen, ob nicht etwa auch andere Auffassungen mit einigermafsen be- friedigendem Erfolge heranzuziehen wären.

Vielleicht wird manchem naheliegend scheinen bis zur Selbst- verständlichkeit, dafs diese „Gebundenheit“ nicht wohl anderes sein könnte als eine unter gewissen Umständen sich geltend machende Nötigung, so dafs, wer etwa einmal angenommen hat, A sei B und B sei C, nun einfach gar nicht anders kann als auch annehmen, A sei C, — oder dafs er auf diese Annahmen


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hin mindestens ganz aufserstande ist, anzunehmen, dafs etwa A nicht C wäre. Und man könnte dann weiter versuchen, diese psychische Nötigung einer noch allgemeineren Gesetz- mäfsigkeit zu unterstellen, der dann freilich das oben formulierte Prinzip der absoluten Annahmefreiheit zum Opfer fallen mülste. Wäre es nicht ein ganz ansprechender Gedanke, zu vermuten, dafs wir überhaupt nicht imstande sind, sozusagen gegen unsere bessere Überzeugung Annahmen zu machen, d. h. etwas anzu- nehmen, von dem wir bereits wissen, dafs es falsch ist ? Die Anwendung auf unseren Fall von Syllogismus wäre dann einfach genug: dafs nicht zugleich A ß, B G und doch nicht A C sein kann, das weifs man ja. Allein die eben versuchsweise auf- gestellte Gesetzmäfsigkeit wird durch einfachste Erfahrungen widerlegt: jedermann kann sich durch den Versuch davon über- zeugen, wie leicht er etwa beim trostlosesten Regenwetter sich in die Situation eines wolkenlosen Sommertages hineinzudenken, sonach eine Annahme zu machen vermag, von deren Falschheit, wie man mehr kurz als genau sagen kann, ihn der unmittelbare Augenschein nur zu eindringlich überzeugt hat. Man könnte daraufhin es mit einer Art Einschränkung versuchen, indem man behauptete, es sei zum mindesten untunlich, etwas anzu- nehmen, dessen Falschheit aus der Beschaffenheit des Okjektivs heraus, also a priori, einleuchte oder sich einleuchtend machen lasse. Aber auch diese Position käme mit der Erfahrung in Konflikt: ich kann ja auch annehmen, dafs es ein rundes Viereck gebe oder ein Kreis viereckig sei oder dgl. So versagen, wie es scheint, alle Gesichtspunkte, unter denen man versuchen mag, sich das Müssen oder Nicht-anders-können doch wieder erkenntnis- teleologisch zurecht zu legen. Gleichwohl könnte natürlich die Nötigung resp. Unfähigkeit zu gewissen Annahmen immer noch Tatsache sein: ist sie es aber auch? — und wenn sie es wäre, dürfte man in ihr wirklich das suchen, was wir eben unter dem Namen der Gebundenheit gewisser Annahmen konstatiert haben?

Was zunächst die erste Frage betrifft, so dürfte für unsere Zwecke genügen, darauf aufmerksam zu machen, dafs die Selbst- verständlichkeit, mit der man auf eine bejahende Beantwortung derselben zu rechnen geneigt sein mag, jedenfalls auf eine Täuschung zurückgeht. Dafs ich nicht sozusagen in einem Atem annehmen werde, dafs alle A ß sind und doch eines davon


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nicht b , das versteht sich freilich, aber doch nur, weil das hand- greiflich unvernünftig wäre. Ob ich aber diese Unvernünftig- keit nicht leisten könnte, wenn ich etwa erst nur unvernünftig sein wollte, oder es wohl gar wäre, so dafs ich das Wollen gar nicht nötig hätte, das ist doch zum mindesten noch sehr die Frage. Darf ich dem Experimente trauen, das ja sehr leicht anzustellen, nur schwer mit ausreichender Zuverlässigkeit zu interpretieren ist, so kostet es gar keine besondere Mühe, solche Unvernünftigkeit wirklich zustande zu bringen: ich kann un- mittelbar hintereinander annehmen, sowohl dafs alle A B seien, als dafs sie es nicht seien; zweifelhaft ist dabei allerdings, ob mir bei der zweiten Annahme die erste ausreichend gegen- wärtig bleibt.

Was vielleicht nicht immer deutlich bei jenen (expliziten) Annahmen gelingen mag, bei denen sich eine Denkbewegung als bei ihren Ziel- oder sonstigen Ruhepunkten relativ länger aufhält, zeigt sich um so vorbehaltloser bei Annahmen realisiert, die, indem sie etwa als Ergreifungs- resp. Präsentationsmittel für Objektive fungieren, im Denken nur gleichsam als Durch- gangspunkte auftreten. Typisch dafür ist jeder Fall, wo man eine Kontradiktion einsieht. Wer mit Evidenz urteilt: „dafs A B ist und zugleich auch nicht B ist, das gilt nicht“, der mufs natürlich sowohl das eine als das andere der beiden miteinander unverträglichen Objektive erfassen, wird also, falls er nicht etwa eines der beiden urteilt, beide Objektive annehmen müssen . 1 Man darf also unbedenklich sagen: sollte das Wort „Annahmefrei- heit“ nichts besagen als die Fähigkeit, die betreffende Annahme unter den gegebenen Umständen zu machen, so dürfte man nicht nur von absoluter, sondern auch von relativer Annahme- freiheit, im ganzen also von prinzipiell ganz unbeschränkter An- nahmefreiheit reden. Jedenfalls bietet, sie zu bestreiten, die Er- fahrung keinen einigermafsen sicheren Halt. Zugleich erkennt man aber daraus schon, dafs die oben aufgestellten Prinzipien von den absolut freien und relativ gebundenen Annahmen, deren Erfahrungsmäfsigkeit sofort einleuchtete, in anderem Sinne verstanden sein wollten.

Damit sowie durch den obigen Hinweis auf das Moment


1 Ich bin hierauf durch B. Rüssel aufmerksam geworden; „Meinono’s theory of eomplexes and assumptions“, II, Mind, N. S. 13, S. 343.


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der „Vernünftigkeit“ ist nun aber auch schon zur zweiten Krage Stellung genommen. Vor allem ist es am Platze, hier darauf hinzuweisen, dafs dem Gedanken an die Nötigung resp. Un- fähigkeit bereits von der Theorie des Urteils her etwas wie ein Präjudiz dafür anhaftet, dafs er sich als eine Art Verlegenheits- behelf dort einzustellen pflegt, wo man gern um die einfache Anerkennung der Evidenztatsache herumkommen möchte. Es kann ja sogar heute noch begegnen, dafs sich einer deshalb für besonders vorurteilsfrei hält, weil er Notwendigkeit von Nötigung nicht zu unterscheiden weifs. Auf Mifsverständnisse dieser Art näher einzugehen, würde hier natürlich viel zu weit führen: doch mag sich ihrer zu erinnern, nicht überflüssig sein, wo es gilt, analoge Mifsverständnisse in betreff der Annahmen zu ver- meiden. In der Tat, es wird ohne Zweifel Annahmen geben, die zusammen zu konzipieren etwa um ihrer Kompliziertheit willen oder auch wegen der mangelhaften Fähigkeiten dieses oder jenes Subjektes oder wohl auch aller Subjekte untunlich ist. Das ist indes etwas ganz anderes als die oben unter dem Namen der Gebundenheit einer Annahme an eine andere ge- meinte Tatsache. Diese Gebundenheit selbst aber gestattet, ganz analog wie beim Urteile, eine viel treffendere Charakteristik, als in dem „ich kann nicht anders“ gelegen ist, in einer Wendung wie „ich darf nicht anders“. Dieser Hinweis auf eine Art Imperativ aber verrät hier wie beim Urteil nicht etwa eine utilitarische Erwägung wie die, dafs ein solches intellek- tuelles Verhalten in diesem oder jenem Sinne am zweck- dienlichsten sein möchte. Es kommt darin vielmehr bei der Annahme wie beim Urteil ein natürlicher Wertvorzug zutage, von dem wir beim Urteil wissen, dafs er auf dessen Evidenz gegründet ist, so dafs wir ihn auch bei der Annahme unge- zwungen auf etwas Evidenzähnliches beziehen werden, von dessen Vorhandensein uns ja überdies die direkte Empirie deutliches Zeugnis ablegt.

Annahmen scheint also unter Umständen in derselben Weise Evidenz zuzukommen, in der sie ausnahmslos die Bestimmtheit in betreff des Gegensatzes von Ja und Nein und so vieles andere mit dem Urteil gemein haben. Wollen wir aber ver- suchen, diese Annahmeevidenz nun nach den beim Urteil be- währten Gesichtspunkten zu charakterisieren, so finden wir uns vor die Nötigung gestellt, die beiden oben ausgesprochenen Prin-


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zipien der absoluten Freiheit und relativen Gebundenheit der Annahmen in dem batze zu vereinigen : Alle Annahmeevidenzen sind mittelbare Evidenzen ; unmittelbare Annahmeevidenz aber gibt es nicht. Denn alle Annahmeevidenz ist Evidenz „im Hin- blicke“ auf andere Annahmen , 1 an deren Stelle höchstens, a potiori gleichsam, Urteile treten können.

Es ist nun natürlich nicht zu verkennen, dafs eine solche Aufstellung einiges Befremdliche an sich hat. Wir haben ja ge- sehen, dafs mittelbare Evidenz ihrem Wesen nach keine andere Evidenz ist als die unmittelbare, sondern sich von dieser nur durch ihre Herkunft unterscheidet 2 ; wie könnte dann die unmittelbare Evidenz von einem Erlebnisgebiet ganz ausgeschlossen sein, das doch die mittelbare aufweist?

Viel wichtiger noch ist es aber, dafs die Herkunft der mittel- baren Evidenz beim Urteile, wie wir gesehen haben, unvermeid- lich auf andere, zuletzt unmittelbare Evidenzen zurückweist. Erlebnisse also, deren Natur die unmittelbare Evidenz ausschliefst, scheinen darum ebenso, ja in gewissem Sinne noch in erhöhtem Mafse unfähig, mittelbare Evidenz aufzuweisen.

Indessen liegen, näher besehen, diesen Einwendungen Vor- aussetzungen zugrunde, die, zunächst vom Urteil genommen, hin- sichtlich ihrer Stringenz für Annahmen nicht aufser Zweifel stehen. Ein Urteil durften wir mittelbar evident nennen , 3 sofern es eingesehen wird im Hinblick nicht auf sein eigenes Objektiv, sondern auf fremde. Dabei war freilich selbstverständlich, dafs auch diese Objektive geurteilt und zwar mit Evidenz geurteilt sein mufsten, wobei es natürlich ohne Rekurs auf unmittelbare Urteilsevidenzen nicht abgehen konnte. Das ergibt für das Ur- teil das Prinzip: keine mittelbare Evidenz ohne unmittelbare; mufs es aber bei der Annahme unvermeidlich ebenso sein? Mittel- bare Evidenz setzt freilich ihrem Begriffe nach Mittel voraus, nicht aber, dafs diese Mittel selbst Evidenzen sind. Gibt es nun tatsächlich das Analogon zu dem, was wir als Evidenz Vermitt- lung beim Urteile kennen, auch bei den Annahmen, dann stimmt es ganz gut zusammen, wenn dieses Analogon sich einerseits bei


1 Über den analogen Sachverhalt bei mittelbar evidenten Urteilen


vgl. oben Kap. VI, § 28.

2 Vgl. oben S. 185.

3 Vgl. oben S. 178.


Ergebnisse. Bausteine zu einer Psychologie der Annahmen.


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ganz beliebigen Objektiven als Annahmeprämissen einstellt, und andererseits ein Unterschied unmittelbar evidenter von nicht un- mittelbar evidenten Annahmen gar nicht stattfindet. Darf man aber dann, das ist noch ein weiteres Bedenken, die Konklusion eines richtigen Annahmeschlusses evident nennen, da doch deren Gegenteil immer noch angenommen werden kann? Auch hierbei steht zu vermuten, dafs die Analogie zum Urteile weiter als es angeht auf die Annahmen Anwendung gefunden hat. Warum sollte es nicht intellektuelle Erlebnisse geben dürfen, deren Ver- wirklichung durch die Evidenz ihres Gegenteils noch nicht sozu- sagen verhindert wird?

Allerdings darf nun auch nicht verschwiegen werden, dafs, wer erst einmal die Möglichkeit eingeräumt hat, auch das Gegen- teil eines evident Annehmbaren könnte angenommen w r erden, damit eines der Argumente aufgibt, denen eben zuvor die Be- hauptung entnommen wurde, für sich allein komme keiner An- nahme Evidenz zu. Es bliebe dann in dieser Sache nur noch das Zeugnis direkter Wahrnehmung übrig, oder wohl eigentlich genauer der Mangel an einem solchen Zeugnis für isoliert evi- dente Annahmen. Man könnte dann weiter der Tatsache ge- denken, dafs ein rechtwinkliges Dreieck mit zwei spitzen Winkeln „vernünftiger“ anzunehmen ist als eines mit zwei rechten Winkeln, — und könnte sich fragen, ob diese schon oben erwähnte „Ver- nünftigkeit“ wirklich erst beim Urteilen zum Vorschein komme. Es müfste dann natürlich auch nachgesehen werden, ob derartige Unterschiede nicht etwa auch beim Evidenzzustande der aus derlei „vernünftigen“ Annahmeprämissen erschlossenen Annahme- konklusionen anzutreffen sind.

Es mufs künftiger psychologischer Untersuchung anheim- gegeben werden, den Wert derartiger Erwägungen ins Klare zu stellen. Zurzeit wird dem Stande unserer Kenntnisse am besten durch die Vermutung genügt, dafs unmittelbare Evidenz sich bei den Annahmen nicht antreffen läfst, während hinsichtlich des Vorkommens mittelbarer Evidenz bei denselben ein Zweifel kaum mehr obwalten kann. Hierin würde auch für denjenigen, der im Auftreten mittelbarer Evidenzen ohne unmittelbare im Sinne der obigen Darlegungen an sich nichts Undiskutierbares sieht, immer noch eine gewisse theoretische Schwierigkeit liegen, wäre es unerläfslich, in der Evidenz eine Bestimmung am Akte, also derjenigen Seite der Annahme- und Urteilserlebnisse zu sehen,


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hinsichtlich deren sie sich beide charakteristisch unterscheiden, obwohl 1 am Ende auch gegen Gemeinsames am Urteils- und An- nahmeakt unbeschadet der sonstigen "V erschiedenheiten prinzipiell und der Möglichkeit nach nichts einzuwenden ist. Gehört indes Evidenz beim Urteile schon zum Inhalte so gut wie etwa affir- mativer oder negativer Ckarakter, dann ist gegen Annahmeevi- denz ein vorgängiges Bedenken vollends nicht beizubringen.

Je näher demgemäfs die Annahmen auch hinsichtlich der Evidenz den Urteilen an die Seite treten mögen, desto auf- fallender wird der übrigens doch auch wieder so selbstverständ- liche Umstand, dafs Annahmen, ihr Evidenzzustand möchte ein noch so günstiger sein, doch niemals in ähnlicher Weise wie evidente Urteile geeignet sind, die Tatsächlichkeit als solche zu erfassen. Auffallend ist dies insbesondere dem Umstande gegen- über, dafs die nichtmodalen Bestimmungen am Objektiv nicht nur durch Urteil, sondern eben wirklich auch durch Annahmen erfafsbar sind: die affirmative Annahme erfafst das positive, die Soseinsannahme das Soseinsobjektiv usf. Natürlich bis zur Selbst- verständlichkeit dagegen findet man das berührte Verhältnis der Annahme zur Tatsächlichkeit eigentlich schon vor jeder be- sonderen Überlegung, — dann aber nicht minder deshalb, weil sich ja auch bei den Urteilen nur die Evidenz für Gewifsheit als adäquates Erfassungsmittel der Tatsächlichkeit herausgestellt hat 2 , die Annahmen aber, soviel sich oben feststellen liefs, einer Bestimmung hinsichtlich des Gewifsheitsmomentes entraten müssen. Vielleicht ist daraus zu schliefsen, dafs die modalen Urteilsinhalte, wenn man die den modalen Eigenschaften des Objektivs zu- geordneten Inhalte kurz so nennen will, mit dem Urteilsakte doch in einer besonders engen Beziehung stehen, die es mit sich führt, dafs selbst die nämlichen modalen Inhalte, wenn sie statt an Urteilen nur an Annahmen auftreten, die Dignität ihrer Urteilsanaloga völlig vermissen lassen, und höchstens irgend eine Art Annäherung an jene Dignität aufweisen, vermöge deren sie unter Umständen als Surrogate für die betreffenden Urteile mögen eintreten können.

Steht aber die eben ausgesprochene Behauptung, dafs die modalen Inhalte, wenn sie gleichsam von Urteilen auf Annahmen


1 Wie sich am Ende des vorigen Paragraphen ergeben hat.

a Vgl. oben Kap. III, S. !30f.


Ergebnisse. Bausteine zu einer Psychologie der Annahmen.


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übergehen, sozusagen übler mitgenommen werden als die nicht- modalen, steht, so mufs man noch fragen, diese Behauptung auch in allen Punkten mit den Tatsachen im Einklang? Kann ich denn nicht die Evidenz eines Objektivs so gut annehmen wie dessen Positivität? Und was insbesondere wichtig ist: haben wir nicht im vorigen Paragraphen die Wahrscheinlich- keits- resp. Möglichkeitsgrade dem Annehmen als zugänglich ein- räumen müssen?

Vor allem wird nicht verkannt werden dürfen, welcher Art die Fälle sind, in denen modale und nichtmodale Inhalte ein- ander wirklich gleichgestellt erscheinen. Nehme ich an, Julius Cäsar sei eines natürlichen Todes gestorben, so ist das durch diese Annahme erfafste Objektiv positiv: einen ähnlichen Erfolg etwa in bezug auf Tatsächlichkeit könnte ich dagegen durch keine Annahme erzielen. Denn dafs etwa Augustus eines natür- lichen Todes gestorben sei, kann ich freilich ebenfalls annehmen und das Objektiv wäre auch tatsächlich; ich hätte in diesem Falle aber nur per accidens etwas Tatsächliches angenommen (nicht anders als wie man, um das klassische Paradigma heranzuziehen, etwas Siifses sehen kann), was hinsichtlich der Positivität beim ersten Beispiel keineswegs der Fall ist. Dagegen kann ich nun weiter freilich auch beim ersten Beispiel eine modale Eigenschaft in die Annahme einbeziehen, etwa indem ich annehme, dafs Cäsar eines natürlichen Todes gestorben sei , wäre Tatsache. Ganz ebenso könnte ich aber auch annehmen : dafs Cäsar nicht ermordet worden sei, das sei etwas Positives. Man kann also zusammenfassen: die nichtmodalen Eigenschaften hat das An- nahmeobjektiv unter günstigen Umständen vermöge der es er- fassenden Annahmeinhalte wirklich: über modale Eigenschaften eines Annahmeobjektivs kann man höchstens weitere Annahmen machen, was dann übrigens auch hinsichtlich nichtmodaler jeder- zeit ins Werk zu setzen ist.

Man wird nicht umhin können, hier an den Gegensatz des unter übrigens ganz anderen Verhältnissen angewendeten Para- digmas vom „roten Kreuz“ gegenüber dem „Kreuz, das rot ist“ 1 zu denken. Ohne bei den allfälligen Konsequenzen dieser Über- einstimmung für den Begriff der Anschaulichkeit und sein An- wendungsgebiet zu verweilen, sei nur noch auf den Umstand


1 Vgl. oben § 40.

Meinong, Über Annahmen, 2. Aufl.


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hinge wiesen, der die modalen Eigenschaften in die Analogie zum unanschauhchen Eifafstwerden gleichsam hineinzudrängen scheint. Ich meine die seinerzeit 1 kurz konstatierte Tatsache, dafs die modalen Inhalte nicht „Urteilungs“-, sondern „Beurteilungs- inhalte“ sind. Was Urteilungsinhalt ist, scheint auch Annehmungs- inhalt (das sonst ungebrauchte Wort bedarf keiner Interpretation) sein zu können ohne Vorbehalt, nicht ebenso, was blofs Be- urteilungsinhalt ist, und dadurch, dafs es der Urteilung ebenso- wenig zugänglich ist, wie der Akt, eine gewisse engere Ver- bindung mit diesem verrät, die zugleich die seinerzeit 2 kon- statierte Neigung, Evidenz u. dgl. lieber dem Akt als dem Inhalt des Urteils beizumessen, noch um etwas verständlicher macht. Dafs aber dann Inhaltsmomente, die besonders eng an den Urteilsakt angeschlossen sind, durch die Abänderung des Urteils- zum Annahmeakt besonders stark mitbetroffen werden, ist dann ebenfalls natürlich : was nicht Urteilungs-, sondern nur Beurteilungsinhalt ist, kann nicht nur keinen Annehmungs- sondern auch keinen Beannahmungsinhalt mehr abgeben, wenigstens nicht in jener besonderen Weise, die uns beim Urteile gestattet, Tatsächlichkeit, Möglichkeit des beurteilten Objektives u. dgl. direkt einzusehen. Dagegen immerhin in einer anderen Weise, der gemäfs Annahmeobjektive auch hinsichtlich modaler Eigenschaften einer Beannahmung so gut zugänglich sind wie selbst Urteilsobjektive. Im Sinne des Prinzips von der un- beschränkten Annahmefreiheit kann ich von einem beliebigen Negativum annehmen, dafs es positiv, von einem tatsächlichen Objektiv, dafs es blofs möglich sei usf., wenn ich durch an- gemessene Begriffsbildung nur erst die betreffenden modalen Eigenschaften mir sozusagen intellektuell zugänglich gemacht habe.

Dafs in diese Betrachtung auch die Möglichkeitsgrade ein- begriffen sind, versteht sich; und dafs dieselben Gelegenheit zu mittelbaren Annahmeevidenzen geben, ist Welleicht charakteristisch für die Beschaffenheit dieser Möglichkeitsgrade , enthält aber keinesfalls ein die Annahmen selbst prinzipiell betreffendes Moment. Davon insbesondere, dafs man dazu Annahmen be- dürfte, denen verschiedene Grade von Gewifsheit oder eigentlich Ungewifsheit eignen müfsten, davon ist dabei so wenig die Rede,


1 Oben S. 88 f.

2 Vgl. oben S. 87 ff.


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als sich in Zweifel ziehen läfst, dafs Möglichkeitsgrade auch durch das Urteil ohne Inanspruchnahme verschiedener Gewifs- heitsgrade des letzteren erfafst werden können. Die Verbindung aber, die zwischen erkannten Möglichkeitsgraden und berechtigten Vermutungen, also auch Wahrscheinlichkeiten besteht, wird selbstverständlich auch den angenommenen Möglichkeitsgraden günstigen Falles eine gewisse Bedeutung für Feststellung von Wahrscheinlichkeiten verleihen können.


§ 61 .

Das Verhältnis der Annahmen zu ihrer psychischen

Umgebung.

Es ist nicht gerade herkömmlich, den von alters her sozu- sagen wohl akkreditierten psychischen Qrundtatsachen gegenüber, wie etwa denen des Vorstellens und Ftihlens, oder auch denen des Begehrens und selbst des Urteilens, die Frage, wann und wo sie auftreten, in voller Allgemeinheit aufzuwerfen. Das hat in verschiedenen Fällen verschiedene Gründe. Beim Vorstellen ver- hält es sich so, weil die Antwort auf die Frage, wann man vor- stellt, wohl einfach lauten müfste : immer und überall, wo es Be- tätigungen psychischen Lebens gibt. Bei den übrigen psy- chischen Grundklassen dagegen ist es nicht anders bewandt, weil eine ausreichend allgemeine Antwort auf die sie betreffende Frage uns noch nicht zu Gebote steht. Unter solchen Um- ständen wird demjenigen, der eben daran ist, für etwas wie eine neue, vorher noch nicht anerkannt gewesene psychische Grundtatsache einzutreten 1 , kaum ein Vorwurf daraus erwachsen können, wenn er für die Frage nach dem Wann und Wo ihres Auftretens ebenfalls keine ganz bündige Antwortformel bereit hat. Die Frage gleichwohl aufzuwerfen und eine, wenn auch noch so unvollkommene Beantwortung derselben darzubieten, liegt aber doch in allzu deutlich ersichtlicher Weise im Interesse des Versuches einer Neuaufstellung, als dafs hier darauf ver- zichtet werden dürfte. Es gilt also nunmehr, die Fälle, in denen, resp. die Umstände, unter denen Annahmen im psychischen Leben auftreten, in möglichst leicht übersichtlicher Weise zu- sammenzufassen. Es steht ja zu hoffen, dafs die Untersuchungen


1 Genaueres hierüber wird der § 63 beizubringen versuchen.

23*


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Zehntes Kapitel.


der vorangehenden Kapitel uns mindestens das Wichtigste an vorhandenem Tatsachenmaterial zur Verfügung gestellt haben werden.

Indem ich nun nach Gesichtspunkten suche, das auf den ersten Blick recht bunte Vielerlei von Annahmetatsachen, denen wir im Verlaufe dieser Untersuchungen begegnet sind, einiger- mafsen zu ordnen, drängen sich mir deren drei auf, unter denen sich die mir zurzeit bekannten Annahmefälle in drei ziemlich natürliche Gruppen zusammenschliefsen. Es gibt An- nahmen, die als integrierende Bestandstücke fundamentaler in- tellektueller Operationen vielfach die wichtigsten einfacheren und zusammengesetzteren Betätigungen unseres Geisteslebens mit konstituieren helfen; es gibt Annahmen, deren Leistung zu- nächst darin gelegen ist, eine psychologische Voraussetzung für aufserintellektuelle Betätigungen abzugeben; es gibt schliefslich Annahmen, die sozusagen für sich und um ihrer selbst willen da sind. Findet man, dafs diese Gesichtspunkte einigermafsen ins Teleologische hinüberschillern, so wird man darin kein in höherem Grade unstatthaftes Präjudiz finden dürfen als im Her- kommen, das Auge als das Organ zum Sehen oder die Lunge als das Organ zum Atmen zu betrachten. Von den drei Gruppen aber ist die dritte naturgemäfs die der auffälligsten, die erste da- gegen wahrscheinlich die der wichtigsten und verbreitetsten An- nahmeerlebnisse, jedenfalls derjenigen, von denen aus die theo- retische Bearbeitung leichter als von den übrigen her in das Wesen der einschlägigen Tatsachen noch etwas tiefer eindringen kann, so dafs w T ir uns dieser Gruppe hier noch besonders zu- wenden müssen.

Es handelt sich dabei zunächst um die in den obigen Kapiteln V — VIII untersuchten Dinge, obenan um die Leistung der An- nahme, ein Objektiv unmittelbar, eventuell ein präsentiertes Ob- jektiv (so gut wie ein präsentiertes Objekt) mittelbar zu erfassen \ — ferner um die Ergänzung des blofsen passiven Vorstellens durch das Seins- resp. Soseinsmeinen, vermöge dessen dem Annehmen ein fundamentaler Anteil am Ergreifen der Gegenstände ge-

1 Von dem eigenartigen Falle, dafs auswärts gewendete Annahmen dem Erfassen (nicht ihrer Objektive, sondern dom) nicht gegenwärtiger Urteile dienen (vgl. oben S. 138 f.), sei hier der Einfachheit wegen abgesehen, obwohl auch er sich aufs ungezwungenste dem sogleich aufzuweisenden allgemeinen Gesichtspunkte unterordnet.


Ergebnisse. Bausteine zu einer Psychologie der Annahmen. 357

sichert ist, — endlich um jene Operation an Objektiven, die man sich mit mehr oder weniger Ungenauigkeit unter den Be- nennungen „hypothetisches“ resp. „disjunktives Urteil“, „Schluls mit suspendierten Prämissen“ u. dgl. zusammenzufassen gewöhnt hat. Als Grundtatsache tritt uns hier, wie nicht zu verkennen ist, das Verhältnis der Annahme zum Objektiv entgegen. Das verrät in den zuletzt genannten Fällen bereits die Bezeichnung „Operationen an Objektiven“, während der Anteil des Meinens am Ergreifen von Gegenständen auf den Umstand zurückgeht, dafs Objekte dem Intellekt überhaupt nur als Material von Ob- jektiven gleichsam zugänglich sind. Aber um diese Grund- tatsache sowie deren Konsequenzen richtig zu würdigen, mufs in Rücksicht gezogen werden, dafs nicht nur die Annahme fähig ist, Objektive zu erfassen, sondern auch das Urteil, und dafs dem Urteil der Annahme gegenüber eine ganz offenkundige Vorzugsstellung zukommt. Diese Vorzugsstellung verdankt es ohne Zweifel dem Werte des Erkennens, das stets Urteilen ist, und dem Werte der Wahrheit, die am Ende nicht jedesmal durch Erkennen im strengsten Sinne, nämlich evidentes Urteil 1 , aber doch jederzeit durch ein Urteil erfafst sein will. Wie aber auch sonst so häufig, ist dieser Vorzug, diese Stärke des Urteils andererseits doch ein Nachteil und damit eine Art Schwäche desselben. Niemand kann glauben, d. i. urteilen, ohne implicite für das Geurteilte Wahrheit zu beanspruchen: wo es also gilt, Objektive zu erfassen ohne diesen Anspruch, da versagt das Urteil seinen Dienst. Es besteht dann ein Bedürfnis nach einem gleichsam weniger anspruchsvollen Ersatz : und die Annahme ist es, die diesem Bedürfnisse entgegenkommt.

Über die Beschaffenheit der Umstände, unter denen das Zu- viel des Urteils zur Geltung kommt, haben die voranstehenden Untersuchungen nun gleichfalls einiges Licht verbreitet. Wir sind durch sie auf vier Hauptfälle geführt worden: 1. Kein Gegenstand läfst sich anders ergreifen als gleichsam in einem Objektiv. Dazu genügt zunächst ein Seinsobjektiv, wenn das So-, sein vermöge des Inhaltes der zugrunde liegenden Vorstellung impliziert ist. Wenn ich aber nicht weifs, ob das betreffende Objekt existiert, oder weifs, dafs es nicht existiert, kann ein Existenzurteil dabei nicht verwendet werden. 2. Mufs dagegen


Vgl. oben S. 94.


358


Zehntes Kapitel.


auch schon das Sosein an einem expliziten Soseinsöbjektiv er- fafst werden, dann kann dieses Objektiv selbst noch nicht ge- urteilt sein, weil ein Urteil immer nur mit Rücksicht auf die Be- schaffenheit seines Materiales wahr oder falsch sein kann, wie wir besonders deutlich an der Definition zu konstatieren hatten, die nie ein Urteil ist. 3. Handelt es sich ferner darum, Ob- jektive zu beurteilen, so liegt es, wie sich gezeigt hat, oft in der Natur des Objektivs höherer Ordnung, auszuschliefsen, dafs das Objektiv niederer Ordnung durch ein Urteil präsentiert wird; und auch wo dies nicht der Fall ist, stellt sich die Präsentation durch ein Urteil mindestens wie ein Aufwand über Bedarf dar. 4. Die logischen Operationen an Objektiven endlich lassen sich tatsächlich in weitem Umfange ganz ohne Rücksicht darauf durchführen, ob der Operierende an die Tatsächlichkeit dieser Objektive glaubt. Und was das zu bedeuten hat, ermifst man leicht, wenn man sich in die Lage dessen versetzt, der nur ge- glaubte Objektive miteinander in Verbindung bringen, überdies auch hinsichtlich dieser geglaubten Objektive alle Denkarbeit nur im Augenblicke des Bedarfs verrichten, also keinerlei Arbeit dieser Art voraus, gleichsam in Vorrat tun könnte, demjenigen vergleichbar, der, um ein telegraphisches Zeichen zu geben, im Augenblicke des Bedarfes erst den Telegraphen anlegen, wenn nicht gar erfinden sollte.

Was sich sonach an den hier einigermafsen schematisch charakterisierten intellektuellen Erlebnissen bewährt, läfst sich nun ohne weiteres auch ins Emotionale sowie auf jene im ganzen komplexeren Geschehnisse übertragen, von denen oben im neunten resp. vierten Kapitel vorzugsweise die Rede war. Be- gehrungen wie Werterlebnisse aggredieren unvermeidlich Objek- tive: aber die Natur der Begehrungen schliefst die 1 atsächlich- keit dieser Objektive aus und für den Wert kommt nicht nur Existenz, sondern auch Nichtexistenz, — unter geeigneten Im- ständen nicht nur Sosein, sondern auch Nichtsosein in Betracht, wovon natürlich immer nur eines tatsächlich sein kann. V as endlich jene Annahmetatbestände anlangt, deren Auffälligkeit eine genauere Analyse oben entbehrlich machte, so ist die Be- deutung der in jedem der betreffenden Hauptfälle typisch voi- liegenden psychischen Situation nun ebenfalls leicht zu übei sehen. Was einer lügt, von dem glaubt er das Gegenteil ; wo- nach einer fragt, das weils er nicht und kann es eben darum


Ergebnisse. Bausteine zu einer Psychologie der Annahmen.


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noch nicht glauben; was einer, indem er es hört oder liest, ver- steht, dem gibt er sich in betreff seiner eigenen Meinung darüber noch lange nicht gefangen; Kunst und Spiel aber sind jene eigenartigen Betätigungen, in denen prinzipiell, innerhalb ge- wisser Grenzen natürlich, Wahr und Falsch keine Rolle spielen. Die „expliziten“ Annahmen bieten dem bisher Betrachteten gegen- über nichts Eigenartiges mehr : was sie auszeichnet, ist nichts als die für erste Kenntnisnahme in der Tat besonders günstige „Explizitheit“, diese aber im äufserlichsten Sinne verstanden. Über die Stellung der einschlägigen Einzelfälle innerhalb der uns nun sonst bereits bekannten intellektuellen oder emotionalen Tatsachengebiete kann keine Unklarheit aufkommen.

Zusammenfassend darf man also sagen: Die Stellung der Annahmen im psychischen Leben geht auf die Bedeutung der Objektive zurück, sowie auf die Beschränkung, die dem gewisser- mafsen bevorzugten Erfassungsmittel der Objektive, dem Urteile, daraus erwächst, dafs dieses jederzeit, falls es nicht Tatsächliches erfafst, es doch zu erfassen beansprucht. Dadurch werden dem Urteile alle Objektive unzugänglich, von denen entweder bekannt ist, dafs sie falsch, oder unbekannt, wenn nicht gleichgültig ist, ob sie wahr sind oder nicht. Gilt es gleichwohl, solche Objek- tive zu aggredieren, dann wird der Umstand bedeutsam, dafs dies auch die Annahmen zu leisten imstande sind, und zwar ohne die dem Urteil eigentümliche Einschränkung. So besteht das Wesen der Funktion der Annahme darin, im Bedarfsfälle ein Urteilssurrogat abzugeben, was natürlich durchaus nicht aus- schliefst, dafs sie durch surrogatives Eintreten für das Urteil diesem gleichsam die Wege zu ebnen vermag. Auch dafs es eine Art Annahmetrieb geben kann, so gut es etwas wie einen Urteilstrieb gibt, ist dadurch in keiner Weise ausgeschlossen.

§ 62 .

Die Annahmen und die Sprache. Noch einmal das

Verstehen.

Vielleicht ist es nicht frei von aller Gewaltsamkeit, zur „psychischen Umgebung“ eines inneren Erlebnisses auch dessen sprachlichen Ausdruck zu zählen; jedenfalls aber ist es hier am Platze, nun auch die Stellung der Annahmen zur Sprache im Hinblicke auf die in dieser Schrift durchgeführten Unter-


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Zehntes Kapitel.


suchungen kurz zu präzisieren. Zeigt sich dabei, dafs diese Untersuchungen uns in die Lage gesetzt haben, sprachpsycho- logische Schwierigkeiten zu überwinden, die sich uns vor Mit- berücksichtigung der Annahmen als unlösbar zu erweisen schienen , 1 so möchte darin zugleich eine neue Stütze des hier über die Annahmen Dargelegten zu finden sein.

Versucht man sich vor allem das Verhältnis der Annahmen zu den durch die Sprache zur Verfügung gestellten Ausdrucks- mitteln klar zu machen, so kommt dabei die oft erwähnte Mittel- stellung der Annahmen zwischen Vorstellen und Urteilen neuer- lich zur Geltung. Vorstellungen finden wir in einzelnen Wörtern oder Wortkomplexen, Urteile in Sätzen ausgedrückt: dagegen stehen den Annahmen als Ausdruck sowohl Wörter (einschliefs- lich Wortkomplexe) wie Sätze gegenüber. Genauer dürfte man vielleicht sagen: zunächst Sätze, dann aber auch Wörter, und zwar findet das Eintreten der Wörter an Stelle von Sätzen seine Erklärung in der Fähigkeit der Annahmen, ihre Objektive für weitere intellektuelle Bearbeitung als Gegenstände darzubieten. Dadurch leisten die Annahmen für Objektive, was für Objekte eben die Vorstellungen leisten: finden letztere in Wörtern ihren Ausdruck, so ist es durch das analoge Funktionieren der ersteren verständlich, dafs eventuell auch sie durch Wörter zum Aus- druck gelangen, aufserdem aber auch, dafs Sätze, die in be- sonderem Mafse dem Ausdrucke von Annahmen dienen, von der Grammatik eventuell selbst wie Wörter, resp. Wortkomplexe behandelt wörden. Als solche Sätze haben wir die „dafs“-Sätze kennen gelernt, und können daraufhin auch die eigentümliche Position verstehen, welche die Grammatik den „dafs“-Sätzen ein- zuräumen lehrt.

Geht man nun umgekehrt statt von den Annahmen von den Sätzen aus, so ist die im zweiten resp. dritten Kapitel fallen ge- lassene Frage nach den Leistungen des Satzes jetzt unschwer zu beantworten, und zwar sowohl vom Standpunkte des Redenden, wie von dem des Verstehenden. In ersterer Hinsicht bestand die Schwierigkeit, auf die wir geführt wurden , 2 darin, dafs wir Sätze antrafen, die keine Urteile auszudrücken hatten : wir wissen jetzt, dafs iri Sätzen dieser Art Annahmen zum Ausdrucke ge-


1 Vgl. oben Kap. II.

2 Vgl. oben Kap. II, § 6.


Ergebnisse. Bausteine zu einer Psychologie der Annahmen. 361

langen. Was aber das Verstehen der Sätze betrifft, so hatten wir leicht einsehen können , 1 dafs hierzu weder ein durch den Redenden aufsuggeriertes Urteil über den vom Redenden vorge- stellten Gegenstand, noch vollends ein Urteil über die Meinung des Redenden erforderlich ist: auch hier bietet der Hinweis auf die Annahmen gleichsam das positive Komplement zu jenen negativen Bestimmungen, und gestattet überdies eine ganz ein- fache Formulierung, wenn wir die Tatsache der Satzbedeutung 2 mit in Rechnung ziehen. Der Satz drückt, wie bemerkt, ent- weder ein Urteil oder eine Annahme aus; eben darum hat er auch jedesmal eine Bedeutung, nämlich das Objektiv jenes Ur- teils oder dieser Annahme. Das Verstehen des Satzes besteht nun einfach im Erfassen dieses Objektivs, und es ist insofern einerlei, ob dieses Erfassen durch ein Urteil oder blofs durch eine Annahme erfolgt.

Soweit es also gilt, das Minimum dessen zu präzisieren, was vorliegen mufs, damit vom Verstehen einer Rede gesprochen werden kann, darf man einfach behaupten : der Hörende versteht, sofern er annimmt, was der Redende sagt. Besteht also die Leistung des gesprochenen Satzes normalerweise mindestens darin, eine Annahme auszudrücken, so die Leistung des gehörten Satzes mindestens darin, im Verstehenden Annahmen wachzurufen. So kommt die Relation, durch die wir oben 3 zuerst die sonst allgemein zwischen Zeichen und dessen Bedeutung bestehende Verbindung für den Fall des Verstehens von Wörtern und Sätzen zu ersetzen versucht haben, in gewissem Sinne doch wieder zu ihrem Rechte. Deutlicher und genauer aber bleibt es jederzeit, zu sagen: Verstehen eines Gesprochenen (natürlich auch Geschriebenen) besteht im Erfassen seiner Bedeutung. Und ob- wohl in dieser Formulierung wieder ganz ausdrücklich von „Be- deutung“, dem herkömmlichen Korrelate zu „Zeichen“, die Rede ist, so läfst gerade diese Fassung besonders deutlich erkennen, wie wenig eigentlich durch die einfache Subsumtion der Sprache unter den Zeichenbegriff die wichtigsten Funktionen derselben zu ihrem Rechte gelangen.

Es scheint, dafs alle Satzarten, deren die Grammatik ge-


1 A. a. 0. § 7.

2 Vgl. oben Kap. III, S. 58 f.

3 Vgl. Kap. II, S. 39 f.


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Zehntes Kapitel.


denkt, Annahmen ausdrücken können : man wird indes kaum Anstand nehmen, die Eignung hierzu den im weitesten Sinne des Wortes unselbständigen Sätzen in hervorragendem Mafse zu- zuschreiben. Zwar können auch sie unter besonderen Umständen ganz wohl Urteilsausdruck sein: in der Regel aber sind sie es nicht, und es ist auf Grund der vorangehenden Untersuchungen dieser Schrift zumeist nicht schwer, sich von der Verbindung, die zwischen der grammatikalischen Eigenart der betreffenden Sätze und den Annahmen besteht, genauere Rechenschaft zu geben. Insbesondere weisen die Relativsätze auf die Rolle der Annahmen bei der Bildung von Komplexen *, die bereits von der Grammatik unter dem Gesichtspunkte „logischen“ Zusammen- hanges charakterisierten Satzverbindungen auf die Zusammen- hangsurteile, hypothetischen Urteile und Annahmeschlüsse 1 2 , die „dafs“-Sätze nebst ihren Äquivalenten auf das mittelbar erfafste Objektiv hin. Einen Spezialfall der letzterwähnten Gruppe bilden natürlich die verschiedenartigen „sekundären Ausdrücke“ 3 , für die, wie nun leicht eingesehen werden kann, wesentlich ist, dafs dabei das Gerichtetsein der betreffenden psychischen Geschehnisse auf ihr Objektiv besonders in den Vordergrund tritt.

Betrachtet man, wie zunächst für selbstverständlich gelten darf, bei solchen sekundären Ausdrücken den „dafs“-Satz als primären Ausdruck einer Annahme, die dem sekundär aus- gedrückten psychischen Geschehnis als „psychologische Voraus- setzung“ dient, so hat für uns der Fall des sekundär ausge- drückten Urteils das besonders Interessante an sich, dafs da eventuell eine Annahme als psychologische Voraussetzung einem Urteil mit gleichem Objektiv gegenübersteht. Man wdrd sich nur freilich zu hüten haben, daraus, dafs ein Urteil einmal primär , ein andermal sekundär ausgedrückt wird , in betreff dessen, was im Redenden vorgeht, allzu strikte Konse- quenzen zu ziehen. Vielmehr darf nicht unberücksichtigt bleiben, wie oft stilistische und rhetorische Bedürfnisse das ihre dazu beitragen, Deutliches undeutlich, Charakteristisches uncharakte- ristisch zu machen. Es wird wenig Menschen geben, die nicht irgendeinmal einem wirklich oder vermeintlich guten \\ itze zu


1 Vgl. oben Kap. VIII.

2 Vgl. oben Kap. VI.

3 Vgl. oben Kap. II § 4.


Ergebnisse. Bausteine zu einer Psychologie der Annahmen. 363

Liebe den Schein frivoler Gesinnung auf sich genommen haben, und es gibt keinen, der nicht schon dies und jenes aus keinem anderen Grunde gesagt oder geschrieben hätte, als weil es eben gut klingt. Wer aber einigermafsen gewohnt ist, zu „überlegen", ehe er etwas niederschreibt, der mag leicht erstaunen, wenn er sich zum ersten Male von den Wandlungen Rechenschaft gibt, die der Ausdruck zu erfahren pflegt, in dessen Gewand die Gedanken ursprünglich aufgetreten sind: Umwandlungen von Affirmativem in Negatives, von Existenzaussagen in kategorische Aussagen und umgekehrt, Ersatz einer Relation oder Komplexion durch eins ihrer in erstaunlicher Menge zur Verfügung stehen- den Äquivalente gehört hier zum Alltäglichsten. Und ungefähr ebenso alltäglich ist wohl auch der Übergang eines unab- hängigen Satzes in einen Nebensatz mit „dafs“, der dann vom sekundären Ausdrucke eines psychischen Sachverhaltes abhängig erscheint, auf den es dem ursprünglich vorgegebenen Gedanken ganz und gar nicht ankommt. Wer würde auch Anstand nehmen, aus stilistischen Gründen statt des einfachen „A ist B “ zu sagen oder zu schreiben: „ich sage, behaupte, betone, räume ein, dafs A B ist“ usw., oder auch, „es ist klar, selbstverständlich, unbe- streitbar, dafs A B ist“ u. dgl. ? Immerhin erweist sich bei solchen Umformungen des Ausdruckes der auszudrückende Gedanke keineswegs als etwas absolut Starres, folgt vielmehr, manchmal wohl auch zum Schaden der Sache, den Ausdrucksbedürfnissen. Aber natürlich doch nur innerhalb gelegentlich recht enger Grenzen, so dafs es ja wirklich der Redende wie der Schreibende leicht genug als Gewaltsamkeit verspürt, wenn man ihn allzu genau „beim Worte nimmt“. Kurz also: der sekundäre Aus- druck eines Urteils garantiert im Einzelfalle, wo man diesen Ausdruck antrifft, keineswegs unfehlbar für eine nur ihm zuge- ordnete psychische Sachlage. Dagegen legt gerade der Umstand, dafs der Übergang vom primären zum sekundären Ausdruck und umgekehrt so leicht zu vollziehen ist, zusammen mit dem im sekundären Urteilsausdruck gelegenen Hinweis auf den Anteil der Annahme die Frage nahe, ob dieser Anteil nicht auch schon dem primär ausgedrückten, sonach normalerweise jedem Urteile beizumessen ist, eine Frage, auf die wir im nächsten Paragraphen noch einmal kurz zurückzukommen haben.

Immerhin darf indes hier nicht verschwiegen werden, dafs unter Umständen mindestens auch noch die Möglichkeit bestünde,


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Zehntes Kapitel.


den „dafs“-Satz im sekundären Urteilsausdruck nicht als Annahme, sondern als Urteil zu nehmen. Wirklich ist der Gedanke, im Haupt- und Nebensatze könnte unter Umständen auch nur eines und dasselbe zum Ausdrucke gelangen, schon deshalb nicht a limine abzuweisen, weil derlei auch auf anderen Gebieten ge- legentlich ganz unzweifelhaft vorkommt. Sagt einer „ich bitte, komm her“, so ist hier, den richtigen Tonfall vorausgesetzt, die Bitte in Wahrheit zweimal ausgesprochen, einmal unbestimmt und einmal bestimmt, zugleich erst sekundär, dann primär aus- gedrückt. Ein Satz mit „dafs“ ist da nun freilich nicht gegeben; warum sollte aber bei „dafs“-Sätzen nicht Ähnliches Vorkommen können? Es sei sogleich hinzugefügt, dafs es, auch wenn die im Voranstehenden dargelegte Auffassung die richtige ist, zum mindesten in einem ganz bestimmten Falle wirklieh vorkommt: die Wendung „ich nehme an, dafs es schön ist“ wird in natür- licher Weise kaum anders zu verstehen sein, als so, dafs hier eben die Annahme zweimal zum Ausdrucke gelangt, einmal unbestimmt und das andere Mal bestimmt, dort sekundär, hier primär. In- zwischen ist es nichts Neues, dafs die Sprache sich auch sonst zu pleonastischen Ausdrucksweisen zwingen läfst, wie z. B. die sogenannten inneren Objekte wie „eine Tat tun“, „einen Kampf kämpfen“ u. dgl. erkennen lassen. Gleichwohl hat solchen Fällen gegenüber niemand gezweifelt, dafs sie als Ausnahmen zu be- handeln sind, welche die Regel, dafs von den einzelnen Bestand- teilen einer Rede jeder seine besondere Aufgabe zu erfüllen hat, nicht zu erschüttern vermögen.

Zum Schlüsse sei nun auch noch auf eine schon seit dem zweiten Kapitel unerledigt gebliebene Frage zurückgekommen: gibt es etwas, das als die eigentümliche Leistung speziell des Satzes namentlich gegenüber dem Worte resp. Wortkomplexe namhaft zu machen wäre? Man kann versuchen, die Frage einerseits speziell auf die Ausdrucks-, andererseits auch speziell auf die Bedeutungsfunktion des Satzes hin einer Beantwortung zuzuführen.

Beginnen wir, wie natürlich, mit dem Satze als Ausdruck. Gibt es vor allem etwas, was alle Sätze ausnahmslos ausdrücken? Die Antwort ist einfach: was jeder Satz ausdrückt, falls er näm- lich überhaupt als Ausdruck funktioniert, ist wenigstens eine Annahme. Darf man nun aber auch umkehren : was wenigstens eine Annahme ausdrückt, ist auch jederzeit ein Satz? Offenbar


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Ergebnisse. Bausteine zu einer Psychologie der Annahmen.

nicht: um einen Gegenstand meinend zu ergreifen, ist ebenfalls wenigstens eine Annahme erforderlich x , als Ausdrucksmittel dafür reicht ein Wort vollkommen aus; man kann sogar, was sogleich unten ohnedies geschehen mufs, fragen, ob ein Satz als solcher ein derartiges Ergreifen überhaupt zum Ausdruck bringen kann. Eher dürfte man hoffen, auf dem eben eingeschlagenen Wege zu einem Ergebnis zu gelangen, wenn man an die den Sätzen wenigstens unter Umständen zukommende Eignung, nicht nur Annahmen, sondern insbesondere Urteile auszudrücken, änknüpft, und die Frage auf wirft, ob nicht wenigstens diese Fähigkeit den Sätzen allein Vorbehalten sei. Doch fällt auch hier die Antwort verneinend aus, so gewifs es ein Ergreifen durch Urteile gibt, das dann wieder durch Wörter ohne Satzcharakter ausdrückbar ist. Wirklich zählen solche Ausdrucksweisen zu dem Alltäglichsten, und zwar gehören nicht nur theoretisch schon vielverwertete Ausrufe wie „Feuer!“, „Land!“ hierher. Wer zum Fenster hin- aussehend sagt, „der Himmel ist blau“, braucht den Gegenstand „Himmel“ durchaus nicht durch vorherige Gedanken ergriffen zu haben. In solchem Falle aber drücken die Wörter „der Himmel“ das Ergreifen jenes Gegenstandes aus, von dem dann etwas ausgesagt wird, und dieses Ergreifen geschieht natürlich, da der Redende etwas über den wirklichen Himmel sagen will, durch das Urteil oder jene „setzende Vorstellung“, von der wiederholt die Rede gewesen ist . 1 2

Sehr einfach gestaltet sich die Sache nach dem Gesagten hinsichtlich der Bedeutung. Alle Sätze, das wissen wir, bedeuten Objektive. Kommt solche Objektivbedeutung aber nur den Sätzen zu? Offenbar nicht, da alles, was Annahmen ausdrückt, insofern auch Objektive wird bedeuten müssen.

Ist es sonach aussichtslos, nach einer dem Satze eigentüm- lichen Leistung zu suchen? Vielleicht doch nicht, wenn man, von der Bedeutung wieder zum Ausdruck zurückkehrend, nicht den Unterschied von Urteil und Annahme, sondern den von Er- greifen und Bedenken eines Ergriffenen in Betracht zieht. Es war eben zu erwähnen, wie das Ergreifen im einzelnen Worte natürlichen Ausdruck finden kann. Jetzt darf hinzugefügt werden, dafs der Satz, soviel ich sehe, dem Ausdrucke eines Ergreifens

1 Vgl. oben § 38, 45 f.

2 Zuerst oben S. 3 mit Bezugnahme auf D. JET. Kehler.


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unter normalen Umständen überhaupt nicht zu dienen vermag. Beim unabhängigen Satz sieht man dies sofort; aber auch der abhängige Satz tritt seiner Natur nach immer schon an den Ausdruck eines bereits Ergriffenen heran, das man „meint“, indem man davon noch irgendetwas aussagt. Ist das richtig, so darf man einfach behaupten: was der Satz als solcher aus- drückt, ist das Bedenken eines bereits ergriffenen Gegenstandes, mag es ein Beurteilen oder nur ein Beannahmen sein.


§ 63 .

Die Stellung der Annahmen im System der Psycho- logie. Annahmen als Gedanken.

Systematik ist in keiner Wissenschaft Selbstzweck; aber das Bestreben, den Anforderungen systematischer Strenge möglichst gerecht zu werden, kann den Einblick in die Natur der zu unter- suchenden Tatsachen mächtig fördern. Denn der wichtigste unter den leitenden Grundsätzen für jede systematische Dar- stellung ist doch zuletzt der, dafs darin Verwandtes nebenein- ander zu stehen komme, und zwar um so näher, je enger die Verwandtschaft ist. Darum fällt auch die Frage, welche Stelle im Systeme psychischer Tatsachen den Annahmen zuzuweisen sei, zunächst mit der Frage zusammen, in welchem Verwandt- schaftsverhältnis sie zu den übrigen bereits genauer untersuchten Geschehnissen stehen, und in diesem Sinne soll dieselbe auch hier zunächst aufgeworfen sein. Immerhin möglich, dafs die Beantwortung dieser Frage dann Konsequenzen nahe legt, w r elche auf die systematische Gruppierung auch solcher Erlebnisse Ein- flufs nehmen könnten, die keineswegs mehr in den Bereich des den Annahmen besonders nahe Verwandten einzubeziehen sind.

Wir haben in den Annahmen eine im psychischen Leben aufserordentlich reich vertretene Klasse psychischer Geschehnisse kennen gelernt; welche Stellung werden wir dieser Klasse gegen- über den durch die Tradition mehr oder weniger sicher akkre- ditierten Klassen des Vorstellens, Urteilens, Fühlens und Be- gehrens einzuräumen haben? Dafs näher dabei nur die beiden dem Geistesleben zugehörigen Klassen, die des Vorstellens und Urteilens, in Erwägung zu kommen brauchen, versteht sich sofort: und die Weise, in der die Annahmen sich unserer Beachtung


Ergebnisse. Bausteine zu einer Psychologie der Annahmen. 367

zuerst aufgedrängt haben \ verbietet auch jeden Zweifel darüber, dafs eine Annahme mehr als blofse Vorstellung und weniger als ein Urteil ist, genauer als Vorstellung und auf sie gestelltes Urteil zusammengenommen. Es wurde daher auch schon mehr als einmal im Laufe der vorstehenden Untersuchungen erwähnt, dafs den Annahmen eine Art Mittelstellung zwischen Vorstellung und Urteil zukommt. Selbst dem ersten äufserlichen Aspekte der Tatsachen entnommen, war diese Aufstellung natürlich zu- nächst auch nur zur Beschreibung dieses Aspektes bestimmt 1 2 und primitiv genug gemeint. Wirklich bilden die drei Erlebnisse: Vorstellung, Vorstellung mit Annahme, Vorstellung mit Urteil (namentlich wenn man, was so nahe liegt, statt „Urteil“ hier „Annahme mit Glauben“ einsetzt) in auffallender Weise eine geordnete Reihe, ungefähr wie die Komplexe A, AB und ABC ohne Rücksicht auf die Beschaffenheit der Komponenten A, B und C. Nun machen aber in unserem Falle auch die drei Komponenten, jede für sich genommen, eine geordnete Reihe aus, wenn auch eine etwas andersartige, nämlich : Vorstellung, die in ihrer Weise ihr Objekt erfafst, indem sie es präsentiert, — Annahme, die ihr Objektiv insofern in anderer Weise erfafst, als sie darauf, es zu präsentieren, mindestens nicht angewiesen ist, — Urteil, das ebenfalls ein Objektiv erfafst, ebenso aus eigener Machtvollkommenheit wie die Annahme, aber mit jener besonderen Nuance, vermöge deren es, wie wir sahen, auf Tat- sächlichkeit eingestellt ist, die der Annahme noch durchaus fern liegt. Und dieser neuen Reihe gegenüber erhebt sich nun die Frage: ist das Verhältnis dieser Reihenglieder zueinander so zu verstehen, dafs die Annahmen den Vorstellungen und Urteilen einfach beizuordnen sind, oder stehen diese Zwischentatsachen der einen oder der anderen von den beiden genannten Gruppen aus- reichend nahe, dafs sie besser mit dieser zu einem Ganzen zu vereinigen und der noch übrigen Gruppe zu koordinieren sind?

Wie mir scheint, weist der ganze Verlauf dieser Unter- suchungen auf das Eindeutigste darauf hin, dafs zwischen An- nahme und Urteil viel engere Verwandtschaft besteht als zwi- schen Annahme und Vorstellung. So paradox es klingt, es hat


1 Vgl. oben § 1, auch Kap. V.

2 Vgl. auch meinen Aufsatz „In Sachen der Annahmen“ in Bd. 41 der Zeitschrift f. Psycliol. S. G ff.


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doch einen ganz guten Sinn zu sagen: die Annahme ist ein Ur- teil ohne Überzeugung , 1 indes es gar keinen verständlichen Sinn hätte, die Annahme etwa als eine nach dem Gegensätze von Ja und Nein bestimmte Vorstellung zu definieren . 2 3 Auch das so charakteristische Eintreten der Annahme als Urteilssurrogat 8 spricht hier eine unmifsverständliche Sprache. Und im Grunde weist sogar die seinerzeit berührte 4 Mangelhaftigkeit des Ter- minus „Annahme“ nach derselben Richtung hin: was das Wort aufser dem von uns in dieser Schrift näher untersuchten Erlebnisse sprachgebräuchlich noch bedeutet, ist eine bestimmte Weise zu urteilen, niemals aber blofses A T orstellen im strengen Sinne. Natürlich wird es gleichwohl, wenn man nur an der erforder- lichen Künstlichkeit keinen Anstofs nimmt, auch Begriffs- bildungen geben, mit deren Ililfe man Vorstellung und An- nahme zu einer Klasse zusammenfassen und dem Urteil ent- gegensetzen kann. Aber wo möglich noch weniger als Systeme wollen wir ja Klassenbegriffe bilden sozusagen um ihrer selbst willen; nur darum ist es uns zu tun, in den begrifflichen Kon- zeptionen die Eigenart der Tatsachen so sehr als nur irgend möglich zu ihrem Rechte gelangen zu lassen: es sind darum eben die natürlichen Klassen, an denen wir festzuhalten haben. Demnach dürfen wir sagen: nicht die Urteile machen die

den Vorstellungen, Gefühlen und Begehrungen natürlich beizu- ordnende Klasse aus, sondern die Urteile zusammen mit den Annahmen.

Natürlich stellt sich mit diesem Ergebnis auch zugleich das leidige Bedürfnis nach einem Terminus ein, der als Namen für die neu konzipierte Klasse verwendet werden kann: der Versuch,

1 B. Erdmann spricht geradezu von „geltungslosen Urteilen“ (Logik, Bd. I, 1. Aufl. S. 271 ff.), zu denen er z. B. die Fragen rechnet. Den Ter- minus möchte ich mir auch heute nicht gern zu eigen machen; dafs die Konzeption selbst aber einen in den Tatsachen wohlbegründeten Sinn hat, darüber kann ich mich, seit ich um die Annahmen weifs, keiner Täuschung mehr hingeben, und ich meine dies im Hinblick auf meine ablehnende Stellungnahme in den Gott. Gel. Anz. 1892, S. 447 hier ausdrücklich an- erkennen zu sollen.

2 Dafs B. Russell entgegengesetzt urteilt („Meinong’s theory of com- plexes and assumptions“ II, Mind, N. S. 13, S. 351) geht auf eine Auffassung zurück, die ich oben (Kap. V, § 20, S. 132 ff.) zu widerlegen versucht habe.

3 Vgl. oben § 01.

1 Vgl. oben § 1 am Ende.


Ergebnisse. Bausteine zu einer Psychologie der Annahmen.


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diesem Bedürfnis durch einen Vorschlag Genüge zu leisten, kann normalerweise ohne etwas Willkür resp. Konvention nicht ab- gehen, und ob man wirklich den Ausdruck herausfindet, der in der neuen Anwendung dem Sprachgefühl nicht mehr als billig zumutet, bleibt dann mehr oder weniger Glückssache.

Mit diesem Vorbehalte habe ich in der vorigen Auflage dieses Buches 1 2 vorgeschlagen, Annehmen und Urteilen unter dem Namen „Denken“ zusammenzunehmen, und finde jetzt eine nur auf den ersten Blick unwesentliche, sehr glückliche Modifikation darin, wenn nunmehr St. Witasek 2 für die Erlebnisklasse, der sowohl Annahme als Urteil zugehört, die Benennung „Gedanken“ einführt. Der Wert der Abänderung liegt darin, dafs man bei gewöhnlichem Wortgebrauche, was mir nicht entgangen, aber von mir nicht hoch genug eingeschätzt worden ist, auch noch so ziemlich alle anderen intellektuellen Operationen, wie Ver- gleichen, Abstrahieren usf. ebenfalls als „Denken“ zu bezeichnen pflegt, wovon bei „Gedanke“ natürlich keine Rede sein kann. Nur der meinem erwähnten Vorschläge ebenfalls gemachte Ein- wand , 3 es gehe nicht an, das Vorstellen aus dem Bereiche des „Denkens“ auszuschliefsen, scheint immer noch in Kraft zu sein : Luftschlösserbauen und sonstige Betätigungen der vorstellenden Phantasie scheinen doch unzweifelhaft auf „Gedanken“ zu führen. Auch ich möchte das nicht bezweifeln, um so mehr aber, dafs, wer Luftschlösser baut, dabei nur vorstellt. Wir haben ja ge- sehen, dafs das rein passive Vorstellen noch keinen Gegenstand erfafst und alles Meinen bereits mindestens Annehmen ist . 4 Das Bedürfnis aber, auch rein passive Vorstellungserlebnisse noch Gedanken zu nennen, wird kaum bestehen. So erhält das Wort „Gedanke“ durch Witaseks Präzisierung kaum ein irgendwie er- heblich abgeändertes Anwendungsgebiet. Wohl aber läfst sich nun für die Fälle, wo man besser von Annehmen und Urteilen als von Annahme und Urteil redet, vom Terminus „Gedauke“ ein engerer Sinn auch des Terminus „Denken“ ableiten, unter dem An- nehmen und Urteilen zu befassen für unbedenklich wird gelten dürfen, wenn der Sinn ausdrücklich als ein enger bezeichnet ist.


1 S. 278.

2 Auf S. 79, 279 seiner Psychologie.

3 Vgl. A. Höfler, in Gütt. Gel. Anz. 1906, S. 226. 1 Vgl. oben Kap. VII f.

Meinong, Über Annahmen, 2. Aufl.


24


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Immerhin gibt es noch ein anderes Mittel, die hier etwa vorliegende terminologische Schwierigkeit zu besiegen. Gehören Annahmen und Urteile in eine Erlebnisklasse zusammen, so kann man mit Rücksicht auf die in vieler Hinsicht dominierende Stellung des Urteils dieses als das „potius“ behandeln, nachdem man die „denominatio“ der ganzen Klasse vornimmt, oder auch, was praktisch auf das nämliche hinauskommt, man kann dem „Urteil“ im engeren Sinne eins im weiteren Sinne gegenüber- stellen, dessen Begriff auch die Annahme einbezieht. Und in dieser Weise vorzugehen, das könnte durch den Umstand in besonderem Mafse nahegelegt sein, dafs, wie sich noch zeigen wird , 1 ein ganz analoger Wortgebrauch für „Gefühl“ und „Be- gehrung“ der auf diesen Erlebnisgebieten tatsächlich herrschenden Sachlage wirklich am besten gemäfs ist. Ich habe mich darum einer Ausdrucksweise gegenüber, die die Annahmen als eine Unterart von „Urteil“ im weiteren Sinne zu benennen vorzieht , 2 nicht ablehnend entgegenstellen zu sollen gemeint 3 und kann nur über die Bereitwilligkeit staunen, mit der dies als Wechsel in meinen Grundansichten über die Natur der Annahmen ge- deutet worden ist . 4 Ich werde diese gewifs wechseln, sobald mich die Tatsachen eines besseren belehren; bis dann aber sollten terminologische Konzessionen von sachlichen doch nicht allzu schwer zu unterscheiden sein.

Indem nun aber ich für mein Teil mich der mir charakte- ristischer scheinenden Ausdrucksweise bediene, kann ich zusam- menfassend sagen: die Natur der Annahmen ist auch in der Tatsache gekennzeichnet, dafs sie zusammen mit den Urteilen die Gedanken im technisch präzisierten Sinne dieses Wortes aus- machen, das Denken (im engeren Sinne) aber dem Vorstellen, Fühlen und Begehren koordiniert zur Seite steht. Durch diese Formulierung werden zugleich zwei Fragen besonders nahegelegt, die ich nicht unaufgeworfen lassen möchte, obwohl ich derzeit aufserstande bin, sie bündig zu beantworten.

Vor allem: geht die oft betonte Verwandtschaft zwischen


1 Unten § 65.

2 A. Höfleu a. a. 0. in den G. G. A.

3 „Über die Erfahrungsgrundl. unseres Wissens“, S. 60 f. Anm.

1 A. Makty „Untersuchungen“ S. 245 Anm., aber auch schon 0. Stumpf, „Erscheinungen und psychische Funktionen“, Abhandlungen der k. preufs. Akad. d. Wiss., Berlin 1907, S. 30 Anm.



Ergebnisse. Bausteine zu einer Psychologie der Annahmen. 371

Annehmen und Urteilen nicht vielleicht auf das zurück, was Stumpf einmal 1 Ähnlichkeit durch gleiche Teile genannt hat? Genauer: haben wir nicht im Urteile insofern einen komplexen Tatbestand vor uns, dafs darin jedesmal eine Annahme enthalten ist und dann nur noch etwas dazu, das wir als Überzeugungs- moment kennen? Die Fähigkeit der Annahme, das Urteil in mehr als einer Hinsicht zu vertreten, würde durch diese Voraussetzung unserer Einsicht jedenfalls um wesentliches näher gerückt.

Noch einen Schritt weiter ginge dann die zweite Frage, ob wir in der Annahme nicht etwa einfach eine Vorstufe des Ur- teils vor uns haben, die man beim Konzipieren des Urteils normalerweise jedesmal passieren müfste, und die dafür, wenn erreicht, auch eine gewisse Urteilschance repräsentierte. Dafs das Urteil wirklich oft genug Annahme vor stufen hat, davon haben wir uns wiederholt überzeugen können, wo das Material dem Urteil zeitlich vorgegeben ist. Nur zeigte sich dabei eine Art Vorzug der affirmativen Seins-Annahme, indem diese sogar den Ausgangspunkt für die Konzeption negativer Seins- A n nahmen ausmacht 2 : negativen Urteilen hingegen

könnten doch nicht wohl affirmative Annahmen als V orbereitung zustatten gekommen sein. Unüberwindlich wäre diese Schwierig- keit indefs nicht: man müfste blofs Grund haben, zu vermuten, dafs der Qualitätsumschlag von der Affirmation in die Negation noch in den Bereich des Annehmens fällt, dafs also auf die Aus- gangsannahme affirmativer Qualität zunächst eine negative An- nahme folgt, und dann erst ein negatives Urteil sich daraus ent- wickelt. Dafs aber die Annahme eine Chancenverbesserung zum mindesten für das gleich qualifizierte, d. h. demselben Objektiv zugewendete Urteil involviert, dafür sprechen jedenfalls die be- kannten Erfahrungen vom Lügner, der seine Lüge zuletzt selbst glaubt, ebenso vom Leichtgläubigen, der die Meinung des anderen, die er sich vorerst des Verständnisses halber als An- nahme müfste aufsuggerieren lassen , 3 bald genug, insbesondere nach wiederholter Suggestion, zur eigenen Meinung macht, so dafs es eben nicht nur au ['suggerierte Annahmen, sondern auch auf suggerierte Urteile gibt.

1 Tonpsychologie, Bd. I, S. 113.

2 Vgl. oben Kap. VII, § 38.

3 Vgl. oben Kap. IV, § 19.

24 *


372


Zehntes Kapitel.


Im ganzen steht es, wie man sieht, für eine affirmative Be- antwortung beider obigen Fragen nicht ungünstig: aber zur- zeit ist die Sache m beiden Fällen um vieles weniger spruch- reif, als einer weiteren sorgfältigen Untersuchung würdig. Und ob die diesbezügliche Untersuchung dann durchaus in den Zu- sammenhang des gegenwärtigen und nicht vielleicht mehr in den der vorhergehenden Paragraphen gehört, darf gleichfalls dahingestellt bleiben. Handelt es sich hier doch um Probleme, die bereits die den gegenwärtigen Untersuchungen gesteckten Grenzen elementarer Beschreibung überschreitend, weit in das Gebiet genetischer Intellektualpsychologie hineinreichen, deren Forschungswege übrigens nun schon J. M. Baldwin mit beson- derer Bedach tnahme auf die Annahmetatsachen erfolgreich be- schriften hat . 1


§ 64 .

Uber die Möglichkeit der Annahmen.

Der Leser mag sich billig wundern, am Ende eines Buches, in dem ihm die Annahmen als ein durch die mannigfaltigsten Erfahrungen direkt und indirekt beglaubigtes Erlebnis entgegen- getreten sind, sich nun auch mit der „Möglichkeit“ dieses Er- lebnisses beschäftigen zu sollen. Er mag auch fragen, warum gerade an dieser Stelle, wo eben eine Klärung des Verhältnisses zwischen Annahme und Urteil angebahnt werden sollte, auf eine derartige Problemstellung zurückzugreifen sei. Der Anlafs hegt darin, dafs gerade meine Aufstehungen über das Verhältnis der Annahmen zum Urteil, so augenscheinlich sie über das Stadium eines ersten Versuches noch nicht hinausgelangt sind, sich doch dazu geeignet gezeigt haben sollen, a priori zu beweisen, dafs es Annahmen überhaupt gar nicht geben kann . 2 Ich habe meine Meinung über den Wert eines solchen Unternehmens im allge- meinen und des in Rede stehenden im Besonderen an anderem Orte 3 klar genug zum Ausdrucke gebracht, um auf die neuer- liche Beschäftigung mit einer Reprise dieses Unmöglichkeits- beweises 4 an dieser Stelle verzichten zu dürfen. Zu meinem grofsen Erstaunen hat aber dieser Beweis auch noch anderswo


1 Vgl. das oben (im Vorwort zur gegenwärtigen zweiten Auflage er- wähnte) Werk „Thought and things“, bes. Bd. II.

2 Dies eine Hauptaufgabe von A. Mautys Aufsatz „Über , Annahmen“* in Bd. 40 der Zeitschr. f. Psychol., insbesondere S. 7 ff. Statt „Unmöglich- keit“ (vgl. a. a. 0. S. 6) wird auch „Unwahrscheinlichkeit“ gesagt.

3 In dem Artikel „In Sachen der Annahmen“, Zeitsehr. f. Psychol. 41 , zunächst S. 3 ff.

  • ■ A. Marty, „Untersuchungen zur Grundlegung der allgemeinen Gram-

matik und Sprachphilosophie“, S. 247 ff.


Ergebnisse. Bausteine zu einer Psychologie der Annahmen. 373

als an den Ufern des Moldauflusses Gehör und Zustimmung ge- funden 1 , und dies läfst es mir doch angemessen erscheinen, auf die meiner Erwiderung zuteil gewordene Duplik mit einigen

J Worten einzugehen.

Unerörtert lasse ich dabei am besten gewisse Ausschmückungen, die Marty seiner neuen Polemik zuteil werden läfst, wie etwa die, dafs er mir ein ganzes Sündenregister von Aufstellungen vorhält, in denen ich „am Werke“ bin, „bisher unbezweifelte Wahrheit zu stürzen“ 2 : dafs die Liste einen Fall enthält, an dem ich keinen Anteil haben dürfte, fällt nicht ins Gewicht, da die Aufzählung übrigens bei weitem nicht vollständig ist. Dafs Marty auf diese Proben hin vor meiner Weise, Gegenstands- theorie zu treiben, eindringlichst warnt 3 , läfst sich einigermafsen verstehen ; und wenn ich mich schon nicht bessern kann, so soll durch gegenwärtigen Hinweis auf diese Warnung wenigstens zu ihrer Weiterverbreitung das Meine beigetragen sein.

Was nun aber den Unmöglichkeitsbew T eis selbst anlangt, so

( besteht sein Hauptgedanke darin, dafs Urteil und Annahme sich zueinander weder wie zwei verschiedene Gattungen, noch wie zwei Arten derselben Gattung verhalten könnten, dafs sie also weder generisch noch spezifisch verschieden seien. Dem hatte ich in meiner Replik die A^ermutung entgegen gestellt, es werde, wenn es erfahrungsgemäfs nun doch sowohl Urteile als Annahmen gibt, wohl an Martys A^oraussetzungen hinsichtlich Gattungen und Arten etwas berichtigungsbedürftig sein. Dies wird jetzt in das erwähnte Sündenregister eingetragen als Zweifel an einer seit Aristoteles feststehenden Sache, womit festgelegt ist, dafs Marty seinen Beweis auf das Aristotelische Genus und die Aristotelische Spezies bezogen hat. Da er aber in der ersten Formulierung seines Beweises von Genus und Spezies ohne historische Präzisierung redet, so stellt sich jetzt heraus, dafs er gleichviel ob absichtlich oder aus Versehen, „Genus“ und „Spezies“ kurzweg genannt hat, was „Aristotelisches Genus“ resp. „Aristo- telische Spezies“ hätte heifsen sollen. Da man in der Regel die Termini „Gattung“ und „Art“ nicht streng Aristotelisch zu gebrauchen pflegt, so ist meine Vermutung einer Berichtigungs- bedürftigkeit nun durch Marty selbst verifiziert. Meine Ein- wendungen in der Replik waren natürlich nicht auf Aristoteles eingestellt: ich zweifle indes, dafs das ihrer Stringenz erheblichen Eintrag getan hat; die besten apriorischen Evidenzen, selbst wenn man sich zu ihren Gunsten auf die Autorität eines Aristo- teles berufen darf, können ja ihren Dienst versagen, wenn das Recht, sie auf den gerade mafsgebenden Fall anzuwenden, nicht ausreichend gesichert ist.

Die dem Beweise zugrunde liegende Doppelthese läfst sich


1 Vgl. C. Stumpf, „Erscheinungen und psychische Funktionen“, a. a. O. S. 30 Anm.

2 „Untersuchungen zur Grundlegung usw.“ S. 250.

3 A. a. 0. S. 250 Anm., S. 255.



374


Zehntes Kapitel.


mit möglichst wenig Gelehrsamkeit so aussprechen : a) Urteil und Annahme verhalten sich zueinander nicht wie Farbe und Ton, b) aber auch nicht wie Grün und Rot oder sonst zwei Farben zueinander. leilthese a wird durch den Hinweis auf gemeinsame Diftei entiationen \on Urteil und Annahme, wie etwa Affirmation und Negation begründet, denen auf Grund der obigen Dar- legungen 1 noch mehreres an die Seite zu setzen wäre, indes derlei bei Farbe und Ton fehlt. Sachlich wird es damit auch seine Richtigkeit haben; ob die formale Begründung dagegen ausreicht, kann zweifelhaft sein. Über mein Gegenargument von der Ton- und Wärmestärke „staunt“ Marty, kann aber damit nicht fertig werden, ohne sich auf Brentanos „Unter- schiede der Dichtigkeit in der Erfüllung des Sinnesraums“ zu berufen 2 , womit den wenigsten gedient sein wird.

Die Begründung von Teilthese b läfst sich überhaupt nicht in schlichte Worte kleiden: die Unnatur dieser dialektischen Überkunst sucht Ihresgleichen und macht es entbehrlich, das trostlose Geschäft der Detailkritik hier ein zweites Mal zu ver- richten. Es sei also nur konstatiert, dafs Marty irrt, wenn er meint, ich hätte durch meine Entgegnung nur eine Petitio pricipii aufzeigen wollen . 3 Ich habe deren wirklich zwei ge- funden, oder auch eine zweimal, und kann weder den einen Fall durch Berufung auf „Kürze“ oder „Bequemlichkeit“ des Aus- drucks 4 , noch den anderen Fall durch Berufung auf den Unter- schied des „rein Negativen“ vom „Privativen “ 5 * erledigt finden. Bekennen mufs ich dagegen, dafs ich in meiner Replik vor den Bäumen solcher Einzelnheiten den Wald des Hauptgedankens einigermafsen aus den Augen verloren und so versäumt habe, die sehr wunderliche Natur dieses Hauptgedankens zu beleuchten. Was, wie Marty jetzt ausdrücklich selbst bezeugt®, bewiesen werden soll, ist dies, dafs „zwischen Annahme und Urteil . . . nicht das Verhältnis bestehen“ kann, „dafs sie zur selben Gattung . . . gehören“. Was dagegen in Wahrheit bewiesen wäre, wenn Martys Argumentation keinem Einwande unterläge, ist dies, dafs ich unrichtig verfahren sei, als ich Urteil und Annahme einander entgegensetzte, indem eine Gegenüberstellung wie „Urteil mit Überzeugung“ und „Urteil ohne Überzeugung“ konsequenter ge- wesen wäre. Zufällig hat mich, wie oben 7 zu ersehen war, ein solcher Gedanke, und erweislich nicht etwa erst auf Anregung des in Rede stehenden Argumentes, ebenfalls beschäftigt und ich habe ihn nicht in jedem Sinne abgelehnt. Aber gesestzt, dem wäre nicht so und ich hätte mich einfach geirrt, was verschlägt


1 Namentlich im Eingangsparagraphen gegenwärtigen Kapitels.

2 „Untersuchungen zur Grundlegung usw.“ S. 251.

3 A. a. 0. S. 253.

1 A. a. O. S. 252 f.

A. a. 0. S. 253 f.

» A. a. 0. S. 252.

7 Vgl. S. 370.


Ergebnisse. Bausteine zu einer Psychologie der Annahmen.


375


mein Irrtum, wo es zugunsten resp. zuungunsten der Annahmen eine Entscheidung zu treffen gilt?

Inzwischen eröffnet sich, nachdem einmal feststeht, dals Marty von Aristotelischen Gattungen und Arten handelt, ein einfacher Weg der Orientierung für denjenigen, der mit Recht wünscht, des, wie gesagt, wenig dankbaren Eingehens auf die obigen Details überhoben zu sein. Gesetzt nämlich, es wäre Marty gelungen, beide Teile der Doppelthese zu erweisen. Es wäre also festgestellt, dafs Urteil und Annahme weder Aristote- lische Genera, noch Aristotelische Spezies zueinander seien. Was ergäbe sich daraus für oder eigentlich gegen die Möglich- keit der Annahmen? Solange nicht ein Prinzip feststeht wie dieses: „Gegenstände, die zueinander nicht entweder Aristotelische Gattungen oder Aristotelische Arten sind, sind unmöglich“, so- lange folgt aus derlei Feststellungen, auch wenn sie so sicher gelängen als sie hier mifslungen sind, hinsichtlich der Annahmen nicht das Allergeringste. Das Spiel mit Genus und Spezies im Aristotelischen Sinne ist eben solange ein völlig müfsiges, als man gar nicht weifs, ob man „strenge“ oder „wahre“ Genera resp. Spezies vor sich hat, falls nicht gar Grund vorliegt, aus dem empirischen Aspekt das Gegenteil zu vermuten.

So ist Martys „vorgängiger“ Unmöglichkeits- oder Unwahr- scheinlichkeitsbeweis in der Tat nur das, als was er sich dem natürlichen Erkenntnisinstinkt des Unvoreingenommenen schon auf den ersten Blick präsentiert. Ich selbst werde schwerlich im Verdacht stehen, den Wert apriorischer Erkenntnisweise zu gering anzuschlagen. Aber einem völlig erfahrungsfremden Räsonnieren a priori kann niemand die Befugnis einräumen, die Erfahrung zu korrigieren. Ob es Annahmen gibt, ist eine Frage empirischer Tatsächlichkeit: sie zu beantworten, mufs man vor allem die Augen auftun, dann erst Gedanken spinnen. Wer es aber mit den Komplikationen der lebendigen Wirklichkeit versucht hat, wem dabei, wie uns im vorangehenden, beim Bemühen, das Verhältnis von Urteil und Annahme auch nur in einer ersten allergröbsten Charakteristik zu erfassen, so grofse Schwierigkeiten begegnet sind, dem vergeht das Vertrauen darauf, die Empirie durch den Anspruch auf Aristotelische Präzision so leicht meistern zu können. Natürlich hätte ich unter solchen Umständen mir wie meinen Lesern die neuerliche Behandlung einer mir in jeder Hinsicht aussichtslos scheinenden Sache lieber erspart, und jeden- falls würde ich nur im äufsersten Nötigungsfalle auf sie noch ein drittes Mal zurückkommen.

§ 65 .

Ausblick. Neues zur Bestimmung des Begriffes

der Phantasie.

Man braucht künftiger Entscheidung der im vorletzten Para- graphen aufgeworfenen Fragen in keiner Weise vorzugreifen, um


376


Zehntes Kapitel.


in den oben unter dem tarnen der Gedanken zusammengefafsten Tatsachen etwas wie eine Zweistufigkeit zu konstatieren, d. h. es verständlich und berechtigt zu finden, dafs die Urteile in irgend einem Sinne eine Art Oberstufe zu den Annahmen als Unterstufe abgeben. Die in solcher Aufstellung liegende Unbe- stimmtheit hat nun den Wert, die weitere Frage besonders nahe zu legen, ob eine derartige Zweistufigkeit nicht etwa auch inner- halb einer der drei anderen, oben den Gedanken koordinierten Klassen psychischer Grundtatsachen anzutreffen wäre. Vielleicht käme aber die Frage überhaupt niemandem in den Sinn, wenn nicht auf einem der drei noch in Betracht kommenden Gebiete die Zweiteilung eine der anerkanntesten und bekanntesten Tat- sachen wäre. Ich meine natürlich das Vorstellen, bei dem der Gegensatz von Wahrnehmungs- und Einbildungsvorstellungen 1 — letztere vielfach lieber als „Erinnerungs“- resp. „Phantasie- vorstellungen“ bezeichnet — aller Welt geläufig ist , 2 und zwar schwerlich erst seit den Tagen, da Hume auf den Unterschied zwischen „impression“ und „idea“ hinwies. Zwar beherrscht dieser Gegensatz, solange man sich an das Geltungsgebiet der eben herangezogenen Termini hält, keineswegs das gesamte Vor- stellen: denn von Wahrnehmungs- und daher gegensätzlich

hierzu von Einbildungsvorstellungen redet man zunächst doch nur bei Gegenständen, die ihrer Natur nach ein Wahrgenommen- werden überhaupt gestatten, bei realen Gegenständen also , 3 nicht


1 Vgl. meine Ausführungen „Über Begriff und Eigenschaften der Empfindung“ in der Vierteljahr sschr. f. wissensch. Philos., Jahrgang 1888,

5. 478 ff. — Auch „Beiträge zur Theorie d. psych. Analyse“ Zeitschr. f. Psych.,

6, S. 373.

2 Aufser A. Marty, der, wie sich nach Veröffentlichung des Obigen in der ersten Auflage ergeben hat, erst nach der Bedeutung des W ortes „Phantasievorstellung“ sucht („Über , Annahmen“ 1 , Zeitschr. f. Psycliol. 40, S. 26 f., vgl. meine Entgegnung „In Sachen der Annahmen“, dieselbe Zeit- schrift 41, S. 8), um schliefslicli, wie es scheint, zu dem Ergebnis zu gelangen, Wahrnehmungsvorstellung sei Vorstellung mit, Phantasievor- stellung Vorstellung ohne Glauben („Untersuchungen usw.“ S. 259f.). Einer solchen Auffassung müfste ich die Phantasievorstellungen mit Glauben entgegenbalten, wie wir sie erleben, wenn wir uns erinnern, oder sonst Er- teile fällen, die nicht Wahrnehmungsurteile sind. Zur Beschreibung der Phantasievorstellungen vgl. jetzt insbesondere St. Witasek, Psychologie, S. 250 ff.

3 „Über Gegenstände höherer Ordnung“ a. a. 0. S. 19811.


Ergebnisse. Bausteine zu einer Psychologie der Annahmen.


377


aber bei idealen Gegenständen wie Ähnlichkeit, Gegensatz u. dgl . 1 Bei diesen idealen Gegenständen aber kommt die Zweiteilung oder Zweistufigkeit des Vorstellens in der Gegenüberstellung von Produktion und Reproduktion 2 neuerlich zu ihrem Rechte. Wir finden dieselbe also in Wahrheit auf dem ganzen Vorstellungs- gebiete: dafs aber die Glieder dieser Dichotomie zu Urteil und Annahme in deutlicher Analogie stehen, hat mir so offenkundig geschienen, dafs ich in der ersten Auflage dieser Schrift ein be- sonderes Eingehen hierauf für entbehrlich hielt.

Da die Analogie aber inzwischen ausdrücklich in Frage ge- stellt worden ist , 3 so sei in dieser Hinsicht 4 vor allem auf den allgemeinen, vor jedem Versuche, zu analysieren, sich auf- drängenden Aspekt verwiesen, aus dem sich, soviel ich sehe, ohne jeden Zweifel ergibt, dafs Urteil und Wahrnehm ungs- (resp. Produktions-) Vorstellung, und dann wieder Annahme und Phantasievorstellung gleichsam zusammengehören, und sicher auf Befragen niemand für entgegengesetzte Zuordnung optieren würde. Versucht man es nun mit der Analyse, so hat diese, wie an den Phantasievorstellungen schon oft genug zu erfahren Gelegenheit war, so grofse Schwierigkeiten, dafs man sich schon bei der Be- schreibung mit mehr oder weniger bildlich gemeinten Bestim- mungen hat helfen müssen. Halten wir uns aber an die den Tatsachen zurzeit noch am nächsten kommende Charakteristik der Phantasievorstellungen durch Hervorhebung ihrer „Flüchtig- keit“ und „Blässe“ 5 , so besteht, soviel ich sehe, wieder kein Zweifel daran, dafs es nicht die Urteile, sondern nur die An- nahmen sind, denen als solchen derartige Eigenschaften vorzugs- weise zugeschrieben werden könnten. Noch deutlicher wird aber das Verhältnis, wenn man der Parallele die Ergebnisse der oben 6 7 durchgeführten Vergleichung von Annahme und Urteil zugrunde legt.' Wir fanden diese beiden Erlebnisse zunächst nicht dem Inhalte, sondern dem Akte nach verschieden. Was geurteilt wird, kann im Prinzip auch angenommen werden: dem Akte nach

1 Vgl. bereits meine „Beiträge zur Theorie der psychischen Analyse“ Zeitschr. f. Psycli. a. a. 0. S. 441 f. und vorher.

2 Vgl. oben S. 10 f.

3 Von A. Marty, „Über , Annahmen 1 “, a. a. 0., S. 26.

4 Vgl. übrigens schon oben § 54 f.

6 St. Witasek, a. a. 0.

0 ln § 59, 68.

7 Vgl. auch St. Witasek, Ästhetik, S. lllf.


378


Zehntes Kapitel.


aber stellt das Urteil gegenüber der Annahme eine Art Mehr dar, mag sich nun das Hinzukommende selbständig erfassen und bezeichnen lassen oder nicht. Auch Wahrnehmungs- und Ein- bildungsvorstellungen (die Fälle idealer Gegenstände seien der Kürze halber beziehungsweise einbegriffen) sind nicht ihrem Gegenstände resp. nicht ihrem Inhalte nach von einander unter- schieden: jeder Vorstellung der einen Art ist, im Prinzip wenig- stens, eine inhaltsgleiche Vorstellung der anderen Art zugeordnet. Die V erschiedenheit liegt also auch hier im Akte, und wieder ist es die Wahrnehmungsvorstellung, die sich in irgend einer Weise als der gewissermafsen reichere Tatbestand darstellt, so dafs der Gedanke, die Wahrnehmungsvorstellung könnte ge- steigerte Phantasievorstellung sein (das Umgekehrte ist bezeich- nenderweise wohl noch niemandem in den Sinn gekommen) immer eine gewisse Natürlichkeit für sich hat. Ich habe mich an anderem Orte gegen die Steigerungsansicht erklären zu sollen gemeint 1 : bin ich aber damit im Recht, dann liegt es wohl sehr nahe, bei der Wahrnehmungsvorstellung das Hinzutreten eines qualitativen Momentes zu vermuten.

Damit will natürlich durchaus nicht behauptet sein, dafs die Analogie schlechterdings in jeder Hinsicht zur Geltung komme . 2 In der Tat hat z. ß. das alte Prinzip : „Nihil est in intellectu, quod non prius fuerit in sensu“, das eine manchmal über- schätzte, jedenfalls aber sehr wichtige Relation zwischen Wahr- nehmungs- und zugeordneten Phantasievorstellungen betrifft , 3 kein bekanntes Seitenstück im Gebiete der Gedanken. Und speziell die hier zutage kommende Verschiedenheit könnte viel- leicht noch tiefer reichen. Es hat sich uns als naheliegend er- wiesen, die Annahme dem Urteil nicht nur als eine Art Unter- stufe im Sinne der Vollkommenheit, sondern auch als eine Vor- stufe im Sinne der Entwicklung gegenüberzustellen. Oberstufe im eben angegebenen Sinne ist, wie wir gesehen haben, auch die Wahrnehmungs- der Einbildungsvorstellung gegenüber: das Prinzip von intellectus und sensus jedoch stellt jene vor diese, und nicht diese vor jene, wie der „Vorstufe“ doch wohl gemäfs

1 „Beiträge zur Theorie der psychischen Analyse“, Zeitschr. f. Psychol. 6, S. 374 Anm.

2 Vgl. bereits oben § 55 Ende.

3 Vgl. meine Ausführungen über „Phantasievorstellung und Phantasie“ in der Zeitschrift für Philosophie und pliilos. Kritik 35, S. 166 ff.


Ergebnisse. Bausteine zu einer Psychologie der Annahmen. 379

wäre. Aber wer weifs freilich, ob clas fragliche Prinzip wirklich so einfach ins Genetische umgedeutet werden kann. Aufserdem bleibt aber immer noch recht weitgehenden Verschiedenheiten Raum gelassen, wenn man konstatiert, dafs die Zweiteiligkeit (und vorerst cum grano salis auch die Zweistufigkeit) der Ge- danken bei den Vorstellungen ihr Seitenstück hat, insofern also von sämtlichen intellektuellen Betätigungen gilt, und damit die Frage nahelegt, ob dergleichen den emotionalen Erlebnissen wohl völlig fremd sein möchte.

Material zur Beantwortung dieser Frage haben wir bereits bei früherer Gelegenheit 1 gesammelt. Wir haben Tatsachen zu registrieren gehabt, die ihrer Beschaffenheit wie den Umständen ihres Auftretens nach gefühlsähnlich heifsen durften, ohne doch eigentlich das zu sein, was man gewöhnlich sich unter Lust oder Unlust zu denken pflegt; in analoger Weise haben wir den Be- gehrungen im gewöhnlichen Sinne begehrungsartige Erlebnisse an die Seite zu stellen gehabt. Und durften wir schon dem äufseren Aspekt nach die Annahmen vorstellungsähnlicher finden als die Urteile, so treten nun auch zwischen die Vorstellungen einerseits, die eigentlichen Gefühle und Begehrungen andererseits diese gefühls- resp. begehrungsartigen Erlebnisse. Ich habe für jene die Bezeichnung „Phantasiegefühle“, für diese den Namen „Phantasiebegehrungen“ vorgeschlagen, ohne sofort auf den Be- weggrund zu solcher Wahl näher einzugehen: er wird im gegen- wärtigen Zusammenhänge alsbald klar werden. Akzeptieren wir vorerst die Benennungen, so ist nun ohne weiteres deutlich, dafs diese Phantasiegefühle den wirklichen Gefühlen, die Phantasie- begehrungen den wirklichen Begehrungen ganz ähnlich gegen- überstehen, wie die Annahmen den Urteilen: durfte man jene ganz wohl als Scheingefühle resp. Scheinbegehrungen bezeichnen, so nicht minder die Annahmen als Scheinurteile. Wenn wir aber im vorletzten Paragraphen den Gefühlen und Begehrungen die Gedanken als koordinierte Klasse zur Seite stellten, so finden wir in diesem Vorgehen nunmehr eine terminologische Ungleichmäfsigkeit, die darin besteht, dafs wir unter „Gefühl“ neben den wirklichen noch die Scheingefühle, ebenso unter „Be- gehrung“ neben den wirklichen auch die Scheinbegehrungen ver- stehen müssen, während wir bei „Gedanken“ von diesem wenig


1 Vgl. oben Kap. IX, § 54 ff.


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Zehntes Kapitel.


exakten terminologischen Auskonftsmittel keinen Gebrauch machen, sondein die zwei selbständigen Unterarten auch unter den selbständigen Benennungen „Urteil“ und „Annahme“ neben- einander stellen. Dafs letzteres Vorgehen das bei weitem korrektere ist, versteht sich: ich habe aber Wörter, die gegenüber den Ge- fühlen und Begehrungen Ähnliches zu leisten vermöchten wie das Wort „Gedanke“ gegenüber den Urteilen, nicht ausfindig zu machen vermocht. So mag es denn vorerst bei jener Ungleich- mäfsigkeit sein Bewenden haben. Sie könnte aber natürlich in der Weise beseitigt werden, dafs man sich der unvollkommeneren Bezeichnungsweise auch auf dem Gebiete der Gedanken bedient, indem man die Annahmen als Scheinurteile den wirklichen oder Ernsturteilen an die Seite stellt. Es ist der schon oben 1 er- wähnte Wortgebrauch, der dann gestattet, „Urteil im weiteren Sinne“ statt „Gedanke“ zu sagen, und auf den wir sogleich unten 2 uns noch von einer anderen Seite her geführt sehen werden.

Man kann mehr als einen Gesichtspunkt namhaft machen, unter dem diese drei Klassen psychischer Geschehnisse, die Ge- danken, Gefühle und Begehrungen, sich untereinander enger ver- wandt zeigen als mit der noch übrigen vierten oder auch ersten Klasse, der der Vorstellungen. Es gehört hierher die ihnen eigene Unselbständigkeit, vermöge deren jeder diesen Klassen zuge- hörige Tatbestand auf ein präsentierendes Erlebnis als psycho- logische Voraussetzung angewiesen ist; es gehört hierher die innerhalb jeder dieser drei Klassen herrschende Gegensätzlich- keit, die bei den Gedanken als Affirmation und Negation, bei den Gefühlen als Lust und Unlust, bei den Begehrungen als Be- gehrung im engeren, positiven Sinne und Widerstrebung zur Geltung kommt. Dies und anderes hat bei den Vorstellungen nicht seinesgleichen, und so ist es auch weiter nicht auffallend, dafs die uns hier im besonderen beschäftigende Zweigeteiltheit, die sich innerhalb der drei Klassen in so verwandter Weise an- treffen läfst, beim Vorstellen sichtlich einen relativ eigenartigen Charakter an sich trägt. Schon oben wurde darauf hingewiesen, wie wenig die Einbildungsvorstellung als Vor- resp. Durchgangs- stufe für die Wahrnehmungsvorstellung desselben Gegenstandes anzusprechen wäre, und schon terminologisch ist auffällig, dafs der Ausdruck „Vorstellung“ nicht etwa zunächst „Wahrnehmungs-


1 Vgl. § 63.

2 Vgl. S. 383.


Ergebnisse. Bausteine zu einer Psychologie der Annahmen.


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Vorstellung“ bedeutet, und man sich daher keineswegs gedrängt fühlt, die Einbildungsvorstellung etwa analog zum „Scheingefühl“ als „Scheinvorstellung“ zu bezeichnen. Vielmehr ist, was eigent- lich und zunächst, wenigstens für den aufserwissenschaftlichen Sprachgebrauch, „Vorstellung“ heilst, gerade die Einbildungs- vorstellung, so dafs bekanntlich auch viele Theoretiker sich nicht entschliefsen können, die Erweiterung der Bedeutung des W ortes Vorstellung zu der des sowohl Einbildungs- als Wahrnehmungs- vorstellung einbegreifenden Klassennamens mitzumachen.

Nun können aber derlei Verschiedenheiten an der Haupt- tatsache nichts ändern, dafs die Zweiteilung eben auch hier zu Recht besteht; und was den Einbildungsvorstellungen an Ver- wandtschaft mit den Annahmen, Scheingefühlen und Schein- begehrungen fehlen sollte, wird vielfach dadurch einigermafsen kompensiert werden, dafs die der Unterstufe des Denkens, Fühlens und Begehrens zugehörigen Betätigungen so oft gerade auf die Einbildungsvorstellungen als ihre psychologische Voraussetzung angewiesen sind. Nicht als ob die Wahrnehmungs Vorstellungen ein für allemal aufserstande wären, in eine solche Funktion ein- zutreten: aber in der Regel tun sie es eben tatsächlich nicht, und so stellen sich die Angehörigen der Unterstufe aller vier Klassen nicht selten auch vermöge der Relation der regelmäfsigen Koexistenz als ein zusammengehöriges Ganze dar . 1

Mir scheint dieser Umstand beachtenswert, weil darin, wenn ich recht sehe, der Schlüssel für das Verständnis einer zunächst zwar nur vulgärpsychologischen Konzeption gegeben ist, an deren richtiger Erfassung aber auch die auf Strenge nach Tunlich- keit bedachte Iheorie ihr sehr wohl begründetes Interesse hat. Ich meine den Begriff der Phantasie, an dessen Aufhellung ich bereits einmal literarisch herangetreten bin 2 , ohne dafs das dabei gewonnene Ergebnis mich oder andere dauernd hätte befriedigen können. An den sachlichen Voraussetzungen meiner damaligen Aufstellungen zwar werde ich kaum mehr zurückzunehmen brauchen als die in die Zwischenzeit fallenden, hoffentlich nicht ganz unerheblichen Fortschritte der Psychologie und Gegenstands- theorie eben mit sich gebracht haben. Aber die Definition der

1 Über Stellvertretung der Ober- durch die Unterstufe vgl. oben § 58 gegen Ende, sowie § 61.

2 In der Abhandlung über „Phantasievorstellung und Phantasie“ Zeitschr. f. Philosophie u. pldlos. Kritik 95, bes. S. 234 ff.


382


Zehntes Kapitel.


Phantasie „als der zur anschaulichen Neubildung erforderlichen Spontaneität“ 1 oder dgl. bleibt am Ende doch in mehr als einer Hinsicht viel zu eng. Vor ihr hat Witaseks Versuch, im Phantasiebegriffe die „Disposition zu direktem Einbilden neuer fundierter Inhalte“ 2 * (oder vielmehr, wie wir seither genauer zu sagen gelernt haben, fundierter Gegenstände) herauszuarbeiten, den erheblichen Vorzug, auf ein wichtiges, insbesondere auch für das künstlerische Tun sehr charakteristisches Moment zuin ersten Male hingewiesen zu haben. Aber dieser Definitionsversuch teilt mit dem meinigen und wohl auch mit den meisten sonst vorhegenden den Mangel, über den Bereich des Vorstellens nicht hinauszugreifen, indes wir im Verlaufe der vorstehenden Unter- suchungen Gelegenheit genug hatten, uns davon zu überzeugen, in w 7 elch inniger Weise gerade das aktive wie passive Verhalten zur Kunst mit Annahmen, dann aber auch mit Scheingefühlen und Scheinbegehrungen sozusagen durchsetzt ist. Wirklich meint denn auch das vulgäre Denken von demjenigen, dem lebhafte Phantasie zugeschrieben wird, dafs diese Lebhaftigkeit sich nicht nur im Vorstellen, sondern auch innerhalb der drei übrigen Tatsachengebiete äufsere, nicht durch Überzeugungen, auch nicht durch eigentliche Gefühle oder Wollungen, wohl aber durch jene eigentümlichen Betätigungen, die w T ir mehr oder minder charakte- ristisch als der bisher von uns sogenannten Unterstufe zugehörig bezeichnet haben. Mir scheint daraus einfach zu folgen, dafs diese ganze Unterstufe, mag übrigens Vorstellen, Denken, Fühlen oder Begehren auf derselben auftreten, das Gebiet ausmacht, in dem die Phantasie sich betätigt.

Ob man daraufhin das Recht hat, Phantasie kurzweg als Disposition zu psychischen Betätigungen zu bestimmen , die unserer „Unterstufe“ angehören, ob man also den Begriff, um ihm theoretische oder praktische Brauchbarkeit zu sichern, nicht doch in dieser oder jener Hinsicht einschränken mufs, das soll hier ununtersucht bleiben. Möglich wäre auch immerhin, dafs der Gedanke der Phantasie zu jenen Vulgärgedanken gehölt, die eine andere als willkürliche Präzisierung überhaupt nicht ge- statten, so dafs entweder die Weise, in der diese vorzunehmen ist, bis zu ausdrücklicher Konvention immer kontrovers bleibt,

1 A. a. 0. S. 236.

2 „Beiträge zur speziellen Dispositionspsychologie“ im Archiv f. systema .

Philosophie 3, S. 283.


Ergebnisse. Bausteine zu einer Psychologie der Annahmen.


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wie beim Begriffe der Aufmerksamkeit, — oder die Theorie auf den Gebrauch der betreffenden Termini für exakte Zwecke lieber ganz verzichtet, wie dies etwa in betreff der dem täglichen Leben so geläufigen Vulgärtermini „Verstand“ und „Vernunft“ ge- schehen ist. Dagegen genügt die dargetane Beziehung zwischen der Phantasie auch im Vulgärsinne einerseits und unserer „Unter- stufe“ andererseits, um für die dieser Unterstufe angehörenden Tatsachen eine zusammenfassende Benennung zur Verfügung zu stellen, welche den in keiner Hinsicht empfehlenswerten Ver- legenheitsausdruck „Unterstufe“ wieder entbehrlich macht. Täuscht mein Sprachgefühl mich nicht, so hat es bereits für vorwissenschaftlich psychologische Betrachtung einen charak- terisierenden Wert, alles, was wir der „Unterstufe“ beigezählt haben, als Betätigungen der Phantasie, näher einerseits der intellektuellen, andererseits der emotionalen Phantasie zusammen- zufassen. Ich habe, wie man nun sieht, diese Bezeichnungsweise bereits im Detail vorweggenommen, als ich für die Scheingefühle und Scheinbegehrungen die Benennungen „Phantasiegefühle“ und „Phantasiebegehrungen“ in Vorschlag brachte. Vielleicht sehen wir jetzt klarer, warum dieser Vorschlag sogleich das Sprachgefühl für sich hatte. Überträgt man dieselbe Benennungs- weise nun auch auf das Gebiet der Gedanken, so erhält man die Bezeichnung „Phantasieurteil“ für „Annahme“, und soviel ich sehe, ist auch dies ein Ausdruck, der bereits demjenigen, der ihn zum ersten Male hört, etwas ganz Bestimmtes und unsere An- nahmetatsachen richtig Charakterisierendes sagt, daher keines- wegs für unbrauchbar gelten darf . 1 Greifen wir schliefslich auch noch auf die Vorstellungen zurück, so brauchen wir die Zusammen- setzung „Phantasievorstellung“ bekanntlich längst nicht mehr zu bilden. Was ich seinerzeit 2 gegen den weiten Gebrauch dieses Terminus beigebracht habe, verliert unter den neuen Gesichtspunkten der vorstehenden Untersuchungen seinen Be- lang. Dafs das Verhältnis der beiden diese Zusammensetzung eingehenden Wörter hier von Haus aus ein anderes ist als in den drei übrigen Fällen, indem hier die Bedeutung des „Grund- wortes“ , wie die Grammatiker manchmal sagen , durch das

1 Auch durch ihn würden die Annahmen natürlich den oben S. 370 und 380 berührten „Urteilen im weiteren Sinne“ subsumiert.

2 „Über Begriff und Eigenschaften der Empfindung“, Vierteljahresschr. f. wiss. Philosophie, Jahrgang 1888, S. 479 f.


384


Zehntes Kapitel.


„Bestimmungswort“ weit eher interpretiert als in seiner Be- deutung modifiziert wird, darauf ist eben zuvor 1 bereits hinge- wiesen worden.

M ie man sieht, führen so die Untersuchungen, die es zu- nächst auf die Aufhellung eines vorher von der Forschung so gut wie übersehenen Tatsachengebietes abgesehen hatten, weit über dieses Gebiet hinaus. Nicht nur dadurch haben sich uns die Annahmen als wichtige und untersuchenswerte Erlebnisse bewährt, dafs von ihnen aus auf ältere wie neuere Probleme, denen sich Psychologie und Erkenntnistheorie bereits zugewendet haben, neues Licht fällt, sondern auch dadurch, dafs sie uns den W eg gewiesen haben zu bisher so gut wie unbekannten Tatsachengebieten. In der Tat scheint mir aufser Zweifel, dafs die Untersuchungen, die im vorstehenden für die Annahmen zu ersten, gleichviel wie vorläufigen Ergebnissen geführt haben, vor allem auch für die Phantasiegefühle und Phantasiebegehrungen werden weitergeführt werden müssen, ehe man wird hoffen dürfen, innerhalb der durch die Betätigungen der Phantasie im weitesten Sinne ausgemachten einen Hälfte psychischer Lebens- äufserungen auch nur die klaffendsten Lücken unseres psycho- logischen Wissens notdürftig ausgefüllt zu haben. Was für Licht von da aus dann wieder speziell auf die Theorie der Annahmen zurückfallen wird, bleibt natürlich ganz unabsehbar, — dafs aber demgegenüber dann noch jede der oben die Annahmen be- treffenden Aufstellungen im Rechte bleiben sollte, nach wie vor mehr als unwahrscheinlich. Sollten indes diese Aufstellungen sich als fähig erwiesen haben, die jDsychologische Forschung in neue und aussichtsreiche Bahnen zu lenken, dann wird man dem, was ich in diesen Untersuchungen niederzulegen hatte, die Mängel zugute halten dürfen, die auch gewissenhafteste Arbeit nicht abzustreifen vermag. Es ist der Stolz des Lehrers, Schüler heranzubilden, von denen er selbst zu lernen hat: da wird es auch für den Forscher keine Demütigung sein, wenn er denen, die ihm folgen, die Wege ausreichend geebnet haben sollte, dafs sie nicht allzu lange zu wandern hätten, um in klar uinrissenen Formen vor sich zu sehen, was ihm selbst blofs in ungewisser Ferne vorgeschwebt hat.


1 Oben S. 380.


385


Register.

(Die Zahlen bedeuten die Seiten. — A. bedeutet Anmerkung.)


A.

Aber-Operation 209.

Abhängigkeit 200.

Ablehnen 150.

Ableitung von Urteilen 171.

Absicht 118.

Absichtlichkeit 221.

Abstrahieren 139.

Abstrakta, grammatische 65, 164.

Abstraktion 13, 280.

Abstraktum 57 f., 237.

Achtung vor den Tatsachen 92 A.

adäquat 264.

Adäquatheit 262 ff., 266.

Adäquatheits-Kelation 265, 267 f. — Idealität der A. 278, 280.

Adjektiv, substantiviertes 271.

Ähnlichkeit durch gleiche Teile 371. — Ä. zwischen Inhalt u. Gegen- stand 263.

Äquivalente negativer Seinsbeurtei- lungen 152.

Affirmation 2, 14, 45, 230 ff., 257, 312. — A., berechtigte 223. — A., evident gewisse 264. — A., wahre 45. — Ausdruck ftir d. A. 231.

affirmativ 122, 202, 258, 363.

Affirmative, das 133, 136.

affirmieren 17.

Aggredieren 145, 166, 215, 358 ff. — A., emotionales 166. — A., intellek- tuelles 153, 166. — A., mittelbar 145. — A., unmittelbar 166.

Meinong, Über Annahmen, 2. Aufl.


Akt 86 f, 338 ff., 344, 351, 354, 377 ff. Aktgefühl 320, 336 f.

Aktivität 238, 245, 285, 340. — A., psychische 281.

Aktqualität 344.

Aktualitätsansicht 310 ff.

aktuell 228 f. — a. gegenständlich 226.

analytisch 273.

angenehm 306.

Annahme 5 ff., 9 f ., 19 f., 140, 1431, 150, 152 ff., 161, 166, 1901, 193 ff., 197, 215 ff., 226, 230 ff, 241, 243, 257 ff, 272, 277, 2791, 283 ff, 303 ff, 3131, 316 ff, 332 ff, 337 ff, 3421, 344 ff, 3511, 353 ff, 357, 359 ff, 366 ff, 370, 372, 3741, 377 ff, 382. — A, affirmative 9, 227, 230, 305, 352, 371. — A, aufsuggerierte 126 ff, 371. — A, explizite 106 ff, 212 A, 348, 359. — A, negative 9, 132, 233, 305. — A, offene 106. — A, posi- tive 132, 152. — A, versteckte 106. — A, absolut freie 348. — A, aus- wärts gewendete 140, 356 A. — A, nicht unmittelbar evidente 351. — A, relativ gebundene 346, 348. — A, sekundär ausgedrückte 107. — A, unmittelbar evidente 351. — A. als Gedanke 366 ff. — A. als Unterart von Urteilen 370. — A. als Unterstufe zum Urteil 376, 378. — A. als Urteilssurrogat 368. — A. als Vorstufe des Urteils 371, 378. — A. an Annahme gebunden

25


386


Register.


349. — A. bei Begehrungen 120 ff., 166 ff. — A. bei Begehrungsmoti- vation 305 ff. — A. bei Beurteilungen 149 ff. — A. bei Fragen 120 ff. — A. bei Gefühlen 166 ff. — A. in Kunst 110 ff. — A. in Spiel 110 ff. — A. mit Glauben 367. — A. und Sprache 359 ff. — A. und Urteil 367, 375. — A. und Vorstellung 367. — Auswärtswendung gegen- wärtiger A. 139. — Evidenz für eine A. 197. — Evidenz im Hin- blick auf A. 195. — Evidenz, mittel- bare, bei A. 351. — Evidenz, un- mittelbare bei A. 195, 351. — Frei- heit, absolute der A. 350. — Freiheit isolierter A. 346. — Gebundenheit, relative der A. 350. — Gebunden- heit von A. 347. — Gegenstand einer A. 307. — Gegenständlichkeit bei negativen A. 229 ff. — Mittel- stellung der A. zwischen Vorstellen und Urteilen 309, 312, 360, 367. — Möglichkeit der A. 372 ff., 375. — Stellung der A. im System der Psychologie 366 ff. — Undefinier- barkeit, praktische, der A. 340. — Verhältnis der A. zu ihrer psychi- schen Umgebung 355 ff. — Verhält- nis der A. zum Urteil 372. — s. auch Annehmen.

Annahmeaffirmation 232.

Annahmeakt 252, 354.

Annahmeansicht 242.

Annahmeevidenz 195, 345, 349 f., 352. — A., mittelbare 354. — A., un- mittelbare 350.

Annahmefreiheit 348. — A., absolute 348. — A., relative 348. — Prinzip der unbeschränkten A. 346 f., 354.

Annahmegefühl 168 f., 315 ff., 320, 333, 337.

Annahmeinhalt 341, 353.

Annahmekonklusion 351.

Annahmeobjektiv 353 ff.

Annahmeprämisso 361.

Annahmo-Quasigefühl 334.


Annahmeschlufs 196 f.. 200, 209, 211 ff., 214 f., 351, 362.

Annahmestärke 343 f.

Annahmetrieb 359.

Annehmen 208, 214, 241 f., 244 f., 273, 311, 329 A., 369, 371. — A., mittel- bares 132. — A., unmittelbares 132. — Grade des A. 344.

Annehmungsinhalt 354.

Anschauen 285.

anschaulich 247 ff., 252, 254, 256, 280, 284. — a. Vorstellen s. Vorstellen.

Anschaulichkeit 260, 281, 330, 353.

Anschauung 281.

Anteil, ästhetischer 310. — A. des Gefühls an den Begehrungen 288.

Anteilsgefühl 310.

Anzeigen 284 A.

apodiktisch 82.

Apodiktische, das 69.

a posteriori 80.

a priori 80, 347.

apriorisch 180.

Apriorische, das 77.

apsychologisch 60, 60 A., 71.

Apsychologismus 104.

Art 373. — A., Aristotelische 375.

Arten der Objektive s. Objektiv.

assertorisch 82.

Assertorische, das 69.

Aufmerksamkeit 237, 383.

Ausdruck 24 ff., 29, 32, 34, 41, 148, 210, 254 A., 360, 363, 365. — A., affirmativer 148. — A., bedeutungs- loser 27, 29. — A., negativer 148. — A., potentieller 26. — A., primärer 26, 29, 33, 107, 146, 362 f. — A., sekundärer 26 f., 28 f., 33, 37, 125, 146, 149, 161, 254 A., 362f. — A„ sprachlicher 359. — A., sekundärer, eines Urteils 363. — Bedeutung ohne A. 27. — A. für die Affir- mation s. Affirmation. — A. für die Negation s. Negation. — Aus- druck für das Urteil s. Urteil. — A. für emotionale Erlebnisse 27 f. — A. für intellektuelle Erlebnisse 27 f. — A. und Bedeutung 30.


Register.


387


Ausdrucksfunktion des Satzes s. Satz.

Ausdrücken 31, 130, 362. — primär A. 364. — sekundär A. 364.

Ausführen 284 A.

Ausgedrückte, das primär 147. — A., das sekundär 152.

Aussage, hypothetische 205. — A., kategorische 363.

Ausschaltung 291 f.

Aufserseiend 234.

Aufserseiende, das 274 f.

Aufsersein 80, 242 f., 277. — A. des reinen Gegenstandes s. Gegenstand.

Aufserseinsansicht 233 ff., 241.

Auswärtswendung 139, 237, 265. — A. gegenwärtiger Annahmen 139. — A. von Phantasieerlebnissen 244, 317.

B.

Barbara 190, 193.

Beannahmen 366.

Beannahmung 339.

Beannahmungsinhalt 354.

Bedenken 366. — B. eines ergriffenen Gegenstandes 3651

Bedeuten 26, 28, 31, 59. — B., aktu- elles 26. — B., primäres 29. — B., sekundäres 29.

Bedeutung 21 ff., 24 ff., 28, 31, 411, 531, 58, 129, 206 ff., 271, 359, 361, 365. — B., aktuelle 26. — B., for- male 194. — B., gegenständliche von Realrelationen zwischen In- halten 266 ff. — B., potentielle 26. — B., sekundäre 2091 — B., ohne Ausdruck 27. — B. u. Ausdruck 31.

Bedeutungsfunktion des Satzes s. Satz.

Bedeutungsseite 210.

Begehrbarkeit 3261 — B., Aktuali- sierung der 327.

Begehren 33, 1641, 177, 289 ff., 302, 306, 315, 324 ff., 328, 331, 345, 355, 370, 381 f. — B. als relativ glück- fördernde Vorstellung 289 ff. — B. des Mittels 294. — B. nach Nicht-


sein 165 A. — Einflufs des B. auf das Urteilen s. Urteilen.

Begehrende, der 118.

Begehrte, das 307.

Begehrtheit 326.

Begehrung 115, 124, 156, 163, 166 ff., 177, 2871, 291 A., 293, 295, 299 1, 301, 303 ff., 314, 321 ff., 328, 337, 340, 358, 370, 3791 — im Hinblick auf eine B. 177. — B. in engerem Sinne 380. — B. in positivem Sinne 380. — B. mit absoluter Glücksförde- rung 300 f. — Annahme bei B. s. Annahme. — Anteil des Gefühls an B. 288. — Motiv der B. 308. — Wahrnehmbarkeit der B. 295.

Begehrungsdefinition des Wertes s. Wert.

Begehrungsgesetz d. relativen Glücks - förderung 296, 299 ff., 305.

Begehrungsmotiv 288.

Begehrungsmotivation 169, 288, 305 ff.

Begehrungsobjekt 125, 290.

Begehrungsreduktion 302.

Begehrungssatz 125.

Begehrungsziel 118.

Begriff, negativer 9, 275.

Begriffserörterung, hypothetische 108.

Beistimmen 150.

bejahend 72 A.

Bejahungsmöglichkeit 259.

Benennung 254 A.

Bestätigungsfrage 121.

Bestand 661, 72 ff., 77, 86, 2161, 220, 242, 262. — B., gemischter 751 — B., reiner 75.

Bestaudannahme 341.

Bestanderkenntnis 79, 220.

bestandfrei 216.

Bestandfreiheit 193.

Bestandurteil, evidentes 239. — B., wahres 239.

Bestehen 64, 69, 74, 80, 216.

Bestehende, das 76, 239.

Bestimmbarkeit im Sinne des Gegen- satzes von Ja und Nein 256.

Bestimmen 270.


25 *


388


Register.


Bestimmtheit innerhalb des Gegen- satzes von Ja und Nein 131.

Bestimmung 57. — B. der modalen Eigenschaften „vom Urteile her“83.

Bestimmungsfrage 121.

Bestimmungsgegenstand 283.

Betätigung, emotionale 144. — B., intellektuelle 144.

Beurteilen 63, 79, 88, 220 A., 358, 366.

Beurteilte, das 43, 47, 55 A., 342.

Beurteilung 52, 89 f., 122, 143, 145 f., 154, 339. — B., affirmative 150. — B., mittelbare 145. — B., negative 150. — Annahme bei B. s. Annahme.

Beurteilungsgegenstand 147, 218 ff.

Beurteilungsinhalt 89, 354.

Beweggrund 180.

Beweis 180f. — B., Euklidischer 108.

Beweisgrund 183.

Bewerten 333 f.

Bewertung 335.

Bezeichnete, das 21, 23.

Blässe der Phantasievorstellung s. Phantasievorstellung.

c.

causa, vera 157.

Charakter, affirmativer 258.

Charakteristik durch Reflexion auf das Urteil s. Urteil.

Conclusio 184, 190, 343. — C., restrin- gierte 194.

D.

Daseiende, das 239.

Dasein 67, 73, 79 f.

Daseinsaffirmation, daseinsfreie 203.

daseinsfrei 202 f., 320.

Daseinsfreiheit 193.

Darum 186.

Dafs 48, 125.

Dafs-Satz 35 ff., 43, 48, 50, 54 ff., 58 f., 81, 125, 145 f., 149, 162 f, 161, 163 f., 360, 362 f ., 364. — D.-S., affirmativer 49. — D.-S., negativer 49.

Definition 2731, 325, 358. — D., natür- liche 325.

Denken 236 A., 329, 3691, 381. — D.,


begriffliches 285. — D. und Gedanke 369. — D. und Sprechen 41.

Determinand 283. — Pluralität der Determinande 283.

Determination 205. — D., restrin- gierende 203.

Determinator 269, 276.

Deutung, relativistische, des Gegen- standsbegriffes 61.

Dichtung 315.

Ding 2711

disjunktiv 214.

Disponiertheit zum Fühlen 328.

Disposition 327, 382. — Korrelat der D. 224.

Dispositionsgrundlage 224.

Doppeldefinition 325.

Drama 39, 129, 155, 1571, 313.

Dramatiker 115.

Durchgangsstufe 380 s. auch An- nahme.

E.

Eigenschaft 571, 270 ff., 275. — E., modale 93, 3531 — E., nicht modale 353. — E., reine 58.

Eigenschaften, modale, der Objektive s. Objektiv. — Bestimmung der m. E. vom Urteil her s. Urteil.

Einbildungskraft 111.

Einbildungsvorstellung 86, 237, 330, 336, 376, 378, 380 1

Einfiufs des Begehrens auf das Ur- teil 155. — E. des Fühlens auf das Urteilen 155.

Einfühlung 309 ff., 315.

Einfühlungsgefühl 310.

einleuchtend 81.

Einschaltung 2911 — E. in die sub- jektive Wirklichkeit 302 ff. — E. und Ausschaltung 305.

Einsehen 178, 345, 350. — E. mit Verständnis 91.

Einsicht 91, 173, 179, 183. — E., aposteriorische 21 A. — E. aprio- rische 21 A. — E. mit Verständnis 183. — E. ohne Verständnis 91.

Einstellung 156.


Register.


389


Einwärtswendung 28, 237, 244, 265.

Element, illusionstörendes 159.

Elementargegenstand , ästhetischer

161, 318.

emotional 166, 211. — e. aggrediertes Objektiv s. Objektiv.

Emotionale, das 358.

Empfindung 236 f.

Empfindungsgegenstand 233 A., 236, 270.

empirisch 180.

Empirische, das 77.

Enge des Bewufstsein, Kampf um die 292.

Entbehren 330.

Entscheidungsfrage 121 ff. — E., nega- tive 123.

Entschlufs 306.

Epiker 115.

Erfahrungsgegenstand 57.

Erfassen 3, 15, 28, 82, 131, 133 f., 145, 151, 161, 215, 217, 235 ff., 239, 241, 264, 273, 280, 283 f., 286, 361. — E., anschauliches 285. — E., aprio- risches 78. — E., empirisches 78. — E., mittelbares 240, 356. — E., un- anschauliches 282, 284 f., 354. — E., unmittelbares 240 f., 286, 356. — E., direktes, von Objektiven 136. — E., mittelbares, eines Gegenstandes 244. — E. der blofsen Form 197. — E. der Gegenstände 285. — E. der Objektive 131 ff. — E. der Schlufs- form 190. — E. der Wirklichkeit 8. Wirklichkeit. — E. durch ein Objektiv 245. — E., eigener Erleb- nisse 312. — E. einer Wirklichkeit 219. — E. eines Gegenstandes 226. — E. fremder Urteilserlebnisse 139. — E. psychischer Erlebnisse 312. — E. von Gegenständen 279. — E. von Gegenständen höherer Ord- nung 279. — E., Mittelbarkeit des 132. — E., Subjektivität des 77. — E., Unmittelbarkeit des 132.

Erfafste, das 97, 104.

Erfassungsmittel, adäquates 88 f., 91.


— E., adäquates, der Wirklichkeit 352.

Ergänzungsfrage 121.

Ergreifen 79, 193, 214, 235, 239, 244, 269, 272 ff., 279, 286, 357, 365. — E., meinend 365. — E. der Gegenstände

356. — E. durch Soseinsurteil 271. — E. durch Urteile 365. — E. eines Gegenstandes durch die Kom- plexion hindurch 284. — E. eines Gegenstandes durch die Relation hindurch 284. — E. von Gegen- ständen 275.

Ergreifungsmittel für Objektive 348. Ergreifungsobjektiv 273 f.

Erinnern 337.

Erinnerung 181. Erinnerungsvorstellung 376. Erkannte, das 266.

Erkennen 97, 219, 239, 264, 266, 345,

357. — E., affirmatives 226. — E., a priori 92. — E., empirisches 80. — E., rationales 80. — Wert des E.

357.

Erkenntnis 96 f., 172, 262. — E., affir- mative 222, 230, 266. — E., aposte- riorische 183.

Erkenntnisdignität 185. Erkenntnisfolge 22. — Relation von Erkenntnisgrund zur E. 209. Erkenntnisgrund 22, 209. Erkenntnistheorie 97. Erkenntnisweise 77. — E., apriorische 375.

Erleben 310.

Erlebnis 105, 228 A. — E., emotio- nales 139. — E., erfassendes 272. — E., inneres 264. — E., intellektuelles

358. — E., präsentierendes 150, 152, 247, 265, 285, 339, 380. — E., selbst- präsentierendes 265. — E., unselb- ständiges 339.

Ernstbegehrung 337.

Ernstgofühl 316 ff., 321, 337. — E., ästhetisches 319.

Ernsturteil 380.

Erscheinung 83.

Erwarten 306.


390


Register.


Erwartungsfreude 306.

Erweiterung d. Gegenstandsgedanken s. Gegenstandsgedanke.

Etwas 234, 276.

Eventualität 211 A.

Evident 88, 196.

Evidenz 81 ff., 85, 87, 89 ff., 96, 173, 178 ff., 193 f., 195 f., 205, 219, 226, 280, 341, 345 ff., 351 f., 354. — E., absolute 187, 195. — E., apriorische 181, 373. — E., mittelbare 171 ff., 178, 180, 184 f., 195, 350. — E., rational determinierte 92. — E., relative 186, 195 f. — E., unmittel- bare 171 ff., 180, 185, 350. — E., unmittelbare bei Annahmen 195. — E., unvermittelte 180. — E., ver- mittelte 180. — E. aus evidenzlos geurteilten Prämissen 185 ff. — E. aus ungeurteilten Prämissen 187 ff. — E. bei Annahmen s. Annahme- Evidenz. — E. des Gedächtnisses 181. — Evidenz f. eine Annahme 197. — E. für Gewifsheit 90 ff., 182, s. auch Gewifsheit. — E. für Un- gewifsheit 182. — E. für Vermutung 90. — E. im Hinblick 178, 195, 350.

Evidenzherabsetzung 183.

Evidenzvermittlung 173, 178 ff., 180, 350.

Existenz 45, 62, 64, 67 f., 72 ff., 78 f ., 83 f., 86, 141, 162 A., 163, 165, 218, 242, 262, 307, 319, 327 f., 331 ff ., 358. — E. , tatsächliche 162 A. — E., zeitlose 68. — E. des Wertobjektes 324. — E. eines Soseienden 319.

Existenzannahme 322, 341.

Existenzaussage 363.

Existenzfall 322.

Existenzgefühl 162, 319, 330, 332.

Existenzialaffirmatiou 141 A.

Existenzialnegation 14.

Existenzialprädikation 141, 203, 239, 304.

Existenzialsatz 202.

Existenzialurteil 239, 269.

Existenzurteil 240, 357.

Existieren 62, 64, 80.


existierend, tatsächlich 304.

Existierende, das 320.

F.

Fähigkeit 327.

Fall, potentialer 211 A.

falsch 56, 81, 93 f., 133 A., 201, 204, 207, 359.

Falsche, das 95, 137.

Falschheit 18, 66. — F., materielle 118.

Fiktion 109, 112, 115, 221 f., 234.

final 22.

Fingieren 120.

Flüchtigkeit der Phantasievorstellung s. Phantasievorstellung.

Folge 22 A., 307.

Form 188 f., 196. — F., hypothetische

200 .

Frage 151, 231. — F., didaktische 120. — F., erotematische 121 A. — F., peistische 121 A. — F., rhetorische 120. — F., uneigentliche 120. — Annahme bei der F. 120 ff.

Fragebegehrung 124.

Fragegegenstand 124.

Fragen 245, 358.

Frageobjektiv 122.

Fragesatz 33, 122, 125.

Freude 306, 313, 317.

Fühlen 235, 289 f., 306, 840, 355, 370, 381 f.

Fundament 15 f., 76, 282. — F., reales 76.

Fundierung 5, 51, 208.

Fundierungsgegenstand 57.

Furcht 309 f., 313.

G.

Gattung 373. — G., Aristotelische 375.

Gebiet, emotionales 145. — G., in- tellektuelles 39, 145.

Gedächtnis 181 f. — Evidenz des G. 181.

Gedächtnisurteil, evidentes 185.

Gedanke 369 f., 376, 379 f., 383. — G. u. Denken 369.

Gedankenausdruck 24.

Gefallen 311 A., 318.


Register.


391


Gefühl 115, 161, 165 f., 168, 177 A., 287, 290, 308, 310, 315, 320 f., 324, 326, 328, 336, 340, 370, 379 f., 382.— G., ästhetisches 158, 161, 168 f., 313, 318 ff., 336 f. — G., sinnliches 161. — G., vergangenes 317. — Annahme heim G. s. Annahme. — Anteil des G. an den Begehrungen 288. — Gegensätzlichkeit, qualitative des G. 308. — Vorstellbarkeit von G. 311. — Vorstellung des G. 312 s. auch Gefühlsvorstellung.

Gefühlsdefinition des Wertes s.Wert.

Gefühlsobjekt 125.

Gefühlsvoraussetzung 317.

Gefühlsvorstellung 311 A., 312.

Gegensatz des Affirmativen und Nega- tiven 133, 136, 380.

Gegensatz von Ja und Nein 2, 147 A., 349, 368. — Bestimmbarkeit inner- halb des G. 256. — Bestimmtheit innerhalb des G. 3f., 131. — G. von Positiv und Negativ 133.

gegenständlich 119, 233 ff., 240, 285. — g., aktuell 226 f. — g., potentiell 226, 233.

Gegenständlichkeit 99 A., 217, 223 f., 225 t, 228, 241. — G., aktuelle 222 ff., 285. — G., potentielle 222, 225, 227, 285. — G. bei negativen Annahmen s. Annahme. — G. bei negativen Urteilen s. Urteil.

Gegenstand 10, 17 A., 23 ff., 28, 43, 49, 53, 59, 83, 85 ff., 99 A., 100 A., 104 f., 125, 131, 136, 165, 217, 220 ff., 228 A., 234 ff., 237, 240, 243, 262 ff., 265 ff., 268, 271 ff., 276 f ., 284 ff ., 341 f., 351, 357, 361, 376, 378. — G., ästhe- tischer 161, 318 f. — ästhetischer Elementar-G. 318. — G., aufser- seiender 234. — G., bestimmender 269. — G., beurteilter 44. — G., entfernter 277, 286. — G., ent- fernterer 285. — G., erfafster 28. — G., ergreifbarer 80. — G., fundierter 15 f., 382. — G., geschlossener 271. — G., geurteilter 44. — G. höherer Ordnung 12, 15, 301, 63, 72, 280. —


G. h. O., Erfassen des 279. — G., idealer 63, 74, 76, 377 f. — G., inten- tionaler 46. — G., komplexer 257. — G., mittelbarer 52, 55, 59, 71. — G., nächster 277, 281, 286. — G., näherer 285. — G., negativer 111 — G-, nicht tatsächlicher 239. — G., noumenaler 237. — G., offener 271. — G., phänomenaler 237. — G., positiver 11 1 — G., präsen- tierter 46. — G., realer 376. — G., seinsgemeinter 275. — G., un-

mittelbarer 52, 55, 244. — Aufser- sein des reinen G. 79. — Erfassen des G. 226 1, 234, 237, 285. — Ge- richtetsein auf einen G. 229, 232, 238. — Haben des G. 234. — Iden- tität zwischen Inhalt und G. 264. — Belation zwischen Inhalt und G. 262 ff. — Vorstellen eines G. 217. — G. der abstrakten Vor- stellung 250. — G. der Wahr- nehmungsvorstellung 270. — G. des Gefühls 29 A. — G. des emo- tionalen Verhaltens 161. — G. einer Annahme 307. — G. und Bedeutung 43. — G. und Inhalt 277. — G. und Inhalt, Belation zwischen 267. — G. und Objekt 44. — G. von Vor- stellungen 29.

Gegenstandsbegriff , relativistische Deutung des G. 61.

Gegenstandsdefinition 232.

Gegenstandsgedanxe, Allgemeinheit des G. 278. — Erweiterung des G. 221.

gegenstandstheoretisch 60, 69, 77, 83, 95, 187, 192 A., 212, 218, 277, 279 f ., 335 A.

Gegenstandstheorie 42, 92 A., 97, 373, 381.

Gegenteil, Unmöglichkeit des G. s. U nmöglichkeit.

Gegenwart 77, 307 A.

Gegenwärtige, das 307 A.

Gegenwärtigkeit 76.

Gegenwärtigkeitsgrenze 312.

Gegenwärtigkeitspunkt 264, 312.


392


Register.


Geistesleben 144. 366.

Gemeinte, das 273. — G., d. negativ 275.

Gemütsleben 144.

Genauigkeit 237.

Genus 373. — G., Aristotelisches 373, 375.

Gerichtetsein 225, 233. — G. auf ein Objektiv 287. — G. auf einen Gegen- stand s. Gegenstand.

Geschehnis, emotionales 39.

Geschehnisse, intellektuelle, im Re- denden 149.

geschlossen 277.

Gesetz, logisches 97. — G. der abso- luten Glücksförderung 296. — G. der relativen Glücksförderung 289ff.

Geurteilte, das 47, 55 A., 342.

Gewifsheit 2 A., 81 ff., 85, 87, 89 f., 96, 852.

Gewifsheitsevidenz 92, 182, 352, s. auch Evidenz.

Gewifsheitsgrad 87, 342 f., 354 f.

Glaube 2 A.

Glauben 2 f., 5, 35 A., 40, 133 f., 238, 244 f, 329, 340, 345, 376 A. — Grade des G. 343.

Glaubensmoment 344.

gleichzeitig mit dem Begehren 291.

Glück 328.

Glücksförderung 291 ff., 306 A. — G., absolute 2ü9. — G., absolute, Ge- setz der 296. — G., relative 294 f., 300. G., relative, Gesetz der

289 ff., 323. — Begehrung mit ab- soluter G. s. Begehrung. — Be- gehrungsgesetz der relativen G. 2'.i6, 305. — Vorstellung der rela- tiven G. 296 ff., 299.

Glücksschädigung, absolute 301.

Grammatik 57.

Grund 22 A., 92 A., 307.

Grundtatsache , erkenntnistheore- tische 265.

H.

Haben deB Gegenstandes s. Gegen- stand.


Hauptgegenstand 52, 220 A. — H. des Urteils 46.

Hauptsatz 147 ff., 153, 164 A., 269,364.

Herabsetzung der Evidenz s. Evidenz- herabsetzung.

Hinblick 176, 179f., 186, 205ff. — H. auf eine Begehrung 177. — H. auf eine Überzeugung 177. — Evidenz im H. s. Evidenz. — Überzeugung im H. s. Überzeugung. — Urteil im H. s. Urteil.

Hindernis 165 A.

Hoffen 300.

Hoffnung 313.

Hypothese 108 f.

hypothetisches Urteil s. Urteil.

I.

ideal 64 A., 215, 265.

Ideale, das 64, 75.

Idealität der Adäquatheits- Relation s. Adäquatheits Relation.

Idealrelation 265 ff.

Identität 14. — I. yon Inhalt und Gegenstand 264.

Illusion 160.

Illusionstheorie 159.

immanent 229 A.

Implikation der Soseinsobjektive in das Seinsobjektiv 285. — I. von Soseinsobjektiven 320.

Implizieren 275, 282, 357.

Impliziert 286.

Implizite 282.

Indifferenz, logische 256 ff. — I., 1., der Zusammenstellung s. Zusam- menstellung.

Indikativ 201.

Induktion 181.

Inferiorenvorstellung 278.

Inferius 12, 31, 71, 208, 216, 251, 278.

Infinitiv 56, 164.

Inhalt 17 A., 23, 25, 86, 90, 103 ff., 143, 224 f., 228, 237, 243, 251 ff., 262 ff., 266 ff., 276 f., 279, 281, 2851, 333 ff., 344, 352, 357, 3771 — I., modaler 354. — Identität von I. und Gegen- stand 264. — Operationen an den


Register.


393


X. 261. — Realrelationen zwischen I. 260. — Relation zwischen I. und Gegenstand 262 ff., 267. — I. der Vorstellung s. Vorstellung. — I. des Urteils 354, s. auch Urteil. — I. und Gegenstand 277.

Inhaltlich 119.

Inhaltsäquivalent , präsentierendes 286.

Inhaltsgefühl 3361

in suspenso 188.

Irrtum 240.

J.

ja 27 ff., 32, 121 ff., 125, 131, 151, 209, 2581

K.

Kampf um die Enge des Bewufst- seins 292.

Kausalgewebe der subjektiven Wirk- lichkeit 291.

Kausalrelation 174, 303 1 — Unwahr- nehmbarkeit der K. 175.

Kinderausreden 111.

Koinzidenz von Komplexion und Relation 252 A. — K. zwischen Phantasie- und Annahmegefühl 321.

Koinzidenzprinzip 262, 279.

Kollektiv von Objektiven 208.

Komplex 133 A., 2471, 279, 283. — Bildung von K. 362.

Komplexion 215, 262, 278, 363. — Koinzidenz von K. und Relation 252 A.

Komplexionsform 253, 258.

Konditionalsatz 205.

Konflikt 157, 3221, 351.

Konjunktion 209.

Konjunktiv 34, 37, 107, 192, 2011

Konklusion 188, 192. — K., hypo- thetische 194. — K., kategorische 194. — K., restringierte 194, 200 1, 213.

Konklusionsannahme 343.

Konkretum 270.

Konsequenz 212.

Konsequenztheorie des hypothe- tischen Urteils s. Urteil.


Kopula 212.

Korrelat der Disposition 224.

Kraft, sollizitierende 321.

Kraftzuschufs 293.

Kraftzuschufsgesetz 294, 296.

Kriterium der Möglichkeit s. Mög- lichkeit.

Kündigung, Urteil auf, s. Urteil.

Künstler, reproduzierender 126. — K., schaffender 126.

Kunst 107, 1161, 155, 159, 161, 169, 3141, 359, 382. — K., bildende 129. — K., redende 115, 126, 129, 156, 158, 318. — K., produktive 115. — K., reproduktive 115. — Annahmen in K. 110 ff.

Kunsterlebnis, Zweiseitigkeit des, s. Zweiseitigkeit.

Kunstgenufs 313.

Kunstwerk 160, 309 ff., 315, 321. — K., musikalisches 129.

L.

Leiden 340.

Leistung 224.

lex parsimoniae 95, 316.

Logik 97. — L., formale 171.

Lüge 116 ff., 371.

Lügen 358. — L., wortloses 116.

Lust 312 f., 380.

Lustgefühl 298.

Lyriker 115.

M.

Material 66, 75, 135, 152, 175 f., 212, 265, 282, 286, 319, 339, 341, 358, 371. — M., gegenständliches 179. — M. des Objektivs s. Objektiv.

Materie 37, 188.

Meinaufgaben und deren Lösung 278 ff.

Meinen 25, 220 A., 238 ff., 268 ff., 275, 277 ff., 284 ff., 366. — M., genau 344. — M., offen 277. — Anteil des M. am Ergreifen von Gegenständen 357. — Grenzen des M. 277. — M. des Subjektgegenstandes 269. —


394


Register.


M. eines Bestehenden 239. — M. von Gegenständen 272.

Mischform 205.

Mifsfallen 311 A.

Mifslingen der Veranschaulichung 282.

Miterleben 311.

Mitgefühl 114 A.

Mitleid 309 f. — M., ästhetisches 317.

Mitleidsgefühl 310 A.

Mitmeinen 376.

Mitteilen 22.

Mittel 165 A., 177. — Begehren des Mittels s. Begehren. — Zusammen- hang zwischen Zweck und M. 294.

mittelbar 180. — m. aggredieren s. Aggredieren. — m. aggrediertes Objektiv s. Objektiv.

Mittelbarkeit des Erfassens s. Er- fassen.

Mittreffen 276.

Möglich 81, 354.

Mögliche, das 63.

Möglichkeit 82 f., 89 ff., 951, 341, 354. — M., logische 93. — M., objektive 89 A. — M., rationale 93. — Kri- terium der M. 282. — M. der An- nahme s. Annahme. — M. der Übereinstimmung 96. — M. im steigerungsfähigen Sinne 89.

Möglichkeitsgrad 14 A., 89, 353 ff.

modal 353.

Modalität des Urteils s. Urteil.

Moment, inhaltliches am Urteil s. Urteil.

Motiv 177 1, 185. — M. der Begeh- rung 308.

Motivat 1851, 1771

Motivation 306 A. — M. , intellek- tuelle 211.

Motivationsgesetz 323 ff.

Motivationskraft 335.

Motivationsrelation 177.

Motivationsverhältnis 180.

Motivationsvorgang 307.

Motivenkampf 292.

Motivenkonllikt 302.


Motivieren 209.

Müssen 198.

N.

Nachobjektiv 190 1, 210. — N., restrin- giertes 206, 212. — Operation an N. 208. — Urteilung des restrin- gierten N. 201.

Nachsatz 189, 191, 198 1, 200, 204, 214. — N., restringierter 200, 203, 213. — Restriktion des N. 202, 212. — Urteilen des restringierten N. 213. — Urteilung des restringierten N. 210 .

Nachsatztheorie 2041, 212.

Nachsatzurteil, restringiertes 204.

Natur, aktive 327. — N., passive 327.

Nebensatz 37, 1471, 153, 269, 363 f.

Nebenvorstellung 236.

Negation 2, 13 ff., 45, 111, 127, 1371, 147, 153, 230 ff., 256 1, 259, 312. — Ausdruck für die N. 231.

Negativ 122, 133, 202, 258, 274, 363.

Negative, das 8 ff., 127, 133, 1361 — N., d., gegenüber dem biofs Vor- gestellten 8 ff.

Negativität 72.

Negativum 10 ff., 18 1, 51, 80, 941, 109, 136 1, 242, 354.

Negieren 17, 245.

Nein 27 ff., 32, 121 ff., 125, 131, 151, 209, 258 1

Nicht 231.

Nicht-Existenz 163, 165, 307, 324, 328, 331 ff., 358. — Wollen einer N.-E. s. Wollen.

Nichtexistenzfall 322.

Nichtexistenzgefühl 332.

Nicht-Identität 14.

nichtmodal 353.

Nicht-Sein 21 A., 86, 305. — Not- wendigkeit des N. 93. — Vorstellon des N. 329. — N. des Objektes s. Objekt.

Nichtseinsannahme 341.

Nichtsosein 307, 322, 333, 358.

Nicht-Wollen 164.

Nötigung 346, 349.— N., psychische 347.


Register.


395


Nominaldefinition 273. notwendig 64, 81.

Notwendigkeit 16, 64, 82 ff., 91 ff., 96, 199 A., 209, 349. — Objektivität der N. 92 A. — N. des Nichtseins s. Nichtsein.

0 .

Objekt 22 A., 44 ff., 50, 53, 55 ff., 61 f., 65, 69, 71 ff., 861, 99 A., 991, 122, 131, 1351, 143, 145, 1631, 166, 229, 237, 240 1, 244, 268, 276, 304, 320 1, 341, 357, 360, 367. — 0., immanentes 85 A., 229, 230 A. — 0., reales 74.

— 0., transzendentes 229. — 0., unmittelbares 68. — Nichtsein des 0. 328. — 0. für das Subjekt 61.

Objektfundierung 208.

Objektmaterial 265, 319.

Objektiv 22 A., 44 ff., 49 ff., 59 ff., 63 ff., 72 ff., 81 ff., 851, 88, 931, 961, 99 ff., 103 ff., 122 ff., 131, 133 ff., 1401,

143 ff., 149 ff., 160 ff., 176, 190 ff., 1991, 207 ff., 212, 2141, 220, 234 A., 2401, 244, 277, 2791, 282 ff., 286 1, 3041, 307, 318 ff., 333, 335, 337, 341, 347, 350, 356 ff., 359 ff., 365, 367, 371.

— 0., adäquates 72. — 0., affir- matives 72, 242. — O., aggrediertes

144 ff. — 0., angenommenes 132. — O., beannahmtes 132. — 0., be- urteiltes 47 ff., 54, 59, 132, 142, 149.

— 0., geglaubtes 358. — 0., ge- urteiltes 42 ff., 50, 52, 54, 59, 1321, 1421, 149, 358. — 0., mittelbares 521, 143. — 0., nachgegebenes 53 A. — 0., negatives 232, 234, 242, 282, 322. — 0., nichttatsächliches 62 A. — 0., notwendiges 92 A. — 0., positives 132, 134, 276, 282, 322, 353. — 0., präsentiertes 356. — 0., psoudoexistierendes 95, 161. — 0., reines 94. — 0., restringierendes 205 1 — 0-, tatsächliches 101, 354.

— 0., unmittelbares 521, 147. — 0., untatsächliches 101. — 0., un- verträgliches 348. — O., vorge- gebenes 53 A. — 0., wahres 336 A.


— 0., zufälliges 93. — 0., emotional-

aggrediertes 145, 160 ff. 0.,

intellektuell aggrediertes 145. — 0., mittelbar aggrediertes 145. — 0. , kontradiktorisch entgegenge- setztes 93. — O., mittelbar erfafstes 62, 362. — 0., unmittelbar erfafstes 62. — O. höherer Ordnung 53, 62, 69, 71, 212, 240, 358. — O. niederer Ordnung 358. — Arten der 0. 71 ff.

— Bestimmungen, nicht modale am 0. 352. — Eigenschaften, modale am 0. 80 ff., 84, 89, 95, 97, 352. — Erfassen des 0. 131 ff. — Erfassen, direktes, des 0. 136. — Erfassen durch ein 0. 245. — Evidenz des 0. 353. — Indifferenz, ästhetische des 0. 318. — Komplex von 0. 210.

— Komplexionen zwischen 0. 216.

— Material des O. 357. — Opera- tionen an 0. 313 ff., 357. — Opera- tionen, logische an O. 358. — Po- sitivität des 0. 89, 281, 353. — Präsentation des 0. 150. — Pseudo- existenz des O. 96. — Relation zwischen 0. 213 ff. — TerminusO. 97 ff. — Vorstellung des 0. 133. — Zeitlosigkeit des 0. 65. — 0. als Annahmeprämisse 351. — 0. durch Urteile präsentiert 146. — 0. und Sprache 53 ff.

Objektivfundierung 208.

Objektivität der Notwendigkeit s. Notwendigkeit.

Objektivvorstellung 142.

Ob-Satz 125.

Operation 209 ff. — 0., intellektuelle 139. — Quasiauswärtswendung in- tellektueller Operationen s. Quasi- auswärtswendung. — 0. am Inhalte 261. — 0. am Nachobjektiv 208. — O. am Objektiv s. Objektiv. — 0. am Vorderobjektiv 208.

P.

passiv 227, 235, 241.

Passivität 236, 238.

Periode, hypothetische 198, 206.


396


Register.


Persistenz 77.

Phantasie 110, 293, 381 ff. — Ph., emotionale 383. — Ph., intellek- tuelle 383. — Ph., psychologische 297. — Ph., vorstellende 369. — Ph. im weitesten Sinne 384. — Begriff der Ph. 375 ff.

Phantasiebegehrung 309, 314 f., 337, 379, 383 f.

Phantasieerlebnis 139 f. , 336 A. — Auswärtswendung von Ph. s. Aus- wärtswendung.

Phantasiegefühl 169 A., 309 ff., 314 ff., 321 ff., 329 ff., 332 ff., 379, 383 f. — Ph., gegenwärtiges 317. — Ph. , lust- artiges 322. — Ph., unlustartiges 322. — Ph. als Annahmegefühl 315 ff. — Ph. als Begehrungsmotiv 321 ff.

Phantasiegefühlssuggestion 337.

Phantasieurteil 383.

Phantasievorstellung 376 ff., 383. — Ph. mit Glauben 376 A. — Bedeu- tung des W ortes Ph. 376 A. — Blässe der Ph. 377. — Flüchtigkeit der Ph. 377. — Relation zwischen Wahr- nehmungsvorstellung und Ph. 378.

Pluralität der Determinanden 283.

positiv 122, 133, 274, 354.

Positive, das 127, 137, 353.

Positivität 72, 136. — P. des Objektivs s. Objektiv.

Positivum 242.

potentiell 228 f. — p. gegenständlich s. gegenständlich.

Prädikat 192, 270. — P. und Sub- jekt 3.

Prädikation 152.

Prämisse 181, 188, 190, 192, 194. — P., suspendierte 197, 213. — P., verworfene 197, 213. — Evidenz aus ungeurteilten P. s. Evidenz. — Evidenz aus evidenzlos geurteilten P. s. Evidenz. — Schlufs aus an- genommenen P. s. Schlufs. — Schlufs mit suspendierten P. s. Schlufs.

Präsens, zeitloses 68.


Präsentation 170, 244, 358. — P. des Objektivs 150.

Präsentationsmittel für Objektive 348, s. auch Objektiv.

Präsentationstheorie 223.

Präsentieren 28 f , 44, 46, 50 ff., 132, 139, 145, 149, 154, 216, 341, 358, 367. — sich selbst P. 138, 244.

Präzisionsgegenstand 183.

problematisch 82.

Produktion 12, 377.

Produktionsvorgang 16.

Produktionsvorstellung 11, 377. — P. und Wahrnehmungsvorstellung 16.

Produzieren 10, 282.

pseudoexistent 85 A.

Pseudoexistenz 23 A., 59. — P. des Objektivs 96.

pseudoexistierend 94.

Psychische, das, Vorstellen des P. 312.

Psychologie 97.

Psychologismus 97, 101. — P., emo- tionaler 335 A. — P., intellektueller 335 A.

Q-

Qualität 147 ff., 204, 342. — Q., affir- mative 148. — Q., unbestimmte 148.

Quantität 342.

Quasi- Auswärtswendung 209 ff. — Q. komplexer intellektueller Opera- tionen 208.

Quasibedeutung 59.

Quasiinhalt 264, 277, 286, 312.

Quasi-Transzendenz 220, 228.

Quasi Wirklichkeit 224, 226, 263 f., 266.

R.

rational 78. — r. determinierte Evi- denz s. Evidenz.

Rationale, das 77.

real 215, 265.

Realdefinition 273.

Realität 74.

Realkomplex 251 f.

Realrelation 251 f., 261, 265 ff., 278 ff., 282. — R. zwischen Inhalten 251,


Register.


397


260. — Gegenständliche Bedeutung von R. zwischen Inhalten 266 ff.

Rechnungsoperation, angezeigte 253.

Rede, Sinn der 236.

Redende, der 360 ff. — Geschehnisse, intellektuelle im R. s. Geschehnis.

Reflexion 209, 211, 308. — Charakte- ristik durch R. auf das Urteil s. Urteil. — R. auf das Urteil s. Urteil.

Relat 283.

Relation 17, 57 f., 138, 140, 153,2151, 257, 260 ff., 268, 278 ff., 282 1, 363. — Koinzidenz von R. und Komplexion 252 A. — R. vom Erkenntnisgrund und Erkenntnisfolge 209. — R.

zwischen Inhalt und Gegenstand 262 ff., 267. — R. zwischen Sprechen und Denken 41.

Relationen an Objektiven s. Objektiv.

Relativ-Satz 36, 205, 269, 361.

Repräsentation beim Spiele 112.

Reproduktion 16, 377.

Restriktion, determinierende 205. —

R. des Nachsatzes 202.

Restringieren 207, 209.

restringiert 214.

richtig 196.

Richtigkeit 178. — R., formale 188 f. — R. formale des Schlusses 209.

Roman 39, 129, 155 ff., 310, 3141

S.

Sachverhalt 981, 101 ff. — Tatsäch- lichkeit des S. 219.

Satz 21 ff., 30 ff., 401, 541, 58 1, 99 A., 1001, 206, 3601, 3641, 366. — S., abhängiger 33 ff., 54, 107, 164 A., 366. — S. an sich 981, 101 ff. —

S. , hypothetischer 204, 206. — S., hypothetischer von der Form der Wirklichkeit 211 A. — S., katego- rischer 204, 206 1, 269. — S., restrin- gierter 201, 203. — S., unabhängiger 33 ff., 54, 232, 363. — S., unselb- ständiger 361. — S., zusammen- gesetzter 37. — Ausdrucksfunktion des S. 364. — Bodeutungsfunktion des S. 364. — Leistung des S. 364.


— Sinn des S. 102. — Verstehen des S. 38 ff., 361. — S. als Urteils- ausdruck 35. — S. der kein Urteil ausdrückt 360. — S. des Wider- spruches 100, 228.

Satz-Äquivalent 58.

Satzarten 361.

Satzbedeutung 58, 361.

Satzform, hypothetische 199.

Satzverbindung 362.

Schauspieler 115, 315.

Scheinbegehrung 315, 379, 382 f.

Scheingefühl 314, 379, 381 ff.

Scheinurteil 379 f.

Scheinvorstellung 381.

Schliefsen 97, 174, 197. — S., katego- risches 193. — S. aus falschen Prämissen 201. — S. aus suspen- dierten Prämissen 201.

Schlufs 37, 175, 177, 187, 201, 213, 215. S., eigentlicher 196. — S.,

formaler 200. — S , hypothetischer 193. — S., uneigentlicher 196. — Richtigkeit, formale, des S. 209.' — S. ad subalternatam 200. — S. aus angenommenen Prämissen 194. — S. aus apriorischen Prämissen 183. — S. aus suspendierten Prämissen 343. — 8. mit suspendierten Prä- missen 191 f., 194, 357. — S. mit suspendierter subalternans 200.

Schlufsannahme 212 A.

Schlufsform, Erfassen der s. Erfassen.

Schlufsgesetz 178, 189, 194, 210.

Schlufsoperation 209 f.

Schlufssatz 194.

Schlufsurteil 178.

Schmerz, vergangener psychischer 337.

Schmerzgefühl 139.

Schönheit, innere 320.

Sein 21, 62, 70 ff., 74, 78, 80, 83, 86, 135, 137, 142, 149, 152, 166, 212, 218, 245, 269, 272 f., 275, 305, 319 f. — S., negatives 86. — S., positives 86. — S., untatsächliches 71. — Vorstellen des S. 329. —Vorstellung


398


Register.


vom S. 328. — S. im engeren Sinne 72.

Seinsaffirmation 245.

Seinsannahme 280, 341. — S.-A., affir- mative 371. — S.-A., negative 371.

Seinsansicht 218 ff., 233, 241.

Seinsart 75, 79.

Seinsartige, das 80.

Seinsbegriff 83.

Seinsbeurteilung 150, 152. — S., nega- tive 152. — Äquivalente negativer S. 152.

Seinserkenntnis 220.

Seinsgefühl 320, 337.

Seinsmeinen 268 ff., 270, 272 f., 274, 277 f., 281, 285 f., 356. — S., nega- tives 274. — S., reines 270, 281.

Seinsmeinung 275.

Seinsnegation 245.

Seinsobjektiv 70, 141, 240, 268, 272, 275, 280, 285, 339, 341 f., 357. — S., übergeordnetes 71. — Implikation der Soseinsobjektive in das S. 285.

Seinsurteil 78, 220, 241, 272, 280. — S., evidentes 282.

sekundär 148.

Selbstpräsentation 44 A., 312. — S. der inneren Erlebnisse 264.

Selbstpräsentieren 29.

Selbsttäuschung, bewufste 154, 159.

Setzen eines Gegenstandes 342.

Sinn, fiktiver 234. — S. der Rede 236. — S. des Satzes s. Satz.

Sosein 72, 78 ff., 86, 149, 152, 162, 165 A., 166, 212, 269, 2721,275, 307, 322, 328, 333. — S. unabhängig vom Sein 78.

Soseinsannahme 280, 341, 352.

Soseinsbestimmung 269.

Soseinsbeurteilung 150, 152 f.

Soseinsgefühl 320, 337.

Soseinsmeinen 268 ff., 270 ff., 276, 278, 281 ff., 356 ff. — S., implizites 276, 281. — S. mit Hilfe negativer An- nahmen 274.

Soseinsmeinung 271.

Soseinsobjektiv 141, 243, 246, 2681, 272 ff., 280, 285, 3191, 339, 341, 352.


— 8. explizites 281, 358. — S., implizites 281. — 8., negatives 275, 2^2- Implikation des S. in das Seinsobjektiv 285. — Implikation von S. 320.

Soseinsurteil 272. — Ergreifen durch ein S. 274.

Spezies 373. — S., Aristotelische 373, 375.

Spiel 107, 1161, 126, 336 A., 359. — Annahmen in S. 110 ff.

Spontaneität 382.

Sprache 53 ff., 278, 359. — S. und Annahme s. Annahme. — S. und Objektiv 53 ff.

Sprechen und Denken 41.

Stellung zwischen Vorstellen und Urteilen 19.

Stellungnahme 151. — S., intellek- tuelle 150.

Streben 291 A., 293.

Stringenz, formelle 213 1

subalternatam, Schlufs ad, s. Schlufs.

subalternans , Schlufs mit suspen- dierter s. s. Schlufs.

Subjekt 270. — S. und Prädikat 3.

Subjektivität des Erfassens s. Er- fassen.

Substrat 249. — S., anschauliches 285. — S., konkretes 249.

Suggestion 371.

Superius 31, 208, 251, 280.

Surrogat für Urteile 352.

Suspenso, in 188.

Syllogismus 38, 347.

T.

Tätigkeit 238.

Täuschen 117.

Täuschung, künstlerische 129.

Tatsache 43, 69, 216, 240. — T., stell- vertretende 336.

Tatsachen, Achtung vor den, s. Ach- tung.

Tatsachengebiet zwischen Vorstellen und Urteilon 1 ff.

tatsächlich 45, 66, 75, 94 f., 100, 122, 218. — t. existierend 304.


Register.


399


Tatsächliches 88, 339.

Tatsächlichkeit 69 ff., 82 ff., 89, 91 f., 93, 95 f., 234 f., 277, 318, 341, 352 ff., 358 f., 367. — T. niedrigen Grades 95. — T. des Sachverhaltes s. Sach- verhalt.

Tempus, grammatisches 77.

Terminus „Objektiv“ 97 ff. — T. „An- nahme“ 368.

Theater 310.

Tragödie 309 f., 313.

Transzendent 229.

Transzendenz 219 f., 222, 228.

Transzendieren 264.

Trauer 313, 317.

Trauerspiel 313.

Treffen 279.

Tun 235, 340.

u.

Übereinstimmung der Vorstellung mit der Wirklichkeit 262.

Überlegen 306 f.

Überzeugtheit 3 f., 5.

Überzeugtsein 2.

Überzeugung 2 A., 168, 328, 340, 371, 382. — Ü., affirmative 4. — Ü., be- rechtigte 223, 239. — Ü., evidenz- loBe 205. — Ü., negative 4. — Ü., suspendierte 190. — Ü , vermittelte 186. — Ü., wahrheitsgemäfe 239. — Ü. im Hinblick 177 f. — Bestimm- barkeit der Ü. durch emotionale Momente 157.

Überzeugungsmoment 313, 344.

Überzeugungsstärke, Nullwert der 344.

Überzeugungsumschlag 232.

Überzeugungsvermittlung 173 ff. ,

177 f.

Überzeugungswechsel 128, 159. — Ü., willkürlicher 130.

Umfang 277.

Umgebung, psychische 359.

Umweg über das Urteil s. Urteil.

Unabhängigkeit des Soseins vom Sein s. Sosein.

unanschaulich 247 ff., 252, 254, 256,


280, 282, 284. — u. Vorstellen s. Vorstellen.

Unanschaulichkeit 260, 281.

Ungewifsheit 83, 90, 354. — Evidenz für U. 182.

Unglück 328.

Unlust 301, 312 f., 380.

Unlustgefühl 298.

Unmittelbar 180.

Unmöglichkeit 93, 282, 372 A. — U., logische 93. — U., rationale 93. — U. des Gegenteils 92.

unrichtig 196.

Unrichtigkeit 18.

Unselbständigkeit 380.

untatsächlich 66, 95.

Untatsächliches 88.

Unterstufe 381 ff.

Unvereinbarkeit 282.

Unvernünftigkeit 158, 348.

Unverträglich 248.

Unvorstellbarkeit des Psychischen 140.

Unwahrscheinlichkeit 372 A.

Unwert 328.

Urteil 1 f., 3, 5, 7, 14, 19, 32 ff., 40, 461, 611, 63, 73, 811, 861, 100, 131 ff., 1391, 143, 151, 1641, 164, 168, 191, 195, 206, 208, 210, 214, 218, 222, 229, 232, 240, 242, 2611, 2721, 280, 286, 304, 307, 310 A., 313, 316 ff., 3201, 328, 333 ff., 337, 339, 3411, 3441, 349 ff., 355, 357 ff., 365, 367 ff., 372, 3741, 3771, 380. — U., affir- matives 86, 89, 138, 149, 2181, 226. U., analytisches 193, 203, 274. — U., apriorisches 176, 193. — U., assertorisches 84. — U., aufsugge- riertes 371. — U., berechtigtes 178, 221. — U. , disjunktives 37, 215, 357. — U., evidentes 88, 3451,357. — U., evidenzloses 88, 346. — U., falsches 45, 63, 346, 368. — U., fingiertes 188. — U., hypothetisches 37, 79 A., 1771, 189 ff., 194, 197 ff., 207 fl, 212 ff., 308, 357, 362. — U., induktives 182. — U., kategorisches 3, 15, 269. — U., logisches 100. —


400


Register.


U., mittelbares 147 ff. — U., nega- tives 13, 17, 34, 86, 118, 138, 221, 226, 230, 233, 371. — U., nicht- evidentes 95. — U., nicht-gegen- wärtiges 356 A. — U., positives 72.

— U., präsentierendes 53, 150, 152.

— U., vorgestelltes 118, 190. — U., unmittelbares 56, 146 ff., 149, 154. — U., wahres 346, 358. — U., affir- matives hypothetisches 204, 206. — U., evident gewisses 90. — U., falsches bejahendes 221. — U., falsches hypothetisches 206. — U., falsches negatives 221 f. — U., mittelbar erfassendes 154. — U., mittelbar evidentes 172, 350. — U., negatives hypothetisches 198, 204, 206. — U., primär ausgedrücktes 149, 153. — U., restringiertes hypo- thetisches 204. — U., sekundär aus- gedrücktes 1461, 149, 153, 362. — U., unmittelbar evidentes 172. — U., wahres hypothetisches 206. — Ableitung des TJ. s Ableitung. — Ausdruck für das U. 231. — Aus- druck, sekundärer, eines U. 363. — Bestimmung der modalen Eigen- schaften vom U. her 83 — Charak- teristik durch Reflexion auf das U. 841 — Einstellung des U auf Tatsächlichkeit 367. — Funktion, synthetische, des U. 342. — Funk- tion, thetische, des U. 342. — Gegen- ständlichkeit beim negativen U. 229 ff. — Gegensätzlichkeit, quali tative, des U. 308. — Konsequenz- theorie des hypothetischen U. 212.

— Modalität des U. 82. — Moment, inhaltliches am U. 92. — Präsen- tation durch das U. 358. — Reflexion auf das U. 86, 88, 140. — Stellung, dominierende des U. 370. — Um- weg über das U. 84, 87. — Vor- stellung vom U. s. Vorstellung. — Vorzug des U. vor der Annahme 357. — Zweiteiligkeit am U. 3. — U. als Oberstufe zur Annahme 376.

— U. auf Kündigung 154 ff. — U.


im engeren Sinne 370. — U. im Hinblick 185, 193. — U. im weiteren Sinne 370, 380. — U. mit Über- zeugung 374. - U. ohne Über- zeugung 368, 374. — U. über das Urteil 146. — U. und Annahme 367, 375. — s. auch Urteilen.

Urteilen 18, 47, 88 f., 97, 104, 144, 156, 163, 238, 279, 355, 366, 371. — U., aposteriorisches 175. — U., apri- orisches 175. — U., berechtigtes 62 A. — U., geltungsloses 368 A. — Ungewisses 342. — U., ungewisses 2. — Einflufs des Begehrens auf das U. 155 — Einflufs des Fühlens auf das U. 155. — Tatsachengebiet zwischen Vorstellen und U. 1 ff. — Zwischengebiet zwischen Vor- stellen und U. 4. — U. des restrin- gierten Nachsatzes s. Nachsatz. — U. im Hinblick 175. — U. ohne Vorstellen 143.

Urteilsakt 87, 89 f., 101, 342, 344, 352. — Moment, qualitatives, am U. 342.

Urteilsausdruck 30 ff., 35, 361. — (J., sekundärer 36, 80, 144 ff., 149, 364.

Urteilserlebnis 139.

Urteilsevidenz, unmittelbare 350.

Urteilserlebnis im abstracto 139. — Erfassen eines fremden U. 139.

Urteilsevidenz 345. — U., mittelbare 193.

Urteilsgefühl 162, 169, 317, 321, 333, 335.

Urteilsgegenstand 44, 46, s. auch Gegenstand.

Urteilsinhalt 87, 98f., 103ff., 341. — U, modaler 352.

Urteilsmotiv 186.

Urteilsmotivation 177.

Urteilsqualität 72.

Urteilschlufs 196, 209, 214.

Urteilsstärke, Grade der 343.

Urteilssurrogat 359. — Annahme als U. 368.

Urteilstrieb 359.

Urteilsvermittlung 177.

Urteilung 44, 89, 93, 145, 152, 154. —


Register.


401


U. , evidente 209. — U., unmittel- bare 145. — U. des restringierten Nachobjektives 201. — U. des restringierten Nachsatzes 210.

Urteilungsinhalt 89, 354.

Y.

Veranschaulichung, Mifslingen der 282.

Verbalsubstantiv 56, 164.

Verbum finitum 30, 68.

Vergangene, das 307 A.

Vergleichen 139, 236.

Verhalten, ästhetisches 320. — V., aktives 315, 382. — V., intellek- tuelles, zu den Gegenständen 235. — V., passives 315, 340, 382.

Vermuten 108 f. — V., berechtigtes 96.

Vermutung 2 A., 90 1, 96, 123, 343. —

V. , berechtigte 90, 355. — Evidenz für V. s. Evidenz.

Vermutungsevidenz 90 A., 182.

verneinend 72 A.

Verneinung 14, 111.

Vernünftigkeit 349, 351.

Verständnis 371. — Einsehen mit V. s. Einsehen. — Einsicht mit V. s. Einsicht. — Einsicht ohne V. s. Einsicht.

Verstehen 38 ff., 130, 151, 236, 281, 284, 359 ff. — V. von Wörtern 361.

Verstehende, der 360.

Verrichtungen, intellektuelle 107.

Verschiedenheit 13 ff.

Verträglich 190, 248.

Voraussetzung 78. — V., psycho- logische 50, 143, 167, 223 f., 227 ff., 287, 310 A., 314 ff., 339, 356, 362, 380 f.

Voraussetzungsvorstellung 341.

vorbestimmt 274 A.

Vorderobjektiv 1901, 210. — Ope- ration am V. 208.

Vordersatz 189, 191, 198 ff., 214.

Vorgestellte, das als wirklich oder existierend 304. — V., das blofs 8 ff. — V., das direkt 253 A. — V., das indirekt 253 A.


Vorstellen 2, 87, 110, 135 1, 138, 225, 237 1, 240, 250, 256, 279, 340, 355, 366, 369 1, 376, 382. — V., anschau- liches 247 f. — V., anschauliches der eigenen Einfühlungs- und An- teilsgefühle 320. — V., blofses 9, 127, 368. — V., direktes 251, 284. — V., indirektes 136, 140, 251 A., 284. — V., passives 356, 369. — V., schlechthin 305. — V., unanschau- liches 247 f. — Tatsachengebiet zwischen V. und Urteilen 1 ff. — Zweistufigkeit des V. 377. - — Zwei- teilung des V. 377. — Zwischen- gebiet zwischen V. und Urteilen 4. — V. auf Gegenstände gerichtet

225. — V. eines Gegenstandes s. Gegenstand. — V. der Gefühle 310. — V. des Psychischen 312. — V. des Seins s. Sein. — V. von Ob- jektiven 155. s. auch Vorstellung.

Vorstellung 1, 6, 10, 17, 25, 28, 46, 51, 86, 131, 134, 137, 154, 208, 223 f.,

226, 229, 232, 234 f., 238, 241, 243, 287, 304, 3391, 360, 367, 379 ff., 383. — V., abstrakte 13. — V., anschau- liche 129, 250 1, 253, 257 ff. — V., blofse 307. — V., einfache 253 A. — V., fundierende 252. — V., negative 9, 181 — V., nicht setzende 3. — V., präsentierende 139. — V., pro- duzierte 12. — V., setzende 3, 365. — V., unanschauliche 5, 250 1, 253, 257 ff. — V. , urteilsfreie 226. — Inhalt der V. 264. — Lebhaftigkeit der V. 328 f. — V. an sich 99 A. — V. des Gefühls s. Gefühl. — V. eines komplexen Gegenstandes 254. — V. mit Annahme 367. — V. mit Urteil 367. — V. ohne Gegenstand 234. — V. von Objektiven 133. — V. von psychischen Gegenständen 263. — V. von Urteilen 127, 138, 139. — V. und Annahme 367.

Vorstellungsakt 85, 237.

Vorstellungsansicht 310 ff.

VorstellungsgefUlil 168, 318.


402


Register.


Vorstellungsgegeustand 13, 44 ff., 57, 133, 341.

Vorstellungsgosetz der relativen Glücksförderung 296 ff.

Vorstellungsinlialt 85, 105, 139, 238, 285, 341.

Vorstellungsproduktion 15, 208, 251.

Vorstellungsverbindung, ausgeführte 252.

Vorstufe des Urteils s. Annahme.

Vorurteil zugunsten des Wirklichen 60, 134, 218.

Vorzeichen 328. — V., positives 165. — V., negatives 165.

w.

Wählen 322.

Wahr 56, 67 f., 81, 93 f., 96, 100, 133 A., 207, 359.

Wahre, das 95, 137.

Wahrheit 18, 65, 68, 82, 93 f., 96, 142, 209, 221, 315, 357. — W., ewige 66. — W., materielle 188. — W., ver- änderliche 66. — Wert der W. 357.

Wahrheitsmöglichkeit 96.

Wahrnehmung 12, 270. — W., äufsere 264. — W., innere 91, 138f., 219, 229, 264, 312. — W. negativer Gegen- stände 12.

Wahrnehmungsurteil 239, 259, 376 A.

Wahrnehmungsvorstellung 10 ff., 259, 278, 329, 336, 376 ff., 380 f. — Re- lation zwischen W. und Phantasie- vorstellung 378. — W. der inneren Erlebnisse 312. — W. und Pro- duktionsvorstellung 16.

Wahrscheinlich 81.

Wahrscheinlichkeit 82, 95, 343 f., 355.

Wahrscheinlichkeitsgrad 342, 353.

Warum 186.

Was 283.

Wassein 272.

Weil 174, 176.

Weil-Relation 191, 215.

Weil-Satz 198 A.

Wendung, finale 164 A.

Wenn, konditionales 199. — W., temporales 199. — W. so 198, 213.


Wenn-Operation 209.

Wenn-Relation 191, 207, 210 f., 215 f.

Wert 163, 306, 324 ff., 328, 331, 334 f., 336 A., 358. — W., subjektiver 322. — Begehrungsfunktion des W. 324. — Begehrungstheorie des W. 330 ff. — Gefühlsdefinition des W. 324, 328. — Wesen des W. 324.

Wertbegriff 325.

Wertdefinition 323 ff. — W., künst- liche 325.

Werten 333 f.

Werterlebnis 358.

Wertgedanke 324, 326, 336.

Wertgefühl 124 f., 156, 162 f., 168 f., 317 ff., 324, 328, 331 ff., 335, 337.

Wertgröfse 331.

Werthalten 329, 333, 334 A.

Werthaltung 162 f., 324, 328 ff., 333, 335 ff. — W., unvermittelte 177 A. — W., vermittelte 177 A. — Urteil über die W. 331.

Wertobjekt 163, 328, 331. — Existenz des W. 324. — Nichtexistenz des W. 324.

Wertobjektiv 319.

Wertphantasie 319.

Wertsubjekt 331.

Werttheorie 323, 331. — voluntaris- tische Begründung der W. 325 A.

Wertung 329 ff., 334 A., 335 ff.

Werturteil 334.

Widerspruch 151. — Satz des W. s. Satz.

Widerstreben 164. — W. gegen das Sein 165 A.

Widerstrebung 167, 287, 322, 380.

Wie 283.

Wiesein 272.

Wieseinsobjektiv 283.

Wirkliches 61.

Wirklichkeit 75 f., 78, 220, 224, 226, 229, 263 ff., 278. — Einschaltung in die subjektive W. 302 ff. — Erfassen der W. 239. — Kausalgewebe der subjektiven W. s. Kausalgewebe.

Wirklichkeitserkenntnis 239.

Wirklichkeitsgefühl 324.


Register.


403


Wissen, demonstratives 173. — W., intuitives 173.

Wissensbegehrung 125.

Wissensgefühl 125.

Wissenswertgefühl 124.

Wollen 167 A., 291 A., 293, 300, 306, 345. — W. einer Nicht-Existenz 164.

Wollung 35 A., 301, 307, 382. — W. mit guter Zuversicht 301. — W. mit schlechter Zuversicht 301.

Wort 23 ff., 30, 531, 58, 360, 365. — Verstehen des W. 38 ff.

Wortbedeutung 58, 271.

Wortkomplex 30 f., 58 f., 360.

Wortverstehen 361, s. auch Wort.

Wortzusammensetzung 30.

Wünschen 293, 300 1, 307, 345.

Wunsch 291 A., 315.

z.

Zeichen 21 ff., 38 f., 41, 361. — Z., be- gehrendes 22. — Z., finales 23. — Z., mitteilendes 22. — Z., reales 221

Zeichenrelation 24.

Zeit 75 ff.

Zeitbestimmung 64 f., 67 f., 74 f.

zeitlos 64, 75.

Zeitlosigkeit 69, 76 f. — Z. des Be- stehenden 76. — Z. des Objek- tivs 65.


Zeitwort 67 f.

zufällig 81.

Zufälligkeit 64.

Zukunft 307 A.

Zuordnung zwischen Inhalten und Gegenständen 237.

Zusammengehörigkeitsrelation 248.

Zusammenhang 189 f., 197 ff., 210. — Z ., logischer 362. — Z. zwischen Zweck und Mittel 294.

Zusammenhangstheorie 205, 212.

Zusammenhangsurteil 198 1, 362.

Zusammensetzung 251 ff., 257 f., 260 f., 280 ff.

Zusammenstellung 251 ff., 258, 260 f., 280 f. — Indifferenz, logische, der Z. 256 ff.

Zustimmung 148, 151.

Zuversicht, Wollung mit guter, s. Wollung. — Wollung mit schlechter Z. s. Wollung.

Zweck 165 A., 177. — Zusammenhang zwischen Z. und Mittel 294.

Zweigeteiltheit 380.

Zweiseitigkeit der Kunsterlebnisse 159.

Zweistufigkeit 376, 379.

Zweiteiligkeit 379. — Z. am Urteil 3.

Zweiteilung 381.

Zwischengebiet zwischen Vorstellen und Urteilen 4, 6.




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